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Staub, Trümmer, Angst und Leid – Weltreporter Martin Zöller berichtet aus L'Aquila

 Seit Dienstag nachmittag ist Martin Zöller wieder vor Ort in L'Aquila. Hier sein Bericht vom Montag

 

Der Staub ist überall. Er liegt dort auf den Motorrollern, die auf wundersame Weise heil geblieben sind; er liegt auf der Rinde der Bäume, die oben in L´Aquila, inmitten der bergigen Abbruzzen, noch viel winterlicher aussehen, als die unten in Rom, eineinhalb Stunden von hier. Er liegt auf Trümmern, faustgroßen Steinen, mannshohen Brocken, die aus zerstörten Häusern herausgebrochen sind und auf dem cremefarbenen Mini  Cooper mit dem Kennzeichen DM 2255EV; er liegt auf den Gesichtern der Verletzten und der Toten dieser Nacht.

Alles begann um 3 Uhr 32 tief unter der Erde unter dem kleinen Örtchen Paganica, einem Vorort von L’ Aquila. 20 Sekunden bebte hier die Erde, von hier breiteten sich jene Erdstöße aus, die im italienischen Fernsehen mit roten  Kreisen dargestellt sind und in der Kürze der Zeit Orte zerstörten, die doch eigentlich so sorgenfrei klingende
italienische Namen haben: Santo Stefano di Sessanio, Castelvecchio Calvisio, San Pio, Villa Sant'Angelo. Doch seit  gestern stehen diese Namen auch für bislang über 90 Tote, die in den Trümmern ihrer Städte ums Leben gekommen sind. Der Schrecken hatte sich angekündigt: Bereits am Vorabend, gegen 23 Uhr am  Palmsonntagabend, waren viele Bewohner der nun betroffenen Orte nach einem leichten Beben auf die Straßen geströmt. Doch die meisten kehrten in ihre Häuser zurück, nicht ahnend, was noch folgen würde.

Montagmittag in L’Aquila: Schaut man gerade nach oben, dann wirkt alles friedlich, die Frühlingssonne fällt aus einem blauen Himmel in die Stadt hinunter. Doch blickt man geradeaus, sieht man eine junge Frau, Clara, rosa Schlafanzug, darüber eine Jacke. Die Jacke hat sie sich schnell noch übergezogen, als sie aus dem Haus stürzte, ein paar Sekunden nach „tre e trentadue“, 3 Uhr 32, jener Uhrzeit, die minütlich in den Nachrichtensendungen wiederholt wird und schon jetzt im kollektiven Gedächtnis der Italiener eingebrannt zu sein scheint. “Alles ist zerstört", sagt die junge Frau auf die Frage, was mit ihrem Haus passiert sei, „es war wie im Film, aber es war echt.“ Gerade noch habe sie sich mit ihrem Verlobten retten können, doch selbst Stunden nach dem Beben kann sie das Zittern ihrer Hände noch immer  nicht kontrollieren. "Was uns gerettet hat, ist ein großer  Schrank in
unserem Schlafzimmer, der die umstürzende Mauer gehalten  hat. Sonst wäre alles über uns zusammengebrochen.“

Halb Italien spürte das Beben, es war so stark, dass selbst in Rom Regale und Lampen wackelten und viele Menschen mitten in der Nacht ihre Häuser verließen. Dass man es in Rom spüren konnte, war wie eine Vorhersage  dafür, welches Grauen der Tag bringen würde. Morgens um 7: 47 melden die Nachrichten noch 17 Tote, um 9.40  Uhr sind es 27, um 11 Uhr 40. Zur Mittagszeit kommen die Zahlen aus den kleinen, schwer zugänglichen Dörfern,  es ist von 60 Toten die Rede, schließlich 92. Es hört nicht auf. Bis zum Abend sagen die Sprecher der Nachrichtensendungen immer denselben Satz: “Continua a salire il numero dei morti”, die Zahl der Toten steige noch an.

Gleichzeitig beginnt die Diskussion, ob es so kommen musste, wie es kam. Ob man gewarnt sein konnte. „Das ist ein Skandal, seit drei Monaten schon hat regelmäßig die Erde  gebebt, die Behörden wissen das genau!“, sagt Maria, eine junge Frau aus L’Aquila. Sie sitzt neben ihrem Auto, das mit zerdelltem Dach und  zerborstenen Scheiben am Straßenrand steht. Trotzdem schiebt Maria  ihre Koffer durch das Loch an der Stelle, wo einst die  Windschutzscheibe war – sie hofft, dass der Wagen noch fährt und  will "so schnell wie möglich" aus L'Aquila fliehen, weil sie Angst  vor Nachbeben hat. Beim Stand von 17 Toten berichtet die online-Augabe von  “La Repubblica” über den Erdbebenforscher Gioacchino Giuliani, der vor kurzem mit Hilfe eines von ihm entwickelten Messgerätes ein großes Beben in der Region um L´Aquila vorausgesagt hätte; Giuliani misst das radioaktive chemische Element Radon im Boden. Das “Institut für Geophysik und Vulkanologie” verschickt eine Presseerklärung: “Wir  unterstreichen, dass nach dem heutigen Wissenstand es nicht möglich ist, mit absoluter Sicherheit Erdbeben vorauszusagen.” Leser kommentieren: Sandy1965” ist empört über den Staat, der seine Bürger nicht schützt. “Luthvime” meint, es ginge jetzt nicht um Schuld. Es ginge um Trauer.   Der Chef des Instituts für Geophysik und Vulkanologie gibt am Nachmittag den betroffenen Bürgern selbst die Schuld. “Es ist nicht Teil unserer Kultur, in seismischen Zonen der Gefahr angemessen zu bauen.“ So seien Häuser eingestürzt, „die nicht dafür konstruiert  worden sind, einen solchen – nicht besonders heftigen – Erdstoß zu ertragen.“

