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100 Jahre Leben – welche Werte wirklich zählen

9783455503753 (1)“100 Jahre Leben – welche Werte wirklich zählen” heisst mein neues Buch, das soeben bei Hoffmann und Campe erschienen ist: In berührenden Gesprächen und Begegnungen mit zehn Hundertjährigen habe ich manch ein Geheimnis erfahren und oft verblüffende Antworten auf entscheidende Lebensfragen erhalten: Was macht eine gute Freundschaft, Beziehung oder Ehe aus? Wie kann die grosse Liebe zur Liebe des Lebens werden? Wie soll man umgehen mit Schmerz und Verlust? Von der Bäuerin bis zur Künstlerin, vom Priester bis zur Geschäftsfrau , von Cannes über München, Jena oder Dortmund bis London – in zehn bewegenden Lebensgeschichten spiegeln sich die grossen Themen des Menschseins.

100 JAHRE LEBEN
Welche Werte wirklich zählen
Was uns die Weisheit hundertjähriger Menschen über das Leben, das Glück und die Liebe lehrt

Hoffmann und Campe ISBN: 978-3-455-50375-3

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Nous sommes Paris – Birgit Kaspar kommentiert aus Toulouse

„Der Horror“, „Massaker“, „Wir sind Paris“ – so lauten die Schlagzeilen in Frankreich heute morgen. Wer nicht schon mit dem Wissen um das beinahe Unfaßbare gestern abend schlafen ging und erst am Morgen das Radio einschaltete, schüttelte vermutlich wie ich selbst den Kopf und mußte sich kneifen. Dies ist kein Alptraum, dies ist die Realität:

Mehr als 120 Tote, zahlreich Verletzte nach offensichtlich koordinierten Attentaten an verschiedenen Orten in Paris. Es ist die schlimmste Attacke in Frankreich seit dem Algerienkrieg.
Das Land befand sich seit den Anschlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt in Paris im Januar in hoher Alarmstufe. Die radikal-islamistische Bedrohung war und ist kein Geheimnis, nicht zuletzt weil der französische Militäreinsatz gegen Ziele des Islamischen Staates in Syrien und im Irak das Land in den Augen radikaler Islamisten zunehmend exponiert hat.

Dass die gestrigen Anschläge in Paris von Terroristen aus diesem Milieu verübt wurden, darüber gibt es kaum Zweifel. Wiewohl über die Attentäter bislang offiziell noch nicht viel bekannt ist. Einige von ihnen haben „Allah ist groß“ gerufen, andere sollen Augenzeugenberichten zufolge den Zusammenhang zu Syrien hergestellt haben. Terrorexperten in Frankreich hatten weitere Anschläge erwartet. Das Ausmaß der Koordination und das konkrete Vorgehen in Paris schockiert dennoch alle.
Ob nun tatsächlich der „Islamische Staat“ oder eine Al-Kaida-Franchise hinter den Anschlägen steckt ist unklar. Die Botschaft jedoch scheint klar: Wenn ihr uns attackiert, schlagen wir zurück. Und wir können euch treffen, egal wer ihr seid und wo ihr seid.

Denn die Pariser Anschläge sind nicht nur isoliert zu betrachten. Sie müssen meiner Meinung nach auch in einem Zusammenhang gesehen werden mit dem Terroranschlag in Beirut vorgestern, bei dem libanesische Schiiten und vor allem die radikal-schiitische Hisbollah das Ziel waren. Denn die Hisbollah kämpft an der Seite des syrischen Präsidenten Assad gegen radikal-sunnitische Regimegegner, unter ihnen Al-Kaida-nahe Milizen und der „Islamische Staat“. Aber auch mit dem Angriff auf das russische Charterflugzeug Ende Oktober, das Touristen vom ägyptischen Scharm-el-Scheikh nach Sankt Petersburg bringen sollte, könnte ein Zusammenhang bestehen. Denn Moskau hat in den letzten Wochen seinen militärischen Einsatz an der Seite der syrischen Regierungstruppen gegen radikal-sunnitische Regimegegner verstärkt.
Die Welt ist nicht nur im Nahen Osten aus den Fugen geraten sondern jetzt auch bei uns – im Herzen der Stadt, die für westliche Lebensart und Glamour steht: Paris.

 

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Am Morgen danach: Michael Neubauer aus Paris

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Die Schaufensterscheibe des Le Petit Cambodge hat ein großes Loch. Splitter liegen auf dem Gehsteig. Die Attentäter haben anscheinend mehrmals auf das beliebte asiatische Restaurant geschossen. Es liegt ganz in der Nähe des Canal Saint-Martin. Ein quirliges Ausgehviertel.

Immer wieder zeigten am Freitagabend die Nachrichtensender dieses Foto mit der zerschossenen Schaufensterscheibe. Dahinter ein Tresen, an dem man normalerweise essen und zugleich auf die belebte Kreuzung schauen kann. Ich muss schlucken. Vor wenigen Tagen saß ich genau dort, wo jetzt das große Loch im Schaufenster ist. Aß eine Suppe mit Rindfleisch, Nudeln, Sprossen und Kräutern.

Der Terror ist wieder zurück. Anders als im Januar haben die Terroristen sich nicht eine bestimmte Zielgruppe ausgesucht: damals waren es Karikaturisten, Juden, Polizisten. Am Freitag haben sie wahllos auf alle geschossen. Auf Menschen, die Musik hören, ausgehen, Spaß haben und  ihren Hunger stillen wollten.

„Der Krieg mitten in Paris“, „Der Horror“, „Blutbad in Paris“, „Dieses Mal ist es Krieg“ titeln die Tageszeitungen. Das Leben heute in Paris wird mehr oder minder stillgelegt sein. Schulen, Universitäten, Bibliotheken, Sporthallen, Lebensmittelmärkte, Museen bleiben geschlossen.

„Und jetzt?“, fragt der Zeitungsverkäufer. „Wir müssen doch weiterleben, dürfen uns nicht zu Hause verstecken. Dann hätten sie gewonnen.“

 

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Diese Dänin wird nicht UN-Flüchtlingskommissarin

Nein, sie wird es nicht – als Update zu meinem Blogeintrag kürzlich: Lange hat sie hoffen dürfen, aber Helle Thorning-Schmidt wird nicht UN-Flüchtlingskommissarin. Auch der Deutsche Achim Steiner geht leer aus. Die dänische Ministerpräsdentin und der Bürokrat unterlagen beide gegen den Italiener Filippo Grandi.

 

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Traumhafter Sonnenuntergang beim Warten auf Regen

Seit Monaten spricht Südkalifornien von El Nino. Das Wetterphänomen soll endlich Regen bringen, nach vier Jahren Dürre haben wir den bitter nötig.
Vor Kurzem gab es dann auch richtig tolle Wolken am Horizont und ich hatte vor einem Termin kurz Zeit für einen Spaziergang am Meer um mir das genauer anzuschauen.
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GROSSARTIG!

Regen gab es leider trotzdem nicht. Aber am Ende von meinem Termin sah ich einen goldenen Schimmer über den Häusern. Eigentlich wollte ich nur noch schnell nach Hause und hab dann doch einen Abstecher Richtung Pazifik gemacht.
Hat der sich gelohnt! Auch wenn ich irgendwann tierisch gefroren habe, konnte ich einfach nicht wegschauen, geschweige denn umdrehen!
Das Schauspiel, das ich von der Natur geboten bekam, will ich doch niemandem vorenthalten.

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Wird diese strenge Dänin die neue UN-Flüchtlingskommissarin?

Die damalige dänische Regierungschefin Helle Thorning-Schmidt mit dem damaligen afghanischen Präsidenten Hamid Karzai in Kopenhagen am 2. Mai 2013 (Foto: Bomsdorf).

Eine internetaffine Überschrift für die dänische Selfie-Queen… Der UNHCR ist seit Monaten wieder einmal eine vielzitierte Institution, schließlich ist es jene UN-Einrichtung, die sich um die Flüchtlinge dieser Welt kümmert. Und die chronisch unterfinanziert ist, was mit zu den vielen syrischen Flüchtlingen beitrug wie Thomas Gutschker vor kurzem in der FAZ schrieb. Demnächst tritt der derzeitige UN Flüchtlingshochkommissar Antonio Guterres ab und von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt wird hinter den Kulissen bereits ein Nachfolger gesucht.

Offizielle dänische Kandidatin ist die ehemalige dänische Premierministerin Helle Thorning-Schmidt. Wegen ihrer strammen Asylpolitik erscheint die auf den ersten Blick wenig geeignet. Doch gerade das könnte ihr helfen gegen den Deutschen Achim Steiner zu gewinnen, schrieb ich kürzlich in Das Parlament.

„Wir haben die Asylregeln drastisch verschärft, als die ersten in 12 Jahren,“ sagte Helle Thorning-Schmidt im diesjährigen dänischen Wahlkampf. Unter anderem wurde der Familiennachzug erschwert.

Zwar verlor sie die Wahl, wurde aber vor kurzem von ihrem Nachfolger im Amt des Premiers als Chefin des UNHCR nominiert. Aus Deutschland kandidiert Achim Steiner, derzeit Chef des UN-Umweltprogramms.

Die strenge dänische Asylpolitik, die nach Thorning-Schmidts Abwahl im Sommer von ihrem Nachfolger weiter verschärft wurde, passt kaum zum UNHCR. Schließlich will der die Rechte von Flüchtlingen sichern und dafür sorgen, dass diese Asyl beantragen und eine sichere neue Heimat finden können. Dänemark hingegen wird vorgeworfen, Probleme auf die Nachbarländer Deutschland und Schweden abzuwälzen. Es gilt deshalb als „Ungarn des Nordens“.

Doch die strikte Haltung könnte Thorning-Schmidts Vorteil werden. Denn die Politiker vieler Länder stehen der dänischen Position näher als der deutschen. Angesichts der zunehmenden Anzahl von Flüchtlingen, die weltweit Sicherheit und eine neue Heimat suchen, sehen sie sich und ihre Länder überfordert. Eine UNHCR-Chefin, die für eine restriktive Flüchtlingspolitik steht, wäre da – so widersprüchlich das auch klingen mag – womöglich gewünscht.

In ihrer Heimat allerdings regt sich Kritik daran, ausgerechnet Thorning-Schmidt zur Flüchtlingskommissarin zu machen. „Ernennt Steiner!“, überschrieb die linksalternative Zeitung Information einen Kommentar. Der deutsche Kandidat sei fachlich besser qualifiziert, hieß es. Und der Publizist Herbert Pundik kritisiert Thorning-Schmidts Asylpolitik als „kleinlich“. Angesichts dessen sei es jetzt allenfalls „opportunistisch“, wenn sie sich nun plötzlich für Flüchtlinge einsetzen werde.

