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Japan Haushalt 2014: Angst fressen Seele auf

Das japanische Budget für 2014 liegt vor. Ich bin Optimist und kein Miesmacher (obwohl Wiener). Und so habe ich zum Thema Haushalt beide Seiten zu Wort kommen lassen.

Zunächst aber: Happy New Year und danke an alle, die Weltreporter „verfolgen“. Egal was wir uns 2013 vorgenommen hatten, erreichen konnten, auf die lange Bank schieben mussten oder fallen liessen – eins hat ermutigt: Die Aufdeckung der NSA-Affäre unter Beteiligung von Glenn Greenwald. Warum dem freien Journalisten der Coup gelungen ist? Snowden vertraute ihm. Glenn sollte Ehrenmitglied unseres Netzwerks werden.

2014 card hagenberg

Ein Jahr ohne „eyes in the skies“? Für meine Neujahrskarte hat mich Gerhild Nieberg in Raiding fotografiert.

Und nun zum japanischen Haushalt.

Nippon steht mit 15 Nullen in der Kreide: Eine Billiarde Yen. Das sind fast 250% des Bruttoninlandsprodukts. Die höchste Staatsverschuldung der Welt. (Zum Vergleich: Griechenland „nur“ 180%, USA 112%, Deutschland 82%). Um diesen Schuldenberg abzubauen, müssten sämtliche Japaner 2500 Jahre lang ihren gesamten Verdienst an die Gläubiger abliefern.

Für 2014 sind die Staatsausgaben der drittgrössten Weltwirtschaft mit 95 Billionen Yen veranschlagt (12 Nullen). 43% davon decken neue Kredite ab, Steuereinnahmen allein reichen nicht aus. Der Wahnsinn: Ein Viertel vom Haushalt fressen Zinsen weg – und da könnte man wie Rainer Werner Fassbinder sagen „Angst fressen Seele auf“. Was bleibt sind 32% für Sozialausgaben, 5% für die Armee und 6% für Ausbildung und Forschung (Zahlen abgerundet) –der Rest dient der Systemerhaltung.

Fassbinder Berlin poster hagenberg event 1979

Budget-Angst fressen Seele auf: Rainer Werner Fassbinder mit Einladung zu meinem Japan Event, Berlin 1980.

Der Budget-Optimist sagt:

Bis 2020 (rechtzeitig zur Olympiade in Tokio) sind alle Schulden abbezahlt – wie die Regierung verkündet. Japan hat sich neu erfunden, erobert die Welt mit Exporten zurück. Reissend Absatz finden Roboter für Katastrophendienst, Alten- und Krankenpflege. AKWs stehen in Japan still, werden deshalb umso mehr im Ausland verkauft. Wundersam schrumpfen weltweit die Energiekosten (Japan importiert 80% seines Bedarfs). Investitionen in Alternativenergien tragen Früchte, angespornt durch die Stilllegung der AKWs. In der Aufschwungeuphorie strömt ausländisches Investitionskapital in den Inselstaat. Die angehobene Mehrwertsteuer (im April 2014 von 5 auf 8 Prozent) hat die Wirtschaft nicht gedrosselt, wie befürchtet. Die Zahl von derzeit einer Million ausländischer Touristen vervielfacht sich. (Zum Vergleich: Österreich hat jährlich 23 Millionen Besucher aus dem Ausland). Die meisten Reisenden kommen dann aus China, Korea und Taiwan. Denn Japan hat sich ein für allemal für seine Weltkriegsgreuel entschuldigt (allerdings nicht unter Abes rechtslastiger Regierung). Das Arbeitsalter wurde auf 75 Jahre angehoben, um die Sozialausgaben in den Griff zu bekommen. (Ein Viertel der Bevölkerung ist derzeit über 65 Jahre alt. Bis 2060 werden es 40 Prozent sein).

Der Wiener sagt:

Die Regierung Abe druckt Geld wie verrückt. Bis 2020 verfällt der Wechselkurs auf den Stand von 1985: 250 Yen für einen Dollar. (2012 kostete der Greenback nur 76 Yen, ein Jahr später bereits 105 Yen). Energieimporte werden unerschwinglich. Eine „export-driven-economy“ materialisiert sich nicht, denn die von Abe angekündigten Reformen und Innovationen bleiben aus. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer 2015 auf 10% (von derzeit 5%) drosselt den Konsum. Atomkraftwerke werden dazugebaut und laufen auf Hochtouren. Das wiederum reduziert Forschungsinvestitionen für Alternativenergien und deren Spin-offs). Mit der rasant alternden Bevölkerung explodieren die Sozialkosten. Die bisher pazifistisch ausgerichtete Konstitution hat die Regierung umgeschrieben, die Armee darf nun ausserhalb Japans operieren. Das Land sitzt weiterhin auf einem Vorrat von 44 Tonnen Plutonium – genug für 5000 Atombomben. Territorialstreitereien mit Nachbarländern intensivieren sich und das Verteidigungsbudget steigt (dieses Jahr um 2.1 Prozent). Am Ende kann Japan seine Schulden nicht mehr finanzieren, macht bankrott und reisst die Weltwirtschaft mit sich.

 

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Der Früh-Weihnachtsbaum

Der Weihnachtsbaum beim Nachbarn steht schon und leuchtet. Seit Anfang Dezember. Das Paar auf der anderen Straßenseite schaltet die Elektro-Baumkerzen immer abends zum Fernsehen ein. Ich muss zugeben, dass dieser Früh-Weihnachtsbaum auf mich seit Wochen einen subtilen Druck ausübt. Immer abends, beim Blick in die Gasse vor dem Haus, strahlt mich der hübsche Baum von gegenüber an mit der Botschaft: Du Deutscher, wenn Du nicht bald auch Deinen Baum kaufst, kriegst Du keinen mehr.

Viele Franzosen stellen den Baum schon Wochen vor Weihnachten auf. Ich dagegen habe mal wieder mit dem Kauf bis heute gewartet und ahne nun, dass ich bestraft werde mit einer Baumqualität minus fünf. Mein Wecker klingelt früh. Ich will bald dran sein und fahre zum großen Supermarkt vor den Toren der Stadt, weil es dort sicher noch Bäume gibt. Auf dem Parkplatz kommen mir Franzosen mit prall gefüllten Einkaufswägen entgegen: Wein- und Champagnerflaschen, Gänseleberpastete, Geflügel, Lachs und Packungen voller Muscheln und Austern. Trotz der Krise wird beim Weihnachtsschmaus nicht gespart: Durchschnittlich gibt eine französische Familie dafür zwei Prozent mehr aus als im vergangenen Jahr, nämlich 175 Euro.

Es gibt noch Bäume. Aber sie schauen mich traurig an und ich weiß sofort: Ihr Armen seid übrig geblieben. Habt Lücken, die keine Christbaumkugel füllen kann. Seid verwachsen, als ob Euch jemand die Äste verknotet hätte. Dabei sind meine Baumansprüche enorm hoch, auch weil ich Wachskerzen statt elektrische habe. “Ah, Sie sind bestimmt Deutscher, wenn Sie echte Kerzen haben”, sagt der Verkäufer. “Echte Kerzen und spät den Baum kaufen – das sind die Deutschen.”

Während ich kritisch auf die Nordmann-Tannen schaue, frage ich ihn, warum viele Franzosen eigentlich solche Früh-Baumaufsteller sind. “Isch weiß, isch weiß”, sagt er auf Deutsch. Seine Schwester lebt bei Köln und er weiß, dass dort der Weihnachtsbaum erst an Heiligabend seinen großen Auftritt hat. “Bei uns ist das Weihnachtsfest einfach kommerzieller, nicht so besinnlich”, meint er. Seit Wochen sei Weihnachten in der Werbung, da wolle man halt auch seinen Baum schon genießen. Andere fahren an Weihnachten in die Skigebiete, dann kann man zu Hause den Baum ja gar nicht mehr anschauen – also tut man das vorher. Die Kassiererin schaltet sich ins Gespräch ein und meint, bei ihr zu Hause achte man sehr wohl auf den Unterschied zwischen Vorweihnachtszeit und Heiligabend. “Wir stellen unseren Baum zwar auch schon Mitte Dezember im Wohnzimmer auf und schmücken ihn, aber meine Mutter hängt erst am Heiligabend den großen Strohstern an die Baumspitze.”

Apropos Heiligabend (Réveillon de Noël). In Frankreich ist der noch ein normaler Arbeitstag, die Geschäfte haben vielerorts bis 19 Uhr auf, man kriegt für 18 Uhr sogar noch einen Arzttermin. Nach Geschäftsschluss aber rasen alle in ihre Familien, dann kann das mehrgängige, stundenlange Festessen (Réveillon) beginnen, manche gehen noch in die Christmette. Geschenke gibt es meistens erst am 25. Dezember. Einen zweiten Weihnachtsfeiertag gibt es hierzulande leider nicht. Der Umtauschtrubel geht hier also früher los als in deutschen Landen…

So, jetzt wird der Baum geschmückt. Schon am 22. Dezember? Naja, mal sehen. Joyeuses fêtes!

 

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Mitleid mit Santa

IMG_0634Generell wird Santa (australisch kurz für: Weihnachtsmann) hier auch bei derzeit 26 ºC in seine traditionelle Kluft gesteckt: langer Mantel, Mütze und Fellstiefel. Er muss hinterm Bart in Filz und Fell vor Shoppingzeilen schwitzen und legt sogar volle Montur an, wenn er im Lifesaver-Boot übers blaue Meer zum jährlichen “HoHoHo” an den Strand gefahren wird. Um so erleichterter war ich, eben im Frisörladen ums Eck zu sehen, dass jemand Mitleid mit dem Herrn der Geschenke hatte und ihm eine jahreszeitlich etwas passendere Uniform erlaubt. Steht ihm gut finde ich.

 

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Trauerspiel um Mandela

Wir befinden uns bei Nelson Mandelas Gedenkfeier. Die ganze Welt trauert um den größten Held Afrikas. Die ganze? Nein. Ein von unbedeutenden Sübhalbkugelinsulanern bewohntes kleines Land leistet Widerstand. Oder hat es sich gedrückt? Falsch. Es fiel nur einfach niemandem auf, schon gar nicht der „New York Daily News“. Auf den Aufnahmen der Tageszeitung aus dem FNB-Stadion in Johannesburg ist Englands Premierminister David Cameron zu sehen, der bei der gewichtigen Veranstaltung – 91 Staatsoberhäupter! Bill Clinton! Bono! Wo war Naomi Campbell? – mit einem „nicht identifizierten Gast“ scherzte. So steht’s in der Bildunterschrift. Doch wir haben den unbekannten Nebenmann sofort entlarvt. Es war Neuseelands Premierminister John Key. Hoffentlich wusste zumindest Cameron, mit wem er da fröhlich plauderte.
Den Slogan „Unidentified Guest“ über dem Grinsefisch-Konterfei John Keys kann man sich seit gestern auch als T-Shirt drucken lassen. Die Häme hat er allemal verdient, wenn nicht gar einen Arschtritt. Denn seit Tagen gab es eine unschöne Rangelei darum, welchem Kiwi denn die Ehre gebühre, offiziell nach Südafrika reisen zu dürfen.
Was der Rest der Welt kaum weiß, da man ja nicht mal unseren Obersten in New York erkennt: 1981 flogen in Aotearoa wegen der Apartheid die Fetzen. Es ging um die Tournee der Springboks. Die weiße südafrikanische Rugby-Mannschaft stieß damals im bikulturellen Neuseeland auf heftigste Proteste. Das ganze Land, sonst eher im friedlichen Dauerschlaf, war plötzlich gespalten. Eine Hälfte ging auf die Barrikaden, warf Steine, brüllte in Megaphone. Die andere Hälfte wollte einfach nur in Ruhe Rugby gucken. Oder schwang Polizeiknüppel.
Eine historische Zäsur, so wie den Deutschen ihre 68. Jeder weiß bis heute, auf welcher Seite er oder sie stand – auch wenn man jetzt so tut, als sei man schon immer ANC-Unterstützer gewesen. John Key war damals 20jähriger Student, aber zu „Studentenprotesten“ kein bisschen aufgelegt. Als er danach gefragt wurde, was er 1981 vertrat, winkte er unwirsch ab: „Das interessiert mich jetzt nicht.“
Nelson Mandela interessierte es jedoch sehr. Er hat Neuseeland nie vergessen, dass es sich gegen die Apartheid in die Bresche warf. Das habe ihm im Gefängnis Kraft gegeben, sagte er, als er 1995 Aotearoa besuchte. Damals bedankte er sich persönlich bei den Anführern der Proteste. Besonders tatkräftig kämpfte John Minto, ein linker Aktivist, der auch zu Mugabes Untaten nie schwieg. Minto hätte in den Trauerzug nach Johannesburg gehört, weit vor John Key. Doch der stellte sich eine fünfköpfige Delegation zusammen, in der bis auf den Chef der Maori-Partei kein einziger der Aktivisten von 1981 dabei war.
Damit war das Trauerspiel noch nicht zu Ende. In Südafrika angekommen, hieß es plötzlich, dass der neuseeländische Besucher nur einen einzigen Gast mit zur Zeremonie nehmen dürfe. Welch eine Schmach. Kanada allein rückte mit 13 Leuten an. Am Ende gab’s dann doch Einlass für alle. Daher das Grinsen von John Key auf den Fotos.

