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Von wegen “It never rains in Southern California”

 

Sonne, Palmen, Margaritas am Strand und laue Nächte an Pools der Promis in Hollywood – so stellen sich viele das Leben einer Reporterin in Los Angeles vor. An dieser Stelle muss ich zumindest eine Illusion zerstören – die von der Sonne und den lauen Nächten. Die Beach Boys haben schlicht völlig verantwortungslos gelogen mit ihrem „It never rains in Southern California“. Das hab ich gemerkt, kaum war ich angekommen als Korrespondentin in Los Angeles. Das war in einem völlig verregneten März. Endlose Wasssergüsse führten zu bedrohlichen Erdrutschen, stundenlangen Telefon-, Internet- und Fernsehausfällen. Das Spielchen wiederholte sich jedes Jahr. Bisher aber nur im Winter und Frühling. Und dann kam der Sommer 2010! Erst gab es wochenlang eine hartnäckige graue Suppe aus Meeresrichtung, die die Südkalifornier in Depressionen schickte. Dann kamen plötzlich drei Tage Rekordhitze von über 45 Grad, bei denen wir nicht ins Auto steigen konnten ohne uns den Hintern am Sitz zu verbrennen und das Cabrio-Verdeck zulassen mussten, um nicht als Trockenpflaumen zu enden. Dann kam eine kurze sehr interessante Zwischenphase mit dramatischen Wolkenlandschaften und zugegebenermaßen wunderschönen Regenbögen.

Und jetzt das! Feuchte Kälte! In den letzten Tagen versammeln sich Kalifornier lieber mit Kuscheldecken vorm Kaminfeuer als mit Drinks an Pazifik oder Pool. Ich gestehe, dass wir hier etwas empfindlich sind und dazu neigen, schon bei 15 Grad Plüsch-Puschen, gefütterte Stiefel, dicke Pullis, Handschuhe und Strickmützen anzuziehen.

Die einzigen, die sich über das verrückte Wetter freuen, sind die Meteorologen. Bei denen ist endlich mal was los! Die Grafikabteilung muss nicht mehr nur blauen Himmel malen, sondern kann bei der Sieben-Tage-Vorhersage ihre ganze Symbol-Palette ausschöpfen: Wolken, Wind, Regen – Aus deutscher Sicht wirklich nichts Besonderes, aber für so ein Wetter zieht doch kein Mensch nach Kalifornien!

 

 

 

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Die Qual der Wahl

Ginge es nach dem gesunden Menschenverstand, müsste der Friedensnobelpreis am Freitag an Liu Xiaobo gehen. Der chinesische Schriftseller ist ein unbeugsamer Kritiker der allmächtigen kommunistischen Partei. Reichlich Ärger würden sich die Norweger mit einer solidarischen Geste an den inhaftierten Dissidenten einhandeln, raunt Geir Lundestad, Direktor des Nobelinstituts, bei jeder Gelegenheit. Zuletzt habe ihn Vize-Außenministerin Fu Ying bei einer Begegnung im Sommer in der chinesischen Botschaft in Oslo vor bösen Konsequenzen gewarnt. Eine Preisvergabe würde man in Peking als „unfreundlichen Akt“ verstehen. Zumal sich unter den 237 Nominierten weitere Oppositionelle aus dem Riesenreich finden, wie etwa Rebiya Kadeer, die sich für die Rechte des Urvolks der Uiguren einsetzt.

Bereits im Vorjahr galt Xiaobo als heißer Kandidat für den Friedenspreis, der dann aber zum ungläubigen Staunen der versammelten Weltpresse und des Geehrten selbst an den US-Präsidenten Barack Obama ging. Auf die vielen Fehlgriffe angesprochen, reagiert der sonst so warmherzige Gelehrte Lundestad überaus dünnhäutig. Der Vorwurf des Opportunismus sei ungerecht, sagte er mir einmal bei einem Besuch im Nobelinstitut. Schließlich habe seine erlauchte Runde unbequeme Preisträger wie Andrei Sacharow, Lech Walesa und den Dalai Lama ausgezeichnet. „Man darf die Kontroverse nicht scheuen, wenn es um die grundlegenden Prinzipien geht“, dröhnte Lundestad mit viel Pathos in der Stimme.

Thorbjørn Jagland verteidigt die Wahl Obamas bis heute als gelungen. Man wolle auch künftig keine „Friedensarbeit am Schreibtisch“ honorieren, sondern mutige Helden auszeichnen, die ein echtes persönliches Risiko eingehen und bereit seien für ihre Überzeugung zu kämpfen. Auch in diesem Jahr preist der Leiter des Nobelkomitees eine „echte Überraschung“ an. Das lässt Schlimmes ahnen. Zumal das schwedisch-deutsche Konkurrenzprojekt der Familie von Uexkull das norwegische Weltgewissen seit geraumer Zeit medial in den Schatten stellt.

Nicht amtierende Staatsmänner sondern kleine Alltagshelden mit großer Wirkung bekommen den Preis für das „Gerechte Leben“. Da sehen die steifen Norweger mit ihrem staubigen Testament ganz schön alt aus.

 

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In Vorfreude auf die Frankfurter Buchmesse 2014

 

Sie sieht aus wie ein dezenter Grufti und schreibt wie eine junge Kreuzung aus Herta Müller und Günter Grass – Sofie Oksanen, der neue literarische Jungstar aus Finnland. Nun ist ihr Buch ‘Fegefeuer’ in Deutschland erschienen.

 

Mit ihrer politisch-privaten Familiengeschichte hat die junge Schriftstellerin mit estnischen Wurzeln gleich zwei Generationen eine eindrucksvolle Stimme gegeben. Zara, eine Russin im Alter der Autorin, in Deutschland zur Prostitution gezwungen, ins Estland ihrer Vorfahren geflohen, trifft dort 1990 auf ihre Großtante Aliide Tru, die im Krieg und unter sowjetischer Besatzungszeit ebenfalls unter der Macht der Männer litt. Die Peinigung hat sie stark gemacht, so stark, dass sie zu unerwarteten Rachetaten fähig ist.

Leidensweg, Kraft und Kapitulation der Frauen in den Jahrzehnten nach 1930 und nach 1990 beschreibt Oksanen eindrücklich und mit einfallsreicher Sprache. Der Roman ist nicht nur eine Geschichte der zwei Frauen, sondern gibt zugleich Einblicke in das Leben unter einem Regime, dass die nun aufwachsende Generation nur noch vom Hörensagen kennt.

Finnland ist erst in vier Jahren Gastland bei der Frankfurter Buchmesse, vielleicht kommt bis dahin ein weiterer Oksanen. Zu wünschen wäre es. Die nordischen Nachbarländer überschwemmen den deutschen Buchmarkt nahezu mit Titeln (leider handelt es sich dabei vielfach um Krimis, die nur zu lesen lohnt, wenn wirklich Zeit vertrieben werden muss – Müßiggang ist meist die bessere Alternative.). Finnische Literatur wird im Ausland oft vernachlässigt, Oksanen hat das Zeug dazu, das zu ändern.

 

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Generalstreik und Existenzkrise – für Vierjährige

Am Mittwoch war Generalstreik in Spanien. Vor meiner Haustür trug der Streik das Gesicht von Robert de Niro. Der warb auf einer Leuchtreklame mit zwei Schusswaffen in den Händen für den Film „Machete“. Weil ihm aber jemand „Vaga!“ (Streik auf katalanisch) über die Brust gesprüht hatte, sah er plötzlich aus wie ein strenger Gewerkschafter, der seine Ziele by all means necessary durchsetzt. Ich verbrachte einen Gutteil des Vormittags vor dem Bildschirm und verfolgte via Internet die Streiknachrichten. Gelegentlich tauchte auch mein gerade vier Jahre alt gewordener Sohn an der Seite des Computers auf. Der Kindergarten hatte allen Eltern nahegelegt, die Kinder am Streiktag besser zuhause zu lassen. Mein Sohn wollte mit mir spielen. Ich sagte: Geht jetzt nicht, ich muss arbeiten. Er fragte: „Was guckst Du da an?“ – Das hat alles mit dem Streik zu tun. – „Was ist ein Streik?“ – Wenn die Leute nicht zur Arbeit gehen. – Mein Sohn sagte eine kleine Weile gar nichts. Er warf noch einen Blick auf den Bildschirm. Dort wurde gerade eine Straßenumfrage gezeigt. Mein Sohn legte nach: „Die Leute gibt es wirklich?“ – Ja, die gibt es wirklich (das heißt für ihn: weder Walt Disney noch die Gebrüder Grimm oder andere haben sie sich ausgedacht). „Und die arbeiten alle nicht?“ – Nein, in ganz Spanien arbeiten die Leute heute nicht. – „Und warum arbeitest du dann?“ Mein Sohn hatte mich in die Ecke getrieben. Ich konnte nur noch sagen: Die Spanier arbeiten nicht – aber die Deutschen ja! Das klang irgendwie nach einem uralten Vorurteil. Ich hoffte gleich, der Satz würde nicht bei ihm hängen bleiben wie so mancher andere.