 

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Pluralismus live

Stellen Sie sich vor: Der Kopf einer radikalen muslimischen Organisation steht auf einer Bühne zusammen mit 99 anderen Bewohnern seiner Heimatstadt – darunter Menschenrechtsaktivisten, Mitglieder der LGBT-Community und eine ehemalige politische Gefangene, die einst als angebliche Kommunistin jahrelang ohne Gerichtsverhandlung eingesperrt wurde. Und dieser selbst erklärte Extremist sagt ins Mikrophon: „Wir sind ein Leib mit hundert Köpfen.“

100 Prozent Yogyakarta

Vor einer Woche noch hätte ich dies für ein eher unrealistisches Szenario gehalten. Das war vor der Premiere von „100% Yogyakarta“, einer Kollaboration des deutschen Theaterregisseur-Trios Rimini Protokoll und dem indonesischen Kollektiv Teater Garasi.

Rimini Protokoll brachten ihr 100-Prozent-Konzept bereits in 26 anderen Städten zur Aufführung, bevor sie auf Einladung des Goethe-Instituts nach Yogyakarta kamen, im Rahmen der Deutschen Saison, die zurzeit in mehreren indonesischen Städten läuft. Teater Garasi war ihr lokaler Co-Regie-Partner und unter anderem verantwortlich für den Castingprozess: Fünf Monate lang befragte das Casting-Team nach dem Schnee-Ball-Prinzip unterschiedlichste Personen – immer bemüht, die Kriterien der lokalen Bevölkerungsstatistik zu erfüllen.

„Du denkst, Statistiken sind langweilig?“ fragte „Herr 1%“, Istato Hudayana, ein Beamter der städtischen Statistikbehörde, bevor er die Bühne an seine Mitbürger übergab, die sich einer nach dem anderen vorstellten – von einem einfachen Rikschafahrer bis zu einem reichen Kunstsammler, von einem kleinen Baby bis zu einer 90-jährigen Oma.

Die wichtigsten Kriterien beim Casting waren Alter, Geschlecht, Religion, Familienzusammensetzung und Wohnort. Als zusätzliche Auswahlfilter dienten Ethnizität, kulturelle und sprachliche Vielfalt, Bildung, Beruf, Einkommen und besondere Fähigkeiten.

Das Ergebnis war nicht nur sehr unterhaltsam, sondern auch tief bewegend: Vermutlich begann fast jeder im Publikum nach einer Weile, sich selbst auf die Bühne zu projizieren, als die Menschen dort anfingen, vor allen Leuten ihre tiefsten Ängste und größten Hoffnungen zu gestehen.

Die gemeinsam geteilte Bühne schien den Teilnehmern plötzlich eine Chance zu bieten, genügend Selbstvertrauen zu sammeln, um für ihre Ideale gerade zu stehen, ohne die anderen wegen ihrer gegensätzlichen Ansichten zu verdammen.

Politiker und Aktivisten kämpfen heute hart, um Pluralismus und Toleranz in ihrer Heimatstadt Yogyakarta zu erhalten, genauso wie in anderen Teilen Indonesiens, einst so gerühmt für seine Vielfalt der Kulturen.

Diese hundert Menschen auf der Bühne haben gezeigt, wie viel Toleranz und gegenseitiger Respekt entstehen kann, indem kontroverse Fragen offen und gemeinsam von den Betroffenen selbst diskutiert werden.

„Ich fühlte mich bestens repräsentiert“, bestätigt ein Zuschauer nach der Show. „Dieser Abend hat meine Sicht auf diese Stadt verändert. Und ich bin sicher, dass der gesamte Prozess die Menschen, die an dem Projekt beteiligt waren, noch viel mehr beeinflusst haben muss.“

 

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Der Igel als Bauchmensch

Der Igel als Bauchmensch

Gut gefrühstückt? Schön, gratuliere! Ich? Naja. Dienstagmorgens eine Semmel vom Samstag, das ist nicht gerade das, was landläufig als Schlemmer-Frühstück gilt. Aber es war auch heute wieder
unausweichlich.

Zum Bäcker geht der Papa.  Samstags ist das ein Gesetz, nicht nur in meiner Familie, sondern in unserem ganzen Stadtviertel. Kaum verlasse ich müde und unrasiert das Haus, meist mit meiner Tochter an der Hand, sehe ich andere Väter, müde und unrasiert, ihre Häuser verlassen und mit ihren Kindern Richtung Bäcker ziehen. Alle Männer tun so, als handle es sich um einen Liebesbeweis gegenüber der Ehefrau, die Semmeln zu besorgen. In Wirklichkeit genießen wir alle diesen ersten – und für manche Männer einzigen – Moment der Freiheit an diesem Tag.
Die Morgensonne strahlt. So klare Luft. Man steht am Zeitungskasten und liest die Überschriften. Wochenende. Einfach schön.

Wäre da nicht das Kerngeschäft dieses Morgens. Die Semmeln zu kaufen. Denn je länger die Schlange, desto unsicherer werde ich. Man hatte geplant, drei normale Semmeln, drei Brezn und eine heftige “Käse-Mohn-Semmel” zu kaufen; doch dann hört man die anderen Väter “Nusszöpfe”, ganze “Semmelringe” und “Dinkelsemmeln” bestellen. Hhm. Sollte ich auch auf Vollkorn umsteigen? Uns was gönnen? Warum kauft der soviel? Sollen wir morgen vielleicht mit Freunden frühstücken? Inmitten dieser Überlegungen bin ich dann plötzlich an der Reihe. “Äh ich hätte gern….” und völlig verwirrt kaufe ich viel zu viel. Die Semmeln reichen bis Dienstag. Jede Woche.

IMG_0950Was ich mir wünschte, wäre der Instinkt eines Igels. Der weiß aus sich selbst heraus immer, was er will, zum Beispiel im Winter einen warmen, geschützten Schlafplatz. Das weiß ich, weil auf Wunsch meiner Tochter unser ganzes Bestreben darauf ausgelegt ist, Winterquartiere für Igel zu bauen. Kein Buch, kein Igelfilm ist vor uns sicher. Was ich gelernt habe? Vor allem, dass der Igel ein Bauchmensch ist. Und wenn selbst ein Igel mal nicht weiß, was er will, dann schnüffelt er. Erst der linke Apfel, dann der in der Mitte, dann der rechte. Und wenn er sich entschieden hat, schmatzt er drauflos.

Ich werde am nächsten Samstag beim Bäcker fragen, ob ich einmal an einer Dinkelsemmel schnüffeln darf. Von Igeln kann man so viel lernen. Als nächstes dann den Winterschlaf.

 

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Neuseeland-Reporterin für Sekten-Recherche geehrt

Zwei Jahre lang hat Anke Richter an einem Buch über die Centrepoint Community recherchiert, die das Pendant zur Otto-Mühl-Kommune in Neuseeland war.

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Sie scheiterte schließlich an juristischen wie psychischen Hürden und wurde immer tiefer in den Sumpf aus Opfern und Tätern hineingezogen. Aus ihrer Qual mit diesem schweren Thema rund um sexuellen Missbrauch von Kindern hat sie einen sehr persönlichen wie verstörenden Beitrag für das Reportage-Magazin North & South verfasst. Dafür kam sie letzte Woche in die Endrunde für den Wintec Media Award , Neuseelands prestigeträchtigster Medienpreis. Ein Dokumentarfilm zum Thema Centrepoint ist nun geplant.

 

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Zwei Kinder

Eine Zwei-Fliegen-Politik gibt es in China schon lange – auf Pekings Toiletten. Nicht mehr als zwei Brummer dürfen auf einer Notdurfstation herumschwirren, damit diese als hygienisch einwandfrei gelten kann. Eine Politik, gegen die allerdings nonstop verstoßen wird. Nun gibt es die viel wichtigere Zwei-Kind-Politik. Lange erwartet, kam die Entscheidung am Ende doch überraschend: Das Plenum des Zentralkomitees schaffte – während es nebenbei den kommenden Fünfjahresplan entwarf – diese Woche die mehr als 35 Jahre geltende Einkind-Politik für sämtliche Paare in China ab.

Der Reuters-Fotograf Carlos Barria muss daher wohl seine Serie beenden: Seit 1979 fotografierte er Chinas Einzelkinder – und fragte sie ob sie gern Geschwister hätten (hier gehts zum Link), ein faszinierendes Zeugnis der gesellschaftlichen Veränderungen dieser Politik, die einerseits eine Bevölkerungsexplosion wie in Indien verhinderte. Aber zugleich zu einem verzerrten Verhältnis der Geschlechter führten – da viele Menschen nach wie vor Söhne präferieren und daher selektiv weibliche Föten abtreiben, obwohl dies mitsamt der dazu nötigen Ultaschalluntersuchungen seit vielen Jahren verboten ist. Zudem drohten ganze Gruppen von Verwandtschaftsbeziehungen auszusterben, zum Beispiel Cousins und Cousinen – von weiter verzweigten Verwandschaftsgraden ganz zu schweigen.

Rund 2,5 Millionen zusätzliche Neugeborene erwartet die Regierung nun – dringend nötiger Nachwuchs, denn Chinas Gesellschaft altert rapide – und das bevor das Land die Wohlstandsschwelle erreicht hat, ab derer die Staaten des Westens begannen zu altern. Schwellenländer haben normalerweise viele Kinder – in China waren es 2013 gerade einmal 1,24 pro Frau. 2010 lag die Zahl mit 1,18 sogar noch niedriger – seitdem wurde die strikte Politik bereits leicht gelockert. Bis jetzt dürfen Anghörige nationaler Minderheiten zwei Kinder bekommen, oder Bauern, deren erstes Kind ein Mädchen war. Auf dem Land sind noch immer die Söhne dafür verantwortlich, ihre Eltern im Alter zu versorgen. In den Städten durften miteinander verheiratete Einzelkinder zwei Kinder bekommen. Ansonsten war der einzig legale Weg zu zwei Kindern die Geburt von Zwillingen.

Ob die Fruchtbarkeitsrate nun wirklich stark steigt wird sich zeigen. Viele Städter wollen gar nicht mehr unbedingt mehr – das Land ist an Einzelkinder gewöhnt; viele Paare lassen die Kleinen unter der Woche von den Großeltern aufziehen, während sie selbst arbeiten. Wanderarbeiter lassen sie auf dem Dorf zurück, da sie wegen des strikten Haushaltsregistrierungssystems in den Städten nicht kostenlos zur Schule gehen dürfen. Um wirklich mehr Geburten zu fördern ist dies das nächste System, das abgeschafft werden müsste.

