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Ich bin Brasilianerin, ich gebe nie auf

Am Sonntag kosten die Bustickets hier im Großraum Recife nur den halben Preis, deswegen ist Sonntag Volkswandertag. Die meisten fahren an den Strand, manche vergnügen sich auch in vollklimatisierten Shopping Malls. Es gibt noch eine dritte Gruppe, die jeden Sonntag unterwegs ist. Sie besteht vor allem aus Frauen. Mütter, Schwestern, Ehefrauen, die mit großen Picknicktaschen schon in aller Frühe aufbrechen: Sonntag ist Besuchstag in Pernambucos Gefängnissen.

Letztens bin ich mit gefahren. Weil mir eine Freundin so viele Geschichten erzählt hat. Von den Vier-Mann-Zellen, die mit 20 belegt sind, und den anderen, die auf den Fluren nächtigen müssen. Von den „Capos“, die Einzelzellen vermieten und anderen, die an Besuchstagen im Hof aus Bettlaken Zelte improvisieren, die ebenfalls vermietet werden. Wie einmal ein spielendes Kind ein solches Laken runtergezupft hat und dahinter ein splitterfasernacktes Paar gerade voll bei der Sache war – illegal, denn Intimbesuche sind nur mittwochs gestattet. Wie am Eingang die Besucherinnen sogar das Höschen runter lassen müssen, damit sie ja keine Drogen einschmuggeln, drinnen aber Crack-Steine offen über die Tische verschoben werden. Und dass auch nicht-verwandte Frauen besuchen dürfen.

Also bin ich am Vorabend schon in die Kreisstadt gefahren, um von dort den ersten Bus zu nehmen, bin um drei Uhr nachts aufgestanden und um halb vier mit den anderen zum Busbahnhof gewankt. Normale Busse sind sonntags um vier Uhr morgens leer. So können wir noch eine Weile dösen, bis wir in den ersten fahlen Lichtstrahlen in Recife ankommen. Am nächsten Umsteige-Busbahnhof ist dann gleich zu erkennen, wo es weiter geht: an der Haltestelle des Gefängnisbusses hat sich bereits eine lange Schlange gebildet. Wir drängen uns zwischen alten Mütterchen, tätowierten Minirockträgerinnen und allen nur denkbaren Varianten Frauen in den Bus, schwanken eine weitere halbe Stunde durch einsamer werdende Straßen und kommen an im Centro de Triagem Professor Everardo Luna.

Es ist sechs Uhr morgens, die Sonne deutet erst an, zu welcher Kraft sie sich in den nächsten Stunden steigern wird, und die Schlange vor dem Untersuchungsgefängnis ist bereits mehrere Hundert Personen lang. Tatsächlich sind es vier Schlangen: die längste ist unsere, in der Frauen mit Gepäck stehen. Auch ein Alupäckchen mit Essen ist Gepäck. Die anderen Schlangen sind kürzer und für Frauen ohne Gepäck, für solche mit kleinen Kindern, für über 65-Jährige sowie eine für Männer. Die warten auf gut Glück, denn selten dürfen an einem Sonntag alle wartenden Männer hinein, nach nur Verwaltungsangestelltem bekannten Regeln wird jeweils für den aktuellen Sonntag eine Höchstzahl festgelegt, die am nächsten Sonntag schon nicht mehr bindend ist. Auch sonst gibt es allerlei Regeln. Männer dürfen kein Schwarz tragen, Frauen weder kurze Röcke und Shorts, noch zu tief ausgeschnittene oder rückenfreie Oberteile. „Lächerlich“, sagt eine, „kaum sind sie drinnen, duschen die meisten und laufen dann in den Boxershorts ihres Mannes rum“. Für alle Fälle gibt es an mehreren Ständen, die neben der Warteschlange aufgebaut sind, dezente Hosen, Röcke, Blusen oder Jäckchen zu kaufen und zu mieten.

Überhaupt ist hier einiges geboten. Da weder Handys, noch Fotoapparate mit hineingenommen werden dürfen, ist eine Gepäckaufbewahrung organisiert, die umgerechnet 40 Cent kostet, komplett auf Vertrauen beruht und hervorragend funktioniert: die Habseligkeiten werden erst in eine Plastiktüte und dann in eine leere Kühlbox gestopft, bis die Besitzerin wieder nach Hause will. Da die Sonne schon um sieben empfindlich brennt, und sich in der Folge nur noch weiter steigert, sind auch Schirmmützen, Sonnenmilch und Sonnenschirme im Angebot. Und natürlich Snacks vom Wurstbrot bis zur frittierten Pastete, Zuckerrohrsaft, Kokoswasser oder Bier für die härteren Kandidatinnen. Auf die sicher hoch lukrative Idee, Klapphocker zu vermieten, ist noch niemand gekommen. Also hocken sich die Wartenden auf Ziegelsteine von einer nahen Baustelle, auf Kartonfetzen von einem nahen Müllhaufen, auf leere Plastiktüten oder Stücke Stoff, lehnen die Rücken aneinander und nehmen die Sonne ergeben hin.