Am nächsten Tag, als der Generalstreik vorüber war und die Spanier wieder arbeiteten wie die Deutschen, merkte ich, dass mein Sohn an einer ganz anderen Frage hängengeblieben war. Nach gemeinsamer Ansicht eines alten Disney-Strips, in dem sich Donald und Dagobert als Weihnachtsmänner verkleiden und am Ende auch noch der echte Weihnachtsmann auftaucht, nach diesem im Grunde also komplexen Stück Fiktion in der Fiktion, sah mich mein Sohn ernst an und fragte: „Papa, wir sind aber nicht in einem Film, oder? Wir sind nicht ausgedacht…“

 

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Money Never Sleeps

Zu den angenehmen Pflichten einer Wirtschaftsjournalistin in New York gehört mitunter auch ein Kinobesuch.

Vergangenen Freitag lief der Film „Wall Street – Money never sleeps“ in den USA an. Von der Finanzkrise inspiriert, wollte der linke Starregisseur Oliver Stone mit den Spekulanten abrechnen – und dabei auch seinen ersten Wall-Street-Film von 1987 aufarbeiten. Darin hatte Michael Douglas den rücksichtslosen Investmentbanker Gordon Gekko gespielt. Zu Stones Ärger wurden Gekko und sein Motto „Gier ist gut“ zum Vorbild einer ganzen Börsengeneration. 

Weil ich einen riesigen Ansturm auf den Film erwarte, reserviere ich im AMC Empire 25 unweit des Times Square eine Karte und bin eine halbe Stunde zu früh da, um noch einen guten Platz ergattern. Die erste Überraschung ist, dass es keine Schlangen gibt. Die zweite, dass der Kinosaal bestenfalls halb gefüllt ist. Gut, es soll an dem Abend noch acht weitere Vorstellungen in fünf Sälen geben, aber das ist in einem Großkino mit 25 Sälen nicht so ungewöhnlich, der Fantasyfilm „Legend of the Guardians“ läuft in dreien. Und die dritte Überraschung? Dass der Film schlecht ist.

Es fehlt die scharfsichtige Analyse, die den ersten Wall-Street-Film so gut machte. Die Finanzkrise wird zur dramatischen Kulisse einer rührseligen Familiengeschichte degradiert. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal einen Film gesehen habe, in dem so viele Tränen fließen. Der einzige Lichtblick ist Michael Douglas, der eine fantastische Vorstellung als alternder Gekko gibt.

Da ich keine geübte Kinokritikerin bin, beruhigt es mich am nächsten Tag zu lesen, dass es dem New-York-Times-Kolumnisten Joe Nocera auch nicht anders ging als mir. Im Gegensatz zu mir hatte er allerdings die Gelegenheit, mit Stone darüber zu reden. Auf Noceras Vorwurf, die Finanzkrise sei nicht angemessen thematisiert, antwortete der Regisseur, das sei in einem Mainstream-Film nicht möglich: „Die Leute wollen kein Business Movie sehen.“

Genau da liegt vermutlich das Problem: Der Film war von vornherein darauf ausgelegt, ein Kassenschlager zu werden. Und warum sollen Stone und die Filmgesellschaft nicht ein paar hübsche Millionen verdienen? Aber mit dem linken Anspruch verträgt sich das dann doch nicht so recht.

Auch das Product Placement ist nicht unbedingt als antikapitalistisch zu bezeichnen. Es erstreckt sich nicht nur auf Heineken Bier, sondern auch auf den New Yorker Hedge Fonds Skybridge Capital, dessen Logo in einer Szene groß eingeblendet wird. Dessen Gründer Anthony Scaramucci hat Oliver Stone bei den Dreharbeiten beraten. Scaramucci hat dann auch gleich noch ein Buch geschrieben, „Goodbye Gordon Gekko“, in dem er für den Film wirbt und fordert, dass er und seine Kollegen bessere Menschen werden. Auf der Rückseite des Buchs prangt ein Zitat von Oliver Stone: „Macht Spaß und ist leicht zu lesen.“ Ein gelungenes Cross-Marketing, das allerdings nicht unbedingt für Stones Distanz zur Wall Street spricht.

Am nächsten Tag laufe ich zufällig am City Cinema in der 86. Straße vorbei, an Manhattans vornehmer Upper East Side. Ich ärgere mich schon, dass ich nicht auf die Idee gekommen bin, den Film genau dort anzusehen, wo die reichen Leute wohnen, die es an der Wall Street zu etwas gebracht haben. Bestimmt hätte ich tolle Zitate von Börsenhändlern und Brokern sammeln können, die den Film über ihr eigenes Leben sicher in Massen begutachtet haben.

Doch dann stelle ich fest, dass der Film in der 86. Straße gar nicht gezeigt wird. Wie naiv ich bin! Gordon Gekkos Jünger gehen nicht ins Kino. Selbst wenn es um die Wall Street geht. Wenn sie einen Film sehen, dann auf den Großbildleinwänden ihrer Luxusappartments.

 

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Kairo: It´s Tea-Time auf der Stoßstange

Heute Nachmittag bei einem Interviewtermin  in der Kairoer Innenstadt: Wieder einmal zu spät, weil die Fahrt dorthin praktisch im permanenten Stau im Schritttempo verlaufen war.

Selbstverständlich gibt es nirgends Parkplätze, obwohl die parkenden Autos in der engen Strasse bereits zu beiden Seiten in der zweiten Reihe parken. Bis auf eine Lücke, wohlgemerkt in der zweiten Reihe.

Ein netter Verkehrspolizist  im Pensionsalter weist mich freundlicherweise mit zittrigen Händen ein und schreit dabei immer wieder stoisch den in der Situation recht paradoxen Satz: „Parken in der 2. Reihe ist verboten“, Unterbrochen von einem kurzen: ‘Vorne hast du noch einen halben Meter’.

Frei nach dem Motto, je öfter und je lauter er mich auf die Strassenverkehrsordnung hinweist, während er sich gleichzeitig als mein Partner im Brechen derselben anbietet,  umso größer das Bakschisch – die polizeiliche Motivationszulage.

Nachdem sich beide Seiten schnell geschäftseinig waren, beruhigt er mich noch. Was das eingezwängte Auto in der ersten Reihe angeht, solle ich mir keine Sorgen machen. Die Bürostunden des Besitzers endeten erst am frühen Abend.

Eine gute Stunde später nach dem Termin, wieder auf der Strasse: Stück für Stück manövriere ich den Wagen aus der Parklücke und fahre los, als mir ein junger Mann hinterrennt, sich atemlos vors Auto stellt und mich wild gestikulierend zum Halten bringt. Er duckt sich, lächelt  und hebt zwei leere Teegläser hervor. Die hatte er zuvor nach einer kleinen Teepause mit seinem Freund auf meiner vorderen Stossstange vergessen.

Wir lachen beide lauthals. Er zufrieden dass er auch seinen nächsten Tee aus dem gleichen noch heilen Glas trinken kann, ich glücklich, dass mein ansonsten nutzlos parkendes Gefährt und dessen Stoßstange sinnvoll zu einer Teeküche zweckeentfremdet wurden.  Wir winken uns zum Abschied zu. \’Ich liebe dieses verrückte Kairo\’ denke ich, und gebe Gas.

 

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Truthahn statt Hering

 

Ganz Leiden bereitet sich schon darauf vor, bald ist es wieder soweit. Dann gibt es Jahrmarkt, Feuerwerk und viel Musik. Dann teilt unser Bürgermeister vormittags gratis Hering und Weissbrot aus. Und wer auf sich hält, tischt seiner Familie zum Abendessen „Hutspot“ auf, ein Eintopf aus Rüben, Zwiebeln und Kartoffeln mit einem Stück Rindfleisch. Es schmeckt besser als es klingt.

Einen noch warmen Kessel mit diesen Ingredienzen, so will es die Legende, soll ein Waisenjunge aus Leiden während der Belagerung der Stadt im 80Jährigen Krieg gefunden haben. Der Topf hing ausserhalb der sicheren Deiche, von denen die Stadt umgeben war, über einer erloschenen Feuerstelle im Lager der spanischen Truppen – als triumphierender Beweis dafür, dass der Feind tatsächlich wie beabsichtigt Hals über Kopf flüchten musste, um nicht jämmerlich in den Nordseefluten zu ersaufen. Denn um dem spanischen Erzfeind, der ihnen die Religionsfreiheit nehmen wollte, das Fürchten zu lehren, hatten die Holländer einen anderen Feind eingesetzt, der zwar noch viel grösser war, den sie aber im Laufe der Jahrhunderte zu bändigen gelernt hatten: das Wasser.

So endete am 3. Oktober 1574 die Belagerung von Leiden – ein Ereignis, das jedes Jahr im grossen Stil gefeiert wird. Immerhin hätten die Spanier die Bürger von Leiden fast ausgehungert. Doch die hielten dank ihres heldenhaften Bürgermeisters durch. Der sprach ihnen immer wieder Mut zu und bot ihnen am Ende sogar seinen eigenen Körper zum Aufessen an: „Snijdt het aan stukken en deelt ze om“, rief er, „schneidet ihn in Stücke und teilt diese aus!“

Soweit brauchte es glücklicherweise nicht zu kommen, statt dessen kamen die niederländischen Widerstandskämpfer, die so genannten Geuzen, auf die Idee, weiter rheinabwärts Richtung Rotterdam die Deiche zu durchbrechen. Petrus stand auf ihrer Seite: Er beglückte sie nicht nur mit einem handfesten typisch holländischen Sturmtief, sondern sorgte auch dafür, dass der Wind aus der richtigen Richtung kam und die Nordsee-Wassermassen Richtung Leiden trieb. Dem Feind jedenfalls blieb noch nicht einmal Zeit, sein Abendessen zu beenden.