 

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Alle fünf Jahre wieder

In zwei Jahren haben Chinas Kommunisten die KPdSU eingeholt – dann regieren sie genauso lange wie die Kommunisten der einstigen Sowjetunion. In einer Größe sind sie bereits die Nummer Eins: Der Anzahl der erlassenen Fünfjahrespläne, bei den Russen unterbrochen etwa vom Zweiten Weltkrieg.

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Diese Woche ist es nun wieder soweit: Das Zentralkomitee der KPCh trifft sich um den nächsten, nunmehr Dreizehnten Fünfjahresplan zu beschließen. Zwar sind diese Pläne heute mehr ökonomische Zielsetzungen als detailgenaue Vorschriften für die kommenden Jahre. Doch hält die KP gern an diesem zentralen Ritual ihres trotz aller Reformen leninistischen politischen Systems fest. Damit auch Ausländer verstehen, was es mit dem Plan – auf Chinesisch schlicht “shisan Wu” (Dreizehn-Fünf) genannt – auf sich hat, kreierte die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua ein leicht psychedelisch angehauchtes Video auf Englisch, bei dem Cartoon-Figuren, inclusive Albert Einstein und einem Roboter mit (ähem) Exkrementen auf dem Kopf (link hier – Video ganz unten, unter den Fotos eingeschlafener Delegierter). Ohrwurmeffekt inclusive.

Was also ist von dem neuen Plan (2016-2020) wirklich zu erwarten? Die Zeitung Global Times wünscht sich vor allem mehr Urlaubstage, durch die Wiedereinführung der 2008 gestrichenen “Goldenen Woche” um den 1.Mai. Umweltschützer hoffen, dass die bereits begonnene Deckelung des Kohleverbrauchs verbindlich festgeschrieben wird. Ökonomen wiederum setzen darauf, dass Präsident und KP-Chef Xi Jinping endlich konkrete Maßnahmen zur schon vor zwei Jahren angekündigten Ausweitung der Wirtschaftsreformen festschreiben lässt – etwa zur Reform der riesigen Staatsunternehmen: Diese sollen künftig marktwirtschaftlicher arbeiten, mehr Dividende zahlen oder teilprivatisiert werden. Doch Konkretes weiß niemand. Ebensowenig, wie genau die Finanzreformen weitergeführt werden – so dass Privatunternehmen leichter an Kredite kommen, beispielsweise. Auch Pläne zum derzeit kriselnden Autosektor und dem Ausbau der Elektromobilität soll der Plan enthalten.

Wichtig sind diese Weichenstellungen allemal, denn Chinas Wirtschaft wächst nicht mehr hemmungslos, ohne weitere Reformen droht das Land in der “middle-income-trap” zu landen, der “Falle des Mittleren Einkommens”, in der schon so manches Schwellenland verharrt. Vor genau dieser Falle warnte am Montag das Parteiorgan “Volkszeitung.” Doch die Reformen durchzusetzen, ist schwierig für die Regierung, denn die KP soll intern zerstritten sein zwischen Reformern, Bremsern, Besitzstandswahrern – und sie ist zugleich zerrissen durch die weiterhin mit Härte durchgezogenen Korruptionsermittlungen.

Es gibt viel zu tun – was genau angepackt wird, das erahnen wir vielleicht am Ende der viertätigen Sitzung. Bis dahin einfach mitsingen: “If you wanna know what China’s gonna do, best pay attention to the shí sān wǔ.

 

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Gangster ab nach drüben

Vor Jahren lästerte der frühere neuseeländische Premierminister Robert Muldoon über die vielen Kiwis, die sein Land für ein besseres Leben in Australien verließen: Durch diesen Exodus würde sich der Intelligenzquotient in beiden Ländern heben. Jetzt kommt die Retourkutsche von „drüben“, und sie ist kein Scherz. Australien will all die Neuseeländer abschieben, die im Zuge dieser IQ-Anhebung kriminell geworden sind.

Bis zu tausend Straffällige schickt Australiens neuer Premier Malcolm Turnbull demnächst auf den Weg in die alte Heimat, damit sie ihm nicht mehr auf der Tasche liegen. Ein Riesenschreck für unser kleines braves Land: Darunter sind nicht nur Mitglieder der berüchtigten Biker-Gang Bandidos, sondern Drogendealer, Mörder und Vergewaltiger. Volkes Stimme jault auf: Die dürft Ihr gerne behalten! Schließlich sind sie ja bei euch erst zu Gangstern geworden, in dem großen bösen Land. Ein Land, das  – wir wollen wirklich nicht darauf rumreiten, aber es muss doch mal wieder betont werden dürfen – einst von Strafgefangenen besiedelt wurde.

So gesehen gäbe es die Supermacht Australien gar nicht – ohne Abschiebung von Kriminellen. So wie die elfjährige Mary Wade, die aus dem viktorianischen England auf den roten Kontinent verschifft wurde, weil sie einem anderen Kind ein Kleid stahl. Diese Schwerverbrecherin ist die Vorfahrin von Kevin Rudd – dem ehemaligen Australien-Premier, der sich bei den Aborigines offiziell entschuldigte. Da kann man mal sehen, dass das ganze unerfreuliche Prozedere ein paar Generationen später doch noch zur Resozialisierung führen kann.

Nur mit dem Verfahren selber hakt es noch etwas. Viele kriminelle Ex-Kiwis leben seit ihrer Kindheit auf der andern Seite der tasmanischen See und können sich an ihr Geburtsland kaum noch erinnern. So wie der 56jährige Querschnittsgelähmte, lediglich als „Paul“ identifiziert, der vor ein paar Wochen zwangsdeportiert wurde. Mit nur 200 Dollar in der Tasche und einem Übernachtungsgutschein für eine Woche, aber keinerlei Freunden oder Familienkontakten fand er sich komplett verstört und gottverlassen am Flughafen Auckland wieder.

Besonders übel trifft es die, die in Nacht und Nebel-Aktionen von Rollkommandos in Abschiebelager für Asylsuchende gebracht werden. Manche müssen wochenlang auf der berüchtigten Christmas-Insel im Südpazifik ausharren, wo die Bedingungen menschenverachtend sind. Diese schäbige Behandlung vom großen Bruder nebenan war zuviel des Schlechten. Man ist tief verletzt. Plötzlich spritzt das Gift aus allen Kommentaren und Kolumnen. Kiwis berichten, wie übel sie „drüben“ behandelt werden – als Menschen zweiter Klasse. Wenn Australien billige Bauarbeiter braucht, dann seien die armen Nachbarn kurzfristig willkommen, aber dableiben dürften sie nicht. Darauf verzichten wir!

Malcom Turnbull hat uns gerade einen Kurzbesuch abgestattet. Da wurde auch die Knacki-Frage erörtert. Ein fairer Vorschlag: Ab sofort deportieren wir all die Possums nach Australien, die sich in Aotearoa als Schädlinge breit gemacht haben.

 

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Weltreporter Clemens Bomsdorf mit Willy-Brandt-Preis geehrt

Für seinen „herausragenden Beitrag zur Förderung der deutsch-norwegischen Beziehungen” bekommt unser Nordeuropa-Korrespondent Clemens Bomsdorf den diesjährigen Willy-Brandt-Preis der norwegisch-deutschen Willy-Brandt-Stiftung. Norwegischer Preisträger ist Sten Inge Jørgensen von der Zeitschrift Morgenbladet.

Die Stiftung würdigt Bomsdorf für seine „engagierten Artikel und seinen ehrenamtlichen Einsatz für das Deutsch-Nordeuropäische Stipendium der Internationalen Journalisten-Programme IJP“.

Clemens Bomsdorf ist eines der Gründungsmitglieder von Weltreporter und derzeit Zweiter Vorsitzender des Auslandskorrespondentenverbundes. Er berichtet seit über zehn Jahren aus und über Nordeuropa und wohnt in Kopenhagen. Artikel von Bomsdorf erscheinen in Focus, Zeit online, The Art Newspaper und Kunstzeitung.

Bomsdorf bereist Norwegen regelmäßig. Von dort hat er unter anderem berichtet über die Zeichen des Klimawandels auf Spitzbergen und die umstrittenen Pläne für die Neugestaltung des Osloer Regierungsviertels nach dem Terror vom 22 Juli. Bomsdorf interviewte nach dem Attentat Thorvald Stoltenberg über den Anschlag und seinen Sohn, den damaligen Ministerpräsidenten, und sprach mit der norwegischen Königin über deren Kunstsammlung.

Zu den bisherige Preisträgern des norwegisch-deutschen Willy-Brandt-Preises zählen Jostein Gaarder, Frank-Walter Steinmeier, Wenche Myhre, Jan Garbarek und Egon Bahr.

Der Preis wird am 4. November in Berlin überreicht.

 

 

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Unser neues Buch: Unabhängigkeit!

272 Seiten mit Reportagen aus 18 Staaten und solchen, die es werden wollen. Dazu 17 Karten. Und ein brandheißes Thema. Das ist “Unabhängigkeit! Separatisten verändern die Welt”, das neue Buch der Weltreporter.

Das Buch könnte kaum aktueller sein: Die Hintergründe der Krisen in Syrien, in der Ostukraine, dem Südsudan und in Palästina werden genauso beleuchtet wie die Unabhängigkeitsbewegungen in Katalonien, in Schottland oder etwa in Somaliland.

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Separatisten haben weltweit wachsenden Zulauf. Während viele etablierte Nationalstaaten Krieg, Terror und Vertreibung, aber auch wachsender Konzernmacht und sozialer Ungleichheit scheinbar machtlos gegenüberstehen, versprechen die Unabhängigkeitsbewegungen eine bessere, selbstbestimmte Zukunft. Ihre Visionen sind so unterschiedlich wie die Mittel, zu denen sie greifen: Die einen glauben an die Macht des Stimmzettels, die anderen kämpfen mit Waffengewalt für ihre Ziele. Gemeinsam sind sie dabei, die politische Weltkarte, wie wir sie kennen, zu verändern.

Wir, die Korrespondentinnen und Korrespondenten von weltreporter.net, berichten in unseren spannenden Reportagen von Unabhängigkeitsbewegungen überall auf der Welt: eben in Katalonien, Schottland und dem Osten der Ukraine, im türkischen und im irakischen Teil Kurdistans, im Südsudan oder im kanadischen Québec. Wir beschreiben, wie der Befreiungskampf palästinensische Familien spaltet, wie die Samen im hohen Norden Norwegens ihre Autonomie vorbildlich gesichert haben und was passieren kann, wenn Privatpersonen ihren eigenen Staat ausrufen.