 

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Das Parfüm von Grasse im Winter

IMG_5545Der Duft von Jasmin, Orangenblüten und Rosen ist längst verflogen. Die Nächte sind kalt, die sonnigen Tage hingegen noch wohltuend warm im winterlichen Grasse. Ein Hauch von Normalität weht durch die engen Gassen, durch die sich im Sommer schwitzende Touristen schieben. Sie alle wollen die Geheimnisse der Parfümherstellung entschlüsseln. Oder auch einfach nur ein paar kleine Duft-Flacons als Mitbringsel für die Lieben daheim erstehen. Davon lebt Grasse von April bis November. Auch wenn die Blumenfelder deutlich geschrumpft sind und die Blüten nicht mehr von den Grassois selbst gepflückt werden sondern vor allem von Gastarbeitern aus Osteuropa. Das Zentrum der französischen Parfümindustrie sowie das Herz der traditionellen Kunst, ein Parfum zu kreieren, ist die Kleinstadt in den Seealpen oberhalb von Cannes mit Blick auf das Mittelmeer geblieben.

IMG_5547Hinter der silbern und azurblau glitzernden Weihnachtsschmuck-Fassade kauern vier bis fünfstöckige Altbauten eng zusammen in den typischen Farben der Provence: Orange oder gelblich-ockerfarben. Mit zum Teil schwer verwittertem Putz. Auf schmalen Balkonen sonnen sich kleine Stechpalmen, Kletterpflanzen recken ihre Blüten gen Himmel. Frisch gewaschene Hemden, Socken und Unterhosen baumeln vor den Fenstern im Wind. Die Bescheidenheit einer südfranzösischen Kleinstadt. Wo Metzger und Bäcker die Vorlieben ihrer Klientel kennen. Wo man sich mittags zum Zweigänge Menu für 12 Euro mit einer Freundin trifft, weil dies die kleinen Freuden sind, die man sich ab und zu gönnt.

Vom Flair einer lukrativen Luxusindustrie ist in diesen Dezember-Tagen wenig zu spüren. Mal abgesehen von einer relativ hohen Konzentration an Parfümläden und den Parfümmuseen. Der elegante Jet-Set ist in Cannes abgestiegen und kommt höchsten zur Besichtigung einer der traditionellen Parfümfabriken hinauf in die 51.000-Einwohner-Stadt. Die Reichen und Schönen von Grasse leben in ihren Traumvillen, die auf den benachbarten Hügeln das Mittelmeer überblicken.

In der Rue Fragonard – ein Maler übrigens, die bekannte Parfümerie hat seinen Namen nur zu seinen Ehren angenommen – schieben zwei junge Marokkanerinnen ihre Dreijährigen im Kinderwagen vor sich her. Sie tragen Kopftücher, wie viele Nordafrikanerinnen in Grasse. Eine ältere Araberin huscht gar im Tschador über den Place des Aires. Der Anblick überrascht. Weil ich mir dieses Bild in der französischen Parfümhauptstadt nicht vorgestellt hatte. Ebenso wenig, wie die maghrebinischen Männer, die zwei Straßen weiter in einer windgeschützten, sonnigen Ecke an kleinen Tischen sitzen, rauchen, Karten spielen und Tee aus den für den Orient typischen kleinen Gläsern trinken. Fehlen eigentlich nur die Wasserpfeifen. „Ahlan wa sahlan!“ (Willkommen auf Arabisch) möchte ich Ihnen zurufen. Doch dann fällt mir ein, dass sie hier Zuhause sind, nicht ich. Gemeinsam mit den anderen Grassois, die seit Generationen hier auf irgendeine Weise von der Parfümherstellung existierten.

Grasse im Winter: Ein Bild wohltuend normalen Lebens. Dessen Schönheit in seiner Authentizität liegt. Die trotz des Touristentrubels im Sommer überlebt zu haben scheint.

 

 

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Nach dem “Selfie” mit Obama: Helle Thorning-Schmidt greift durch

Der “Selfie” von Helle Thorning-Schmidt hat die danische Premierministerin im Ausland bekannt gemacht. Mittlerweile weiss sogar die AFP, wer die Frau zwischen Cameron und Obama ist. Dass sie daheim in ziemlichen Problemen steckt, ist hingegen womoglich noch nicht uberall angekommen (genauso wenig wie die Umlaute hier – Dank amerikanischer Tastatur/Systemsprache). Die Sozialdemokratin hat namlich gleich eine ganze Reihe Regierungsmitglieder durch Rucktritte verloren.

Heute nun prasentierte sie ihr neues Kabinett. Das, so Thorning-Schmidt, solle in dieser Konstellation bis zu den Wahlen bestehen bleiben. Entweder gibt sie sich selbstbewusst. Oder lasst durchblicken, dass weitere Fehltritte vorgezogene Neuwahl bedeuten.

Mehr zum politischen Chaos in Danemark und wie die Regierungschefin dem Herr zu werden versucht gibt es in zwei meinen Artikeln bei The Wall Street Journal zu lesen (gestern und heute und stets auf Englisch).

 

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Snowden-Affäre im Südpazifik

Edward Snowdens Enthüllungen bringen auch im Asia-Pazifik-Raum so manch unangenehme Spitzelaktion ans Licht: Die Australier wollten offensichtlich den Amerikanern nacheifern und haben es sich nicht nehmen lassen, das Handy des indonesischen Präsidenten abhören zu lassen. Und – was viele Indonesier noch viel mehr empört – auch noch das seiner Frau. Während Angela Merkel sich den Amerikanern gegenüber lediglich etwas verschnupft zeigte, hat Präsident Susilo Bambang Yudhoyono nicht nur gleich nach dem Bekanntwerden der Affäre seinen Botschafter aus Canberra abziehen, sondern auch noch jede militärische und Teile der wirtschaftlichen Zusammenarbeit einstellen lassen. Diese Reaktion begründete er vor allem mit dem undiplomatischen Vorgehen des australischen Premierministers Tony Abbott, der das Ausspionieren seines nächsten Nachbarn quasi als selbstverständliche politische Handlung hinstellte.

Das mag ja tatsächlich so sein, darf aber so nicht ausgesprochen werden – schon gar nicht im harmoniesüchtigen Java. Yudhoyono verlangte also eine Entschuldigung. Der Mob in Jakarta verbrannte daraufhin australische Fahnen vor selbiger Botschaft und die indonesischen Medien machten mobil. Außenministerin Julie Bishop glättete die Wogen wenige Tage später wieder etwas mit einer indirekten Entschuldigung für das Abhören des Präsidententelefons, schob aber gleich hinterher, dass Australien aus Gründen des Selbstschutzes nicht aufhören könne zu spionieren.

Genau in diesen Tagen kam die Nachricht, dass Osttimor Australien vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag wegen Spionage angeklagt hat – dabei geht es um einen milliardenschweren Vertrag um Förderrechte von Erdgasvorkommen in der timoresischen See. Die australische Regierung ließ darauf kurzerhand das Anwaltsbüro in Canberra durchsuchen, das den Fall für Osttimor vertritt, und beschlagnahmte auch gleich noch den Pass eines wichtigen Zeugen, einem pensionierten australischen Nachrichtendienstler, um dessen Aussage in Den Haag zu verhindern. Premierminister Tony Abbott verteidigte diesen Schritt wiederum mit dem Schutz der nationalen Sicherheit.

Wie gut, dass das Schwergewicht Indonesien zu viele andere Probleme hat, um für die – aus asiatischer Sicht – täglichen Fettnapflandungen der frisch gewählten australischen Regierung jedes Mal eine Entschuldigung zu erbitten. Bleibt allerdings abzuwarten, wie Den Haag die Spitzelaffäre in Osttimor bewerten wird: Dabei geht es nämlich um nichts weniger als die wirtschaftliche Zukunft des ärmsten Landes in Asien.

 

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Mandelas Erbe

Es ist beeindruckend, wie die Südafrikaner in ihrer Trauer um Nelson Mandela zusammenstehen. Hautfarbe oder Herkunft spielen in diesen Tagen keine Rolle. Das Land ist sich selten einig in seiner Dankbarkeit und Würdigung des Lebenswerks ihres „Vaters der Nation“.

Menschen, die sich sonst keines Blickes würdigen, umarmen sich spontan. Sie kommen in den langen Schlangen vor den vielen improvisierten Gedenkstätten und vor öffentlichen Gebäuden, in denen Kondolenzbücher ausliegen, ins Gespräch. Sie bekennen sich zu ihrer Verantwortung, indem sie auf Plakate schreiben „Jetzt liegt es an uns, den langen Weg zur Freiheit weiterzugehen.“.

Es sind diese vielen kleinen, berührenden Szenen und Gesten, die Nelson Mandela wahrscheinlich mehr freuen würden, als all die salbungsvollen Worte von Politikern und Würdenträgern. Südafrika demonstriert wieder einmal, dass es das Potenzial zur Regenbogennation hat. Auch wenn es im Alltag noch längst nicht ausgeschöpft wird.

Die gemeinsame Trauer, so scheint es momentan, könnte den Südafrikanern Kraft geben, sich wieder darauf zu besinnen, was sie eint, statt darauf, was sie trennt. Viele sind sich dessen bewusst, dass nun eine neue Ära beginnt. Sie haben die Symbolfigur des Freiheitskampfes verloren und damit in gewisser Weise auch den moralischen Kompass.

Das kann verunsichern und verängstigen. Aber es kann auch motivieren, engagiert für eine bessere Zukunft einzutreten, untereinander mehr Menschlichkeit zu zeigen und die mühsam errungenen demokratischen Werte zu verteidigen; auch gegen die ehemalige Befreiungsbewegung und heutige Regierungspartei ANC.

Zwar scheinen die Probleme des Landes manchmal unüberwindbar – die tiefe Kluft zwischen Arm und Reich, die weiterhin bestehenden rassistischen Stereotype, die Verrohung der Gesellschaft, Gewaltkriminalität, Arbeitslosigkeit, Aids und die ausufernde Korruption – doch Südafrika ist das scheinbar Unmögliche schon einmal gelungen; der friedliche Übergang von der Apartheid zur Demokratie.

Wenn nur ein wenig von Mandelas Geist, der momentan überall im Land spürbar ist, auch nach der Trauerzeit erhalten bleibt, dann gibt es am Kap weiterhin Grund zur Hoffnung.

 

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Presseurop adé?

Wir Journalisten in Brüssel treffen uns jeden Tag im Pressesaal der EU-Kommission, zum “Midday Briefing” um 12 Uhr. Oder auf der Seite von “Presseurop” – einem Internet-Portal mit den besten Artikeln aus der europäischen Presse.

Doch damit dürfte es bald vorbei sein. Denn die Kommission dreht den Geldhahn für “Presseurop” zu. Schon am 22. Dezember läuft die Finanzierung aus, kurz vor Weihnachten wäre dann Schluss.

Das wäre nicht nur schade für die EU-Korrespondenten, die “Presseurop” für ihre tägliche Arbeit nutzen. Ich habe es sogar auf meinem eigenen Blog “Lost in EUrope” integriert, und zwar hier (Seite 2)

Es wäre vor allem schlecht für die vielen Leser außerhalb des “Raumschiffs Brüssel”, die da draußen im wirklichen Leben. Denn nur auf “Presseurop” können sie sich einen Überblick über die wichtigsten Presseartikel verschaffen – in ihrer eigenen Sprache.