Über den genauen Inhalt des Kessels, den der Waisenjunge fand, scheiden sich die Geister zwar, immerhin war Krieg, auch die Spanier konnten nicht allzuviel zu essen gehabt haben. Vermutlich bestand der Hutspot bloss aus Rüben und Zwiebeln und haben die Holländer – um das Ganze dann doch etwas schmackhafter zu gestalten – Kartoffeln und Fleisch hinzugefügt. Am nächsten Morgen jedenfalls, so die Legende, fuhren die Geuzen auf mit Hering und Weissbrot vollbeladenen Schiffen über das überflutete Land Richtung Leiden, um mit den hungrigen Bürgern die Befreiung zu feiern.

   

Die durften als Belohnung für ihr Durchhaltevermögen zwischen einer Universität und einer drastischen Steuersenkung wählen und entschieden sich natürlich – Legenden sind einfach zu schön! – für die Universität. So kommt es, dass Leiden heute eine der ältesten und renommiertesten Unis der Niederlande hat, selbst Königin Beatrix und ihr Kronprinz Willem Alexander haben hier die Hörsaalbänke gedrückt. Wobei sich Willem in Leiden den Beinamen Prins Pils verdiente: Das Studentenleben gefiel ihm so gut, dass er mit dem Auto auch mal in der Gracht landete.

Ob er am 3. Oktober zusammen mit seiner Maxima Hutspot kocht, weiss ich nicht. Zu meinen Lieblingsgerichten jedenfalls gehört es nicht unbedingt. Auch den Hering lasse ich lieber stehen. Die amerikanische Variante ist mir da schon lieber.

Für die haben die Pilgrim Fathers gesorgt, die legendären Gründerväter Amerikas. Diese Glaubensflüchtlinge aus England liessen sich nämlich zunächst in Leiden nieder, wo sie ihren Glauben problemlos ausüben durften. Nach einigen Jahren allerdings fanden sie die lockeren Holländer dann doch etwas zu liberal und gottlos und beschlossen, in die Neue Welt weiterzuziehen: Nach einem Zwischenstopp in Plymouth, wo sie auf die Mayflower umstiegen, landeten sie an der amerikanischen Ostküste – im Reisegepäck viele Sitten und Gebräuche aus Leiden. Auch den dritten Oktober feierten sie weiterhin, nun allerdings als Erntedank- statt Befreiungsfest. Bis Abraham Lincoln diesen Thanksgiving Day auf den vierten Donnerstag im November verlegte. Dass dabei nicht mehr Hering mit Weissbrot gereicht wird, hat mit der Fauna Neuenglands zu tun: In der Neuen Welt gab es Truthahn im Überfluss.

 

 

 

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Trauma keinem mit Trauma

Ich erinnere mich noch an eine Ladenkette in den USA, die dem Kunden versprach: „Wenn wir Sie nicht mit einem Lächeln begrüßen, bekommen Sie zehn Dollar von uns.“ Super. Bring‘ die Kassiererin zum Weinen, und dir winkt vielleicht ein Hunni. Im Land der langen weißen Flauschwolke sind wir auf dem Service-Sektor noch nicht ganz so weit, aber umso liebenswürdiger. „Wie geht‘s“, fragt der Neuseeländer zur Begrüßung, und die korrekte Antwort darauf lautet „bestens, danke!“ anstatt einer Erörterung der momentanen Befindlichkeit. Die will niemand hören, denn sie könnte das Gegenüber überfordern oder gar negativ klingen.  Und das wäre unhöflich.

 Mit diesen Umgangsformen kann ich prima leben. Auch, dass jede Verkäuferin, egal ob im Supermarkt oder vom Telemarketing, mir als Erstes das hohle „Und wie war Ihr Tag so?“ entgegen flötet. Man bricht sich keinen Zacken aus der Krone, „ganz wunderbar!“ zurückzusäuseln, auch wenn man gerade von einer Beerdigung kommt. Und siehe da: Schon sieht der angegraute Tag dank der kleinen Heuchelei um eine Nuance rosiger aus. Es lebe die Floskel.

Seit zwei Wochen gibt es eine neue Variante: „Und wie ist Ihr Haus so?“ Was dem Amerikaner sein 9/11, ist dem Bewohner Christchurchs sein 4. September. Vor drei Wochen bebte bei uns die Erde so stark wie in Haiti, aber mit dem kleinen Unterschied zur Karibik und damals New York: Keine Toten, kein Elend, kein Hunger, kein Terror. Nur viel Bauschutt und schlaflose Nächte – die Unruhe, die Nachbeben. Dennoch Drama allerorten, denn wer ist nicht gerne mal in ausgedehnter Katastrophenstimmung?  Es gibt kein anderes Thema mehr als The Big E. Alle, alle sind erschüttert, vor allem seelisch. Ja, wir haben was durchgemacht. Das war mir die ersten Tage gar nicht so klar, aber ich ahnte es spätestens, als ich Tag für Tag in der Zeitung die blutrote Graphik der Nachbeben sah, unter der flammenden Zeile „Das haben Sie durchlebt“: 4,3. 3,6. 5,3 auf der Richter-Skala. Spätestens da fühlte ich mich als Opfer, das war ich schon meinem Nachnamen schuldig. Und Opfer müssen reden, reden, reden. Sie müssen immer wieder daran erinnert werden, dass sie das, was sie erlebt haben, bloß nicht zu leicht nehmen dürfen. Dass sie ein Recht darauf haben, sich mies zu fühlen, auch wenn das vielleicht in erster Linie daran liegt, dass alle über nichts anderes mehr  reden.

Die wenigsten haben so gelitten wie die Familie in Kaiapoi, deren Haus in der Mitte entzwei brach, als sich darunter ein Riss in der Erde auftat, in dem man jetzt einen Weinkeller unterbringen könnte. Dem häuslichen Inferno zu entkommen, während die Wände einstürzen, Glas splittert und Kinder schreien, hinterlässt sicher Kratzer auf der Seele. Aber der glückliche Rest soll sich mal nicht so anstellen. 2,4 Millionen Dollar hat Neuseelands Regierung rausgerückt, um Therapeuten aus anderen Städten einzufliegen. Selbst aus Australien rückten zehn Trauma-Beauftragte der Heilsarmee an. Halleluja. Schickt sie zurück, liebe Dauerbetroffenen, und grüßt mich bitte wieder so belanglos wie früher.

 

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Das Geheimnis des Sawobaums

In Java herrscht der Glaube, dass jeder Mensch sein Leben lang an seine Plazenta gebunden ist. Sie wird als kleines Geschwisterchen des Neugeborenen angesehen, dass direkt nach der Geburt mit diversen Beigaben und guten Wünschen an einer geschützten Stelle begraben werden muss – Mädchen links vor dem Elternhaus, Jungs rechts davor. Den ersten Monat lang muss dort fortwährend ein Licht brennen, um die Seele des Kindes zu schützen. Als unser Sohn geboren wurde, entschieden wir uns für eine – unserer Meinung nach besonders schöne – Stelle neben einer Buddhastatue, die unter einem Sawobaum (eine kiwiähnliche, nach Honig schmeckende Frucht) in unserem Vorgarten steht. Dort wurde also der „kleine Bruder“ unseres Kindes mit alle Ehren und symbolischen Gaben begraben, ein Öllämpchen darüber angezündet.

Als der Kleine zwei Wochen später mit seinen wohl ersten Dreimonatskoliken kämpfte, baten wir die am nächsten wohnende Hebamme, ihn zu massieren, damit er die Blähungen loswürde. Die ältere Dame kam gern, massierte das Baby mit erfahrenen Händen und begutachtete ihn eingehend. „Ein gesundes, kräftiges Kind“, bescheinigte sie uns. Von Dreimonatskoliken wollte sie allerdings nichts wissen. „Das Problem ist die Plazenta: Sie liegt zu weit weg vom Haus – und dann noch unter einem Sawobaum. Ihr müsst sie näher am Eingang begraben“, erklärte sie. „Außerdem müsst Ihr eine Glühbirne anbringen, damit das Licht bei Regen nicht immer ausgeht.“

Wir haben natürlich keine Umbettungsaktion gestartet. Wir haben der Hebamme erklärt, dass wir ein Naturkind wollen und deswegen die Bäume der Terrasse vorziehen. Unsere Weigerung, ihrer Interpretation der Traditionen zu folgen, scheint jedoch in der Stadt bereits die Runde gemacht zu haben, denn ein paar Tage später bekam ich eine SMS von einer entfernten Bekanntschaft aus der Schwangerschaftsgymnastik, von der ich noch nicht einmal weiß, wo sie wohnt: „Hallo Christina, brauchst Du Hilfe? Ich habe gehört, dass Dein Kind rebellisch ist, weil seine Plazenta unter einem Sawobaum liegt…“

Unser Sohn entwickelt sich übrigens trotz gelegentlichen Blähungen und Plazenta unter dem Sawobaum ganz prächtig. 