Jene Stadt, Paganica, aus deren Tiefen das Unheil über die Abbruzzen kam ist mit am stärksten vom Erdbeben betroffen. „Wir wissen nicht wo wir heute übernachten, wir wissen nicht einmal, wo wir zu Abend essen“, sagt nachmittags eine Frau auf dem großen Platz vor der Kirche „Immacolata Concezione“. Die Kirche, in die am  Sonntag noch viele Gläubige mit Ölzweigen zur Palmsonntagsprozession hineinzogen, ist nun eine Ruine, mühsam  scheint sich die Fassade noch zu halten. Irgendjemand hat rote Plastikstühle in einem weiten Bogen um dieKirche gestellt. Sie sollen offenbar davor warnen, sich der Kirche zu nähern, akute Einsturzgefahr. Im Schatten der Kirche steht ein weißes Zelt. Hier liegen die Toten dieser Nacht. Es könnten noch mehr werden. Denn die  Nachrichtensprecher sagen immer noch: “Continua a salire il numero dei morti”, die Zahl der Toten steige noch an.

 

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Morgens auf dem Planeten Erde (6): Kairo

In Kairo beginnt der Tag zwei Mal. Das erste Mal, kurz vor Sonnenaufgang, erschallt der Ruf zum muslimischen Morgengebet, dem Salat ul-Fajr, heute um 4.08 Uhr. Er ertönt aus den Lautsprechern der Moscheen und Gebetsstuben, die zu Zehntausenden übers gesamte Stadtgebiet verteilt sind. Diesen Gebetsruf, arabisch Azzan, höre ich nicht, er weckt mich nicht auf. In meinem Stadtteil Dokki wie in vielen anderen Nachbarschaften ab Mittelklasse aufwärts, ist die Moscheedichte nicht so hoch. Anders in ärmeren Vierteln. Hier kann der Gebetsruf kaum ignoriert werden. Oft erschallt er aus billigen Lautsprecheranlagen, übersteuert und krächzend. Nicht selten übertragen besonders eifrige Moscheediener vor dem Azzan eine Viertelstunde lang noch Koranrezitationen, in der Hoffnung, das würde die Leute frommer machen.

Trotzdem bleiben die Reihen der Betenden zu dieser frühen Stunde meistens ziemlich kurz. Nur wenige Unermüdliche oder Frühschichtler schleichen durch die halbdunklen Straßen zur Kiezmoschee um die Ecke. Das zweite Mal beginnt der Tag ein paar Stunden danach, in Kairo normalerweise relativ spät, vielleicht zwischen acht und neun Uhr, auf jeden Fall später als im beflissenen Deutschland. Das hat womöglich mit dem Wetter zu tun, damit, dass die Leute nachts lange wach sind, um möglichst wenig von der frischen Nachtkühle zu verpassen.

Momentan beginnt für mich allerdings erst gegen sechs am Morgen die Phase erholsamen, entspannten Nachtschlafes. Gegen neun endet sie abrupt. Das hat mit zwei typischen Kairo-Phänomenen zu tun. Kairo ist voller Zeitanomalien, verglichen mit mitteleuropäischen Tagesabläufen.

In den Straßen um unseren Wohnblock herum werden gerade lauter neue Häuser gebaut, und das vorzugsweise zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens. Ich liege dann im Bett mit einer Klangkulisse im Ohr, die der einer Maschinenfabrik nicht unähnlich ist. Jemand erzählte mir, dass es für Baufahrzeuge und andere Schwerlaster nur in den sechs Stunden nach Mitternacht erlaubt sei, durchs Kairoer Stadtgebiet zu fahren. Deshalb herrscht genau dann Hochbetrieb auf den Baustellen. Gruben werden ausgebaggert, Betonmischerfahrzeuge lassen unter meinem Fenster den Motor laufen, Zimmerleute hämmern an den Verschalungen. Im Halbschlaf denke ich: Wo ist die Immobilienkrise, wenn man sie wirklich braucht.

Morgens um sechs ist der Spuk vorbei. Stille. Endlich tief und fest schlafen, und zwar bis um neun. Denn dann werden seit Tagen schon in einer Wohnung zwei Etagen unter mir Fliesen so leidenschaftlich von Wänden und Böden geklopft, dass es einem in Mark und Beinen vibriert. Die Abstemmer beginnen um neun mit jenem Geräusch, das für Kairo so typisch ist. Es hat mich in regelmäßigen Abständen durch meine zehn Kairo-Jahre begleitet, in allen vier Häusern, in denen wir bislang wohnten. Während in Deutschland Wohnungen tapeziert oder gestrichen werden, kacheln hier die Leute ihre Räume neu.

Gegen zehn stehe ich auf. Das tue ich seit vielen Jahren so, wenn ich keine Termine habe. Mein Biorhythmus ist vermutlich völlig im Eimer, kaum je resozialisierbar. Ich habe mir das so angewöhnt, weil ich unmöglich schon um Mitternacht ins Bett gehen kann. Nach 24 Uhr ebbt der Straßenlärm ab, meine Nachbarn hören langsam auf, bei offenem Fenster krachige ägyptische Seifenopern zu gucken. Durch die Stadt weht eine kühle Brise. Es ist, als sei dieser 18-Millionen-Moloch plötzlich von all seinen Flüchen befreit (abgesehen von den gelegentlichen Baustellen in der Nachbarschaft). Dann beginnt für mich die beste Phase des Tages. Texte, die ich um diese Zeit schreibe, gehen mir doppelt so schnell von der Hand. Zwischen drei und vier Uhr am Morgen lege ich mich schlafen.