 

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Bei der Frankfurter Buchmesse stellen Herausgeber Marc Engelhardt (Genf) und Autor Thomas Franke (Moskau) “Unabhängigkeit!” bei gleich zwei Gelegenheiten vor:

– am Donnerstag, 15. Oktober um 13:30 auf der Leseinsel der unabhängigen Verlage, Halle 4.1, C37

– am Donnerstag, 15. Oktober um 17:00 Uhr im Rahmen des Lesefestes Open Books im Giebelsaal im Haus am Dom, Domplatz 3, Frankfurt-Zentrum

Beide Autoren sind außerdem regelmäßig am Verlagsstand zu Gast: Christoph Links Verlag, Halle 4.1, Stand F61

 

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Marc Engelhardt (Hg.): Unabhängigkeit! Separatisten verändern die Welt, 272 Seiten, Verlag Christoph Links, 18 Euro

 

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Friedensnobelpreis nach Tunesien: Sarah Mersch berichtet

Mersch-Sarah156Der Friedensnobelpreis für das tunesische Vermittlerquartett, damit hat in Tunesien niemand gerechnet, auch die Ausgezeichneten selbst nicht. Vor zwei Jahren hatten der Gewerkschaftsbund, der Unternehmerverband, die Anwaltskammer und die Menschenrechtsliga Tunesien aus der politischen Krise befreit. Zwei Jahre später ist die Situation nach zwei Terroranschlägen erneut kritisch und die Angst groß, dass der “Kampf gegen den Terror” über Menschenrechte und Demokratie siegt. Der Friedensnobelpreis für die Vermittler des Nationalen Dialog ist daher auch ein klares Signal an Tunesien, den seit 2011 eingeschlagenen demokratischen Weg weiterzugehen.

Sarah Mersch ist zuerreichen unter mersch@weltreporter.net.

 

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Wir fordern das rote Dreieck

In Europa bersten die Grenzen und verrecken Flüchtlinge, aber Sie wissen ja, was uns Kiwis im Land von Milch und Hobbits seit Wochen bewegt: wie unsere neue Flagge aussehen soll. Jetzt sind wir bereits in der vorletzten Runde. Das Zwischenergebnis kann ich Ihnen unmöglich vorenthalten, denn es spitzt sich zu. Buchstäblich!

Sie erinnern sich: Über 10.000 krause Entwürfe aus Volkes Bastelstube eingereicht, 40 Designs dank einer komplett Grafikdesigner-freien Kommission in der engeren Auswahl, kein Kiwi-Vogel dabei. Daraus haben sich die vom Premierminister persönlich berufenen Spezialisten vier Entwürfe herausgepickt, von denen einer trostloser ist als der andere. Drei der vier Motive zeigen einen Farnzweig – gemeinhin als Emblem der Rugby-Nationalmannschaft bekannt. Das vierte ist ein noch nicht entrollter Farnzweig als schwarzweiße Spirale. Im Flaggen-Komitee sitzt Fernsehproduzentin Julie Christie – ganz zufällig auch im Aufsichtsrat einer Lobbygruppe, die mit dem Farnzweig als verkaufsförderndes Markenzeichen wirbt. Kleiner Schönheitsfehler am Rande.

26 Millionen Dollar verschlingt dieser pseudo-demokratische Vorgang. Es schmerzt, dass es weder der legendäre grüne Koru-Kringel von Friedensreich Hundertwasser geschafft hat noch die schwarz-weiß-rote Flagge der Maori, die bereits Eingeborenengeschichte geschrieben hat. Im Volk regte sich Widerstand. Denn es gibt ein Alternativ-Symbol, das von jenen gefordert wird, die weder den alten Union Jack schätzen noch die braven Farn-Favoriten. Es ist die „Red Peak Flag“. Fast schon ein Protest-Logo.

Ein rotes Dreieck mit weißem Rand symbolisiert die Berge der Südalpen mit Lava im Innern. Eine schwarze Ecke für die Nacht, eine blaue für den Morgen – denn Neuseeland steht dank der Zeitverschiebung früher auf als andere Länder. Die Maori-Farben sind dabei. Alles sehr hübsch und plakativ, auch auf weite Entfernung erkennbar, außerdem für jedes Kind leicht nachzumalen – so die Argumentation ihres Erfinders Aaron Dustin. Der startete eine Petition für „Red Peak“ und drückte sie mit großem Tamtam durch die sozialen Medien. Facebook-Profilfotos wurden geändert, T-Shirts gedruckt, alles Spitze.

Doch dann passierte ein weiter Schönheitsfehler. Nicht nur ist die Flagge mit dem gleichfarbigen Firmenlogo eines amerikanischen Ingenierbüros namens „Peak“ identisch. Nein, sie weckt noch ganz andere Assoziationen. Ein Abgeordneter der Partei „NZ First“ hielt im Parlament vier aneinandergefügte „Red Peak“-Flaggen hoch, und siehe da: Die weißen Spitzen ergaben zusammengefügt ein Hakenkreuz. Schock! Alleine ähneln sie dem Dekor auf den Wachhäuschen der Nazis. Horror!

Nichtsdestotrotz kamen 25.000 Stimmen für die Spitzen-Flagge zusammen – und damit genügend Druck auf John Key, dass dieser sich dazu durchrang, „Red Peak“ als fünfte Option mit auf die Flaggen-Liste zu nehmen. Im November wird nun erstmals abgestimmt. Doch mittlerweile haben 70 NZ_flag_design_Red_Peak_by_Aaron_DustinProzent aller Kiwis das ganze Bohai so satt, dass sie lieber bei der alten Fahne bleiben wollen.

 

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Standortvorteil “Verbuschung”

Katalanische DNIEigentlich wollte ich an dieser Stelle schon längst über die zum Quasi-Referendum erklärten, katalanischen Wahlen geschrieben haben, aber ich kam bisher nicht dazu, weil ich mit den Nachwehen eines zum Politikum gewordenen Interviews beschäftigt war. Ein ARD-Kollege und ich haben uns am Freitag vor der Wahl mit Oriol Amat, Wirtschaftsprofessor und Nummer 7 der separatistischen Junts pel Si-Liste getroffen. Ursprünglich sollte es um mögliche wirtschaftliche Konsequenzen einer Sezession gehen, das Interview mit dem Experten der Gegenseite war bereits geführt. Aber schon bald sprachen wir von möglichen Szenarien nach einem Regierungswechsel in Spanien. Als ein sehr wahrscheinliches Szenario schien Amat ein Madrider Angebot zu Verhandlungen um ein neues Autonomiestatut. Dass eine solche Offerte von den Katalanen angenommen würde, schien ihm wahrscheinlich. Ich war überrascht: Seit Jahren demonstrieren regelmäßig Hunderttausende für einen „eigenen Staat“, die „In-, Inde-, Independència“-Rufe sind fester Bestandteil der politischen Folklore und in jedem zweiten Interview beschwören Politiker, „es gebe keinen Weg zurück“. Zwei Tage vor der „plebiszitären“ Wahl ein Autonomiestatut als mögliche Lösung zu präsentieren, ist etwa so, als lasse man Sprinter monatelang im Hochland für Olympia trainieren, nur um sie dann zur Bushaltestelle joggen zu lassen. Ich fragte nach. Amat blieb dabei.

Was der Wirtschaftsprofessor da sagte, bestätigte, was viele langjährige Korrespondenten vermuten: dass es innerhalb der heterogenen Junts pel Sí-Liste Differenzen über Weg und Ziel gibt, dass der Minimalkonsens nicht Unabhängigkeit um jeden Preis, sondern Verhandlungen mit Madrid und Brüssel sind. Vom Gezerre um Freigabe des Gesamtinterviews (einen Tweet hatte ich unmittelbar nach Interview abgesetzt), vom Druck und den widersprüchlichen Gedanken, die mir dabei durch den Kopf gingen, von der Unterstützung durch die Kollegen vor Ort und vom Círculo de corresponsales, erzähle ich gern mal an anderer Stelle. Samstag Nachmittag packte ich jedenfalls einen Ausschnitt aus dem Interview auf Soundcloud, die Online-Zeitung Eldiario.es brachte die Geschichte, El País, La Vanguardia, Antena 3 und ein halbes Dutzend anderer Medien nahmen das Thema auf, die beiden Unabhängigkeitslisten veröffentlichten Kommuniqués. Natürlich schmeicheln solche 15 Minuten Ruhm dem journalistischen Ego, wesentlicher ist für mich eine andere Erkenntnis: Freie Korrespondenten haben einen Standortvorteil. Wir sind meist lange genug in einem Land, um auch die Zwischentöne einer Debatte zu verstehen.  Botschaften und Sender wechseln ihre Mitarbeiter gerne aus, um einen “frischen Blick von außen” zu garantieren oder – weniger nett gesagt – “Verbuschung” zu vermeiden. Aber genau diese Expertise ist unser großes Kapital. Und unverzichtbar, wenn es um Analyse, Interpretation, um Hintergrund geht. Das hoffe ich zumindest.

 

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Der Spanier und sein Auto

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“Das Auto nicht” heisst ein Song der Madrider Hip Hop Band Def con Dos, der das Verhältnis der Spanier zu ihrem fahrbaren Untersatz auf den Punkt bringt: “Ich werde dich nicht zurückhalten, wenn Du meine Kinder verhaust, (…) ich werde es dir nicht krumm nehmen, wenn du mein Haus abbrennst (…), hab Spass daran, meine Frau zu quälen (…), aber Vorsicht, mach keinen Fehler, egal was du tust, verkratz mir nicht den Wagen, das Auto nicht, nein, nein, nein.”

Der Spanier kann noch so pleite sein, der PKW ist wichtig und heilig. Selbst wer mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut ans Ziel käme, bevorzugt es im Auto zu fahren. Alleine versteht sich. Der Nachbar, obwohl an der gleichen Arbeitsstätte tätig, fährt ebenfalls im eigenen Wagen. Was sollen denn die anderen denken? Durchschnittlich geben die Spanier 18 Mal soviel für den Unterhalt ihres PKWs aus, wie für öffentliche Verkehrsmittel.