Besonders empörend ist, dass dieser wichtige Dienst ausgerechnet jetzt platt gemacht wird, kurz vor der Europawahl im Mai. Die Redaktion hat daher einen Aufruf zur Rettung gestartet. Wer mithelfen will, findet ihn hier

 

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Leichenfledderei bei Audi

„How bizarre“, dachte sich Kristine Fuemana, als sie nichtsahnend den Fernseher einschaltete. Aber sie meinte nicht den gleichnamigen Hit ihres verstorbenen Gatten. Zu sehen war der neueste Werbespot von Audi: „Land of Plenty. Land of Quattro“. Ein schnittiger Wagen, der durch die schönsten Landschaften Aotearoas saust, dazu eine poppige Melodie, die irgendwie vertraut klingt – ein Akt geschäftstüchtiger Leichenfledderei des deutschen Auto-Konzerns?

Auch Fuemanas Kinder vor der Glotze waren baff. „Hey, Mum, sie spielen Papas Lied!“, riefen sie aus, sechs Stück an der Zahl. Die füttert die Witwe alleine durch, seit OMC-Sänger Pauly Fuemana vor drei Jahren plötzlich starb. Der polynesische Rapper war schwer krank, hatte Schulden und Drogenprobleme. Vom plötzlichen Ruhm hatte er sich nie erholt. „How Bizarre“ war 1995 ein Riesenhit und ist bis heute der meistverkaufte neuseeländische Tonträger aller Zeiten. Ein Jahr später folgte die Single „Land of Plenty“. Und die soll Audi angeblich im neuen TV-Spot verwurstet haben, behaupten Kristine Fuemanas Anwälte und die Plattenfirma Universal Music.

Auch dem Co-Autoren des OMC-Songs wurde „übel“, sagt er, als er das hörte, was er für ein klares Plagiat hielt. Denn Audi hatte weder die Rechte für „Land of Plenty“ gekauft noch das Original verwendet, sondern einen ausgewanderten neuseeländischen Musiker in Kalifornien beauftragt, den Soundtrack beizusteuern. Dass der erstaunlich ähnlich klänge, streiten Komponist und Audi New Zealand kategorisch ab. Man darf auf den Prozess gespannt sein. 2006 gewann Sänger Tom Waits eine Klage gegen Audi in Spanien, weil man seinen Sound treffend imitiert hatte.

In Fuemanas Fall ist es jedoch nicht so, dass die Hinterbliebenen was gegen Werbung hätten – nur gegen’s Bescheißen. Denn zum TV-Spot des Müsli-Riegel „Tasti“ läuft munter „How Bizarre“. Aber dafür floß eine sechsstellige Summe. Einen kleinen Obolus würden sich auch die Südseeinsulaner wünschen, deren traditionellen Designs auf den Kleidern der New Yorker Designerin Nanette Lepore auftauchen. Die Promi-Schneiderin, die Michelle Obama und Scarlett Johansson zu ihren Kundinnen zählt, hatte die Motive als „aztekisch“ verkauft, was geschickt ist, denn die Azteken können nicht mehr klagen. Samoaner, Tonganer und Fidschianer sehr wohl.

„Passport to Style“ hatte die Modeschöpferin als Slogan über ihre Kleider geschrieben. „Passport to stealing“ nannte dagegen Künstlerin Vaimoana Niumeitolu aus den USA die Werke. Immerhin erklärte Nanette Lepore: „Es tut mir sehr leid, das Azteken-Kleid falsch benannt zu haben. Ich respektiere örtliche Künstler.“ Damit ist sie in guter bis schlechter Gesellschaft. Ein neues Sport-Trikot von Nike für Frauen sieht genauso aus wie ein Pe’a – die traditionelle Halbkörper-Tätowierung samoanischer Männer. Der kulturelle Fauxpas sorgte für Ärger von Auckland bis Apia, Nike hat sich entschuldigt. Damit dürfte die Botschaft auch für Audi klar sein: Nicht mit Polynesiern anlegen!

 

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Hilfe, die Chinesen kommen!

Die Propagandaschlacht um die erweiterte chinesische Luftraumüberwachungszone ADIZ (Air Defence Identification Zone) haben letzte Woche Japan und die USA gewonnen. Die Entrüstung hätten sie sich aber sparen können. Denn die ADIZ kann als Frühwarnzone von jedem Staat individuell festgelegt werden und darf sich mit Frühwarnzonen anderer Länder sehr wohl überschneiden.

ADIZ

Katz und Maus im Gelben Meer: Wie lange kann Amerika mithalten?

Gelungen ist Amerika und seinem Protektorat Japan der Mediencoup deshalb, weil beide bewusst den Unterschied zwischen Warnzone und Hoheitsgebiet heruntergespielt haben. Auch in deutschen Berichterstattungen wirkte der chinesische Beschluss eher wie ein unverschämter Territorialraub als eine legale Vorgehensweise. Wie gesagt, die ADIZ ist kein Luftverteidigungsraum. Der darf nur 22 Kilometer über die Küste hinaus reichen. Und hier dürfen Unangemeldete, jene, die sich nicht zu erkennen gegeben haben, abgeschossen werden.

Genau das soll eine ADIZ verhindern: Zeit geben, um Missverständnisse aufzuklären.

Die Proteste Japans sind auch deshalb unangebracht, da das Kaiserreich über Jahrzehnte unilateral Schritt für Schritt seine eigene ADIZ erweitert hat. Der Abstand zum chinesischen Festland beträgt bisweilen nur noch 130 Kilometer. In diesem lautstarken Streit um Luftraum und verlassene Felseninseln (deren Besitzverhältnisse Japan als moralisch vorbelasteter Weltkriegsverlierer ebenfalls unilateral festnageln will), da kann die geopolitische Langfrist-Perspektive schnell aus dem Blickfeld geraten. Hier eine spekulative Einschätzung zum Thema China-Japan-USA:

1. In zwanzig, dreissig Jahren werden wir auf 2013 zurückblicken und sagen: „Damals hat offiziell das pazifische Jahrhundert der Chinesen begonnen“. Amerika kann sein Weltimperium nicht mehr finanzieren, beherrscht den Pazifik bis Hawaii – aber nicht darüber hinaus.

2. Die Erweiterung der ADIZ ist für China einer von vielen legalen Schachzügen, die nun folgen werden, um die USA-Japan Allianz zu testen und den Zugang vom Ostchinesischen Meer zum Pazifik zu sichern.

3. Der Masse China ist kein Staat gewachsen, und schon gar nicht, wenn Peking im Techno-Militärbereich aufgeholt hat. Japan bleiben dann nur zwei Optionen: Es wird die Schweiz Asiens – eine eigenwillige, kuriose und neutrale Insel im chinesischen Machtbereich. Oder ein Protektorat Chinas. In beiden Fällen ist es nicht ausgeschlossen, dass in Japan das demokratische System kippt und einem Überwachungsstaat weicht, der sich auf Notstandsgesetze beruft.

4. China und Japan sind nationalistisch gestimmt und versuchen Reformen durchzuboxen, von denen das wirtschaftliche Wohlergehen der kommenden Jahrzehnte abhängt. In China heissen die heissen Eisen „Korruption, Umweltvergiftung und Einkommensungleichheit“. In Japan sind es „Korruption, Atomverschmutzung, Altersversorgung und allgemeiner Wirtschaftsstillstand“. Laufen Reformen schief, könnten die Rivalen mit den alten Territorialansprüche ablenken, die Bevölkerung aufhetzen. Ein Kleingefecht würde dann China (vor)schneller riskieren als Japan – auch hier, um die Allianz zu testen.

5. Das Katz- und Mausspiel zwischen amerikanischen und chinesischen Kampffliegern findet schon seit Jahrzehnten statt – wobei sich amerikanische Piloten (in der chinesichen ADIZ) beschweren, dass sich die Konkurrenten bis auf drei Meter Flügelabstand nähern. Mit der erweiterten chinesischen ADIZ wird sich das nicht ändern. Unfälle gab es bisher fast keine – anzunehmen, dass es so bleibt. Ausser, man will bewusst eskalieren. Umgekehrte Frage: Wie nahe würden amerikanische Jets in der eigenen ADIZ, sagen wir vor der Küste Kaliforniens, an chinesische Shenyang Fighters heranfliegen, bzw. diese heranlassen?

6. Ein katastrophales Beben in Japan – wie zum Beispiel entlang des Nankai-Grabens (Wahrscheinlichkeit 70% in den nächsten dreissig Jahren mit 330,000 Toten) kann Abläufe in den Punkten 1 bis 5 beschleunigen oder verzögern. Vorab wird jedoch eine Propagandaschlacht einsetzen. Wer ist die bessere Weltmacht, die gute, die helfende? China oder Amerika?

 

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Advent, Advent…

Im Supermarkt habe ich neulich eine spanische Adaption des Adventskalender entdeckt. Der hilft wie das deutsche Pendant beim Überbrücken der Wartezeit, allerdings nicht auf Christkind respektive Weihnachtsmann, sondern auf die heiligen drei Könige, die in Spanien traditionell die Geschenke bringen – und hat folgedessen nur 12 Türchen: von Heiligabend bis zum 6. Januar.

 

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Gefüllt ist er nicht mit Süssigkeiten, sondern – thematisch zu den morgenländischen Weihrauch- und Myrrhe-Überbringern passend – mit Parfümproben und “andere Überraschungen”. Jede Wette, dass die auch so augenschmerzend genderspezifisch ausfallen wie die Verpackungen. A propos: Nach was duftet eigentlich Hulk?

 

 

 

 

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Stadt der Mauerblümchen

Auch deshalb liebe ich Tokio: Begehbare Dächer im zehnten, zwölften oder fünfzehnten Stock. Umgeben von Wolkenkratzern, Himmelsfetzen, Neonblitzen. Mit einem Horizont, wie er sonst in überregulierten, zivilisierten Metropolen unerlebbar ist: Mittendrin im Lebens-Canyon einer wuchernden Stadt.

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Stadterlebnis auf halber Höhe: Privater Wohnbau “Garden and House” von Ryue Nishizawa.

Aus Platzmangel sind Treppenaufgänge oft seitlich an Gebäuden montiert – führen von der Strasse direkt zum Rooftop. Ohne Tür und Gitter dient der Zugang auch als Fluchtweg bei Feuer und Beben. Das Betreten ist nur Bewohnern gestattet, aber man kann sich ja auch verlaufen haben. Und so entdecke ich Tokio von oben immer wieder aufs Neue, wie es sich – trotz widersprüchlicher Unordnung, als Einheit präsentiert. In Ritzen und Nischen jedoch blüht die Rebellion der Details.

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Schwindelerregender Treppenaufgang vor der Azabu Kreuzung. “Garden and House” eingezwängt zwischen Büro- und Wohntürmen. Im Hintergrund ein Ausläufer vom Sumida Fluss.

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Mein Aussichtsposten gegenüber „Garden and House“ in Hachobori.

Vom eleganten Ginza Viertel spazierte ich letzte Woche hinüber zur Hachobori Station, wollte mir immer schon „Garden and House“ von Pritzker Preisträger Ryue Nishizawa ansehen, vor allem das Umfeld. Angrenzendes Chaos filtern Magazine bei Architekturfotos ja meistens raus. Gegenüber dem weltbekannten Kleinbau finde ich einen Treppenaufgang. Der Rooftop im zehnten Stock ist abgesperrt, doch der Ausblick auf der Treppenplattform reicht aus – und reicht bis zu einem Seitenkanal vom Sumida Fluss.

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Versteckte Rückenansicht von “Garden and House”.

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Den Drink auf der Kühlanlage abstellen: Tokio Rooftops bieten ungewöhnliche Settings für Spontanparties und Stelldicheins – zum Beispiel vor Kisho Kurokawas legendärem Nakagin Capsule Tower. Jean Nouvels Dentsu Wolkenkratzer zwischen den Rostfassaden zählt 48 Stockwerke.

 

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Taifun Haiyan – war da was?

Als Taifun Haiyan vor zwei Wochen mit Windgeschwindigkeiten von mehr als 300km/h auf die Philippinen zuraste, war ich für Recherchen in Japan. Weit weg vom Geschehen und von meinem Arbeitsplatz in Peking. Fast zehn Jahre habe ich auf den Philippinen gelebt und über das Land berichtet. Abnehmer für Geschichten zu finden war oft schwierig. Die Philippinen sind kein Touristenziel für Deutsche wie Thailand, sie haben wirtschaftlich nicht das Potenzial wie Japan oder China und überhaupt, da gibt’s doch dauernd Ärger. Kriminalität, islamistische Terroristen, Naturkatastrophen. Genau, Naturkatastrophen. So wie jetzt Haiyan, der auf einigen Inseln der Visayas-Gruppe alles umsäbelte, was sich ihm in den Weg stellte. Den Rest erledigte die Sturmflut.