Bis um zehn. Mein Frühstück sind Marmeladen-Baguettes, dazu höre ich meinen Lieblingssender, radioeins vom RBB aus Berlin. Ahmed Normalverbraucher frühstückt meistens Fuul (Bohnenbrei), T'aamiyya (die ägyptischen Falafel), ein paar Brotfladen dazu und vielleicht ein Omelett. All das gibt es an unzähligen Ständen und Imbisswagen. An vielen Straßenecken sind morgens Männer mit Fahrrädern zu sehen, die auf den Gepäckträgern Sandwiches zubereiten und für ein paar Piaster verkaufen. Die Zutaten haben sie und ihre Familie daheim vorbereitet, sowas nennt man Schattenwirtschaft. Ganze Familien leben von solchen informellen Sandwiches. Manchmal gehe ich zum Frühstück ins Costa Café um die Ecke. Dort ist mir vor ein paar Tagen Khaled Nabawy begegnet, einer der prominentesten ägyptischen Schauspielerstars, unter anderem bekannt aus Ridley Scotts Hollywoodstreifen "Kingdom of Heaven".

Um den Fahrradsandwichverkäufer neben unserem Haus bilden sich immer Kundentrauben, er ist offensichtlich sehr beliebt. Aber ich sehe ihn selten, um zehn ist er längst wieder weg. Er begegnet mir immer, wenn ich Korrespondentendienst im ARD-Hörfunkstudio Kairo habe. Ich versuche dann, um 8.30 Uhr im Studio zu sein – was mir nicht immer gelingt. Halbneun, das ist für mich eher ein Paralleluniversum denn eine Tageszeit. Am Anfang, in den ersten Tagen, fühle ich mich morgens, als litte ich unter einem Jetlag. Allerdings gibt es im Studio zwei Dinge, die mich aufmuntern: erstens der Blick vom elften Stock auf die Innenstadt am Nil, die im Morgendunst fast unwirklich aussieht, und zweitens der Morgenkaffee von Fatma, der Haushälterin des Studios.

 

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Morgens auf dem Planeten Erde (5): Prag

Sie war schon wieder da heute morgen, die junge Frau. Wenn ich im Schlafzimmer die Vorhänge zurückschlage, steht sie da und schaut durch ihren altmodischen Handspiegel zu mir herüber. Ich schaue sie an, streife sie nur kurz mit meinen Blicken. Das ist unser Ritual, jeden Morgen wieder.

Und dann mache ich mich auf den Weg. Der Mensch braucht seine täglichen Routinen, und ich bin wohl einer der wenigen, die sich darauf freuen. Nicht einmal eine Zeitung habe ich abonniert, weil ich mich so an meinen morgendlichen Rundgang gewöhnt habe, auf dem ich alles Notwendige erledige: Aus der Türe raus, dann gerade die zwanzig Meter weiter bis zur Moldau. Da, wo ich wohne, ist sie von einer Promenade eingefasst. Auf der anderen Uferseite liegt der Hradschin, der Berg mit der mächtigen Burganlage, die über der Prager Altstadt thront. Jetzt im Frühling sieht sie ganz anders aus als im Winter unter der Decke aus Pulverschnee oder im Herbst hinter den Nebeln, die über der Moldau wallen. Hier bleibe ich stehen, so wie jeden Tag. Es ist ein Anblick, dessen man nicht satt wird.

Die Niederungen des Alltags liegen zu diesem Zeitpunkt noch zwei Straßenblöcke entfernt. So weit ist der Weg zu meiner Bäckerei, die übrigens ein Segen für das ganze Viertel ist. Weil im restlichen Land die Versorgung mit Gebäck über Supermärkte sichergestellt ist, bilden sich hier vor dem mutmaßlich einzigen Bäcker der Stadt lange Schlangen. Die Leute stehen bis auf die Straße, es passt nur eine Handvoll Kunden gleichzeitig in das Geschäft. Sobald sich die Türe öffnet und jemand heraus auf die Straße tritt, geht der nächste aus der Schlange hinein. Im Laden steht nur eine alte Sperrholztheke, und im Rücken der beiden Verkäuferinnen führen die Bäcker ihr erstaunliches Ballett vor. Sie wirbeln dort in der Backstube, nur von einem halbhohen Regal vom Verkaufsraum abgetrennt, zwischen dem Ofen und den Arbeitsflächen hin und her. Dort formen sie ihre Mohnkuchen, ihre tschechischen Buchteln und die Hefezöpfe, die hier vanocka heißen. Der Duft zieht durch die offene Türe bis fast hinunter an die Moldau, und ich bin fest überzeugt: Das hier bei meinem Bäcker Zoulek ist eine der wenigen Schlangen, in denen sich das Anstellen wirklich lohnt.

Dann geht es wieder zurück nach Hause, die Brötchentüte in der einen, die Zeitungen in der anderen Hand. Links und rechts der Straße erheben sich die Häuser, für die aus aller Welt die Touristen nach Prag kommen: Jugendstil und Gründerzeit in Reinkultur, Erkerchen und Balkone, Giebelmalereien und Fresken in verschwenderischer Fülle. Bei mir oben im vierten Stock ist der Tee inzwischen gezogen. Mein Blick fällt durch die Erkerfenster hinaus, da drüben steht immer noch die Frau mit ihrem Handspiegel. Sie ist eine zeitlose Schönheit, seit 100 Jahren nicht gealtert, eine ein Stein gemeißelte Ode an die Jugend, die den Giebel des Hauses auf der anderen Straßenseite ziert.

Ich stelle mir die Mohnkuchen auf den Schreibtisch. Jetzt kann sie losgehen, die neue Woche hier in Prag.