Dabei wird nicht etwa der Tank gefüllt und dann leergefahren. Viele haben bis heute die Angewohnheit für zehn Euro zu tanken, und das muss dann für die Woche reichen. Vor der Währungsumstellung waren es 1000 Peseten. Am Monatsende, wenn Schmalhans Küchenmeister ist, füllen sich die öffentlichen Verkehrsmittel. Viele merken dann plötzlich, dass die Reise im Nahverkehrszug oder der U-Bahn billiger kommt, zumal die Parkgebühr entfällt. Warum sie nicht den restlichen Monat über sparen und das Geld für z.B. einen längeren Ausflug mit Familie am Wochenende im stolzen Wagen ausgeben? Gute Frage. Nur eine Antwort darauf kennt leider niemand.

Der durchschnittliche Spanier liebt einfach seinen PKW. Er war einst in den letzten Jahren der Franco-Diktatur das Symbol für etwas Wohlstand, für ein Leben wie nördlich der Pyrenäen. Bis heute ist für viele ein Leben ohne eigenes Fahrzeug undenkbar.

Junge Paare – vor allem in ländlichen Gegenden – verbringen ihre Freizeit damit, durch die Landschaft zu fahren. Mangels eigener Wohnung dient der Untersatz auch für das Schäferstündchen. Ein Blick auf den Boden jedes lauschigen Waldparkplatzes reicht als Beleg.

Ein ganz besonderes Phänomen ist zu beobachten, wenn es regnet. Ein paar Tropfen am Morgen reichen und der Verkehr kollabiert in den großen Städten vollends. Statt wie gewohnt zur U-Bahn zu gehen, nur eben halt mit einem Regenschirm, greift dann auch noch der Letzte zum Fahrzeugschlüssel, um trocken zur Arbeit zu kommen.

Die meisten Spanier erleben eine seltsame Metamorphosis, sobald sie sich hinters Lenkrad klemmen. Aus dem gutmütigsten Menschen wird ein aggressiver Rennfahrer – eine Art Hoby-Fernando-Alonso und ein radikaler Anarcho. Es wird mit dem Handy telefoniert trotz Verbot, viele nutzen den Sicherheitsgurt bis heute nicht. Sie rasen, drängeln, vergessen das Blinken, überholen rechts und hupen ständig.

Die Spanier sind sich ihrer Fahrkünste durchaus bewusst. Dies zeigt eine Umfrage einer Automobilzeitschrift. 87 Prozent geben offen zu, die Geschwindigkeitsbegrenzung zu ignorieren, 63 Prozent setzt den Blinker beim Überholen oder Abbiegen nicht, 62 Prozent fahren gerne zu dicht auf, 60 Prozent fahren bei einer dreispurigen Autobahn grundsätzlich in der Mitte und 59 Prozent sind die Geschwindigkeitsbegrenzungen selbst bei Baustellen egal.

Und 64 Prozent hupt regelmässig. Es geht dabei nicht darum, den anderen wegen eines Fehlers auszuschimpfen. Nein, die Logik des Hupens auf der iberischen Halbinsel ist eine andere. “Achtung jetzt komm’ ich, und egal wie die Regeln lauten, jetzt komm’ ich!” möchte uns das Hupkonzert sagen.

Reicht das nicht, werden 62 Prozent gerne ausfallend und beleidigend, 19 Prozent gibt unumwunden zu, auch schon einmal auszusteigen, um die eigene Interpretation der Verkehrsregeln so richtig von Mann zu Mann zu klären. Bei solchen Zeitgenossen reicht es schon, dass sich ein Fussgänger am Überweg beschwert, weil er mit voller Absicht übersehen wurde. Vorsicht! Eine erhoben Hand kann schon als Beleidigung empfunden werden. Der Mannesstolz dieser aggressiven Machos auf Rädern kann nur in einer ordentlichen Diskussion, oder gar einer Handgreiflichkeit wieder hergestellt werden.

Doch auch Spanien ist nicht mehr das, was es einmal war. Auch hier andern sich die Zeiten. Sehr zum Leidwesen der Automobilindustrie – alle großen Marken produzieren in Spanien – verlieren immer mehr junge Menschen das Interesse an einem eigenen Wagen. Studien zeigen, dass das nicht nur an der Jugendarbeitslosigkeit liegt. Es ist vielmehr, wie in anderen europäischen Ländern und den USA auch, ein grundsätzlicher Wandel der Prioritäten. Die jungen Spanier steigen aufs Fahrrad um, nutzen Bus, Bahn oder online Mitfahrzentralen. Wenn sie unbedingt einmal einen Wagen brauchen, wird er geliehen. Viele machen nicht einmal mehr ihren Führerschein. Ende 2014 nannten 395.000 Spanier zwischen 18 und 20 eine Fahrerlizenz ihr eigen. Vor sechs Jahren waren es noch 567.000. In den 1980er Jahren stellten die Altersgruppe zwischen 18 und 24 20 Prozent aller Fahrer. Heute sind es noch ganze 8 Prozent.

 

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Flüchtlinge im Land der Grillwurst

Auch wir hier am untersten Ende der Welt schauen gerade gebannt auf Europa. Sind hautnah dran. Stehen sogar im Morgengrauen auf, um alles live auf dem Bildschirm zu verfolgen. Jeder neueste Stand geht uns an die Nieren – all das Drama, die vielen Nationen, das Gedrängel und Gerangel und Gebrülle. Herzzerreißend. Aufwühlend. Große Schlagzeilen, wir fühlen mit. Ja, Neuseeland lässt sich keine Sekunde der Rugby-Weltmeisterschaft entgehen, die in England gestartet ist.

Gut, dass so viele Kiwis auf Facebook sind. Denn ohne Aylan Kurdis Strandfoto hätten die meisten kaum mitbekommen, dass in der Ägäis nicht nur Tintenfische schwimmen, sondern auch Kinderleichen. Plötzlich war das Weltthema Nummer Eins endlich auch im Land der langen weißen Wolke angekommen. Zumindest für eine Woche. So lange dauerte es, bis Premierminister John Key – Zitat: „Wir wollen Touristen, nicht Migranten“ – sich zu einer halbherzigen humanitären Geste durchrang und 600 Syrern Zuflucht versprach. Gestaffelt über die nächsten drei Jahre und als Teil der Flüchtlingsquote von gerade mal 750 Menschen, die Neuseeland pro Jahr aufnimmt. Damit bekleiden wir den schlappen 90. Platz der Aufnahmeländer, auf die Einwohnerzahl umgerechnet. Ein Scherz. Wir liegen sogar noch hinter Australien, das sich bisher in Sachen Menschenrechte nicht mit Ruhm bekleckert hat. Neuseeland, ein Hort der Sicherheit, der im Weltkrieg vielen Holocaust-Flüchtlingen Zuflucht bot? Tja. Das war damals.

„Verdoppelt die Quote!” heißt seitdem der Protestruf aus linker Ecke. Der verhallt fast ungehört. Oder löst Reaktionen aus wie: Wer braucht die hier/wir müssen uns erst mal um unsere eigenen Leute kümmern/wer soll das alles bezahlen/werden wir dann alle moslemisch. Xenophobie und Ängste rundum, ähnlich wie zur großen Asyl-Welle Anfang der 90er Jahre in Deutschland. Obendrein noch unser früherer Außenminister Winston Peters, immer für einen fremdenfeindlichen Spruch gut, der den syrischen Flüchtlingen riet, sie sollen doch lieber zurückkehren in ihr Land, um dort gegen das Übel zu kämpfen. Klar. Alles ganz easy. Und jetzt wieder umschalten zum Rugby.

Für die Flüchtlinge, die es schließlich doch nach Aotearoa schaffen, steht Integrationshilfe bereit. Unter anderem ein 38-minütiges Video, das bei der Assimilation in den antipodischen Kulturkreis helfen soll. Darin sieht man viele nette Bürger, die Grillwürste beim Picknick wenden. Es gibt praktische Tipps: Wie man Arbeit findet, Steuern zahlt, einkauft. „Neuseeland bietet Ihnen die Chance, ein neues Leben in einem neuen Land zu beginnen“, verkündet ein Sprecher zur Säuselmusik. „Dieses Ziel ist erreichbar.“

Aber vorher werden ein paar Verhaltensregeln klargemacht. Die Liste dessen, was man als Neuankömmling in Neuseeland lieber vermeiden sollte, ist länger als manche weiße Wolke: Fahrradfahren ohne Helm, Autofahren ohne Führerschein, Frauen schlagen, in Räumen rauchen, Genitalien verstümmeln, Beamte bestechen, zwanghaft verheiraten oder polygamieren, in der Ehe vergewaltigen. Herzlich willkommen.bbq

 

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Schundbuch gebannt

Ich habe mir im Internet ein Jugendbuch gekauft und habe schon jetzt ganz rote Ohren – nicht nur wegen der vielen heißen Szenen, die darin auf mich warten, sondern weil ich jetzt praktisch mit einem Bein im Knast stehe. Der Roman ist nämlich seit Neuestem in Neuseeland verboten.

into the river„Into the River“ des 64-jährigen Autor Ted Dawe handelt von dem hochbegabten Maori-Jungen Te Arepa, der sein Dorf verlässt, als er ein Stipendium für ein Elite-Internat in Auckland gewinnt. Dort ändert sich sein Leben dramatisch. Er benennt sich in Devon Santos um, rast in frisierten Autos durch die nächtliche Großstadt und dealt mit Drogen. Und jetzt kommt’s: Der Teenager benutzt schweinische Ausdrücke und macht erste sexuelle Erfahrungen.

Das ist kein Schund, sondern einfach nur realistisch – so sehr, dass es gar dazu führen könnte, dass Jugendliche diese Seiten verschlingen, die sonst nie Bücher anfassen. Es ist ein gutes Werk, das von allen Literaten im Lande hoch gelobt wird und sogar 2013 einen Preis als bestes Buch des Jahres gewann. Aber seitdem wird auch um „Into the River“ gezankt.

Über 400 Beschwerden gingen bei der Zensurbehörde ein, in erster Linie von der ultrarechten Christenlobby „Family First“. Deren Moralvorsteher Bob McCoskrie ist meinen treuen Lesern bekannt, seit er sich vor Jahren für die Prügelstrafe und das Ohrfeigen von Kindern starkmachte. Jetzt hat er „Into the River“ gleich an den richtigen Stellen aufgeschlagen und mitgezählt: Neunmal komme „das C-Wort“ („cunt“ – zu Deutsch Fotze), 17 Mal „das F-Wort“ („fuck“) und 16 Mal der Kraftausdruck „s-h-i-t“ von. Den hat McCroskie im Radiointerview genau so ausbuchstabiert. Danach musste er sich den Mund mit Seife waschen.