Und nach dem Sturm und der Flut kamen sie in Scharen, die Fallschirm-Journalisten. Rasch eingeflogen aus New York, Singapur oder London. Auf dem Weg zum Unglücksort noch schnell einige Länderinformationen studieren und dann geht’s los mit der Berichterstattung, als hätte man schon immer auf einer philippinischen Insel gelebt. So wie im März 2011 in Japan, als der CNN-Korrespondent Anderson Cooper nach dem großen Erdbeben gemeinsam mit meinem Mann in der ersten Maschine aus New York saß, die den vorübergehen gesperrten Flughafen in Tokio anfliegen konnte. Kaum gelandet, erzählte er Millionen Zuschauern, wie katastrophal die Situation in Japan war und wie eigenartig ruhig die Japaner damit umgingen.

Die Großen der Branche können es sich leisten, jeweils einen ganzen Tross aus Journalisten, Fotografen, Kameraleuten und Technikern zu den Brennpunkten der Erde zu schicken. Über Nacht war Tacloban, die Hauptstadt der Insel Leyte, ein solcher Brennpunkt geworden. Cooper & Co. machten sich hastig auf ins Epizentrum der Zerstörung. Eine Woche lang gehörten die Schlagzeilen den philippinischen Taifunopfern und ihrem verzweifelten Warten auf Hilfslieferungen. Auch bei mir fragten Zeitungen und Sender an, ob ich nicht rasch nach Tacloban fliegen könnte.

Nein, ich konnte nicht, mit zwei Kindern ist man nicht super-flexibel. Aber ich wollte auch nicht. Ich sah‘ keinen Sinn darin, mich diesem Medienhype anzuschließen. Auf allen Kanälen, in sämtlichen Zeitungen wurde berichtet, was die Leitungen hergaben. Welchen wichtigen Beitrag kann man in einer solchen Situation noch beisteuern? Muss man wichtige Ressourcen (Lebensmittel, Wasser, Helikopter, Ansprechpartner vor Ort) verbrauchen, nur um eine Geschichte zu schreiben, die so wie alle anderen das Grauen der Zerstörung und das Elend der Überlebenden ausleuchtet?

Ich will lieber nachschauen, wie es in Tacloban ausschaut, wenn der Medientross weitergezogen ist. Wenn die Welt nicht mehr auf die zertrümmerten Orte schaut, weil niemand mehr von dort berichtet. Es ist keine Überraschung, dass diese Idee auf wenig Resonanz bei den Redaktionen stößt. Ein netter Kollege vom Nachrichtensender N24 sagte ganz offen: „Die Leute wollen das doch nicht mehr sehen.“

So ist das. Eine Woche hieß es „Spot on“. Nun liegen die Taifungebiete wieder im tiefen Dunkel (buchstäblich, denn Strom soll es erst um Weihnachten wieder geben). Wie es dort weitergeht, ob die von der Regierung versprochenen neuen Behausungen gebaut werden, was mit den vielen Millionen Spenden passiert, wie die Menschen ihr Leben wieder in den Griff bekommen – wer will das wissen? Die Fallschirm-Journalisten jedenfalls nicht. Sie sitzen bereits wieder im Flieger zum nächsten Krisengebiet und lesen sich rasch an, worüber sie eigentlich berichten sollen.

 

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Vom Parken und von vollen Gläsern

Täglich verschwinden viele Dinge auf mysteriöse Weise. Ist es ein Socken, kann man sich damit abfinden. Ist es das Auto, dann nicht.

Es ist ein seltsamer Moment, wenn man an die Stelle kommt, wo man das Auto geparkt hat. Ist der Platz leer, erfasst einen selbst eine unheimliche Leere. Irre ich mich? Stand das Auto vielleicht doch in der Parallelstraße? Weiter unten? Weiter oben? Filmt hier gerade eine versteckte Kamera mein Erschrecken für eine Ulksendung? Nein, der Wagen ist weg.

Gestern noch kam im Fernsehen, dass die Zahl der Autodiebstähle um zwei Prozent zugenommen hat. Favoriten der in Frankreich geklauten Wagen: Renault Twingo, Smart Fortwo, BMW X6. Meine Marke ist eine andere.

Ich muss die Police municipale anrufen, laufe weiter und stehe plötzlich vor einem Schild. Es ist das Schild, das einem in Frankreich immer wieder begegnet. Es ist ein Schild, das man beachten sollte. Aufschrift: Stationnement unilatéral alterné.

Langer Begriff, der der Welt sagen will: Hier in der Straße darf nur auf einer Straßenseite geparkt werden – und das im halbmonatlichen Wechsel. Etwas versetzt steht ein weiteres Schild, ein eingeschränktes Halteverbotsschild mit kleinen weißen Zahlen darauf: 16-31.

Na klar, Paragraph 37-3 der Straßenverkehrsordnung. Vom 1. bis zum 15. des Monats wird auf der Seite mit den ungeraden Hausnummern geparkt. Ab dem 16. des Monats bis zum 31. auf der Seite mit den geraden Nummern. Am letzten Tag der jeweiligen Zeitspanne muss zwischen 20.30 und 21 Uhr umgeparkt werden. Heute ist schon der 18. November. Mein Auto hat also den Seitenwechsel verpennt und den Verkehr behindert.

Der Polizist von der Police municipale ist freundlich. Er habe mein Kennzeichen im Rechner, sagt er am Telefon. „Ihr Auto wurde heute Morgen abgeschleppt.” Ich solle mit Fahrzeugschein und Personalausweis vorbeikommen, einen Bon de sortie abholen und dann könne ich in der Fourrière intercommunale den Wagen abholen, das ist der Abstellplatz für die abgeschleppten Autos. „Viel Glück“, wünscht er noch.

Bei der Polizei sitzen Leute und warten. Eine Oma ist eingenickt, Kopf zur Seite. Was ihr wohl passiert ist? Die Handtasche geraubt? Auf dem Zebrastreifen eingeschlafen und den Verkehr behindert? Sie schläft weiter, während der Beamte mir den Abholschein ausstellt.

Der Abschleppplatz für die Fahrzeuge befindet sich am Ende der Welt. Ich klage dem Taxifahrer mein Leid. „Seien Sie doch froh, dass der Wagen nicht gestohlen wurde“, sagt er. Oder angezündet, was einem in Frankreich ja auch passieren kann. Der Taxifahrer ist ein Mensch, bei dem das Glas immer halb voll, nie halb leer ist. Und dann erklärt er mir, warum es dieses Stationnement unilateral alterné gibt: Man wolle damit gegen die Dauerparker vorgehen.

Bei der Fourrière sieht es trostlos aus. Ein Platz voller kaputter Autos. Mit kaputten Reifen, zerbeulten Türen, zersplitterten Fensterscheiben. Viele Campingautos. Ein Ort trauriger Fahrzeuge. Und ganz vorne steht mein Auto.

Ich werde begrüßt von Hundegebell. Denn fourrière ist im Französischen nicht nur das Wort für den Platz, auf dem die amtlich abgeschleppten Autos auf ihre Besitzer warten. Fourrière heißt auch Tierheim. In vergitterten Boxen stehen Hunde und schauen mich an. Sie hoffen, dass ich ihr neues Herrchen werde.

Es gibt ein Büro. Ich fürchte, dass man mir nur das Auto zurückgibt, wenn ich einen Hund mitnehme oder zwei Katzen. Der Mann hinter der Scheibe spricht nicht viel. Gibt mir eine Abschlepprechnung von 115 Euro. Ich muss Gott sei Dank keine Tiere mitnehmen. Ich wünsche aber insgeheim den französischen Bellos alles Gute. Am Wochenende ist in Paris zum 50. Mal eine Veranstaltung, bei der man Tiere adoptieren kann: „Weihnachten für ausgesetze Tiere“ heißt es in den Anzeigen. Hoffentlich habt ihr Glück und seid dabei und findet ein Frauchen oder Herrchen.

„Sie dürfen Ihr Fahrzeug jetzt mitnehmen“, sagt der Mann. Hallo Auto. An der Scheibe hängen noch mal zwei Strafzettel, Kategorie 2 zu je 35 Euro. Wenn doch heute Morgen nur einfach ein Socken verschwunden gewesen wäre. Andererseits: Frankreich ist in der Krise. Ich habe dem Land Geld gespendet. Und das Glas ist halb voll.

 

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Der neue erste Mann von New York

New York kennt in diesen Wochen vor allem ein Thema: den Wechsel im Bürgermeisteramt, der am 1. Januar stattfinden wird. Nach zwölf Jahren tritt der konservative, parteilose Milliardär Michael Bloomberg ab, der für einen Dollar Jahreslohn arbeitete. Sein Nachfolger ist der linke Demokrat Bill de Blasio, der noch im Sommer als chancenloser Außenseiter galt. Vor zwei Wochen aber wurde der 52jährige, fast zwei Meter große Weiße mit einer spektakulären Mehrheit von 73 Prozent der Stimmen gewählt. Das lag nicht zuletzt daran, dass de Blasio seine ungewöhnliche Familie – Ehefrau Chirlane McCray trat in jungen Jahren öffentlich als schwarze Lesbe auf – in genialen Fernsehspots vermarktete. Besonders populär war ein Spot mit Sohn Dante, der einen riesigen Afro trägt.

Anders als Bürgermeister-Milliardär Bloomberg, der an der vornehmen Upper East Side zuhause ist, lebt de Blasio in Brooklyn. Genauer gesagt, fünf Blocks von uns entfernt, im Stadtteil Park Slope. Mein Mann traf ihn mal im Weinladen, vor einigen Jahren. Da musste Bill noch persönlich Geschäfte abklappern, um für seine Wahl zum Bürgerbeauftragten („Public Advocate“) zu werben. Heute hat fast jeder Laden ein rotes „Bill de Blasio“-Schild unübersehbar aufgehängt – klar doch, wenn „einer von uns“ Bürgermeister wird. Atemberaubende 89 Prozent der Wähler von Park Slope haben für Bill gestimmt. Bei der Viertels-Halloween-Parade schritten er und Chirlane dem Zug voran und wurden mit Applaus und Jubelrufen begrüßt, als seien sie König und Königin.

Dabei weiß eigentlich keiner so recht, was Bill in seinem Amt als Bürgerbeauftragter bewegt hat. Davor saß er im Stadtrat. Das ist in seinem Heimatviertel schon deshalb unvergessen, weil er dafür sorgte, dass an einigen Straßenecken öffentliche Mülltonnen aufgestellt wurden.

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Er führte auch einmal einen Wahlkampf für Hillary Clinton. Dabei scheint er eine Menge gelernt zu haben. Trotzdem fragen sich viele, wie dieser Mann es schaffen soll, die schwierige Acht-Millionen-Metropole New York in den Griff zu bekommen. Seine Wahl erinnert an die von Obama, der ebenfalls von einer Woge persönlicher Sympathie ins Amt katapultiert wurde und dem sein Mangel an Erfahrung bis heute zu schaffen macht.

Einige unserer alteingesessene New Yorker Freunde befürchten eine Wiederkehr der Zustände in den berüchtigten 70er und 80er Jahren, als Korruption und Drogenkriminalität die Stadt fast lahmlegte. Andere prophezeien einen Auszug der Wohlhabenden, weil de Blasio New Yorkern mit einem Jahreseinkommen von mehr als 500 000 Dollar eine Zusatzsteuer abknöpfen möchte (bezeichnenderweise kann er das gar nicht selbst beschließen, sondern ist auf das Parlament des Bundesstaates New York angewiesen). Solche Ängste sind wahrscheinlich übertrieben. Klar ist indes, dass eine neue Ära in der Stadt anbrechen wird; es wird spannend sein zu sehen, wie „unser“ Bill sich schlägt. Vielleicht sorgt er ja dafür, dass auch der Hausmüll in ordentlichen Tonnen gesammelt wird anstatt in schwarzen Plastiksäcken, die über Nacht auf den Gehwegen gammeln und von Ratten angefressen werden. Das wäre ein echter Gewinn.