 

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Morgens auf dem Planeten Erde (4): Jogjakarta

Normalerweise reißt mich eine der drei Moscheen in unserer Umgebung aus dem Schlaf – heute drangen jedoch  schon am frühen Morgen sakrale Gesänge in meine Träume. Ein Nachbar war über Nacht gestorben, offensichtlich ein Katholik. Nicht viel funktioniert in Indonesien so reibungslos wie die Nachbarschaftshilfe in einem Todesfall, egal welcher Religion der Verstorbene angehörte: Jedes Viertel besitzt in der Regel ein größeres Zeltdach, Plastikstühle  und Geschirr. Alle Anwohner packen mit an – ob sie den Toten näher kannten oder nicht, ob sie ihn mochten oder nicht – und sitzen die Aufbahrungszeremonie bis zur Abfahrt zum Friedhof aus. Nicht zuletzt, weil es ja auf solch einer Veranstaltung immer auch ein Gratisessen gibt.

Heute Morgen versammelte sich die Nachbarschaft also direkt vor unserem Gartentor, selbsternannte Parkwächter  versuchten mit schrillen Pfeifen den Durchgangsverkehr durch die zugestellte Straße zu manövrieren. Irgendwann gingen die sakralen Gesänge unter den Pfiffen, dem Stimmengewirr des Menschenauflaufs und den  Mikrofonansagen des Pfarrers unter. Lärmempfindlich sind Indonesier nicht wirklich. Ich schon. Als sich dann auch  noch mein Internetanschluss verabschiedete, beschloss ich, meinen Arbeitsplatz heute ins Cafe zu verlegen. Nach  dem Pflichtkondolenzbesuch und der dazugehörigen Geldspende, versteht sich.

Die Rikschafahrt zu meinem Lieblingscafe ging schnell – Jogjakartas Straßen sind heute selbst für sonntägliche  Verhältnisse erstaunlich leer. In den vergangenen Wochen hatten sich an jeder größeren Kreuzung Motorradkonvois gestaut, die mit schwingenden Fahnen und rhythmischen Motorenheulen durch die Stadt zogen. Offener Wahlkampf heißt das hier: Am kommenden Donnerstag wählt die drittgrößte Demokratie der Welt ein neues Parlament. Oder besser: ganz viele Parlamente. Denn gleichzeitig mit dem Nationalparlament sollen die Regional- und  Provinzparlamente neu besetzt werden. Welcher der landesweit mehr als 500.000 Kandidaten von welcher der 38 Parteien für welches Parlament kandidiert und für welche Ideen steht, verstehen dabei nicht einmal ein Viertel der  Wähler, wie Umfragen zeigen.

Wahlkampf in Indonesien hat allerdings auch nicht viel mit politischen Programmen zu tun, sondern eher mit Karneval. Die Anhänger kleiden und schminken sich komplett in den Farben der jeweiligen  Partei – es erinnert immer ein bisschen an Fußballmeisterschaften. Gestern zum Beispiel war Blau angesagt, die Farbe der Demokratischen Partei des amtierenden Präsidenten Susilo Bambang Yudhoyono. 30.000 blau gewandete Menschen hatten sich auf den Platz vor dem Sultanspalast von Jogjakarta gedrängt, um der Ansprache ihres Präsidenten zu lauschen. Die Jubellaune vieler Anhänger dürfte allerdings eher durch Gratisessen und ein Konzert der Popband Ungu angeheizt worden sein.

Eigentlich ist heute der letzte Tag des offenen Wahlkampfs, aber offensichtlich haben die großen Parteien bereits ihr Pulver verschossen. Gestern musste ich noch mit großen Umwegen um die Innenstadt kurven, heute tuckert mir nur ein einzelner Truck einer kleinen Partei entgegen, zwei Mopeds folgen ihm. Ein deutlich kleinerer Konvoi als die Beerdigungsprozession, die sich gerade vor meinem Haus formiert. Als würde der Wahlkampf in Jogjakarta heutezu Grabe getragen. Hoffentlich kein schlechtes Omen für die Wahlen: Pessimistische Umfragen befürchten, dass mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten in Indonesien gar nicht erst zu den Urnen gehen wird. Vielleicht würde es  helfen, wenn es an jedem Wahllokal ein Gratisessen gebe.

 

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Morgens auf dem Planeten Erde (3): Australien, im Indian Pacific

Gerade ist die Sonne aufgegangen, hinter einer sehr weiten Steppe: Eukalyptus, Sand, Schafe. Himmel: Pink, Rosé und Orange vor Babyblau. Ich liege im Indian Pacific, einem Überlandzug, der Pazifik mit Indischem Ozean verbindet (sic!) und fahre von Ost nach West. Wie spät es ist? Keine Ahnung. Seit mehr als zwei Tagen habe ich keinerlei Schimmer, was die Stunde schlägt, und das liegt nicht an übermäßigem Weinprobieren in Barossa, McLaren und Clare Valley, in den letzten Tagen. Es liegt an Australiens Zeitzonen.

Normalerweise gibt es derer drei bis vier, dieses Land hat eben viele Längengrade, damit kann ich umgehen. Doch im Moment gibt es weit mehr als die. Ich tippe fünf bis sechs. Vielleicht mehr.  Sicher bin ich nicht. Australien hat zwar kaum mehr Einwohner als eine brasilianische Großstadt, aber die leben in acht Bundesstaaten. Mit ausgeprägtem Staatenstolz. Daher können sie sich weder einigen, ob sie nun alle Sommer- und Winterzeit haben wollen oder nicht. Noch sind sie einer Meinung, wenn sie denn “daylight saven” wollen, wann sie das am besten tun sollten. Letztes Märzwochenende, hau ruck drehen wir alle zusammen am Zeiger? Wie andere Kontinente auch?