 

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8 qm Luxus

Ich bin umgezogen. Die alte Wohnung hatte zu viele Busse vor dem Fenster (Radioaufnahmen im Kleiderschrank), keinen Blick, lag in der falschen Gegend. Die neue Wohnung ist ruhig, mit Hongkong-Blick, liegt in einer schönen Gegend. Ein guter Tausch. Doch wie immer im Leben zahlt man für alles einen Preis: Die neue Wohnung ist nur noch halb so groß wie die alte. Deshalb brauche ich jetzt zusätzlich ein Büro, weil ich sonst zu Hause die Wände hochgehe oder in den schönen Ausblick hineinspringe.

Bürosuche in Hongkong ist kein schönes Unterfangen. Die Stadt kennt die teuersten Büromieten der Welt. Wenn ich die Preise sehe, quält mich wieder der Verdacht, dass Hongkong vielleicht doch kein guter Standort für einen freiberuflichen Journalisten ist.

 

 

Ein Schreibtisch in einem Gemeinschaftsbüro: 420 Euro im Monat

Ein 8qm-Raum ohne Fenster: 600 Euro

Ein 40qm-Raum, hell und schön: 2000 Euro

Es geht auch billiger. Doch die erschwinglichen Büros haben zu viele Busse vor dem Fenster, keinen Blick, liegen in der falschen Gegend. Hmm!

 

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Von Thunfischnudeln mit Parmesan, Sauerkrautspaghetti und anderen Albträumen der Römer

Es gibt ja viele Dinge, in denen man von “den” Römern gar nicht sprechen kann, weil etwa die einen Fans von Lazio Rom sind, die anderen von AS Rom, die einen links des Tibers wohnen, die anderen rechts, die einen Auto fahren und die anderen Moped. Doch in einem sind sich alle in einem fast unheimlichen Maße einig.  Es ist das Gebot: “Du sollst keinen Käse in die Nähe einer Pasta mit Fisch kommen lassen.”

Wie genau dieses Gebot überwacht wird, habe ich jetzt wieder erlebt: Das Restaurant “il Trionfo” in der Nähe des Vatikan, ich esse zu Mittag. Ein paar Tische weiter sitzt ein Urlauberpärchen. Claudio, der Chef, ich kenne ihn ganz gut, bringt ihnen das Essen: zwei Teller mit Spaghetti und Muscheln: “Prego!” Man bedankt sich, beginnt – doch nach zwei Gabeln steht die Frau auf, geht ins Innere von “Il Trionfo” – und kehrt mit einer Schale Parmigiano zurück: Noch nie habe ich Claudio so schnell laufen sehen. An drei Tischen vorbei eilt er auf die Frau zu und nimmt ihr den Käse wieder weg. “Sorry. No cheese with fish.” Claudio brachte dann den Parmigiano wieder ins Lokal mit einem Gesichtsausdruck, als sei er fest entschlossen, nun einen Parmigiano-Tresor in sein Restaurant einzubauen. Käse über seine “Spaghetti alle Vongole” zu streuen fügt ihm noch mehr Schmerzen zu, als wenn ein Gast NACH dem Essen Cappuccino bestellt.

Ähnliches erlebe ich, wenn ich in einer Bar ein Tramezzino bestelle, das sind diese Weißbrot-Dreiecke mit leckerer Füllung. Besteht es aus Schinken und Mozzarella bietet der Barmann von sich aus an, ob man seine Tramezzino aufgewärmt möchte. Ist etwas anderes drauf, muss man regelrecht darum kämpfen, vor allem, wenn sich im Tramezzino nur ein Molekül Thunfisch oder Mayonese befindet. “Könnten Sie es aufwärmen?” frage ich und der Barmann lächelt mich ungläubig an: “Bist Du Dir sicher? Aber da ist Thunfisch drin!”, als habe man es nicht gemerkt.  Sagt man dann “Weiß ich schon, va bene”, wird das Tramezzino “auf eigene Verantwortung” in einen dieser italienischen Flachtoaster gelegt und angeschaut, als hätte man soeben angekündigt, ohne Seil Bungee springen zu wollen.  Ich warte nur darauf, dass ich einmal nach einer Einveständniserklärung meiner Eltern gefragt werde.

Die strengen italienischen Regeln haben aber auch etwas Gutes, denn: Wer schon auf harmlose Experimente verzichtet – Käse zu Fisch, aufgewärmte Tramezzini – macht auch keine Erfahrungen, die wirklich schrecklich sind. Kürzlich erzählte ich Claudio etwa von dem Rezept für “Vollkornspaghetti mit Kohlrabi” für das  – “total lecker” – eine Nutzerin in einem deutschen Kochforum warb. Sorgte das bei Claudio schon das für Entsetzen sah ich Panik in seinem Gesicht, als ich von einem weiteren “Koch-Tipp” für “Sauerkraut-Spaghetti” erzählte, für das andere Nutzer “Verfeinerungen” mit Kümmel, Ananassaft und H-Milch vorschlagen. “Du machst doch Witze!”, sagte Claudio und wechselte das Thema als hätte er Angst, von diesem Rezept zu träumen.  Ich ersparte ihm dann, dass ich kürzlich in Deutschland von einem Freund “bekocht” wurde – es gab in kleine Stücke zerbrochene Spaghetti mit einer Soße aus Hüttenkäse und Tomatenmark.

Manchmal finde ich aber, ist der kulinarische Fundamentalismus auch übertrieben – wie können es die Römer etwa ernsthaft für die einzig richtige Form des Frühstücks halten, sich morgen zu einer Mini-Pfütze schwarzen Kaffee ein mit Pudding vollgeschmiertes Hörnchen zuzuführen? Meine ehemaligen Mitbewohner versuchte ich, für ein opulentes Frühstück mit Rührei und Aufschnittplatten zu missionieren, ohne Erfolg. Oder was ist schlecht an Gurkensalat mit einer Joghurtsoße – als ich ihnen das einmal vorsetzte, wurde ich mit grübelndem Unverständnis angeschaut wie das Orakel von Delphi. Ein einziges Erfolgserlebnis kann ich vermelden: So groß das Entsetzen im Freundeskreis war, als ich einmal Cola und Orangenlimo vermischte, so selbstverständlich trinkt es jetzt etwa mein Freund Saverio. In ein paar Monaten werde ich mich vielleicht trauen, zu einem Abend mit Sauerkrautspaghetti einzuladen.

 

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Tour de Trottoir

Ich gestehe: ich bin eine Gesetzesbrecherin. Und als solche bin ich ein schlechtes Vorbild für meine Kinder, die sich inzwischen auch wie selbstverständlich über so manche Regel hinwegzusetzen. Ich rede nicht von Ausnahmen, sondern von unserem Alltag in Tokio. Als bekennende Nicht-Autobesitzer radeln wir beherzt durch Japans Radwege-freie Hauptstadt.

 Dabei haben wir uns sehr schnell abgeguckt, wie es die Einheimischen machen. Bis auf eine Minorität, die es wagt auf den notorisch verstopften Hauptstraßen die Spur rücksichtsloser Taxi- und Busfahrer zu kreuzen, radeln hier alle auf den Bürgersteigen. Nicht, dass es dort viel Platz gäbe. Im Gegenteil, wenn ich meine Jüngste zur Schule begleite, konkurrieren wir bereits mit den Regimentern der Angestellten, die aus den umliegenden U-Bahnstationen quellen und ebenso zielstrebig wie zügig ihren Büros entgegen streben. Nachmittags wird es dann noch heikler, da die Gehwege zusätzlich mit Bummlern auf Shoppingtour verstopft sind. Zu Beginn unserer Radfahrerkarriere führte das zu so manchem „Feindkontakt“ und mein Blutdruck stieg auf dem Schulweg immens an.

Doch inzwischen erspähen wir geübt jede Lücke, schlängeln uns geschickt um langsame Fußgänger herum, klingeln uns notfalls keck den Weg frei und nehmen Abkürzungen entgegen einer Einbahnstraße. Und das in Japan, wo Gesetze und Regeln sonst in Stein gemeißelt sind. Aber wie gesagt, wir haben uns das alles abgeguckt und nur zu einer gewissen Perfektion gebracht. Gesetzesbrecher auf zwei Rädern sind ein geduldetes Übel in Tokio. Und ein schlechtes Gewissen habe ich nicht mehr, seit ich die ersten Polizisten gelassen über die Trottoirs pedalieren sah. Mangels Radwegen und angesichts der kritischen Verkehrsdichte sind Radler auf Gehwegen toleriert, ab und zu warnen an notorischen Unfallstellen auf den Boden gesprühte Bilder. Putzig ist, dass sich Einheimische nicht selten höflich entschuldigen, weil sie einem Radfahrer nicht fix genug ausgewichen sind.

Bei meinen Kindern hat diese Art der Verkehrserziehung allerdings fatale Folgen, wie sich bei unserem Sommerurlaub in Deutschland herausstellte. Mit größter Selbstverständlichkeit fuhren sie wie in Japan zunächst auf der linken Straßenseite, ignorierten das Vorhandensein von Radwegen und wunderten sich zutiefst, dass sie von Fußgängern barsch zurechtgewiesen wurden, nur weil sie fröhlich klingelnd auf den Gehwegen unterwegs waren. Mein im Reflex gestammeltes „Gomenasai“ – „ich entschuldige mich tausend Mal!“ – hat im Frankfurter Umland auch niemanden befriedet.