Foto: Christine Mattauch

 

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Diktatur der Mega-Esser

Ich weiss, es kommt mit dem Beruf: Bücher schleppen, Kataloge schmuggeln und in die Seitenfächer vom Koffer Magazine schieben – bis zum Gehtnichtmehr. Den Wintermantel beulen Kamera, iPad, Batterien und Kabel aus. Den Reissverschluss vom Handgepäck strapazieren Belegexemplare. Noch bin ich ruhig, kurz vor dem Check-in. Aber dann. „Vier Kilo Übergewicht“, sagt die uniformierte Frau. „Macht 80 Euro. Bar oder Karte?“

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Ich bin ein leichter, ausgebeuteter Flieger: Penny Modra fotografierte mich in Melbourne von der Flanders Lane aus im Adelphi Hotel Pool. Aeroflot Anflug über dem Burgenland.

Hinter mir steht ein Deutscher, sicher über 100 kg, wenn nicht 120. Und der Ami vor mir bestimmt nicht unter 90. Und das Mädchen, gross, sportlich, mehr als ich, mehr als 67 Kilo. Und ich, mit meinen 178cm muss für 4000 Gramm extra zahlen? Normalgewichtige aller Länder vereinigt Euch! Kampf der Ausbeutung durch die Diktatur der Mega-Esser, die auf unsere Kosten billiger fliegen. Wehrt Euch gegen die unverantwortlichen Carbon-Footprint-Hinterlasser, die bei jedem Check-in ungeschoren davon kommen. Besteht auf Eure Bonuspunkte, wenn ein Bayer samt Gepäck 130 Kilo wiegt und Ihr nur 87!

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Belegexemplare als Übergewicht: A&W Ausgabe Dezember 2013 mit Bericht über mein Architekturprojekt in Raiding, Burgenland.

 

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Clowns im Parlament

Sich lächerlich machen können brasilianische Abgeordnete gut. Sei es, indem sie sich mit Geldschein-Päckchen in der Unterhose erwischen lassen, oder indem sie niedliche Freudentänze in der Parlamentssitzung aufführen, wenn ihnen wieder ein Korruptionsstück gut gelungen ist.

Als allerdings 1,3 Millionen einen echten Clown ins Parlament wählten, dessen Wahlversprechen hieß: “Wählt Tiririca, schlimmer als es ist, kann es nicht mehr werden!”, da wollten sich die Abgeordneten doch dringend abgrenzen. Politik sollte Politik und Clown sollte Clown bleiben. Sie suchten nach einem Weg, um ihn loszuwerden und fanden ein Gesetz, das Analphabeten verbietet, Politiker zu werden. Lesen und Schreiben sind in Brasilien so unwichtig, dass heute noch fast ein Drittel der Bevölkerung ohne auskommt.

Tiririca, erfolgreicher Geschäftsmann, verdiente als Clown besser als die meisten Abgeordneten, beschäftigte seine Ehefrau als Assistentin und diktierte ihr alles Wesentliche. Es wird gemunkelt, dass auch die krakeligen Zeilen zu Tiriricas Ehrenrettung aus ihrer Hand stammen sollen. Jedenfalls: der Clown blieb im Amt. Und die anderen Parteien wurden neidisch – weil die Wähler neben Tiririca drei weitere Parteigenossen ins Parlament hievten. “Tiririca-Effekt” heißt das inzwischen. Den hätten jetzt alle gerne. Aber weil es nicht genug gute Clowns im Land gibt treten nun reihenweise Schönheitschirurgen, Sänger, Schwimmer, Ex-Fußballtrainer oder Ex-Big-Brother-Teilnehmer politischen Parteien bei.

Klare Favoriten unter den neuen Promi-Kandidaten sind: Sula, Ex-Sängerin und Muse der Brummi-Fahrer, Bambam-Kleber, Muskelmann und Ex-Big-Brother-Sieger sowie Narcisa, Ex-Ex-Millionärsgattin. Mit Sula hat eine Partei in einem Land ohne nennenswerten Schienenverkehr Zigtausende Brummi-Fahrer auf ihrer Seite. Und seit die Frau im Cowboyhut sich zum Glauben bekannt hat, können die harten Jungs ihre CDs sogar zuhause bei Mama hören. Vielleicht wählt die gleich mit.

Bambam überzeugt mit Muskeln – und die Politik braucht starke Männer. Die Wirtschaft hingegen braucht Bambams inniges Verhältnis zum Konsum: diese Woche kauft er einen Mercedes, nächste Woche eine Honda – wenn sich genug Leute daran ein Beispiel nehmen, wird Brasilien zum Top-Standort für die Automobilindustrie.

Narcisa Tamborindeguy ist reich geboren, zweimal reich geschieden und erzählt gern von sich: etwa wie sie sich früher Drogen frei Haus liefern ließ oder sich heute mit ihrem neuen Lover vergnügt. Oder davon, dass sie in ihrer Freizeit Eier aus ihrem Wohnzimmerfenster wirft und Wasser auf Passanten an der Copacabana gießt.

Wahlprogramme haben solche Kandidaten nicht nötig. Slogans auch nicht. Narcisa hatte zwischendrin sogar vergessen, welcher Partei sie beitreten wollte. Hochoffiziell war sie Mitglied der PSD geworden. Bis man sie daran erinnerte, dass sie ursprünglich der PSDB zugesagt hatte. Kein Problem: Schnell wieder aus- und der anderen beigetreten. Es gibt schließlich kein Gesetz, dass Politiker denken müssen. Hauptsache, sie können lesen und schreiben.

 

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Offene Wunden

Die Sieger schreiben die Geschichte. Dieser Satz gilt in Spaniens Hauptstadt Madrid mehr denn je. Die in Stadt und Region regierenden Konser­vativen vom Partido Popular (PP) von Premier Mariano Rajoy versuchen, ein Denkmal zu Ehren der Internationalen Brigaden, die im Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) halfen, die verfassungsmässige Ordnung gegen den Putsch der faschistischen Militärs von General Francisco Franco zu verteidigen, entfernen zu lassen. Die schlichte Säule aus Metall steht in der Universität Complutense, und damit am Schauplatz der härtesten Schlachten um die Hauptstadt.

Das von Bürgern und der Vereinigung der Freunde der Internationalen Brigaden finanzierte und von Studenten der Complutense entworfene Denkmal, habe «keine Baugenehmigung» und störe «das kulturell wertvolle Umfeld des Universitätsgeländes», befand das Madrider Landesgericht vor der Sommerpause. Die Säule müsse deshalb binnen zweier Monate abgerissen werden. Das Verfahren geht auf eine Anzeige eines Anwaltes aus dem Umfeld der ultrarechten Franco-Stiftung zurück. Konservative Presse und Politiker nutzen das Urteil, um ebenfalls den Abriss der Gedenkstätte zu fordern. «In diesem Land gibt es Leute, die noch nicht einmal im 20., geschweige denn im 21. Jahrhundert angekommen sind», erklärt der Rektor der Universität Complutense, José Carrillo. Er hat, wie bei anderen Denkmälern auf dem Universitätsgelände ebenfalls üblich, den Antrag auf eine Baugenehmigung erst eingereicht, nachdem die Gedenksäule errichtet und eingeweiht worden war. So verfuhren etwa auch die Initia­toren eines Denkmals für die Opfer der islamistischen Bombenanschläge auf die Pendlerzüge in Madrid am 11. März 2004.

Doch dieses Mal soll alles anders sein. Die Baubehörde der konservativen Stadtverwaltung von Bürgermeisterin Ana Botella, der Ehefrau des ehemaligen spanischen Premiers José María Aznar, antwortete auf das Gesuch ganz einfach nicht. Das Gericht nutze diese Lücke, um den Abriss anzuordnen. Stadt- und Landesregierung nahmen dies wohlwollend zur Kenntnis. Denn ihnen sind die als fortschrittlich verschriene Complutense und ihr Rektor Carrillo ein Dorn im Auge. Der vor zwei Jahren ins Amt gewählte Mathematikprofessor ist der Sohn des historischen Führers der spanischen Kommunisten in den Jahren des Widerstands gegen die 40-jährige Franco-Diktatur, die dem Bürgerkrieg folgte, Santiago Carrillo.

«Die Rechte in diesem Land ist starrsinnig. Sie will die klaren Tatsachen nicht anerkennen. Die Internationalen Brigaden kamen, um die Freiheit zu verteidigen», sagt Rektor Carrillo. Das Thälmann-Bataillon aus Deutschland, das Bataillon 12. Februar aus Österreich, das André-Marty-Bataillon und Commune-de-Paris-Bataillon aus Frankreich, das Lincoln Bataillon aus den USA oder auch das jüdische Palafox-Bataillon aus Palästina – insgesamt unterstützten knapp 60 000 Antifaschisten aus aller Welt die Verteidigung der spanischen Republik.

«Wir werden das Denkmal verteidigen. Es bleibt hier», erklärt der Rektor und legte Widerspruch vor Gericht ein. José Carrillo findet breite Unterstützung. «Wir protestieren gegen die Ungleichbehandlung, die in Madrid stattfindet», heisst es in einem Manifest eines Bündnisses aus Künstlern und Intellektuellen.

Fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Bewahrung historischer Erinnerung des früheren sozialistischen Premiers José Luis Rodríguez Zapatero, das spanienweit faschistische Namen und Denkmäler aus dem Stadtbild verbannen soll, sei der Stadtplan in Madrid noch immer voller Strassen und Plätze im Gedenken an Francos Diktatur, während das Denkmal an die Verteidiger der verfassungsmässigen Ordnung abgerissen werden solle. Unter dem Manifest für den Erhalt des Denkmals der Internationalen Brigaden finden sich Namen wie der des wegen Ermittlungen zu Verbrechen der Franco-Diktatur aus dem Amt entfernte Richter Baltasar Garzón, der Schauspieler Juan Diego Botto sowie Pilar und Carlos Bardem – Mutter und Bruder von Javier Bardem. Selbst aus dem Ausland kommt Unterstützung, etwa von Abgeordneten der britischen Labour Party und von der spanischstämmigen stellvertretenden Bürgermeisterin von Paris.

Eines der bekanntesten faschistischen Denkmäler steht nur unweit von Carrillos Rektorat: Der Triumphbogen. Dem berühmten Pariser Denkmal nachempfunden, steht er an der Strasse, auf der die siegreichen Truppen Francos im April 1939 in die Hauptstadt einzogen. Der Bürgerkrieg kostete mehr als 500000 Menschen das Leben, unter ihnen waren 15 000 Kämpfer der Internationalen Brigaden. In den Jahren nach dem Sieg der Putschisten fielen mindestens 400 000 Menschen der willkürlichen Repression zum Opfer, rund eine Million der damals 23 Millionen Spanier floh ins Ausland.

 

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Flanke statt Hocke

Die vorolympische Idee, in der Metro Fahrscheine gegen Kniebeugen auszugeben, wird die Fitness der Moskauer nicht nachhaltig steigern.

Sotschi wirft seine Schatten voraus. Keine 3 Monate vor dem Beginn der Winterspiele bietet die Moskauer U-Bahn ihren Fahrgästen neue sportliche Perspektiven. Gemeinsam mit dem Nationalen Olympischen Komitee stellte sie den ersten Zahlautomaten der Welt auf, an dem man sein Ticket mit Leibesübungen erwerben kann. Statt 30 Rubel (knapp 70 Cent) einzuwerfen, muss man vor einem Sichtfenster mit automatischer Kamera 30 Kniebeugen absolvieren, damit der Apparat einen Einzelfahrschein herausgibt. „Eine Geste der Gesundheit, die jeder Passagier vor der Olympiade in Sotschi zeigen kann“, sagt Jekaterina Beljajewa, die Pressesprecherin der Moskauer Metro. Die Kniebeugen-Tickets gehören zum Projekt „Olympische Veränderungen“, das den Alltag der Russen durch neue sportliche Elemente bereichern soll.

Kunstturnolympiasiegerin Jelena Samolodtschikowa weihte die unterirdische Trimm-Dich-Station am 8. November ein, danach standen vor allem Mädchen und junge Frauen Schlange, um in maximal 2 Minuten ihre Kniegelenke 30 mal zu beugen und zu strecken. Auch die Partielöwin und Ex-Primaballerina des Bolschoi Theaters Anastasija Wolotschkowa tauchte auf, legte vor laufenden TV-Kameras 30 saubere Grand Plie hin, verschwand danach freilich nicht in der U-Bahn, sondern im eigenem Lexus.

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Der kritische Radiosender Echo Moskwy aber veranstaltete eine Zuhörerdebatte, ob 30 Kniebeugen für ein U-Bahnticket keine menschenrechtswidrige Demütigung darstelle. Vor allem für arme Moskauer, die aus Sparsamkeit öffentlich in die Hocke gehen müssen.