Pah. Zu einfach. Südaustralien dreht halbes Stündchen weiter und eine Woche später (oder zwei, wenn gerade ein wichtiges Radrennen ist). Was in Queensland läuft, weiß keiner so genau, weil sie da oben noch immer “Versuchsphasen” haben. Und in Westaustralien ist es eh ständig früher als irgendwo sonst. Und ich sitze in dieser Eisenbahn, und Damien, der wirklich herzensgute Zugbegleiter, klärt mich auf: “Breakfast is at 7.30”.  – “Traintime” natürlich. Die ändert sich weitgehend unabhängig vom Überschreiten der Staatsgrenzen. Sie tickt nach Verfügbarkeit des Kochs und der Logistik des Reisefortschritts. Mein Handy piepst, Digitalziffern blinken: 12.30. “check your clock – Sie sind in eine neue Zeitzone gereist. Wollen sie die Uhr anpassen?” fragt mich Nokia zum xten Mal hämisch. Traintime ist sieben. Die am Fenster vorbeifliegende Bahnhofsuhr von Northam zeigt 8.30 Uhr. Ich gebe auf. Dem glücklich Reisenden schlägt bekanntlich keine Stunde.

Mein nächster Termin ist morgen um 8 Uhr früh, in Fremantle. Bis dahin hab ich mich eingependelt. Hoffe ich.

 

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Morgens auf dem Planeten Erde (2): China – Reissuppe statt Brötchen

Der frühe Morgen ist für  mich die schwierigste Tageszeit in China, zumindest wenn man tausende Kilometer von der heimischen Kaffeemaschine entfernt in einem Hotel übernachtet. Schon das Betreten des Frühstücksraums kostet meist ein wenig Überwindung – nicht der Geruch von frischem Milchkaffee und Brötchen begrüßt den Gast, sondern Gemüse, Öl und Knoblauch.

Ein stiller Schrei nach Kaffee. Aber ein schneller Blick zum Bufett bestätigt alle Befürchtungen: Sojamilch, knallgelber Saft undefinierbarer Herkunft, dünner Milchtee.

Für viele Chinesen ist das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages. Nur Kaffee gehört nicht dazu. Und man isst, was man auch mittags oder abends zu sich nimmt – darunter gebratene Nudeln, Baozi, also gedämpfte Teigtaschen mit Fleischfüllung, Unmengen hartgekochter Eier und scharfes, eingelegtes Gemüse.

Mein deutscher Magen zieht sich beim Anblick der Speisen ängstlich zusammen. Am frühen Morgen sehnt man sich nach Vertrautem. Eine Scheibe Toast und ein bißchen Marmelade, das wär’s jetzt.

Stattdessen Congee, Reissuppe. Der Reis wird über Nacht in Wasser gelegt und morgens eine Stunde lang gekocht. Die Körner zerfallen fast zur Unkenntlichkeit. Es entsteht eine schleimige, weiße Suppe, die nach nichts schmeckt.

Und die man zum Frühstück in China schlürfend zu sich nimmt. Essen ist hier auch ein akustischer Vorgang. Meine Kinder finden das toll – es darf geschmatzt werden.

Aber ich will nur Kaffee. Die Kellnerin schüttelt freundlich den Kopf. „Mei you“. „Haben wir nicht.“ Der Tag fängt ja wieder einmal gut an.

Um dem Kaffeenotstand zu entgehen, reise ich seit einiger  Zeit mit meinen eigenen Päckchen Instant-Pulver im Gepäck. Der Fertigkaffee schmeckte zwar nicht besonders gut, aber man wird ja bescheiden.

Auf meiner inneren China-Landkarte haben sich zudem einige Orte besonders tief eingebrannt. Ein Hotel in Yuanyang ganz im Süden von Yunnan, wo der Milchtee leicht ranzig schmeckte. Der Flughafen von Yinchuan im nordwestchinesischen Ningxia, wo das Cafe im Terminal zwar Cappuccino für umgerechnet sechs Euro anbot, aber nicht einmal eine Kaffeemaschine hatte.

Aber auch Städte wie Datong in Shanxi. Die Industrie-Stadt im Norden ist schwarz vom Kohlestaub. Die Reissuppe geschmacklos wie überall. Aber der Espresso im Hotel hätte auch aus Italien kommen können. China ist halt immer  für Überraschungen gut. Manchmal sogar schon am frühen Morgen.

 

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Morgens auf dem Planeten Erde (1): Rom

Normalerweise beginnt mein Morgen in Rom nicht damit, dass mich ein Wecker aus dem Bett piepst, sondern dass in der Wohnung über mir der kleine Francesco das Schreien anfängt oder ein Motorino so laut durch die Straße düst, dass ich aus dem Bett falle. Beides hat die gleiche Ursache – dass die Wände in Rom so dick sind wie drei Lagen Tapete und so gut isoliert wie ein nackter Eiswürfel.

Einmal wach, muss ich mich vernünftig anziehen, um wie jeden Morgen Cappuccino in der Bar zu trinken. Denn unrasiert und quasi noch im Schlafanzug würde ich zwischen lauter schicken Signori und Signore eine „brutta figura“ machen – also nicht nur morgendlich-mies aussehen, sondern mich mit meinem Erscheinungsbild gar tüchtig daneben benehmen.