Aus einem Kombi dröhnt Musik der Evangelikalen und kündet davon, dass es auch heute Wunder gebe, wenn man nur daran glaubt. Vielleicht gilt es schon als Wunder, dass wir es um elf bis in den Vorhof des Centro geschafft haben. Der ist von weißen Mauern umgeben, die das Licht unbarmherzig bündeln und jeden Luftzug zuverlässig abhalten. So muss sich ein Hühnchen auf dem Grill fühlen. Hätte mir doch eine Schirmmütze kaufen sollen, aber wer jetzt wieder hinaus geht, muss sich anschließend ganz hinten an der Schlange wieder anstellen. So wie eine leichtgeschürzte Blondierte, die sich wohl jetzt schnell noch ein Jäckchen besorgt. Gelegentlich gibt es ein paar Zentimeter Schatten, aus dem man am liebsten nie mehr heraus treten will. Wir kaufen Mineralwasser, um es auf unsere kochenden Häupter zu tröpfeln. Vorher haben die Frauen noch erzählt, von dem Mörder, der sich frech vor die Leiche des soeben von ihm ermordeten Kindes setzt, bis die Polizei kommt und zynisch kommentiert: „Unmenschlich so etwas“. Alle Anwohner wissen Bescheid, alle schweigen, denn „lieber feige leben als ehrenhaft sterben“. Von dem ungerecht eingesperrten Ehemann. Oder davon, dass sie zum ersten Mal hier sind und noch nie mit der Polizei zu tun hatten. Jetzt spricht keine mehr. Es ist sogar für Worte zu heiß.

In kleinen Grüppchen werden die ersten ins Gebäude eingelassen. Dort werden die Taschen und Plastiktüten durchleuchtet, die Frauen müssen sich ausziehen, das Höschen herunter lassen und dann dürfen sie hinein, zur Sonntagsfrische mit dem Liebsten, Bruder oder Sohn. Manche beziehen erst mal Prügel vom Ehemann, weil sie sich nicht benommen haben, wie es ihm gefällt. Manche haben draußen ihre Spitzel. Manche leiten von drinnen einen lukrativen Drogenhandel und wollen gar nicht mehr raus. Jetzt lässt der Wachmann an der Tür einen Riesenschwung auf einmal hinein. Bis zwölf Uhr werden Besucherinnen eingelassen, dann ist Mittagspause bis halb zwei. Wenn es in diesem Tempo weiter geht, könnten wir es gerade so eben schaffen. Da knallt der Wachmann die schwere Glastür zu und legt das Gitter vor. Um 11 Uhr 45. Für uns bedeutet das: eineinhalb zusätzliche Stunden hier im Hof, auf dem Hühnergrill.

Schade, dass ich meine Kamera draußen zur Aufbewahrung lassen musste. Das wäre jetzt das Bild: Manche Frauen haben sich das Oberteil ausgezogen und stehen im BH in der prallen Sonne, eine Übergewichtige stopft sich gerade gierig das Huhn in den Schlund, das sie vermutlich eigentlich dem Inhaftierten mitbringen wollte. Auf den wenigen Zentimetern Schatten direkt an der Mauer drängen sich so viele Menschen, wie man es nicht für möglich halten sollte. Wer nicht schnell genug in den Schatten gestürmt ist, steht in der Sonne, ergeben wie ein Schaf vor der Schlachtbank. Bekommt hier nie jemand einen Sonnenstich? Und wenn, interessiert das jemanden?

Ein Mann verkauft Zweiliterflaschen mit selbstgepresstem Fruchtsaft. Als wir den ersten Plastikbecher an die Lippen setzen, bemerken wir ein leichtes Fäulnisaroma. Beim dritten Becher haben wir uns daran gewöhnt. In der Mitte des Hofes geht zuweilen so etwas wie ein winziger Hauch. Den Kopf auf den Arm zu stützen bringt ein winziges bisschen Schatten. Um halb zwei bleibt die Tür geschlossen. Sie öffnet sich erst um zwei. Um halb drei bin ich dran. Und werde abgewiesen: mein Ausweis entspreche nicht der Norm. Ich könne ja mein Glück beim Oberaufseher versuchen, wenn der es gestattet, dann ja. Der Oberaufseher sieht mich nicht einmal an. Also wanke ich zurück zur Bushaltestelle. Inzwischen sind alle Busse rappelvoll, weil all die Billigticketnutzer von den Stränden und aus den Einkaufszentren wieder nach Hause fahren. Abends um sechs stehe ich im letzten Bus nach Hause. Manche Frauen machen diese Sonntagsausflüge jede Woche. Jahre lang. Auf dem Hof hatte eine Frau eine Tätowierung quer über den Rücken die besagte: Ich bin Brasilianerin, ich gebe nie auf.

 

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