Solche Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht. Denn es wurde nur ein einziger „olympischer“ Zahlautomat aufgestellt, in der Station „Wystawotschnaja“. Die liegt unweit des neuen Wolkenkratzerviertels Moskwa-City, wird von vergleichsweise wenigen Fahrgästen frequentiert, meist gut betuchten Yuppies, die den Apparat glatt ignorieren. „Wozu soll ich Kniebeugen machen?“, fragt die Personalmanagerin Olga Kriwoschlykowa, 29, unsere Zeitung. „Das ist eher was für Schulmädchen.“

Zudem soll der Automat, der von 9 bis 20 Uhr arbeitet, und neben dem ständig Wachmänner und ein Sanitäter Dienst tun, am 4 Dezember wieder abgebaut werden. Dann bleibt Moskauern, die sich das U-Bahn-Ticket sparen wollen, nur altbewährte sportliche Frechheit: Mit einer sauberen Flanke über die Drehkreuze an den U-Bahn-Eingängen springen und das ohnmächtige Trillergepfeife der betagten Wächterinnen ignorieren.

 

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Satans Braten statt Milchbar

Vor einem Monat hatten wir Aucklands Bürgermeister mit heruntergelassenenHosen – gesegnete Zeiten! Die haben sich rasant geändert. Keiner spricht mehr von Len Browns Affäre. Alle reden von den „Roast Busters“. Ja, die klingen lustig, wie ein Filmtitel. Zeigen sich auch in spaßigen Posen, samt Basecaps und Pickeln. Sie sind aber Vergewaltiger.

Immer öfter tauchen in Neuseeland Facebook-Seiten auf, die „root and rate“ oder „Goon Rigs and Scrags“ heißen: Junge Männer bewerten aufs Übelste Frauen, mit denen sie Sex hatten – mit Namen und Fotos. Dafür gibt es dann schon mal tausend „Likes“– und etliche zutiefst gedemütigte Internet-Opfer. Doch das ist alles Kinderkram im Vergleich zu den „Roast Busters“. Ein „roast“ ist laut „Urban Dictionary“ eine Frau, die von zwei Männern penetriert wird und damit einem Braten am Spieß ähnelt. Weiß ich auch erst seit kurzem und würde es gerne wieder vergessen. Soviel zur Linguistik.

Die „Roast Buster“ sind eine Gruppe 17- bis 18jähriger aus Auckland, zwei davon mittlerweile namentlich bekannt. Sie prahlten auf Facebook mit ihren „Eroberungen“. In Wirklichkeit waren das Gruppenvergewaltigungen von jungen Mädchen, die auf Parties schwerst betrunken waren. Sie wurden gefilmt, die Videos ins Netz gestellt. Eines ihrer Opfer, eine 13jährige, ging danach zur Polizei. Ihre Anzeige vor zwei Jahren, sagte sie jetzt, sei jedoch schlimmer gewesen, als von den „Roast Busters“ entjungfert worden zu sein. Seitdem dümpelte der Fall vor sich hin. Was vielleicht daran liegt, dass einer der Täter der Sohn eines Polizisten ist.

Nur zögerlich melden sich jetzt weitere Opfer. Eine Freundin von ihnen wurde von zwei Radiomoderatoren so sexistisch befragt, dass die anschließenden Proteste die Herren bis auf Weiteres vom Sender vertrieben. Gut so. Aotearoa – Speerspitze der Frauenrechte und angeblich heile Welt – hat damit nicht nur einen Skandal, sondern ein Problem. Gewalt gegen Frauen ist das eine, das Internet das andere, Porno sowieso. Das ganze Land sorgt sich um die Moral seiner Teenager. Vielleicht sollte es sich parallel auch über seine Polizei Gedanken machen.

1954 gab es einen ähnlichen Aufschrei. Damals waren es die „Milk Bar Cowboys“, die sich in einer Milchbar in Lower Hutt mit Gleichaltrigen trafen, um sich in die Büsche zu schlagen. Es folte eine offizielle Untersuchung. Sie enthüllte „einen schockierender Grad unmoralischen Betragens, das sich zu sexuellen Orgien ausweitet“. Verrottete Jugend, schon damals – oh heilige Unschuld.

Dass die Welt hier unten doch noch in Ordnung ist, haben uns dann am Samstag Jill Jeffries und James Dobinson gezeigt. Das junge Paar aus Lyttelton, beide mit Down-Syndrom und seit fünf Jahren liiert, haben als erste in der neuen Papp-Kathedrale von Christchurch geheiratet. Der ganze Hafenort half bei der Hochzeit, brachte Essen und Blumen, lieh einen Bentley, vergoss Freudentränen. Monatelang hatten Jill und James auf dem Wochenmarkt getanzt, um Geld für ihr Fest zu sammeln. Es lebe die Liebe.

 

 

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War mein Vater im Geheimdienst?

Seit der NSA-Snowden Affaire denke ich oft an meinen Vater. Er ist vor ein paar Jahren verstorben, hatte ein abenteuerliches Leben hinter sich – zumindest in seinen jungen Jahren als Fremdenlegionär in Afrika und Vietnam, zumindest, wenn ich ihm Glauben schenken darf, was er erzählte (als Beamter im österreichischen Innenministerium).

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Mein Vater liest uns vor: Zumindest könnten die Geschichten wahr sein

„Zumindest“ begleitet alle Erinnerungen an ihn. Es ist ein Schlüsselwort, auch von Geheimdiensten, wenn sie Zweifel sähen wollen, wenn Tatsachen ans Licht kommen, die angeblich nicht für uns, die Öffentlichkeit, bestimmt sind. Wir haben ja gewusst, dass unsere E-Mails gelesen und Telefonate abgehört werden – zumindest, so dachten wir, besteht die Möglichkeit dazu. Und wenn Julian Assange als Sexverbrecher dargestellt wird, könnte das eine Rache der NSA an Wikileaks sein – aber andererseits und zumindest könnte sich Julian auch wirklich vergangen haben. Rufmord im gleichen Stil funktioniert nicht zwei mal hintereinander. Aber hey, der Snowden-Affairen-Aufdecker Journalist Glenn Greenwald hat doch einen schwulen Partner. Präsentieren wir doch den der breiten Öffentlichkeit – zumindest könnte mit ihm was faul sein.

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Algerien, 1946: Mein Vater in der Fremdenlegion

Erzählungen von meinem Vater damals erklären heute, warum kein Politiker gegen Praktiken wie die der NSA vorgeht. („Nicht einmal faule Eier fliegen“ kommentiert ein Leser vom österreichischen Der Standard.)

„Alle Volksvertreter sind von diesen zwielichtigen Institutionen erpressbar,“ sagte mein Vater. „Die Agenten bezahlt das Volk, aber kontrollieren, zur Rechenschaft ziehen, kann es sie nicht. Im Innenministerium liegen von allen Politikern Geheimakte auf. Die Staatspolizei (Anmerkung: heute heisst dieser Geheimdienst Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung) lanziert Informationen nach Gutdünken und politischer Gesonnenheit. Sie sind nur einem kleinen, inneren Kreis vorbehalten, der keiner Aufsichtsbehörde untersteht. Sie dienen zum Selbstschutz der Geheimdienstler, zur Erpressung und für Geschäfte. Gibst du zum Beispiel den Israelis eine Information, bekommst du zwei gute zurück. Deshalb wird der Mossad geschätzt.“

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Pensioniert und vom Staat ausgezeichnet: Mein Vater beim Kasernenbesuch in den 90er Jahren

Ich weiss bis heute nicht, welche Funktion mein Vater im Innenministerium wirklich einnahm. Er tat geheimnisvoll, wissend, gewichtig und immer so, dass er zumindest auch ein Wichtigmacher hätte sein können, was wiederum auch nicht Sinn machte, da er ja zumindest einen der höchsten Orden der Republik erhalten hatte. Kurz vor seinem Tod erwähnte er, dass er aus seiner umfangreichen Büchersammlung noch ein paar Dokumente entfernen wollte, die er dort “zur Sicherheit” versteckt hatte. “Es wäre besser, wenn ich sie nicht finde.” Er kam nicht mehr dazu – und ich auch nicht, das heisst, tausende Seiten durchblättern, denn, zumindest könnte zwischen den Buchdeckeln ja wirklich etwas Interessantes zum Vorschein kommen.

 

 

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Schlechter Partner Onkel Sam

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Es wartete eine große Überraschung auf mich in der Los Angeles Sports Arena. Diese war für ein paar Tage verwandelt in ein improvisiertes Krankenhaus mit Zahnarzttischen auf dem Basketballfeld und Augentests in den Katakomben. Die Ärzte behandelten mehr als 4000 Patienten innerhalb von vier Tagen. Ich wollte herausfinden, warum sie mehrere Stunden – oft über Nacht – Schlange gestanden hatten, um Zahnfüllungen zu bekommen oder eine Brille. Für mich schien das Prozedere entwürdigend und ich war sicher: die Mehrheit dieser Patienten konnte es nicht erwarten, sich für ‘Obamacare’ einzuschreiben.
Weit gefehlt! Die meisten, mit denen ich sprach hatten noch nicht einmal angefangen, sich über das neue Gesundheitsgesetz zu informieren. Sie trauen dem System aus improvisierten kostenlosen Behandlungen und Notaufnahmen mehr als Regierungsprogrammen. Eine alleinerziehende Mutter, die mit Zug und Bus zur Klinik gekommen war, erzählte: die staatliche Krankenversicherung habe ihrem asthmakranken Sohn jahrelang nicht die richtige Behandlung gegeben und sie endlos für ein Inhalationsgerät kämpfen lassen. Außerdem: “Präsident Obama hat doch nicht alles unter Kontrolle, mal ehrlich! Das hier ist besser als Obamacare!”
Kriegsveteran Cornel berichtete von schlechten Erfahrungen mit seiner staatlichen Krankenversicherung nach Ausscheiden aus dem Militärdienst: “Ewiges Warten, Tonnen Papierkram und endlose Hürden bevor es Service gibt”
Cornel spricht über Regierungsprogramme
Der Hausmeister bekommt Basis-Versorgung vom Staat, dazu gehören aber weder Zahnbehandlungen noch Augenuntersuchungen. Er war in die Sporthalle gekommen, weil ihm beim Basketballspielen zwei Backenzähne ausgeschlagen wurden. Der Zahnarzt wollte 5000 Dollar für eine Brücke. Cornel zahlt jetzt noch an den 1200 Dollar dafür, dass er ihm die abgebrochenen Zähne zog. In der kostenlosen Klinik bekam er nicht die erhoffte Brücke. Der Zahnarzt versorgte ihn stattdessen mit Füllungen, Zahnreinigung und einer Liste von Ärzten, die Zahnersatz zu niedrigen Kosten anbieten. Cornel wird auch für die nächste kostenlose Behandlung wieder über Nacht Schlange stehen. Er braucht eine Brille. Den Klapptisch mit Informationen über Gesundheitsreform würdigte er keines Blickes.

 

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Nackt und nass im Nirgendwo

Japaner sind schlank, sehen fünfzehn Jahre jünger aus und werden älter als alle anderen Erdbewohner. Nicht Fisch, Reis und Gene allein sind das Geheimnis ihrer Langlebigkeit, sondern Wasser. 43 Grad. Täglich. Mittlerweile hat es sich auch im Westen herumgesprochen, dass die Badewanne in Japan nicht zum Einseifen und Shampoonieren da ist, sondern zur Entspannung. Waschen tut man sich auf dem Schemel vor der Wanne. Erst danach taucht die ganze Familie ein, ins selbe Wasser, einer nach dem anderen.

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Gedanken gedämpft im Dampf: Ferne Erinnerung an mein Embryonaldasein

Zurück zum langen Leben: Jedes Strassenviertel in Japans Metropolen hat heute noch ein Sento, ein öffentliches Bad, geöffnet bis Mitternacht oder länger. Suchte man es in alten Zeiten auf, fehlte zu Hause die Waschgelegenheit. Geht man heute hin, will man sich entspannen, praktiziert Hausputz im Kopf (bei mir drei, vier mal die Woche). Der Eintritt kostet 450 Yen (3.50 Euro). Den kassiert die „Sento-Mama“. Sie sitzt auf einem überhöhten Stuhl und hat Einblick sowohl in die Männer- als auch Frauenabteilung. (Getrenntes Baden hatten die Amerikaner nach dem zweiten Weltkrieg verordnet.)