Also betrete ich die Bar, den „Papagallo“, äußerlich gepflegt, innerlich müde und hänge mich an die Theke, um Dino, meinem Barmann zu sagen: „Dino, un cappuccino, per favore!“ Während ich ihn trinke und löffle, beobachte ich all die anderen: Den alten Mann, den alle „professore!“ rufen; die aufgedonnerte Tussi mit dem Mini-Hündchen. Und alle, die nicht einfach „Cappuccino“ bestellen, sondern Sonderwünsche in Auftrag geben: Was ruft der Signore da?  Nicht einfach „einen Cappuccino bitte", nicht einfach „einen Latte Macchiato". Nein, jeder hat seine Extrawünsche: „Einen Cappuccino mit wenig Schaum" ruft da eine Dame von links, „einen Cappuccino mit nicht zu heißer Milch" bestellt ein Herr, „einen Cappuccino in extraheißer Tasse" der nächste. Mir geht ein morgendliches Licht auf: Die Italiener haben neue Variationen erfunden, um sich von uns Deutschen zu unterscheiden, die wir neuerdings Latte Macchiato saufen wie Wasser und so tun, als wäre der Cappuccino ein altdeutsches Getränk – und das, obwohl wir erst vor ein paar Jahren von Melitta-Tüten auf Milchschäumer umgestiegen sind.

Nach dieser morgendlichen Erkenntnis gehe ich in die Arbeit. Oder trinke noch einen Cappuccino. Arbeit? Cappuccino? Arbeit? Arbeit? Cappuccino!

 

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“Was wollen Sie mit dem Nagel?”

Wenn Sie manchmal denken, keiner Ihrer Freunde, keiner aus der Familie interessiert sich mehr für Ihr Leben, dann buchen Sie einen Flug nach Israel und sagen Sie bei der Passkontrolle, Sie seien Journalist und würden jetzt einige Tage das Land bereisen wollen. Sie können sich sicher sein, man wird sich für Sie interessieren. Und mehr, als Ihnen lieb ist.

Es war in der vergangenen Woche, als ich als Journalist eine kleine Gruppe einer Hilfsorganisation durch Israel begleiten konnte. Ich gebe zu, ich hatte es versäumt, mich zuvor, wie es wohl Journalisten tun müssen, beim israelischen Innenministerium als Journalist anzumelden. Deshalb hatte ich mich auch darauf eingestellt, vielleicht noch ein bisschen genauer erklären zu müssen, warum ich Tel Aviv, Jerusalem, Bethlehem und Ramallah besuchen wollte. Doch ich hatte nicht damit gerechnet, dass sich am Ende der Reise acht junge Sicherheitsleute mit mir beschäftigen würden und mir einer mit Tricks aus der psychologischen Giftküche unterstellen würde, ich wollte eine Waffe mit ins Flugzeug schmuggeln.

Im Flughafenbus hatte ich noch Postkarten geschrieben, die ich noch einwerfen wollte. Habe ja genug Zeit, dachte ich, drei Stunden, das muss selbst für das intensivste Verhör ausreichen. So war ich eher dankbar für die Ablenkung, als eine junge israelische Sicherheitsfrau nach meinem Pass fragte und sich für mich zu interessieren begann, zumal ich soeben gesehen hatte, dass mein Flug auch noch eine Stunde Verspätung haben sollte. Vier Stunden bis zum Flug. Na dann machen wir doch mal diesen besonderen israelischen Sicherheitscheck mit. Habe ja schon viel davon gehört.

Die junge Frau führte mich zu einer Art Tresen, auf die ich mein Gepäck legen sollte. "Die Jacke können Sie ruhig ablegen, das wird dauern", sagte sie. Dann begann sie ihre Fragen, während ein Kollege sie und mich beobachtete. Wo ich denn gewesen sei? Warum ich dort gewesen sei? Wann ich meinen Flug gebucht hätte? Warum ich in Rom arbeitete? Warum ich zu dieser Reise eingeladen worden sei? Warum ich, bevor ich nach Rom ging, in Indien gewesen sei? Fragen über Fragen. Der jungen Dame wurde nicht langweilig, ab und zu besprach sie sich mit dem Sicherheitsmann. Dann ging es wieder los: Warum ich dies? Warum ich das? Und überhaupt. Irgendwann: "It´s okay." Noch zwei Stunden bis zum Flug.

Nix okay. Jetzt wurde mein Gepäck geröngt, in Maschinen, in der ein junger Elefant geröngt werden könnte. Dann wurde ich in in einen besonderen Raum in der Abflughalle gerufen, der aussah wie eine Arztpraxis, alles weiß. Dass ich doch bitte mein Gepäck dorthin legen und alles öffnen solle. Und dass ich mich dort auf den Stuhl hinter dem Vorhang setzen solle. Einen Vorhang weiter saß eine Frau, die befragt wurde und irgendwann zu weinen anfing. Ihre Befragerin darauf, nicht sehr einfühlsam:"Why do you cry?", "Why do you cry?" Sie hörte nicht auf. Na das kann ja heiter werden, dachte ich.

Immer wieder öffnete sich der Vorhang und ein junger Mann kam herein um mir einen – aus meiner Sicht – völlig trivialen Gegenstand zu zeigen: Ein Ladegerät meines Computers. Ein Ladegerät meines Fotoapparates. Ich antwortete geduldig und belustigt. Besonderes Interesse weckten, verständlicherweise, die Visitenkarten von Palästinensern, die ich auf meiner Reise getroffen hatte.