„Into the River“ bekam schon vor zwei Jahren eine „R14“-Auflage: Keine Abgabe in Büchereien und Buchläden an Leser unter 14 Jahren. Letzten Monat beschloss der stellvertretende Chef-Zensor Neuseelands, dass das Buch keine Altersbeschränkung haben solle. Dem machte jetzt der Vorsitzende der Prüfstelle, ein Anwalt und bekennender Christ, einen Strich durch die Rechnung und verhängte einen vorübergehenden Bann. Das hat es seit 22 Jahren nicht mehr geben, als „How to make your own Bazooka“ vom Markt genommen wurde. Das war eine Anleitung zum Waffenbasteln.

Der Schuss geht nach hinten los: Eine bessere Werbung kann sich der Autor kaum wünschen. Allerdings lässt sich das Buch ab sofort nicht mehr ausleihen oder im Laden kaufen. Damit würde man eine Strafe von 3.000 Dollar riskieren und der Buchhändler gar 10.000 Dollar. Man kann das Taschenbuch zwar online bestellen – für stolze 50 Dollar wird es aus England verschickt, aber es über die Grenze zu schmuggeln ist eine Straftat. Wer es, wie ich, als E-Buch auf seinen Kindle lädt, macht sich dann strafbar, wenn er andere mitlesen lässt oder es weiterreicht. Das macht die Rechtslage so ähnlich wie beim Kiffen: Eigenkonsum wird toleriert, Weitergabe ist verboten.

 

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Parade Blue auf Befehl der Machthaber – Peking(er) und die Militärparade

Als ich heute früh mit unserem Hund unterwegs war, saßen in dem kleinen Park unserer Wohnanlage am Stadtrand von Peking ein halbes Dutzend alter Frauen, die sich lachend und gestikulierend unterhielten. Ein an sich typisches Bild, in den Grünanlagen der chinesischen Hauptstadt kommen morgens vor allem ältere Menschen zusammen, um ein Schwätzchen zu halten oder gemeinsam Tai Chi zu machen. Doch am heutigen Tag ist das Damenkränzchen im Freien etwas Besonderes.  In der Stadt sind öffentliche Parks geschlossen, manche dürfen erst nächste Woche wieder öffnen.

Es ist eine von vielen Einschränkungen, mit denen Pekings Bewohner dieser Tage zu Recht kommen müssen. Die Hauptstadt hat sich seit Wochen auf ein Ereignis vorbereitet, das weltweit live übertragen wird: Mit einer gewaltigen Militärparade zelebrierte die chinesische Regierung das Ende des Zweiten Weltkriegs in Asien vor 70 Jahren. Oder besser: Die Kapitulation des Erzfeindes  Japan. Vom Platz des Himmlischen Friedens aus rollten ab 10 Uhr vormittags die modernsten Waffen, die das Reich der Mitte aufzubieten hat, an den Tribünen der Ehrengäste und Veteranen vorbei. 12.000 Soldaten marschierten mit, der Himmel gehörte Kampfjets und Hubschraubern.

Eine pure Demonstration der Stärke und des Nationalismus, die in China auf allen Kanälen übertragen wurde. Bei der minutiösen Planung des Mega-Events wurde nichts dem Zufall überlassen: Damit das Säbelrasseln nicht durch den sonst üblichen Smog getrübt werden konnte, dürfen auf Pekings Straßen seit Tagen nur die Hälfte der Autos fahren, sind Hunderte Fabriken geschlossen.  Eine erfolgreiche Maßnahme, über der  Mega-Metropole scheint die Sonne ungetrübt von einem klaren blauen Himmel. Parade Blue nennen es die Pekinger, und atmen verwundert gute Luft ein.

Allerdings zwitschern deutlich weniger Vögel als sonst in den Bäumen – sie wurden durch abgerichtete Falken vertrieben, ihre Nester zerstört. Man fürchtete, die Piepmätze könnten eine  Gefahr für die Militärflieger darstellen. Damit diese tatsächlich ungehindert über die Köpfe der handverlesenen Zuschauer hinweg düsen konnten, brauchten Fluggäste heute viel Geduld. Die beiden Flughäfen der Hauptstadt waren vormittags geschlossen. Keiner kam rein, keiner kam raus.

Auch Schulen, Büros, Restaurants und Geschäfte sind heute und morgen geschlossen. Im Innenstadtbereich durften Anwohner in den letzten Tagen zum Teil ihre Häuser nach 20 Uhr abends nicht mehr verlassen. Ein geradezu surrealer Maßnahmenkatalog, damit die Parade ja wie am Schnürchen läuft. Die Furcht der Machthaber vor aufmüpfigen Protestlern oder gar einem Anschlag schien groß zu sein.

Im Westen findet die Parade, mit der Präsident Xi Jinping sich innenpolitisch Schulter an Schulter mit dem mächtigen Militär präsentiert, wenig Anklang. Man hätte sich ein anderes Gedenken an das Ende des Weltkrieges gewünscht, heißt es in diplomatischen Kreisen. Auf der Ehrentribüne saßen einige Staats- und Regierungschefs osteuropäischer Länder, angeführt von Russlands starkem Mann Vladimir Putin, selbst bekanntlich ein Freund solch militärischer Spektakel. Flankiert wurden sie von einigen asiatischen Machthabern, doch mehr als 30 Länderchefs haben die Parade nicht verfolgt. Viele asiatische Nachbarn werden seit Jahren von Chinas Gebaren im südchinesischen Meer unter Druck gesetzt, die Spannungen in der Region sind groß. Die USA, Taiwan und natürlich Japan beobachteten die pompöse Machtdemonstration sicher mit größtem Unbehagen.

Die Pekinger hingegen können dem ganzen Trara auch etwas Gutes abgewinnen. Obgleich ihnen der Alltag durch die Fahrverbote und andere Einschränkungen erschwert wurde, freuen sie sich über die gute Luft und den blauen Himmel. „Das ist ein ganz anderes Leben, es fühlt sich so leicht an“, sagte mir ein Taxifahrer vor einigen Tagen. „Ich habe mit vielen Kunden gesprochen. Wir waren alle der Meinung, dass es so bleiben sollte.“

Das wird es aber leider nicht. Wenn die Inszenierung vorbei ist, und es nicht mehr um Glanz und Gloria geht, dürfen die Fabrikschlote wieder dicke Abgaswolken in die Umwelt blasen und Millionen Autos die Straßen verstopfen.

Bis zum nächsten großen Ereignis, mit dem China die Welt beeindrucken möchte.

 

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Weltmeisterschaft der Organ-Transplantierten

Eigentlich macht man das ja nicht – hier im Blog auf einen eigenen Beitrag hinweisen! Heute möchte ich jedoch eine Ausnahme machen: Ich komme gerade von der Weltmeisterschaft der Organ-Transplantierten in Mar del Plata (Argentinien) zurück. Bei der Eröffnung standen mehr als 1100 Sportler vor mir, die alle entweder nicht mehr leben würden – oder deren Lebensqualität gleich null wäre. Hätten sie nicht das Organ eines anderen erhalten. Deshalb begannen die Spiele mit einer Schweigeminute, in Gedenken an die Spender und ihre Familien.

Es war zutiefst berührend, Jessica kennenzulernen: Eine 30-jährige Schwimmerin, die nach einem plötzlichen Herzstillstand drei Wochen im künstlichen Koma lag. Und dann mit einem neuen Herz aufwachte. Oder eine Mutter aus Australien, die sich das Gesicht ihrer Tochter auf den Oberkörper tätowieren ließ: Die Tochter ist tot, ein anderer Mensch lebt mit ihrem Herz weiter. Vielleicht kommt die Mutter der Spenderin zu den Weltspielen der Organ-Transplantierten, weil ihre Tochter für sie in all diesen Sportlern irgendwie weiterlebt?

Da ich die einzige deutschsprachige Journalistin vor Ort war (wenn nicht sogar die einzige Korrespondentin – ich habe zumindest keine Kollegen getroffen), möchte ich hier im Blog den Link zu einem Beitrag, der im Schweizer Fernsehen (SRF) gezeigt wurde, teilen.

Beitrag SRF, Tagesschau: Weltmeisterschaft der Organtransplantierten

Organspendeausweis unterschreiben oder nicht? Diese Entscheidung kann man niemanden abnehmen. Aber eine Aufforderung, zumindest einmal darüber nachzudenken, wage ich auszusprechen.

 

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Kerstin Schweighöfer ist neue Vorsitzende von Weltreporter.net

Hamburg/Den Haag, 1.9.2015 – Weltreporter.net, das größte Netzwerk freier deutschsprachiger Auslandskorrespondenten, hat einen neuen Vorstand:

WR_KerstinSchweighöfer©AndreaVollmer

Kerstin Schweighöfer, die seit 1990 für Hörfunk- und Printmedien wie Deutschlandfunk, art und Focus aus den Niederlanden berichtet, wurde zur neuen 1.Vorsitzenden gewählt. Schweighöfer war von 2007 bis 2013 Vorsitzende der Foreign Press Association FPA in den Niederlanden und ist seit 2007 Aufsichtsratsmitglied des internationalen Pressezentrums Nieuwspoort in Den Haag. Zudem hat sie mehrere Bücher verfasst. Ihr neuestes, „100 Jahre Leben”, erscheint im Herbst.

„Globale Themen  wie Flüchtlingsströme, internationaler Terrorismus oder Datensicherheit werden  immer wichtiger“, so Schweighöfer. „Weltreporter.net wird seine Stärke als weltweites Korrespondentennetzwerk weiter ausbauen, um diese Themen aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und länderübergreifende Zusammenhänge herzustellen. In einer Zeit, in der sich viele Medien keine festen Korrespondenten mehr leisten, ist unser Knowhow mehr denn je gefragt.“

Neuer 2. Vorsitzender ist Clemens Bomsdorf. Mit Basis Kopenhagen berichtet er aus und über Nordeuropa, seinen Schwerpunkt bilden Wirtschafts- und Kulturthemen. Von 2012 bis 2014 war er Dänemark-Korrespondent des Wall Street Journal.

Zum neu gewählten globalen Vorstandsteam gehören außerdem Susanne Knaul (Jerusalem) als Schatzmeisterin, Kilian Kirchgeßner (Prag) und Leonie March (Durban) als Beisitzer. Der Vorstand ist auf zwei Jahre gewählt.