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Im Blickfang der Sento-Mama: Umkleiden mit klassischer Musik

Mitunter ruft die Chefin des Familienbetriebs zu den Frauen rüber: „Nakamura-san, der werte Ehemann ist bereits angezogen!“ Oder umgekehrt. „Nakamura-san, lassen Sie doch die werte Ehefrau nicht warten!“ Meine Sento-Mama kennt die Familien der Umgebung, hört alles, weiss alles. Sie liebt klassische Musik und manchmal fragt sie mich nach einer Melodie, während ich mich vor ihr ausziehe. Ich lege die Kleidung in eine Box und gehe mit Seife, Zahnbürste und Handtuch in die Badehalle. Ich schnappe mir einen Plastikschemel und setze mich vor einen der dutzenden Wandspiegel. Und dann beginnt mein Ritual, mit dem ich seit zwanzig Jahren in der 35-Millionen-Metropole Tokio den Stress loswerde – und mein Leben um 15 Jahre verlängere.

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Schuhbox mit Holzschlüssel

Ich fülle einen Kübel mit Wasser, übergiesse meinen Kopf, seife mich ein. Ringsum Plätschern und Glucksen, gedämpft vom Dampf – wie eine ferne Erinnerung an mein Embryonaldasein. Ich werde langsamer. Ich stehe auf, steige in eines der Becken mit Digitalanzeige: 39 Grad. Ich seufze, wie alle Japaner, wenn sie ins heisse Wasser steigen mit diesem langgezogenen, kehlige „Ahhhhhh“. Dabei öffnet sich der Mund wie beim Gähnen. Nun wissen die anderen Sento-Mitverschworenen, dass man „heimgekommen“ ist und mit der Welt draussen nichts mehr zu tun hat. Sie nicken zustimmend und sagen „Ii neeee! Wunderbar!“ Ich setze mich zu ihnen. Meine Füsse schwimmen oben und mein Nacken ruht auf einer eisgekühlten Röhre. Dann das zweite Einseifen. Die Haut ist nun aufgewärmt und die alte Schicht lässt sich leicht mit einem Tuch abreiben. Rauh ist es wie Sandpapier. Väter, Kinder, Brüder, Freunde schrubben sich abwechselnd den Rücken.

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Füsse schwimmen oben. Der Nacken ruht auf einer eisgekühlten Röhre

Anschliessend ins Becken mit 43 Grad. Sollten noch Restbestände der Aussenwelt im Kopf herumschwirren – nun werden auch die eliminiert, wobei das kehlige „Ahhhhhh!“ diesmal Ausdruck des Schmerzes ist. Ich halte es im Becken länger aus, als die meisten Japaner. Dabei hilft mir ein Trick, den ich durch Zufall vor Jahren entdeckt hatte: Ich lege die flachen Hände auf die Nierenseiten. Damit sinkt die Temperaturempfindlichkeit. Zumindest bilde ich mir das ein. Danach sitze ich – der Körper krebsrot – wieder auf dem Hocker vor dem Spiegel. Diesmal sind die Augen geschlossen und ich wasche mir den Kopf innen, das heisst, ich tauche in ein Gedanken- und Bildernichts ein und verliere das Zeitgefühl. Abschliessend probiere ich es mit einer alten Übung, die mir noch nie gelungen ist: in Gedanken einen Salto schlagen. Es klappt einfach nicht, aber ich bin nicht enttäuscht. Ich bin über alles erhaben. Ich habe die Ärgernisse des Tages vergessen und bin mit dem Leben im Reinen. Die Sento-Mama hat Schubert aufgelegt. Ich trete hinaus in die Nacht und finde die hässliche, fünfstöckige Strassenkreuzung eigentlich recht interessant.

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Meine Kreuzung nebenan

 

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Wir sind so sexy

Kiwis haben gerade den totalen Sex-Flash, und das ganz ohne Schafe. Die 17jährige Lorde ist mit „Royal“ an der Spitze der YouTube-Charts; nicht lange davor war die wunderhübsche Kimbra schwer im Rennen. Musikalisch was drauf, genug Sex-Appeal, um Miley Cyrus locker von ihrer Kanonenkugel zu schubsen UND aus Neuseeland – wann gab’s jemals sowas? Wir können es selber noch nicht ganz fassen. Wir haben Hormonschübe, wir reißen uns vor Exstase fast die Kleider vom Leibe, und als größtes Aphrodisiakum haben wir jetzt auch noch ein waschechtes Polit-Luder, das Aucklands Bürgermeister zu Fall brachte. Voll Hollwyood!

Aber erst mal Kiwis und Stars: Einen Russell Brand können wir nicht bieten, nicht mal eine Fehlpressung von One Direction oder Justin Bieber. Okay, Fat Freddie’s Drop touren gerade durch Deutschland, und ihr Sound ist vom Feinsten. Aber sexy? Nee, sorry, abwink, so sind wir nicht. Aber dann plötzlich: Lorde! Oh my fucking god.

Das gleiche Phänomen bei den Dichtern und Denkern. Wer gewinnt den elitären Man-Booker-Preis? Eleanor Catton. Nicht nur 26 und hochbegabt, sondern auch noch so hübsch, was natürlich gar keine Rolle zu spielen hat, aber natürlich bemerkt wird. Das kannten wir bislang nicht. Denn Kerri Hulme, die bis dato einzige Booker-Preisträgerin aus dem literarischen Kiwi-Kanon, ist eine sperrige Gestalt. Nicht nur charakterlich, auch leiblich. Ihr öffentliches Auftreten jenseits von Angelstellen ist eher deftig: Saufen, fluchen, Pfeife rauchen. So gar nicht Pin-Up.

Auch unsere Politiker, mal abgesehen von der transsexuellen Schönheit Georgina Beyer, sind eher von der unglamourösen Sorte. Ganz besonders Len Brown, Bürgermeister von Auckland. Wer hätte daher gedacht, dass ausgerechnet dieser brave Schlipssträger mit Halbglatze in den größten Schmuddelskandal gerät, den das Land je gesehen hat. Man müsste sich mit ihm schämen, wenn man sich nicht so wunderbar daran aufgeilen könnte.

Brown, verheiratet mit drei Töchtern , hat zwei Jahre lang eine Affäre mit einer jungen Chinesin gehabt, die angeblich auf einen Posten im Stadtrat scharf war. Heiß für ihn, lauwarm für sie, denn der schnelle Len – das wissen wir jetzt alles im Detail – kam immer schon nach wenigen Minuten. Bevan Chuang, nur halb so alt und nebenbei mit einem Mitarbeiter von Browns politischem Gegner liiert, wurde von ihrem Sugardaddy wie eine Prostituierte behandelt, „nur ohne Bezahlung“. Telefonsex im Amtszimmer – ja, mit Hose runter – und Wham-Bam-Thank-You-Ma‘am in den würdigen Hallen, wo die Maori-Ältesten tagten. Ein Pförtner überraschte sie dort in flagranti. Der schwieg, Miss Chuang jedoch nicht, und so kommt es, das wir jetzt ihre intimen SMS-Nachrichten kennen und man ihr Rollen in Pornos anbietet, weil ihre Karriere vorerst zuende ist. Len Browns noch nicht, denn Bill Clinton hat das mit Monica Lewinsky damals ja auch hingebogen. Ausdenken kann man sich das alles nicht. Nur wundern, wohin es noch führen soll. Sodom und Aotearorrha! Und jetzt: kalt duschen.

 

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Mein Nationalfeiertag

Am 26. Oktober war ich nicht in Japan, besuchte mit Architekt Terunobu Fujimori Raiding. Der Geburtsort von Franz Liszt befindet sich im Burgenland – unweit vom ehemaligen Eisernen Vorhang. Die Vortragsscheune war alt, das Architekturthema modern. Zur gleichen Zeit feierte Österreich – wie jedes Jahr, seine wiederhergestellte Souverenität: mit Panzerparaden und Rekruten auf der Wiener Ringstrasse. Und deshalb fiel mir folgende Geschichte mit meinem Armeepullover ein.

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Sturmgewehr vorn. Pullover nach hinten: Auch ich war einmal Rekrut.

1973 diente ich meiner Heimat, wie man so schön sagt. Während der sechs Monate als Wehrpflichtiger in der Kaserne Leobersdorf bei Wien lernte ich, dass eine Handgranate aus 3000 Splittern besteht und über den Kopf geworfen werden muss – damit sie nicht in den eigenen Reihen explodiert. Das Sturmgewehr konnte ich in stockdunkler Nacht zerlegen, putzen und wieder zusammenbauen. Panzer eleminierte ich mit einem langen Brett, einer Schnur und einer Mine. Kurz vor Eintreffen des „Russen“ zog ich das Brett vom Versteck aus über die Fahrbahn. Bummmm! Heute heisst sowas IED – Improvised Explosive Devise, und die Taliban verwenden statt der Schnur ein Handy. Ausserdem lernte ich, dass es besser ist, den olivgrünen Pullover mit dem V-Ausschnitt nach hinten zu tragen. Das schützt den Hals besser vor Gegenwind. Nach dem Abrüsten durfte ich diesen Pullover, sowie eine Hose – und ich glaube, auch eine lange Unterhose in Tarnfarbe, behalten – für den Ernstfall, sollte der Russe doch noch kommen. Ich nehme an, dass es bei einer Mobilisierung Zeit spart: Kein Armeeunterhosenanziehen in der Kaserne, sondern schon auf dem Weg dorthin. Der Schnitt und die Farbe des Pullovers passte perfekt zu meinen Jeans, und so war er noch Jahre nach meinem aktiven Heimatdienst fester Bestandteil von Disko- und Ausstellungseröffnungsbesuchen – bis er sich irgendwann von selber auflöste.

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Pullover und Unterhose, 30 Jahre alt, für €36.34

Wie gross meine Überraschung, als ich dreissig Jahre später vom Militärkommando eine eingeschriebene Drohung erhalte – getarnt als Grosszügigkeit. Wird der Pullover samt Unterhose nicht retourniert, geht’s vor’s Gericht. Die Grosszügigkeit bestand darin, dass „in Anerkennung meiner geleisteten Dienste“ die Möglichkeit besteht, den dreissigjährigen Pullover und die Unterhose für €36.34 zu erwerben.

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Dank an die Sovietunion für die Befreiung von der Naziherrschaft: Das „Russendenkmal“ auf dem Schwarzenbergplatz in Wien. Heute dient es als Kulisse für russische Musikvideos.

Ob die Betriebsversorgungsstelle des österreichischen Militärkommandos mit der Armeebekleidung immer noch so umgeht, das heisst, im Jahr 2043 zurückverlangt? Wer ist heute der imaginäre Feind? Es muss ihn geben, denn sonst würden am Nationalfeiertag in Wien keine Panzer rollen. Oder ist der Feind unsichtbar, die Militärparade ein Ausdruck der Hilf- und Nutzlosigkeit? Ist der Feind vielleicht sogar einer, der aus meinem Blog Schlüsselwörter wie IDE, Taliban und Handgranate filtert?

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Verfallener Schweinestall im Burgenland: Bauern versteckten hier ihre Frauen während der zehnjährigen russischen Besatzungszeit.

 

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Im Zentrum der Macht

Unterirdische Gänge führen vom japanischen Parlament zu den Büros der 480 Abgeordneten . Einer von ihnen ist Hideki Miyauchi (52). Er vertritt die Anliegen von 350,000 Einwohnern und ist Mitglied der Liberal Democratic Party (LPD). Ich besuche den konservativen Politiker, passiere dabei unbedrohlich wirkende Sicherheitszonen.

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Anzug zurechtrücken im Granittunnel: Sauber und steril ist der Zugang und unscheinbar die Videoüberwachung.

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Unterstützung vom Boss: Mit dem Wahlsieg von Premierminister Shinzo Abe (rechts) ist Hideki Miyauchi im Dezember 2012 zum ersten Mal ins Parlament eingezogen. 25 Jahre hat er sich darauf vorbereitet – als Mitarbeiter von einem Abgeordneten. „Ich fliege jedes Wochenende in meine Heimatstadt Fukuoka, besuche Bauern und Geschäftsleute. Wir müssen auf Biegen und Brechen die japanische Wirtschaft ankurbeln!“ sagt Miyauchi.

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Bürogebäude der Abgeordneten: Ich passiere einen Metalldetektor. Die Wachen tragen hellblaue Uniformen, sind zuvorkommend, Waffen erkenne ich auf den ersten Blick nicht. Die Atmosphäre ist kühl, geschäftsmässig. Keine Spur von Überheblickeit, wie ich sie sonst bei Sicherheitskontrollen an deutschen oder österreichischen Flughäfen erlebe. Eine uniformierte Dame kontrolliert hinter Panzerglas meinen Ausweis. Vor mir ist eine kleine Kamerakugel aufgebaut, davor das Schild: „Sie werden nun im Büro, das Sie besuchen wollen, identifiziert“.