Aber jetzt ist alles wieder gut. Zurück in Tokio radeln wir mit großer Lässigkeit durch die dichtesten Passantenströme und grüßen freundlich die netten Polizisten, an deren Wache wir dabei  jeden Morgen vorbeikommen. 

 

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Sommer ade!

 

In Israel hat der Winter begonnen. Das Thermometer zeigt tagsüber in Tel Aviv zwar noch immer 30 Grad an und 27 Grad in der Nacht, aber formal ist hier jetzt Winter. Auf Wunsch der religiösen Parteien im Lande wurde wenige Tage vor dem Versöhnungsfest Jom Kippur der Sommer offiziell beendet. In der Nacht vom 11. zum 12. sind die Uhren eine Stunde zurückgestellt worden. Die Winterzeit soll den religiösen Juden helfen, die Stunden des Fastens am Jom Kippur leichter zu ertragen, da sie eine Stunde länger schlafen und später in die Synagoge gehen dürfen. Überall auf der Welt, von Kuba bis zum Libanon beginnt die Winterzeit frühestens Ende Oktober. In Israel aber haben sich vor fünf Jahren die ultra-orthodoxen und religiösen Abgeordneten in der Knesset mit ihrem Wunsch nach einem subjektiv kürzer empfundenen Fasten durchgesetzt.

Die an der jetzigen Regierungskoalition beteiligten religiösen Kräfte bemühen sich mit Nachdruck und Erfolg, die jüdische Identität des Staates Israel beständig zu schärfen und Staat und Religion immer enger mit einander zu verflechten. Innenminister Eli Yishai von der ultra-orthodoxen Shas-Partei hat in dieser Woche seine Verwaltung angewiesen, die Webseite des Ministeriums so umzugestalten, dass Online-Bezahlungen für Ausweise, Pässe und  Arbeitserlaubnisse nicht länger am Shabbat und während der jüdischen Feiertage ausgeführt werden können. Der ebenfalls ultra-orthodoxe Gesundheitsminister Yaakov Litzman von der Partei Vereinigtes Thora-Judentum hat inzwischen bekannt gegeben, dass er sich der Entscheidung seines Kollegen vom Innenministerium anschließen will. Die Online-Überweisungen auf Regierungs-Webseiten, die am Shabbat und an Feiertagen getätigt werden, machen glatte 3,2 Prozent des gesamten Online-Zahlungsverkehrs auf den ministeriellen Seiten aus.

Was für ein Segen, dass sich wenigstens die religiösen Mitglieder der Regierung Netanjahu während der „Friedensgespräche“ mit Palästinenserpräsident Abbas um die wesentlichen Belange des Landes kümmern!

 

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Kleine Spende für die Armee

Hätten Sie vielleicht ein paar Euro übrig? Es dürfen auch Dollar sein. Für einen guten Zweck, versteht sich. Zum Beispiel dafür, dass sechs libanesische Soldaten nicht bei nahezu 40 Grad Celsius am Straßenrand stehen und auf Hilfe warten müssen, weil ihnen wieder mal der Sprit ausgegangen ist. Oder weil ein Truppentransporter auf den holprigen Strassen im Südlibanon oder an der Grenze zu Syrien zusammengebrochen ist. Die libanesische Armee sucht dringend großzügige Unterstützer. 

Zu dem Zweck hat Verteidigungsminister Elias Murr kürzlich ein Spendenkonto eingerichtet, in das libanesische Patrioten und andere Gewogene jede denkbare Summe einzahlen können, damit die Streitkräfte endlich kampftauglich ausgerüstet werden können. Ob es Spendenquittungen geben wird, ließ der Minister offen. Er appellierte vor allem an die zahlreichen Libanesen, die im Ausland arbeiten, ihren Beitrag zur Landesverteidigung zu leisten. Murr selbst hat gemeinsam mit seinem Vater bereits 665.000 Dollar eingezahlt, quasi als Ermunterung für potentielle Nachahmer. 

Im Verteidigungsministerium zerbrechen sich nun die Strategen sicher den Kopf darüber, wie viele private Spender man durchschnittlich benötigt, um einen modernen Militärhubschrauber zu kaufen. Oder Luftabwehrraketen, die in der Lage wären, die den Libanon ständig überfliegenden israelischen Kampf- und Aufklärungsmaschinen ernsthaft abzuschrecken.

Diese dramatische Maßnahme des Verteidigungsministers folgt einer Ankündigung von US-Kongressmitgliedern, eine zugesagte militärische Unterstützung in Höhe von 100 Millionen US-Dollar zunächst einmal auf Eis zu legen. Die Begründung: Man wolle der libanesischen Armee nicht dabei helfen, gegen die israelischen Streitkräfte vorzugehen. Die Vorgeschichte: Libanesische Soldaten hatten am 3. August bei einem Zwischenfall an der Grenze zu Israel zur Waffe gegriffen, um israelische Soldaten an einem vermeintlichen Grenzübertritt zwecks einer Baumentwurzelung zu hindern. Es kam zum Schusswechsel, bei dem ein israelischer Offizier, zwei libanesische Soldaten sowie ein libanesischer Journalist ums Leben kamen.

Seither heißt es in pro-israelischen Kreisen in Washington, der libanesischen Armee könne man nicht mehr trauen. In Israel spricht man gar von einer „Hisbollahisierung“ der libanesischen Armee. Stellt sich die Frage: Wozu ist eine Armee denn gut, wenn nicht zur Verteidigung ihrer Landesgrenzen? Ok, die Frage, ob die israelischen Soldaten tatsächlich auf libanesisches Territorium vorgedrungen waren, bleibt unbeantwortet. Denn an genau der Stelle ist der Verlauf der so genannten „Blauen Linie“, welche die Rückzugslinie der israelischen Armee im Jahr 2000 definiert, umstritten. Die internationale Grenze zwischen beiden Ländern ist ohnehin nicht festgelegt. Aber Israel hatte sich nicht an die mit der Blauhelmtruppe UNIFIL vereinbarte Regelung zu Gärtnerarbeiten im grenznahen Bereich gehalten, was die Libanesen als Aggression interpretierten. Übereifrig und nicht korrekt, kann man im Nachhinein sagen. Ebenso verhält sich die israelische Marine häufig an der nicht demarkierten Seegrenze, wenn libanesische Fischer ihr auch nur nahe kommen. Doch die Fischer antworten nicht mit schwerem Geschütz und kaum jemand verliert ein Wort darüber.  

Nun muss die libanesische Armee also wieder um die westliche Hilfe bangen. Im Westen sollte man sich wirklich überlegen, was man will: Will man die libanesische Armee stärken und zu einer ernstzunehmenden Streitmacht heranbilden, damit endlich das Hisbollah-Argument nicht mehr zieht, nur die Schiitenmiliz könne den Libanon verteidigen? Oder will man die Dinge lieber so lassen wie sie sind, dann ist es auch leichter der Hisbollah als von den USA und Israel gebrandmarkter Terrororganisation den schwarzen Peter im Konfliktfalle zuzuschieben.

Die libanesische Armee benötigt dringend eine adäquate Ausrüstung sowie entsprechendes Training  – und zwar nicht nur leichtes Gerät, Maschinengewehre und ein bisschen Munition. Sondern moderne Panzer, Truppentransporter, die nicht bei jeder Gelegenheit zusammenbrechen, Kampfhubschrauber, ein ernstzunehmende Luftabwehr und hochseetaugliche Schiffe, die auch im Winter die Patrouillen der Küste sicherstellen können. Einer Studie des amerikanischen „Center for Strategic and International Studies“ zufolge braucht die Armee mit ihren knapp über 50.000 Soldaten mindestens 1 Milliarde US-Dollar, um ein Minimum an Einsatzbereitschaft zu erlangen. Da müssten sich schon sehr viele private Patrioten zusammenfinden, um die aufs Spendenkonto zu bringen. Andernfalls hat sich auch schon Teheran angeboten. Vermutlich ein Bluff, aber wer weiß. 

 

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massive – Wenn John Travolta OW ins Oprah House fliegt…

Natürlich konnte in all der Aufregung niemand widerstehen: Das Sydney Oprah House heißt Australiens Wahrzeichen Nr 2 demnächst. Jedenfalls im Dezember. Denn dann fliegt Oprah Winfrey, eine Talkshow-“Personality” aus Amerika, ein. Wir wissen das hier unten seit heute, und seit heute ist alles anders, alles! Auch für Oprah. Zum ersten Mal kommt sie nach Australien. Und sie ist soooo irre aufgeregt über das ‘absolute Abenteuer’. Verständlich, “The first cut is the deepest” wusste Yusuf Islam schon als er noch Cat Stevens hieß, und so ist Australiens Tourismusindustrie einfach ebenfalls irre nervös. Fast noch aufgeregter als OW. Heute auch nur von Irgendjemandem aus der Tourismusbranche einen nicht Oprah-relevanten Halbsatz zu bekommen war komplett unmöglich. “Das ganze Haus vibriert”, verriet mir hektisch eine Insiderin, die nur deshalb nicht-Oprah-bezogene Mails beantwortete, weil sie ab morgen Urlaub hat. 