Schweighöfer dankt dem scheidenden Vorstand unter Marc Engelhardt (Genf) und will dafür sorgen, den Bekanntheitsgrad von Weltreporter.net weiter zu erhöhen: „Wir sind die Profis vor Ort. Wir können dazu beitragen, dass Leser und Zuhörer über Geschehen im Ausland frühzeitig und tief gehend informiert werden. Denn wir kennen Hintergründe, Einwicklungen und die Menschen vor Ort.“

Weltreporter.net gehören derzeit 45 Mitglieder an, die aus 160 Ländern für Medien in Deutschland, Österreich und der Schweiz berichten, darunter die ARD, ORF, Stern, Zeit, NZZ, taz, Geo oder brandeins.

 

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Kiwi-Vogel oder Farnkraut?

Um Kim Dotcom ist es verdächtig ruhig geworden. Sollte er nicht bereits sein Auslieferungsverfahren in die USA hinter sich haben? Ist er vor seinen Feinden aus Hollywood im U-Boot abgetaucht? Egal. Mein kleines Aotearoa hat längst ein neues Reizthema, das mindestens so bunt und kontrovers wie der dicke Internet-Krösus ist: die neuseeländische Flagge.

Die Emotionen kochen hoch, denn die Flagge soll per Volksabstimmung geändert werden. Bisher ist sie kaum von der australischen zu unterscheiden, außer dass ihr neben und unter dem Union Jack zwei Sterne fehlen. Was ja schon wieder traurig symbolisch ist: wie der große Bruder, aber mit weniger, ansonsten englisch. Kein Wunder, dass man uns noch immer für eine Insel Australiens hält oder eine Kolonie Großbritanniens. Jetzt werden wir endlich unsere eigene Identität im wehenden Rechteck erschaffen. Nur – wie soll die aussehen?

Schon 1983 entwarf Künstler und Visionär Friedensreich Hundertwasser ein alternatives Nationalsymbol für seine Wahlheimat: eine grüne Farnwedelspirale – von den Maori „koru“ genannt – auf weißem Grund. Sie flattert seitdem auf Protestmärschen und vor Öko-Kommunen. Vor acht Jahren machte unsere frühere Premierministerin Helen Clark einen simplen Vorschlag: einfach den britischen Union Jack entfernen und nur noch die vier rotweißen Sterne des Kreuz des Südens auf blauem Grund zeigen.

Das hätte uns viel Geld gespart – 26 Millionen Neuseeland-Dollar kostet das Prozedere, das sich noch bis 2016 hinzieht – und uns vor einigen Peinlichkeiten bewahrt. Denn 10.000 Bürger reichten jetzt ihre selbstentworfenen Vorschläge ein. Darunter ein Vogel, aus dessen Augen ein grüner Laserstrahl Richtung Erde zoomt, ein Schaf mit einer Eis-Waffel (garantiert die Sorte „Hokey Pokey“) und ein wackelig gezeichnetes Fahrrad. Was dazu führte, dass sich der englische Komiker John Oliver mal wieder im Fernsehen über uns scheckig lachte. Mit Neuseeland – laut Oliver „Australiens Australien“ – ist immer gut zu spaßen.

40 Vorschläge kamen in die engere Wahl. Im 12-köpfigen Auswahl-Komitee sitzen keine Designer, aber eine Produzentin von Reality-Shows, eine frühere Diskus-Werferin und der Ex-Bürgermeister von Dunedin. Deren Auswahl stieß öffentlich auf wenig Begeisterung. Weiß auf schwarz wecke zwar Assoziationen mit der Rugby-Mannschaft All Blacks, aber auch mit der IS-Flagge. Auf 11 Motiven dominiert ein stilisierter Farnzweig. In Kanada hat das Ahornblatt als branding bestens funktioniert,  aber in unserem Fall könnte die Pflanze für eine Feder gehalten werden. Und ist leicht zu verwechseln mit dem Logo der weiblichen Netzball-Mannschaft Silver Ferns. Daumen runter.

Die größte Empörung entzündete sich landesweit um das, was fehlt: der Kiwi-Vogel. Kein einziges Mal taucht das flugunfähige, nachtaktive Viech in der engeren Wahl auf. Dabei ist es das Nationalsymbol schlechthin, unser Wappen- und Münzentier, nachdem sich sogar die Menschen im Lande benennen. Eine Schande. Kim Dotcom, mach was!flag 3

 

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Utopisch! Weltreporter-Buch erobert Taiwan

Globalisierung ist unser Geschäft, interessante Geschichten lassen sich weder von Landes- noch von Sprachgrenzen aufhalten. Doch dies ist auch für uns Weltreporter eine neue Erfahrung: Unser Sammelband “Völlig utopisch – 17 Beispiele einer besseren Welt” erscheint nun in einer chinesischen Übersetzung in Taiwan.

Voellig Utopisch Taiwan

“Utopien des 21. Jahrhunderts” heißt der Taiwan-Titel übersetzt, und darunter sinngemäß: “17 umgesetzte neue Möglichkeiten für ein schönes Leben”

Beim Cover-Design hat Taiwan sich für einen weniger verspielten Entwurf entschieden. Dies war das Original:

Voellig_utopisch_Cover_deutsch

Ganz so exotisch, wie man meinen könnte, ist diese Veröffentlichung nicht. Dass Taiwan ein wichtiger Buchmarkt ist, den deutsche Verlage durchaus auf dem Radar haben, darüber hat kürzlich Deutschlandradio Kultur berichtet.

Und “Ina aus China” heißt ein Buch, das wie wenige andere Taiwan, Deutschland und China verbindet. Hier mein Bericht dazu.

 

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Wieviele Zigaretten denn nun?

Und es gibt ihn doch: Den Himmel über Peking. Seit einigen Tagen gelten dieselben Regeln wie während der Olympischen Spiele 2008: Nur jedes zweite Auto darf fahren – je nachdem ob die letzte Ziffer des Nummernschildes gerade oder ungerade ist – die meisten Fabriken sind abgestellt. Derzeit läuft im Olympiastadion die Leichtathletik-WM, und am 3. September paradiert Chinas Militär über den Tiananmen-Platz um des Sieges über Japan am Ende des Zweiten Weltkriegs zu gedenken. Für beides muss die Luft rein sein. Am Wochenende übten Düsenjägerbattalions unter weißen Wattewölkchen ihre Formationsflüge.

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Wölkchen sehen wir selten; sie verstecken sich meist über der Dunstglocke. Doch genau WIE schädlich die Luft denn nun eigentlich ist, das ist für uns Pekinger eher wenig fassbar. Gerade erst erregten Berichte über eine neue Studie aus den USA Besorgnis (Details hier): Demnach sind wir alle hier Zwei-Schachteln-am-Tag-Raucher: Ein Tag Pekinger Luft entspricht demnach 40 Zigaretten. Illustriert wurde diese Geschichte etwa im Economist mit einer China-Karte, auf der die Gegend um Peking tiefrot gefärbt ist, für die schlechteste Luft im Land. Alles “Pferdesch….”, antwortete nun ein lokales Stadtmagazin: Der Feinstaubgehalt der Pekinger Luft entspreche durchschnittlich nur etwa einer fünftel Zigarette am Tag. Die Autoren haben das einigermaßen plausibel nachgerechnet – auf Basis der Pekinger Feinstaubstatistik von Greenpeace sowie dem, was über den Feinstaubgehalt von Zigaretten bekannt ist. Nun denn. Man möchte ja gerne die zweite Story glauben (Details hier).

Dass ihre Stadt die lebenswerteste Chinas ist, glauben aber nicht einmal die Locals: Peking rangiert an der Spitze des “Liveability Index” des Economist Intelligence Unit für China. Lachhaft, bloggen die Pekinger: Soll das ein Aprilscherz sein? Über den Spott der Hauptstädter berichtet sogar die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua (Story hier). Auch wenn die Luft natürlich nur eines von vielen Kriterien ist. Die Unis sind ja gut in Peking, oder das kulinarische und kulturelle Angebot. Auf Nummer zwei des Rankings ist übrigens Tianjin platziert, die Hafenstadt neben Peking – die ebenfalls auf der China-Luftdreck-Karte tiefrot gefärbt ist. Und die dank des Infernos vor knapp zwei Wochen derzeit eher für negative Schlagzeilen sorgt. Die Zahl der Toten durch die Explosionen eines Lagerhauses für gefährliche Chemikalien ist auf 121 gestiegen, und noch immer werden mehr als 50 Menschen vermisst. Es qualmt immer noch am Unglücksort, mehrere Verantwortliche des Lagerhauses sind in Haft. Die Sache stinkt, physisch und im übertragenen Sinn.

Ich gehe dann mal raus und genieße den Himmel. Solange er noch da ist. Der Countdown läuft. Schon am 4. September wird alles wieder hochgefahren. Und wir werden wieder zu Zwangsrauchern.

 

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Fotograf He in der Hölle von Tianjin

Am Anfang ging ein Video um auf dem chinesischen Chatforum WeChat, das von weitem die verheerenden Explosionen von Tianjin zeigt. Einen Tag später tauchte eines auf, das aus nächster Nähe geschossen wurde. Darin ist bei der zweiten Explosion nur noch Weiß zu sehen, der Filmer scheint mitten im Inferno. Am nächsten Morgen machte sich ein chinesischer Fotoreporter der Beijing News auf, um so nahe wie möglich an den Brandherd heranzukommen. Der war schon abgeriegelt – doch He Xiaoxin schlich sich vorbei an den Polizeikordons, durch ein Wäldchen, unter Hochstraßen entlang, bis zu einem beschädigten, leeren dreistöckigen Gebäude, von dem aus er einen riesigen Platz sah, voller ausgebrannter Autos, durch die ein einsamer Feuerwehrmann schlich. Von dort aus beobachtete He auch die gelbe Giftwolke, die am Nachmittag bei einer kleineren Explosion in den Himmel stieg – möglicherweise enthielt sie Natriumcyanid. Erst dann nahm auch er die Beine in die Hand. Später wurde er doch noch gestellt, viele Fotos musste er löschen. Die erhaltenen Fotos zeigen das Katatsrophengebiet aus nächster Nähe, was kaum jemandem gelungen ist. Hier der link: He Xiaoxin: How Far Can I Go? And How Much Can I Do?