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Nach dem Security Check Hände desinfizieren: Ich besprühe meine Hände mit antiseptischer Flüssigkeit, hänge mir eine Magnetkarte um den Hals, passiere die zweite Absperrung. Sie sieht aus wie eine Fahrkartenschranke.

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Delegationen in Schwarz: Ich folge dunklen Anzügen zum Aufzug. Miyauchis Büro hat die Nummer 604 und liegt gleich neben dem des LDP-Granden Ichiro Ozawa.

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Abenomics: Mit Deficit spending und strukturpolitischen Reformen will Premierminister Abe dem Land auf die Beine Helfen. Seine LDP hat die absolute Mehrheit. Gefolgsleute wie Miyauchi predigen Verzicht (niedrigere Renten), Zusammenarbeit (Freiwilligenarbeit unterJugendlichen im Sozialbereich) und Mut (mehr Investitionen für Forschung und Ausbildung). Kritiker bezeichen den Abenomics-Kurs als leichtsinnig. Der Geldumlauf soll sich innerhalb von zwei Jahren verdoppeln.

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Marmelade und Nudeln: In seinem Büro hat Miyauchi Produkte aus seiner Heimat ausgelegt. „Die Leute aus meinem Wahlkreis sagen nicht direkt ‚wir wollen höhere Löhne‘. Sie sprechen indirekt, sagen zum Beispiel ‚Die Wirtschaft soll besser werden!‘ Als Abgeordneter muss ich die Wünsche herausfiltern, interpretieren. Meine Heimatstadt Fukuoka war immer schon Japans Tor zu Asien. Diesen Standortsvorteil sollten wir nützen.“

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Kühlen Kopf bewahren: „Militärisch gesehen bereitet uns die Nähe zu China keine Sorge,“ sagt Miyauchi. „Was immer in Zukunft passiert, Amerika bleibt unser Partner. Wir wollen einen sachlichen, konstruktiven Dialog mit unseren Nachbarländern.“

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Room with a view: Die Begrünung rund um das Abgeordentenhaus gleicht Wehranlagen aus alten Samurai-Zeiten.

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Auf Wiedersehen und alles Gute! Miyauchi empfängt Besucher und Delegationen im 30-Minuten-Rhythmus.

 

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Hauptsache, LAUT!

Seit wir vor ziemlich genau zwei Monaten nach Peking gezogen sind, ist ein ruhiges Plätzchen schwer zu finden. Das liegt zum einen an den großen Baustellen neben und hinter unserem Haus. Doch das Problem ist temporär und wird irgendwann verschwinden. Etwas anderes aber wird uns während unserer Zeit im Reich der Mitte begleiten: Die Freude der Chinesen am Lärmen, am geselligen und kakophonischen Beisammensein.

Was den normalen Mitteleuropäer zurückprallen lässt, ist für die Einheimischen normale Härte. Knallvolle Restaurants, dichtes Treiben vor Sehenswürdigkeiten, Schieben und Drängen an Bushaltestellen, und das alles mit möglichst lautstarker Untermalung (Nein, ich fange jetzt nicht an, mich über das deutlich hörbare, röchelnde Spucken auszulassen). Hier ist das Alltag und deswegen gibt es auch ein Wort dafür: Rè Nào nennen die Chinesen den Zustand der lärmenden Enge. Laut meiner Chinesischlehrerin ist der Begriff eine Zusammensetzung der Worte „heiß“ und „laut“. Das trifft’s genau.

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Bei unserem ersten Trip in den Süden Chinas vor drei Wochen sammelten wir intensiv Erfahrung mit Rè Nào. Es war während der so genannten Golden Week, wenn sich ganz China und wenige, unerfahrene Ausländer (also wir) auf Reisen begeben. Egal, zu welcher Sehenswürdigkeit wir kamen, durch welche Gassen wir gingen, auf welchem Ausflugsdampfer wir fuhren – es gab kein Entkommen von den Massen, die sich freudig ihre Urlaubs-Eindrücke zubrüllten.

 

Inzwischen kann ich verstehen, dass eine chinesische Freundin, die vor Jahren als Krankenschwester nach Österreich ging, bei ihrer Ankunft in Wien dachte, es sei etwas Furchtbares geschehen. Ganz still und menschenleer wären die Straßen der Hauptstadt an jenem Sonntagmorgen gewesen. Das hätte ihr richtig Angst gemacht, und sie hätte gedacht, dass vielleicht ein Krieg bevorstünde und deswegen alle Menschen in ihren Häusern wären. Damals hatte ich diese Geschichte nicht verstanden, als eine übertriebene Anekdote abgehakt. Doch aus hiesiger Perspektive wird der Kulturschock begreifbar, den meine an Rè Nào gewöhnte Freundin erlitten hatte. So wie ich jetzt (eigentlich wollte ich immer im dünn besiedelten Schweden leben, aber das ist eine andere Geschichte). Egal, meine Freundin hat sich bestens mit ihrem ruhigeren Leben in Wien arrangiert. Das wird mir mit dem kakophonischen Alltag in China sicher auch gelingen. Irgendwann jedenfalls.

 

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Buchhimmel, Buchhölle, Buchmesse

Als ich gestern begann, diese trauerumflorten Zeilen zu schreiben, gewann doch glatt Eleonar Catton den Man-Booker-Preis. Ja, eine Neuseeländerin sackte den begehrtesten Literaturpokal ein. Als Jüngste überhaupt, und für den dicksten Booker-Schmöker aller Zeiten: „The Luminaries“ hat 832 Seiten. So viele Superlative, so toll! Das erinnert mich ans letzte Jahr, als ich von der Buchmesse wiederkam und jeder fragte, wie wir waren. Denn Neuseeland, das ja alle so schätzen, sich nach ihm sehnen, aber selten was von ihm lesen, war damals Ehrengast gewesen. Ein Riesen-Tamtam.

Die gefühlte Häfte aller einheimischen Autoren wurde nach Frankfurt verschifft, wo sie etwas ratlos rumstand. Es war wie auf Klassenfahrt. Radio New Zealand machte eine Live-Schaltung, man feierte sich ab, dazu Pinot Noir aus Central Otago – wer kann da meckern? Ich hielt mich eher an die Freigetränke meines Verlages als bei Maori-Tänzen auf und konnte die ganze Pazifik-Pracht kaum aufnehmen. Aber eines war klar: So viel Beachtung wie in jener Woche hat die kleine, feine Verlagszene Aotearoas noch nie bekommen. Und ein Jahr später ist klar: So beschissen wie jetzt ist es ihr auch noch nie ergangen. Während die Frankfurter letzte Woche mit Brasilien anstießen und unsere neue Star-Autorin in London geehrt wurde, herrscht daheim beim ehemaligen Ehrengast Krise.

Kevin Chapman lief damals als kiwianischer Wichtigmann von Halle zu Halle. Das deutsche Messe-Essen war ihm suspekt, er hielt sich an Hot Dogs. Im Mai diesen Jahres tönte er als Präsident der Verlegervereinigung Neuseelands noch: „Dies ist eine Branche, die über ein Jahrhundert lang bemerkenswerte Widerstandskraft bewiesen hat.“ Zwei Monate später war er seinen Posten los. Der Verlag Hachette, dessen neuseeländischer Direktor er war, machte sein Auckland-Büro dicht und strich 15 Stellen, auch seine.

Zuvor hatte sich bereits HarperCollins aus Neuseeland zurückgezogen – die Geschäfte werden jetzt von Sydney aus geregelt. Random House und Penguin haben sich im Juli global vereinigt, was ein paar Druckmöglichkeiten weniger für Kiwi-Autoren bedeutet. Und dann schloss noch Pearson seine Tore, der größte Schulbuchverleger. Von den 2000 Büchern, die pro Jahr in Neuseeland erschienen, waren allein 1200 Lese-Heftchen für Grundschüler.

Was in den letzten fünf Jahren weltweit den Buchmarkt umkrempelte, erlebten die Kiwis in nur 12 Monaten: Mehr selbstverlegte E-Books im Netz, weniger echte Verlage. Es ist in Aotearoa billiger, sich was von Amazon schicken zu lassen, als es im Buchladen zu kaufen. „Book shop“ bedeutet in vielen Fällen Schreibwarenladen mit Sportzeitschriften, in dem als literarisches Beiwerk Dan Browns Schinken und ‚Fifty Shades of Grey‘ stehen, aber selten ein im Lande produziertes Buch. Zum Beispiel von Awa Press. Mary Varnham ist dort Verlegerin und sagt: „Wer weiß, ob es uns in fünf Jahren noch geben wird.“ Mit einem Caipirinha allein lässt sich das nicht runterspülen. Prost, Eleanor!

 

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Zu wenig Platz für guten Auslandsjournalismus

weltreporter.net ist der größte Zusammenschluss freier deutscher Auslandskorrespondenten. Da ist es wenig überraschend, dass wir meinen, dass unser Berufsstand dringend gebraucht wird. Das gleiche sollte man von den Herausgebern deutscher Tageszeitungen denken, die ihr Geld damit verdienen, eine möglichst gute Zeitung zu machen, die den Leser täglich aufs Neue begeistert. Doch das Gegenteil ist der Fall.

Ein Medienkonzern wie Madsack (HAZ, Lübecker Nachrichten, OZ, LVZ) hat bisher über 18 überregional arbeitende Redaktionen – bald soll es nur noch eine sein. Mit der hochwertigen Berichterstattung, für die wir Weltreporter uns mit unserer täglichen Arbeit einsetzen, ist das kaum vereinbar. Deshalb betonen wir das Selbstverständliche: die Notwendigkeit einer publizistischen Vielfalt, zu der ortskundige Korrespondenten kritisch und kompetent mit Inhalten und Hintergründen beitragen.

Madsack ist kein Einzelfall. Die jüngsten Spardiktate etwa bei DuMont (Kölner Stadtanzeiger, Berliner Zeitung) lassen Schlimmes befürchten. Wir sehen, wie ganze Weltregionen ausgeblendet werden – auf Kosten der Korrespondenten, deren Rahmenverträge gekündigt werden, aber auch der Leser, die immer oberflächlicher informiert werden.

Tageszeitungen können nur überleben, wenn sie sich durch tiefergehende, überraschende und spannende Geschichten vom bunten Allerlei im Internet absetzten. Dafür braucht man Journalisten, die in ihrem Berichtsgebiet leben – keine Fallschirmreporter, die zu Krisenzeiten für ein paar Tage eingeflogen werden und dann voneinander abschreiben.

Guter Journalismus muss außerdem auch in Zukunft bezahlt werden. Ausbeutungsportale wie die Huffington Post, die ihre Autoren nicht bezahlen, nutzen letztlich nur einem: dem Herausgeber, der mit den unbezahlten Leistungen anderer Profit macht.

Weltreporter.net gehören derzeit 66 Mitglieder an, die aus 160 Ländern für ebenso viele verschiedene deutschsprachige Medien berichten. Ziel unseres eingetragenen Vereins ist die Förderung eines hochwertigen Auslandsjournalismus, zu dem sich alle Mitglieder bekennen.

Im kommenden Jahr feiern wir unseren zehnten Geburtstag. Diesen Anlass werden wir nutzen, um besonders engagiert und lautstark für guten Auslandsjournalismus auch in den Tageszeitungen zu streiten!

Dafür haben die Weltreporter einen neuen Vorstand gewählt. Neue zweite Vorsitzende ist die ehemalige ARD-Nahost-Korrespondentin Birgit Kaspar, die nach langer Zeit als Freie in Beirut nun für Hörfunk und Print aus Toulouse berichtet. Das globale Vorstandsteam vervollständigen Schatzmeisterin Julica Jungehülsing (Sydney), Klaus Bardenhagen (Taipei) und Kerstin Zilm (Los Angeles). Geschäftsführerin Barbara Heine leitet die Hamburger Geschäftsstelle von weltreporter.net.

Ich – Marc Engelhardt, nach sieben Jahren in Afrika inzwischen UN- und Schweiz-Korrespondent in Genf – darf in den kommenden zwei Jahren als erster Vorsitzender unser streitbares und kompetentes Netzwerk vertreten. Darauf freue ich mich – wie über jeden Tag, an dem Leserinnen und Leser in ihrer Tageszeitung noch lesenswerte Geschichten aus dem Ausland finden.

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