1 Millionen Australische Dollar gibt allein die Regierung in Neusüdwales aus, damit Oprah das Opernhaus sieht. Diverse weitere Mio schießen andere Länder und Sponsoren für Oprahs erstes Mal dazu. Man helfe bei der Unterbringung, hieß es erklärend. Mit  Millionen? Ist Down Under so verflixt teuer geworden?

Nein, aber Oprah Winfrey bleibt ja ein bisschen (8 Tage), will Sydney und all das Outback rundum sehen, und nebenbei zwei Sendungen produzieren – Und sie kommt eben nicht allein: 450 Landsleute reisen mit. Denn zwar ist Oprah irgendwie irre positiv begeistert (was dann irre positiv für OZ ist, denn schließlich gucken massive amounts of people (Daily Telegraph) ihre Show, was dann massive für die Tourismusbranche ist). Und vermutlich auch für den Rest des Universums Folgen hat, denn wenige Stunden nach Bestätigung des welterschütternden Ereignisses meldete Google bereits 1299 Artikel, die sich mit “Oprah excitement visit Australia” befassten. Logisch, dass  es längst eine Gesichtsbuchfreundegruppe gibt, in der sich “FB-Freunde von OW visits Australia” über ihre gemeinsame Vorfreude austauschen. Und einigen Medien schien kollektiv die Kinnlade runter gefallen zu sein, wobei ein Großteil des ohnehin beschränkten Vokabulars flöten gegangen sein musste und sich fortan auf einige wenige Adjektive reduzierte: Just massive, you know. It’s massive!

Doch kurz zurück zu Reisebegleitern und Publikum, denn da traut Oprah Winfrey den Australiern trotz Gratistrip und all der achselnassen Aufregung nun wohl doch nicht so ganz über den Weg: 300 US-Amerikaner ihres Stammpublikum fliegt sie mit ein, sicher ist sicher. Wahrscheinlich um Sprachbarrieren zu verhindern. Ihren eigenen Piloten bringt sie übrigens auch mit: Kein geringerer als John Travolta soll den Qantas-Jet sicher übers Meer steuern. Heißt es. Da fällt mir nur eins ein: massive, that’s just massive!

 

 

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In Armani durch Afrika

Während der Fußball-WM war ich in London zu einem Abendessen eingeladen. Eine berühmte britische Kulturtheoretikern nahm mich besorgt beiseite. Was denn da schon wieder in Deutschland los sei, ob ich das gesehen hätte? Eine mehrseitige Modestrecke in der deutschen Grazia, ein stereotypes Festival, weiße makellose Models neben wilden, rätselhaft schönen Stammesmitgliedern. Exotik pur für die moderne Leserin zwischen Berlin und Butzbach. Die Professorin kannte die Grazia aus England, ein beliebtes Promi-Modeblatt, das seit einigen Monaten auch als deutsche Version am Kiosk liegt. Ich besorgte mir die Ausgabe, und tatsächlich fallen schon beim Titel alle geografischen Hüllen: Afrika. Ist ja auch nur ein Kontinent mit 53 Ländern, da muss man nicht weiter ins Detail gehen. Kennst du Togo, kennst du Tansania: ‘Zur WM blicken alle auf den Schwarzen Kontinent. Wir haben uns dort modisch inspirieren lassen. Bitte ein warmer Applaus für die Farben und Impressionen der Savanne.’

In Südafrika ist WM? Da macht eine Modestrecke in Kenia doch richtig Sinn und ist ungefähr so zusammenhangslos herbeikreiert, als wäre die WM in Spanien und man produziert eine Modestrecke in Finnland: Applaus für die Farben und Impressionen Europas! Auf den Fotos zu sehen sind junge weiße Models, die, passend zur Umgebung, als ‘Einheimische’ verkleidet sind: Sie suchen Fährten in Alexander-McQueen-Roben, holen Wasser in Azzedine Alaïa und tippeln mit gezücktem Speer durchs Gras. Doch wen jagen sie? Ihren Agenten, weil der ihnen einen so unfassbar doofen Job verpasst hat? Ein Model joggt in einer üppigen Miu-Miu-Kreation durch die Steppe, neben ihr ein junger Mann. Auf seinem muskulösen schwarzen Oberkörper kontrastieren die kräftigen Farben seines traditionellen Perlenschmucks, ein Posterboy des exotisierenden Blicks auf den edlen, bedrohlichen Wilden. Er als ‘echter’ Einheimischer wirkt neben diesem Zirkus wie ein Authentizitätsbeweis. Was mich allerdings am meisten erschreckt, ist sein perfekt sitzendes Kaugummilachen. Denn dieses strahlende Lächeln jenseits des absurden Modeshootings wird er wohl zwanzigmal am Tag in die Touristenkameras halten müssen.

Vor ein paar Tagen hielt ich eine britische Grazia in der Hand. Hier verhandelt man die Darstellung von kultureller Identität ein wenig anders, und neben der Neandertalersensibilität der deutschen Ausgabe wirkt der britische Ansatz fast politisch-diplomatisch: Eine der Strecken im Heft zeigt einen internationalen Lingerie-Wettbewerb, in dem jedes Land durch ein anderes Model repräsentiert wird. Länder wie Irland, Japan oder Israel verkörpern fast stoisch selbstverständlich schwarze Models. In Deutschland wäre so etwas undenkbar. Wieso soll ein ‘farbiges’ Model Irland repräsentieren oder Japan? Das ist doch absurd! Das tatsächlich Absurde? Dass man in Deutschland immer noch irritiert ist, wenn ein scheinbar afrikanisch aussehender Mensch gar kein Afrikaner ist. Oder jemand mit asiatischen Zügen gar kein Asiat. Sondern Deutscher! All die sorgsam angelegten, stereotypen Vorstellungen sind plötzlich wertlos! Perfekt.

 

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So krank ist Italien gar nicht!

Am Wochenende wurde in Kampanien der Bürgermeister  von Pollica vor seiner Haustür erschossen. Angelo Vassallo war beliebt. Er hat dafür gesorgt, dass in seiner süditalienischen Kommune, die Dinge funktionieren.  Der 57-Jährige konnte eine positive Wirtschaftsbilanz vorweisen, war engagierter Umweltschützer, der sich dafür einsetzte, dass die Schönheit des Nationalparks Cilento bewahrt wurde. Und er hat dafür gesorgt, dass in seiner kleinen Gemeinde in Kampanien, wo das Müllproblem sozusagen sprichwörtlich ist, die Mülltrennung bei 85 Prozent liegt.

Genau diese Effizienz, den Bürgersinn und die Anständigkeit hat Angelo Vassallo anscheinend mit dem Leben bezahlt. Noch weiß man nicht, wer für diesen feigen Mord verantwortlich ist. Die Camorra, heißt es. Es wird noch untersucht.

Warum erzähle ich das? Mafiamorde sind in Italien schließlich nichts Ungewöhnliches.

Nur war ich eben am selben Wochenende mit Kollegen der Stampa Estera unterwegs, Vertretern der Auslandspresse in Italien. Und dort fiel der Satz: „Italia è profondamente malata.  Italien ist durch und durch krank.“  Und  natürlich kam dann auch der Nachsatz: bei uns in der Schweiz, in Deutschland, in Frankreich hingegen …

Ich habe mich über diese Behauptung geärgert und sie als unangebrachten Allgemeinplatz abgetan. Mit dem Hinweis, dass wir nicht das Recht haben, ein Land mit den Maßstäben eines anderen zu messen, selbst wenn wir dort seit Jahren leben.  Und auch wenn sich gerade der Mord an Angelo Vassallo  als passendes Beispiel für die These vom „kranken Italien“ eignen würde, habe ich meine Meinung nicht geändert.

Für mich ist Italien nicht „durch und durch krank“.  Es stimmt.  Vieles ist krank in diesem Land. Doch hat das meiste davon mit Politik, mit Macht und den Institutionen zu tun. Ein gutes Beispiel ist das abscheuliche Sommerspektakel von Berlusconi, Bossi, Fini & co der letzten Wochen, das zeigt, dass in Italien, vielleicht mehr als anderswo, die Politik ausschließlich mit sicher selbst beschäftigt ist, während  Wirtschaft und Sozialstaat den Bach heruntergehen.

Der  feige Mord an Angelo Vassallo hingegen  bringt zum Vorschein, dass in Italien, weit weg von Rom, nach wie vor die Bürger an einer modernen, an einer zivilen, an einer gesunden Gesellschaft arbeiten.  Nur  tun sie es meist im Verborgenen. Denn etwas, das funktioniert, ist keine Schlagzeile wert.  Und vielleicht macht gerade das ihr Engagement eben auch gefährlich.

Um diesem Land also gerecht zu werden, sollten wir  von der Auslandspresse unser Augenmerk wieder mehr  auf  die Ereignisse hinter den Meldungen richten.  Denn sicherlich haben viele  von uns über den Mord berichtet, als weiteres Indiz für die These vom kranken Italien vielleicht…  Doch Hand aufs Herz! Welchem Redaktionsleiter war es anschließend die Meldung wert,  dass am darauf folgenden Tag in Pollica Tausende von Bürgern  mit einem Fackelumzug auf die Straße gegangen sind? Auf ihren Spruchbändern konnte man unter anderem lesen: Angelo, du warst unser Vorbild und wir lassen uns nicht einschüchtern. Wir werden in deinem Sinne weitermachen.