Nach etwa einer Stunde kam dann wohl der Chef, blaues Sacko, zog den Vorhang zu, setzte sich mir gegenüber und sagte mit ernster Miene: "We found something very serious". Ich grinste, und: ob das ein Witz sei; nein, kein Witz. Und Sicherheitsmann machte die Hand auf. Darin: Ein fingerlanger Nagel. Die Spitze flach geschlagen, hinten um 90 Grad gebogen, gerade so, dass man den, meiner Phantasie nach, zwischen die Finger stecken, eine Stewardess bedrohen und ein Flugzeug entführen kann. Ich fragte nochmal: Ein Witz? "No, it´s not a joke". Und dann erlebte ich wirklich fünf sehr sehr unangenehme Minuten, in denen mich der Sicherheitsmann löcherte, was ich mit dem Nagel wolle und woher ich ihn hätte. Ich sagte: Keine Ahnung. Er: Woher hast Du den Nagel? Ich sagte: Keine Ahnung. Er: Woher hast Du den Nagel? Um diesem Auftritt einen Sinn zu geben, dachte ich schon wirklich nach, woher ich den Nagel hätte: Hatte ich diese Jacke mal bei irgendeiner handwerklichen Tätigkeit an? Habe ich sie jemandem geliehen? Mir fiel nichts ein. Aber wenn er sagt, der Nagel war in meiner Jacke, dann muss er doch…kurz bevor ich dachte, nur noch die Deutsche Botschaft könne mich vor zwei Jahren Haft in Israel retten, sagte er. "It´s okay". Und der Mann mit dem blauen Sakko war weg.

Es ging wohl um meine Reaktion. Wer weiß, wievielen Leuten dieser Nagel schon hingehalten wurde. Aber ich hatte wirklich einen kleinen Schock weg: Alleine mit acht Sicherheitsleuten und einer unterstellt, Du wolltest eine Waffe mit ins Flugzeug schmuggeln. Der Inhalt meines Koffers, der Fototasche und des Rucksacks war mittlerweile über mehrere hüfthohe Tresen verteilt. Zwei Sicherheitsleute kamen: Das Olivenöl würde in einem extra Pappkarton mitfliegen. Und das Netzteil meines Laptops – ungefähr 23489 Millionen Mal hergestellt – würde wegen weiterer Untersuchungen erst mit der nächsten Maschine fliegen. Ich könne es dann beim "Lost&Found"-Schalter an meinem Zielflughafen abholen. Ich nickte nur noch. Yes Yes. Nur noch hier raus.

 Ein Sicherheitsmann begleitete mich jetzt zur finalen Passkontrolle. Auf dem Weg fragte ich ihn: Was war das denn mit dem Nagel? Er: "What did you want with the nail?". Ich lachte nur und meinte sowas wie: "Ach, forget it". Soll er sein eigenes Märchen glauben, dachte ich mir. Soll er halt glauben, dass ich einen Nagel flachgeschlagen und umgebogen hatte, um was auch immer in diesem Flugzeug anzustellen.

 Die Postkarten, in denen in begeistert von seinem Land erzählte, konnte ich leider nicht mehr einwerfen.

 

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Bild-Zeitung sucht das Horror-Haus

„Nip/Tuck“ war gerade vorbei und ich vor dem Fernseher eingeschlafen. Christian Troy in rosa Hemd geisterte mit Botox-Spritze durch meine Träume, als das Telefon schrillte. Es musste hart auf Mitternacht zugehen. Das konnte nur Deutschland sein. Zeitverschiebung ist ein Phänomen, das auch in Zeiten der Globalisierung noch zu faszinieren vermag („Guten Morgen, oder besser guten Abend, ach ist ja komisch, haha!“). Ich setzte meine professionelle Stimme auf. Um diese Zeit war ich aufs Schlimmste gefasst. Und es war das Schlimmste. Es war die BILD-Zeitung. 

Ich bin Auslandskorrespondentin am Arsch der Welt. Es ist ein schöner Arsch, zugegeben, der aber in Deutschland nur Leute interessiert, die sich bevorzugt in Goretex-Jacken und Wohnmobilen aufhalten. Öko-Exotik sorgt kaum für fette Schlagzeilen. So unbedeutend scheint mein journalistisches Kampfgebiet zu sein, dass es schon gewaltig im Südpazifik rappeln muss, bis irgendein Redakteur im fernen Europa Zeilenplatz für Aotearoa freiräumt (geschweige denn, es aussprechen kann). 

Greift doch mal jemand zum Hörer und stöbert mich auf, dann gehe ich sofort von einem Großereignis aus: Erdbeben, Tsunami, dritter Weltkrieg oder Atomversuch auf einem Südsee-Atoll. Zumindest eine Bombe wie die auf der „Rainbow Warrior“ sollte drin sein, wenn aus 20.000 Kilometer Entfernung nachts Telefonalarm gemacht wird.  

Den Kollegen von der BILD-Zeitung verstand ich nicht auf Anhieb. Der Fernseher lief noch. „Horror-Haus“ hörte ich heraus. Was war bloß passiert? Massen-Selbstmord in einer Maori-Sekte? Ein Dutroux oder Fritzl down under? Die ganze Welt wusste längst davon, nur ich nicht – welch eine Blamage. Die Reputation der „Weltreporter“ stand auf dem Spiel, weil ihr entlegenstes Mitglied statt der Spätnachrichten lieber Schönheitschirurgie guckt. 

Dann verstand ich. Eine Leipziger Musiklehrerin hatte im Internet einen Kiwi kennengelernt. Als sie in Dunedin landete, entpuppte sich der angeblich 33jährige Charmeur als alter, ungepflegter Sack. Katzen, Hunde und Hühner schlichen durchs Haus. Überall lag Müll und nachts legte der bärtige Schrat sich neben ihr ins Bett – nackt! Sie war geschockt. Und ich erst. Erschütternd, das Ganze. Nach fünf Tagen floh sie aus dem Land. Die Schlagzeile sah ich förmlich vor mir. 