Mindestens 114 Menschen starben bei der Katastrophe, deren Ursache immer noch im Dunklen liegt. 70 weitere werden noch vermisst. 68 befinden sich im kritischem Zusatand in Krankenhäusern, zusammen mit mehr als 600 weiteren Verletzten. Anwohner fordern bereits Kompensationen: Laut Chinas eigenen Verordnungen müssen Gefahrgutlager mindestens einen Kilometer von Wohnhäusern, öffentlichen Gebäuden oder Durchgangsstraßen entfernt sein. Online-Karten zeigen allerdings sowohl eine Straße als auch ein Wohnviertel innerhalb von 500 Metern Entfernung  des zerstörten Ruihai International Logistics Warehouse. “Wir Opfer verlangen: Regierung, kauft unsere Wohnungen zurück”, forderten die Anwohner der Wohnanlage vor dem Hotel, in dem die Lokalregierung ihre täglichen Pressekonferenzen abhält. Diese hat Sicherheitschecks aller Lagerstätten gefährlicher Güter angeordnet. Die Zentralregierung will auch landesweit die Sicherheitsstandards prüfen lassen.

Der Hafenbetrieb läuft derzeit wieder langsam an. Autohersteller leiten ihre Autoimporte vorübergehend über andere Häfen. Viele Importwagen wurden auf den nahegelegenenen Stellplätzen beschädigt – darunter etwa 2700 Modelle des Volkswagen-Konzerns. Wie groß der Schaden für die lokale Wirtschaft, oder auch ausländische Unternehmen, insgesamt ist, lässt sich noch nicht absehen.

Transparenz kündigt die Regierung an – doch bislang läuft alles weitgehend wie gehabt: Die Unglücksstelle wird abgeriegelt, Medien dürfen nur die offiziellen Berichte der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua drucken, unabhängige Bilder werden gelöscht, Suchbegriffe wie “Tianjin” funktionieren nicht. Auch He Xiaoxins Bilder sind im Netz wohl nicht mehr zu sehen.

 

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Der Prinz aus Parnell

Sommerferien vorbei? Wer gerade sein Urlaubsvideo ins Internet hochlädt, befindet sich in bester Gesellschaft: in der von Max Key, dem smarten, geschniegelten Sohn von Neuseelands Premierminister. Mit den Instagram-Fotos des 20jährigen beschäftigt man sich sogar im neuseeländischen Parlament. Ist er Möchtegern-Promi oder neureicher Polit-Prinz?

Max Key schaut ausdruckslos in die Kamera. Er ist durchtrainiert, seine Basecap trägt er rückwärts, trotzdem sieht er aus wie ein Bubi. Hinter ihm ist die Skyline von Honolulu. Max reckt beide Mittelfinger hoch. So cool. Schwenk zum Strand. Max fährt Wasserski, auch gerne schnelle Autos, und er hat eine schicke Freundin: das Model Amelia Finlayson. Die beiden sind die Stars eines selbstgedrehten GoPro-Werks namens „Summer Paradise“, das im letzten Monat eine Viertelmillion mal auf YouTube gesehen wurde. Tolle Leute, toller Urlaub, voll geil. Allerdings hielten mehr als doppelt so viele Zuschauer den Daumen runter statt hoch. Im Land der Bescheidenheit kommt die Protzerei aus dem Paradies nicht so gut an.

Kaum jemand würde sich für das Filmchen interessieren, wenn nicht Premierminister John Key – weißes Polohemd, weiße Tennisshorts – ab und zu im Bild auftauchen würde. Der hat den Trip nach Hawaii für die Familie spendiert. Auch seine Tochter Stephie, die als Performance-Künstlerin „Cherry Lazar“ in Paris auftritt und dort ihren Körper gerne mit Sushi und Fast-Food bedeckt, war auf der Reise dabei, inklusive pinker Haarpracht. Die Kinder können nichts für ihren konservativen Vater und seine Reichen-Politik. Doch Klein-Max kann was dafür, dass plötzlich alle auf ihn gucken.

Mit Reportern spricht er nicht, aber er beantwortet Fragen auf der Social-Media-Seite eines Radiosenders – über 1000 bisher. Da entschlüpfen ihm tiefschürfende Einblicke in sein Inneres: „Ich wollte schon immer Milliardär sein, und glücklich…“. Jetzt studiert er Finanzwesen und Immobilien an der Uni – ganz wie Papi, der war mal Banker. Und Max schmeißt Partys mit der „Fulltimers Society“, einem Club von gutbetuchten jungen Aucklandern. Max hat die richtige Nobelviertel-Adresse und trägt daher den Schlagzeilen-Titel „Prince of Parnell“. Solch eine „First Family“ hatte Neuseeland noch nie. Skan-da-lös!

Einige Politiker haben sich nach dem hämischen Medienecho auf Maxens Video dagegen verwehrt, Rückschlüsse vom Sohn auf den Vater und umgekehrt zu ziehen: „Lasst den Jungen in Ruhe!“ Eine Maori-Abgeordnete drückte gar „aroha“ (mitfühlende Liebe) für Key Junior aus. Bei all dem unerhörten Luxusgebaren sind Sorgen um die Lage der egalitären Nation vielleicht berechtigt. Denn in Melbourne flog gerade ein Schwindel fürs Guinness Buch der Rekorde auf. Dort wurde angeblich der teuerste Cocktail der Welt für 14.000 Dollar in einem Casino getrunken. Ausgeschenkt wurde er an James Manning, Millionär aus Neuseeland. War zwar alles nur ein PR-Coup – die Rechnung wurde von Manning nie bezahlt – aber wie stehen wir Kiwis jetzt da? Lieber arm und unsexy als so.Max Key

 

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Raus aus der Stadt!

Barcelona im August, das ist die Hölle. Bruthitze, bis auf Souvenirshops und Großketten fast alle Geschäfte geschlossen und in der Altstadt Heerscharen von Touristen, die mit elektrisch betriebenen Skateboards, SegWays, GoCars und anderen Vehikeln des Grauens die Gassen blockieren. Deswegen am besten der Stadt entfliehen, und raus an den Strand fahren, z. B. nach Empúries.Foto Merian1

Gegründet im sechsten Jahrhundert vor Christus von phokäischen Händlern, gehörte die Stadt einst zu den wichtigsten des Mittelmeers. Heute zeugt von der griechisch-römischen Doppelstadt ein beeindruckendes Ruinenfeld, Asklepiosstatue und Forum inklusive. Direkt davor, auf der anderen Seite des Radweges, hinter einem Kiefernwäldchen gibt’s drei hübsche Buchten, mit flach abfallendem Strand für die Kinder und einem unprätentiösen Xiringuito für hungrige und durstige Erwachsene (und einem tollen Spa-Hotel).

Mehr Strand-Tipps von mir gibt’s übrigens im jetzt erschienenen Katalonien-Merian. Da geht es um Strand mit Hinterland, also um Strände, die nicht nur mit Sand und Wasser, sondern auch sehenswertem Küstenort punkten. Wie Empúries. Barcelona ist natürlich auch dabei. Das ist kein Widerspruch. Ich mag Besuch nämlich wirklich gerne. Gegen Touristen als solche habe ich natürlich auch nichts. Bin ja selber eine. Nur Segway fahren sollten sie bitte nicht.

 

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Erst Kuchen, dann “Crotch-Gate”

Huch – es wird August und die Neuseeland-Korrespondentin pennt, erschöpft von Abscheu und Empörung. Ich muss dringend all die obszönen Skandale der letzten Wochen und Monate auflisten. Bei so vielen Entgleisungen in Aotearoa kommt man kaum noch hinterher.

Der Jahresanfang war von einem deftigen Backwerk geprägt. Karen Hammond, eine Angestellte der „NZ Credit Union“, hatte für die Abschiedsfeier einer Kollegin einen Schoko-Kuchen gebacken, auf dem in Zuckerguss „NZCU fuck you“ stand. Denn beide Frauen waren gegangen worden. Das Foto des Kuchens stellte Hammond auf ihre Facebook-Seite. Die Finanzfirma leitete es an ihren neuen Arbeitgeber weiter. Die Hobby-Bäckerin wurde arbeitslos und bekam am Ende als Entschädigung die Rekordsumme von knapp 100.000 Euro zugesprochen.

Zuvor hatte eine Prostituierte aus Wellington weltweit Wirbel ausgelöst, die ihren Puff-Betreiber wegen sexueller Belästigung verklagt hatte. Denn seit Neuseeland die Prostitution legalisiert hat, stehen Sexarbeiterinnen die gleichen Rechte zu wie allen. Die Frau war keinen körperlichen, aber verbalen Übergriffen ausgesetzt. Unter anderem wollte der Zuhälter immer wieder ihre erotischen Vorlieben wissen – was sich auch bei einem Finanzleister, siehe oben, nicht gehört hätte. 25.000 Dollar Entschädigung.

Im Mai dann ein Schocker aus dem Kindergarten-Milieu: Eine Mutter, die ihre Dreijährige in einer Vorschule im ländlichen Kaiapoi anmelden wollte, griff dort ins Buchregal und zog „Gus and Waldo’s Book of Love“ heraus. Das ist ein Bilderbuch für Erwachsene. Auf einer Seite sieht man die Pinguine Gus und Waldo beim „Spielen“ – der eine S/M-mäßig gefesselt, der andere in ein rotes Korsett geschnürt. Auch die Mutter sah rot, fotografierte die Seiten ab und leitete eine Beschwerde beim Erziehungsministerium ein.

Nur einen Monat später sackte die Moral noch tiefer in den Folterkeller. Denn die Molkerei „Lewis Road Creamery“ brachte eine Milch auf den Markt, die mit dem Etikett „Breast Milk“, also Brustmilch, im Kühlregal stand. Eklig oder mutig? Auf jeden Fall clever, denn 20 Cents pro überteuerter Flasche gehen an die Brustkrebsvorsorge. Der PR-Coup gelang. Eine Lobby namens „New Zealand Breastfeeding Authority“ ging auf die Barrikaden und warnte, Mütter könnten die Kuhmilch für Muttermilch halten und unwissend ihren Säuglingen einflößen. So viel Schwachsinn wollten viele Frauen, egal wie hormonell aufgeweicht ihr Hirn vom Stillen, nicht auf sich sitzen lassen.

Und jetzt „Crotch-Gate“, was sich kaum anständig übersetzen lässt. Das Bohei hat mit einem Blick in den Schritt der Bachelor-Kandidatin Chrystal Chenery zu tun. Die Blondine trat in der TV-Tanzshow Dancing with the Stars auf, wo man, wie bei Tänzerinnen üblich, den Rock hochwirbeln sah. Ein Radiomoderator fotografierte ihren Slip, der wenig verbarg, und stellte den Screen-Shot mit dem Spruch ins Netz: „Chrystal zeigt Art, was er verpasst hat“. Mit „Art“ ist der Junggeselle der „Bachelor“-Serie gemeint. Da ist auch die Auslandspresse sprachlos und legt sich wieder hin.Chrystal-DWTS-Week-1-(1)

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