 

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Hauptsache feste Schuhe neben dem Bett – Erdbeben-Erfahrung aus Kalifornien

Das Erdbeben in Neuseeland und der Blog der heftig beben-geschüttelten Kollegin Anke Richter aus Christchurch haben mich daran erinnert, dass unsere Decken und das Notproviant für alle kalifornischen Bebenfälle mal wieder bei irgendeinem Campingtrip oder Ausflug zum Strand verschwunden sind, dass ich immernoch nicht das handbetriebene Radio gekauft habe, das es seit Wochen zum Sonderpreis im Supermarkt gibt und dass in dem Schrank, in dem eigentlich Wasser und Erste-Hilfe-Kiste sein sollten aus irgendeinem Grund seit Monaten leere Bierflaschen vor der Abgabe beim Recycling zwischengelagert sind.

Immerhin ist die Sicherheits-Lasche noch an der Schranktür. Die verhindert im Fall eines Bebens dass die Flaschen auf den Boden fallen. Das erinnert mich daran, wieder feste Schuhe neben das Bett zu stellen. Denn scheinbar gibt es vor allem nachts Erdbeben in Kalifornien, Fenster gehen kaputt, Bilderrahmen kommen von den Wänden und wenn man im verschreckten Halbschlaf barfuß aus dem Bett klettert hat man als erstes einen Glassplitter im Fuß und damit unnötig zusätzlich Probleme! Das habe ich jedenfalls bei der Recherche für zahlreiche Beiträge rund ums Phänomen Erdbeben gelernt. Kurz nach diesen Recherchen lege ich dann immer Vorräte an, stelle eine Erste-Hilfe-Kiste zusammen, deponiere Bargeld und Dokumente in einem Safe, schreibe wichtige Kontaktnummern auf, entwickle einen Fluchtplan, zwinge meinen Mann dazu, einen Treffpunkt zu vereinbaren, wo wir uns finden, falls uns das Beben getrennt voneinander erwischt und eine Telefonnummer zu vereinbaren, die wir beide erreichen, wenn unsere Handys ausfallen. Theoretisch bin ich inzwischen sehr gut in der Erdbebenvorbereitung – ein paar Wochen nach der Recherche sieht es in der Praxis aber nicht mehr so gut aus – siehe leere Bierflaschen im Erste-Hilfe-Schrank! 

 

Es gab ein paar mittel-heftige Beben in Los Angeles über die vergangenen Monate und Wissenschaftler grübeln nun ob das ein gutes Zeichen ist – heißt, dass sich Spannungen abbauen und deshalb größere Beben unwahrscheinlicher geworden sind – oder ob das kleine Ouvertüren sind für THE BIG ONE, das seit Jahren vorhergesagt wird mit mehreren tausend Toten und Milliarden an Sachschaden. Ich habe von den Beben nicht viel mitbekommen. Allerdings muss sich unser Haus innerhalb der letzten zwei Jahre bewegt haben. Und nicht wenig! Das hab ich entdeckt, als ich ein Bücherregal von einer Bürowand wegschob, die wir vor zwei Jahren frisch gestrichen hatten. Zwischen Staubwolken und Spinnweben klafft ein ziemlich heftiger Riss!

Kein Grund zur Beunruhigung! Häuser sind hier ja bevorzugt aus Holz gebaut, das hält sie flexibel und bebentauglich. Wir werden wohl nochmal streichen müssen. Oder das Regal wieder davor stellen.

Für die Kollegin Richter und ihre Familie, denen glücklicherweise allen nichts wirklich schlimmes passiert ist noch ein Tipp: hier raten alle Experten, sich möglichst NICHT in einen Türrahmen zu stellen wenn die Erde anfängt unruhig zu werden, eben weil Türen und andere Sachen da gut hinscheppern können. Sie empfehlen, sich unter eine solide Tischplatte zu begeben. Die einzige, die wir haben ist mein Schreibtisch und darunter ist wegen Kabelgewirr und Computer höchsten Platz für eine Person. Das bedeutet, mein lieber Mann muss im Fall des Falles vermutlich unter den Teak-Couchtisch kriechen. Hauptsache, er hat feste Schuhe an!  

 

 

 

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Die Rechte – bald auch in Schweden im Parlament?

In Deutschland ist noch nicht allzu viel drüber berichtet worden: In zwei Wochen wird in Schweden gewählt. Die rechtspopulistische Partei Sverigedemokraterna (Schwedendemokraten) darf auf den Einzug in den Reichstag hoffen. Einige Umfragen sagen ihr mehr als die nötigen 4 Prozent Stimmenateil voraus. Sollten die Prognosen am Wahlabend halten, könnte das in Schweden so erprobte Blocksystem durcheinander geraten. Das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der bürgerlichen Allianz unter Premier Fredrik Reinfeldt und der rot-rot-grünen Opposition unter der Sozialdemokratin Mona Salin könnte in einem Patt enden, was die Rechtsextremen in den Rang eines Königsmachers heben würde. Rein theoretisch. Denn anders als beispielsweise im Nachbarland Dänemark sind die etablierten Parteien in  Schweden sich einig: mit den Rechten wird nicht kooperiert. Im Falle eines Patt wird es also wohl zu einer Minderheitsregierung kommen, die Frage ist, welche Seite von der anderen Unterstützung bekommen kann. 

 

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Du bist nur eine Ameise

Die Kaffeetasse rappelt, der Tisch vibriert und ich bücke mich schon wieder, um jeden Moment darunter zu verschwinden: Noch eine Sekunde warten, ob der Tremor schwächer wird? Oder ist das doch das gefürchtete schwere Nachbeben, das uns die nächsten Stunden oder Tage bevorsteht? Seit dem schweren Erdbeben in Christchurch am Samstagmorgen fährt mir jede zarte Erschütterung von Boden und Wänden, wie sie sonst auch durch heftigen Wind oder das Vorbeifahren einer Straßenbahn ausgelöst werden kann, in die Glieder. Die Nerven werden zu Seismographen und melden sofort Alarm. Alle paar Stunden ein kleiner Adrenalinschub: Dann spüren wir in unserem Holzhaus am Hang, dass die Erde in Aotearoa sich noch keinesfalls beruhigt hat. Wächst sich das mittlerweile vertraute Gefühl nicht zur Panik aus, dann schleicht sich fast so etwas wie Gewohnheit ein. Also abwarten und aussitzen. Neben den großen Bildern, die wir alle von der Wand genommen haben, und den mit Klebeband versiegelten Schranktüren, aus denen hoffentlich keine Vasen mehr poltern.

 Immerhin wissen wir jetzt, wo die Taschenlampen griffbereit liegen. Vor der Tür steht ein Kanister Wasser, im Auto liegen Decken und Notproviant. Nur das alte Transistorradio in der Garage hat noch immer keine neuen Batterien – und wird sie, wie ich uns kenne, wohl nie haben. Seit den sieben Jahren, die ich mit meiner Familie an einem der erdbebenreichsten Orte der Welt lebe, rutscht auch die Notfall-Ausrüstung, wie sie sich für jeden anständigen Kiwi-Haushalt gehört, auf der „To do“-Liste immer tiefer. Typisch: Sie wird erst dann angeschafft, wenn der Ernstfall vorüber ist. Wir gehören zu den Glücklichen, die nur zerbrochenes Geschirr und einen Riss am Kamin zu vermelden haben. Unsere Straße ist noch befahrbar, alle Wände stehen, nach einem Tag ohne Strom und Wasser sind wir jetzt wieder am Versorgungsnetz – so schnell geht das Leben nach dem Beben wieder seinen gewohnten Gang. Die humanitäre Katastrophe ist nicht eingetreten, auch wenn es viele Menschen in und um Christchurch böse erwischt hat: Sie leben vorerst wischen Trümmern oder Kloake, viele sind verletzt. Doch die meisten, die ich kenne, sind in erster Linie psychisch gebeutelt. Sich fast eine Minute lang in einem gigantischen Zementmischer zu befinden, gegen den heftige Turbulenzen im Flugzeug ein Witz sind – das geht an die Substanz. Denn das Gefühl, den Naturgewalten ausgeliefert zu sein, weckt Urängste: Du bist nur eine winzige Ameise, ein Staubkorn auf der Erdoberfläche. Weggepustet, weggeschüttelt. Und da wir nicht mehr täglich wie die Neandertaler mit Mammuts ums Überleben kämpfen, kennen die meisten von uns – Bungy-Springer mal ausgenommen – nicht den Adrenalinschub, der mit dem Gefühl der Todesgefahr einhergeht. Es erwischt dich kalt.

Die Großstadtkämpfer sitzen heute in den wenigen Szene-Cafés, die offen haben, und reden sich das Wochenende von der Seele. Allein will niemand sein. Einige sehen mitgenommen aus, erschüttert in ihren Grundfesten. Die Kontrollierten und Starken hat das Gefühl des Ausgeliefertseins am heftigsten erwischt. Ihre Kinder scheinen das Ganze besser verkraftet zu haben, gehen staunend aufgeplatzte Straßen besichtigen und freuen sich, dass erst mal schulfrei ist.

