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Armes Deutschland

“Junger Mann, müssen Sie zufällig nach Essen?” Ich stehe am Düsseldorfer Flughafen und will mir gerade am Fahrkartenautomaten einen Fahrschein ins Ruhrgebiet kaufen als wie aus dem Nichts ein freundlicher älterer Herr auftaucht und mich anspricht. Ich stutze. “Naja, ich muss schon Richtung Essen, aber eigentlich noch weiter”, antworte ich irritiert. Der Herr ist auffällig fein gekleidet, mit Jackett und rot gestreifter Krawatte. Warum er sich für mein Reiseziel interessiere, will ich wissen. “Isch kann Sie mitnehmen”, sagt der Kauz im feinen Zwirn und in breitem rheinländischen Dialekt. “Also isch bin Kölner, wie man vielleischt hört, und isch kann Sie mitnehmen wohin Sie wollen.”

Ich verstehe noch immer nicht und höre mich sagen: “Aber Sie wissen doch gar nicht, wohin ich will.” “Dat spielt doch jar keine Rolle, isch fahr Sie dahin, wohin Sie wollen”, antwortet er. Als ich ihn noch immer verständnislos anschaue, wird er deutlich: “Auch wennet für Sie nit danach ussieht, aber isch bin Rentner, kann aber nit davon leben.”

Er zückt seinen Behindertenausweis und schlägt mir vor, dass ich ihm neun Euro gebe statt für zehn Euro einen Fahrschein zu ziehen. Dafür würde er mich bis zu meinem Endbahnhof begleiten. “Sie müssen sisch keine Sorjen machen, dat is serijös. Hundertprozentisch,” sagt er und erklärt mir, dass er mit seinem Ausweis noch eine zweite Person mitnehmen könne.

“Also gut”, sage ich. Schweigend gehen wir zum Bahnsteig. Ich bin völlig erstaunt und innerlich entsetzt. Dass in Deutschland ein Rentner noch Geld dazu verdienen muss, um über die Runden zu kommen, hätte ich nicht gedacht. Zweimal pro Woche, so erzählt er mir, würde er das tun, was er soeben bei mir erfolgreich gemacht hat: Wildfremde Leute ansprechen und darauf hoffen, dass es klappt. Sein Kapital: Der Schwerbehindertenausweis. Und um gleich einen guten Eindruck zu machen, zwängt er sich mit Jackett und Krawatte in feine Schale. Denn, das weiss er: Wenn er jemanden anspricht, ist der erste Eindruck entscheidend.

Aber häufig klappe es eben nicht. Viele Leute würden ablehnend reagieren, sagt er. “Sie glauben ja gar nicht wie erniedrigend dat für mich is. Dat halt isch selbst im Kopp nit us.” Dann erzählt er mir seine Lebensgeschichte: Hans, 69 Jahre alt, alleinstehend, 40 Jahre im Strassenbau malocht, 1995 den Job verloren. Das Arbeitsamt habe ihn dann in den Vorruhestand geschickt. Gegen seinen Willen, sagt er. Sonst hätte man ihm die Arbeitslosenhilfe gestrichen. Heute lebt er von 612 Euro Rente und 109 Euro Wohngeld. Nach Miete und Nebenkosten von 340 Euro bleibt ihm also nicht mehr viel zum Leben.

“Dit is ja eijentlisch Bettelei, wat ich da jetzt mache”, sagt Hans verschämt, nachdem wir in Witten, meinem Reiseziel, angekommen sind. Ich drücke Hans zehn Euro in die Hand, spendiere ihm noch einen Cafe und lasse ihn am Bahnhofsbuffet zurück.  Armes Deutschland.

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