Doch was war mit Fotos? Kleinlaut musste ich dem BILD-Mann gestehen, dass ich keine Bilder vom „Horror-Haus“ besaß. Erst im Nachhinein fiel mir ein, wie ich ihm hätte helfen können: Allein in meiner Nachbarschaft gibt es etliche Häuser, die nicht dem Leipziger Zweiraumwohnung-Hygienestandard entsprechen. Ein Huhn hätte ich auch noch aufgetrieben.  Ob Dunedin oder Lyttelton – das würde keinen BILD-Leser groß stören. Hauptsache, Horror in Neuseeland.  Aber darauf kam mein müdes Hirn nicht mehr. 

So verpatzte ich meine Chance auf eine richtig große Story. Zum Glück rief wenige Tage später eine seriöse Tageszeitung an. Es war ein Uhr nachts. Der Redakteur konnte seine Aufregung kaum verbergen: „Unser Aufmacher für morgen“, verkündete er, „geht um Auswanderer. Haben Sie da spontan jemanden?“ Ich glaube, ich sollte besser gar nicht mehr ins Bett gehen, solange die Nachrichtenlage so brisant ist.

 

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Hans Magnus!

Es war wohl das, was ein Heimspiel genannt wird. Er kam, wurde gesehen und gehört und erntete Applaus. Montagabend war Hans Magnus Enzensberger in Kopenhagen. Vor ausverkauftem Saal (d.h. rund 400 Zuschauern) parlierte er befragt von Per Øhrgaard über sein Buch "Hammerstein oder der Eigensinn", seine dafür angewandten Recherchemethoden und die Deutschen und ihre Vergangenheit. Auf Deutsch. Ohne Simultanübersetzung. So etwas geht wohl nur in Kopenhagen. Eine Veranstaltung, die weder in der Landessprache, noch auf Englisch stattfindet, sondern auf Deutsch, aber nicht gedolmetscht wird und dennoch hunderte von Interessierten anlockt, deren Muttersprache ganz gewiss nicht Deutsch ist.

Die zwischenzeitlichen Teilübersetzungen ins Dänische des Interviewers waren unnötig, wie er selber anmerkte. Unterstützt wurde die Veranstaltung vom Goethe-Institut. Oft wird diesem vorgeworfen nur eine kleine Elite im Zielland anzusprechen oder – noch schlimmer – nur die deutschen Expats vor Ort. Doch Montagabend kamen jene, die auch zu einer Literaturveranstaltung mit einem nordischen Verfasser gekommen wären und nicht nur eine kleine Gruppe aus dem "Lesekreis Deutsches Buch" (wenn es einen gleichnamigen denn gibt).

Und woran liegts: an der vertrackten deutsch-dänischen Vergangenheit und an den Medien. Dass das Deutsche in Dänemark so weit verbreitet ist, hat nämlich nicht nur damit zu tun, dass die beiden Länder aneinandergrenzen und Deutschland wichtigster dänischer Handelspartner ist, sondern ist auch auf Krieg und Medien zurückzuführen. Bis zum berüchtigten Kampf um die Düppeler Schanzen 1864 war ein Teil Schleswig-Holsteins einmal Dänisch und hat deshalb jetzt eine entsprechende Minderheit. Ein Teil des heutigen Süddänemarks war umgekeht einmal Deutsch und die Sprache ist dort immer noch sehr verbreitet. Zudem ist das dürftige dänische Fernsehprogramm schuld: Weil es in Dänemark nur zwei schwache Programme gab, schalteten früher viele, die konnten, auf die deutschen Sender. In Süddänemark und den Inseln der "dänischen Südsee" war das deutsche Fernsehen lange bevorzugte Unterhaltunsgquelle, weil das dänische Programm zu dünn war. Viele, die heute um die 30 sind, haben mit Sandmännchen Deutsch gelernt. Ein Plädoyer für mehr Kriege und schlechtere Fernsehprogramme also, um den Fremdsprachenaustausch zu forcieren?

Nein, und wieder muss Hans Magnus Enzensberger herhalten. Der sprach gegen Ende der Veranstaltung nämlich einige Worte Skandinavisch (nun gut, das ist eigentlich keine eigene Sprache, aber seine Betonung war keiner der drei skandnavischen Sprachen zuzuordnen, es war wohl Norwegisch für die Dänen verständlich gemacht). In den 1950ern hat er längere Zeit in Norwegen gelebt: statt Krieg und schlechtesm Fernsehprogramm ist ihm das Land und dessen Sprache durch Liebe nähergebracht worden, Liebe zu einer Frau und wohl auch dem Land. Seine damals geborene Tochter Tanaquil lebt immer noch dort und ist von Sprache angetan wie ihr Vater. Gemeinsam haben die beiden nordische Sagen übersetzt und obwohl Norwegerin, war es Tanaquil, die,  als ich sie vor einigen Jahren interviewte, mein Deutsch verbessern musste. Hatte sich doch ein eingedeutschter Anglizismus eingeschlichen. Sorry, ich meine: unskyld (und das mit einer Verbeugung vor Hans dem Großen).

 

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Flüssiges Konjunkturpaket aus Prag

In der Psychologie der Masse sind die Tschechen einfach Meister, das muss man mal neidlos anerkennen. Gerade jetzt im weltweiten Krisengeschrei zeigt sich das wieder: Während in Deutschland die Bürger mit Abwrackprämien und Konjunkturpaketen bombardiert werden, setzt die tschechische Regierung auf ein viel billigeres und wahrscheinlich noch effizienteres Instrument: Die Mehrwehrtsteuer soll dramatisch gesenkt werden – und zwar für Kneipenbesuche. Damit bleibt den Tschechen also selbst in mageren Jahren ihr geliebtes Bier und die Politiker zeigen, dass sie die erfolgreichste Lektion aus der kommunistischen Herrschaft gelernt haben. Schon damals nämlich gab die Partei ein zentrales Credo aus: Egal was passiert, Bier und Zigaretten müssen billig bleiben, sonst rebelliert uns nachher noch das Volk.

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