Während die Gläser im Regal hinter der Theke sanft klirren – da war doch wieder ein kleines Nachbeben! – kursieren zwischen den Cafétischen Ratschläge, welche Position im Haus den besten Schutz bietet, wenn es wieder rappelt: Hände über den Kopf und an die Wand ducken? Unter den Esstisch kauern? Die lange favorisierte Tisch-Lösung ist umstritten. „Was ist, wenn die Beine wegbrechen und die ganze Platte dich erschlägt?“, fragt mich eine Freundin, die seit gestern nicht mehr im zweiten Stock schlafen kann. Der Urinstinkt sagt in solchen Situationen: Nach draußen laufen. Die Erbeben-Experten sagen: Bloß nicht, denn dann können Äste, Dachziegel, Mauern und zersplitternde Fensterscheiben auf dich stürzen. Als sicherster Standort galt bisher immer ein Türrahmen, egal wie schmal. Auch David, Vater von drei kleinen Kindern, hielt sich daran, als er nach den ersten Schrecksekunden endlich seinen Jüngsten aus dem Babybett ziehen konnte und sofort Schutz neben der Zimmertür suchte.  Die schlug dann prompt dem Kleinen heftig gegen den Kopf. „Also nur noch Türrahmen, wenn es sich um Schiebetüren handelt“, sagt David. Wir sind jetzt alle Survival-Experten. Unsere Kaffeetassen vibrieren. Da war wieder eins. Die Tischplatte sieht wirklich nicht sehr stabil aus.

 

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»Der Islam ist beendet!« – Sarrazin und Schlingensief

Die Sarrazin-Debatte ist in full swing. Es ist weder möglich, noch nötig, dem Ganzen einen Aspekt hinzuzufügen. Die Debatte ist da, wenn ich morgens das Radio anschalte, sie ist immer noch da, wenn ich am Nachmittag zur Zeitung greife, und sie hat nicht aufgehört, wenn ich abends in die Röhre gucke, sollte das mal vorkommen.

Ich bin mir nicht sicher, ob Sarrazin ein Rassist ist. Ich halte ihn für einen Demagogen mit faschistoiden Gedankenansätzen. Oder wie soll man es sonst nennen, wenn ganze Bevölkerungsgruppen – unabhängig von dem, was der oder die Einzelne tut oder lässt – in die Tonne getreten werden?

Das Gute an der Debatte: Die politische und mediale Öffentlichkeit weist, quer durch alle Weltanschauungen, Sarrazins Sündenbockthesen entschieden zurück. Das hat was mit dem Immunsystem einer Gesellschaft zu tun und stimmt leicht optimistisch, vielleicht sind wir Brandstiftern ja gar nicht hilflos ausgeliefert. Die wenigen namhaften Befürworter, die ihm zur Seite springen, verteidigen ihn ähnlich schrill.

Dennoch wird das Phänomen Sarrazin nicht mehr verschwinden. Die Debatte findet in jenem Schatten statt, den zukünftige Verteilungskämpfe bereits jetzt auf uns werfen. Oder besser formuliert:

»Es werden ganze Klassen, Schichten und Weltanschauungen ausgesondert und abgewertet: Die Muslime. Die 68er. Die Arbeitslosen. Die armen Familien. Die Alleinerziehenden. Man hackt mit ein paar Phrasen unterhalb, seitlich und über der vom Abstieg bedrohten Mittelschicht die nicht genehmen Gruppen weg. Übrig bleibt letztlich der spiessige Kleinbürger voller Angst, man könnte ihm auch seinen kleinen Status wegnehmen und zu solchen Gruppen rechnen. Gruppen des sozialen Prestigeverlustes, Gruppen, vor denen er sich fürchtet, weil sie nicht seiner und der Herrschenden Norm entsprechen. Gruppen, mit denen man den Mittelstand dazu bringt, die Herrschaft der Spalter von Oben zu lieben.«

Den kompletten Text von Don Alphonso aus seinem F.A.Z.-Blog »Stützen der Gesellschaft« gibt es hier! Er schrieb ihn, mit ausdrücklichem Bezug zu Sarrazin, bereits vor fast einem Jahr.

Den besten Kommentar zur Debatte hat, wie ich finde, Christoph Schlingensief gegeben, zweieinhalb Monate vor seinem Tod und fast drei Monate vor dem Eintreffen des aktuellen Debatten-Tsunamis. Sarrazins Phantasien, konsequenter und absurder als bei Sarrazin selber, so gespenstisch, verstörend, beklemmend, wie das nur Kunst hinkriegt. Zu Schlingensiefs kurzem Video hier entlang!

 

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Die Kunst der Namensgebung

Es ist Zeit für eine Enthüllung. Ich heiße gar nicht Christine Mattauch. Juristisch gesehen jedenfalls. Das hätte mich vergangenen Freitag fast die Einreise in die USA gekostet.

Schuld daran ist mein Eigensinn. Als vor vier Jahren der beste aller Männer um meine Hand anhielt, sagte ich nicht nur Ja, sondern beschloss zugleich, seinen Namen anzunehmen und damit alles Frauenrechtlertum über Bord zu werfen. Halt – nicht alles. Natürlich wollte ich weiter unter meinem Mädchennamen schreiben, der nach über 20 Jahren im Journalismus so etwas wie eine Marke geworden war. Das lieferte der Frauenrechtlerin in mir den perfekten Grund, den alten Namen irgendwie doch beizubehalten. Ich verfiel auf die Idee, ihn im neuen Pass als Künstlernamen eintragen zu lassen. Liebende Frauen müssen nicht logisch sein.

Der Beamte auf dem deutschen Konsulat in New York staunte nicht schlecht. „Den Mädchennamen als Künstlernamen? Wieso wollen Sie das denn, vorne wird ‚geborene Mattauch’ eingetragen, da sieht doch jeder, dass Sie mal so geheißen haben.“ Ich erklärte. Er verstand trotzdem nicht. Ich hatte keine Lust mehr zu erklären und wurde formal: „Aber es geht doch?“ – „Es geht. Allerdings nicht mehr lange.“ – „Aber jetzt geht es noch?“ Pause. Dann gab er auf: „Ja.“

Formal heiße ich also seit dreieinhalb Jahren Christine Piper, aber im Berufsalltag spielt der Name so gut wie keine Rolle. Viele Leute wissen überhaupt nicht, dass ich sozusagen doppelnamig bin. Im vergangenen Jahr saß ich bei einem festlichen Dinner an einem großen runden Tisch, an dem ein Platz unbesetzt blieb. Die Gastgeberin verteidigte ihn unverdrossen gegen Neuankömmlinge: Die Dame würde bestimmt kommen, das habe ihr der Ehemann heute noch versichert. Irgendwann wurde ich so neugierig auf die fehlende Person, dass ich mir die Platzkarte ansah. Da stand: Mrs. Piper.

Sonst sorgt mein heimliches Frauenrechtlertum für bemerkenswert wenig Turbulenzen, zumal Amerikaner in Namensangelegenheiten traditionell großzügig sind (wir hätten bei den Eheschließung sogar unsere Namen zusammenziehen können, etwa zu Pipermat, oder einen komplett neuen Namen beantragen können). Nur bei internationalen Flügen muss ich aufpassen, der strengen Sicherheitskontrollen wegen. Und da habe ich diesmal geschlafen und bei der Online-Flugbuchung meinen Mädchennamen eingegeben. Erst in der Subway zum Flughafen JFK fällt mir das auf. Mir schwant Böses.

Doch die amerikanische Bodenstewardess stutzt nur kurz und stellt umgehend die Bordkarte aus, auf Christine Mattauch. Ich interveniere: „Können Sie den Namen nicht ändern, ich heiße eigentlich Piper, und ich möchte nicht…“ – „Honey, das sieht doch jeder, dass das Dein Mädchenname ist“, unterbricht sie mich freundlich und wedelt mich in Richtung Sicherheitsausgang.

Sie kennt ja nicht das deutsche Bodenpersonal in Hamburg. Das Einchecken für den Rückflug läuft genauso alptraumartig ab, wie ich es mir vorgestellt habe. Die misstrauische Frage nach der Namensdifferenz. Das bedenkliche Gesicht nach meiner Erklärung. Der Griff zum Telefonhörer: „Ich habe hier einen Passagier, bei dem stimmen die Namen nicht überein…“ Ich schwitze. Ich bete. Ich verfluche die Frauenrechtlerin in mir. Die Bodenstewardess blättert in meinen Unterlagen und spricht in den Hörer: „Das Visum? Das ist auf den Mädchennamen ausgestellt…“ Endlich legt sie auf, sieht mich ernst an. Ich sehe mich bereits heimatlos in Hamburg. Dann sagt die Stewardess: „Das ist dann diesmal okay“, in einem Ton, der verrät, dass es natürlich ganz und gar nicht okay ist. Aber das ist mir egal. Auch, dass ich am Gate ganz besonders gründlich gecheckt werde.

Nochmal Panik, als ich beim Umsteigen in Düsseldorf ausgerufen werde. Ängstlich nähere ich mich dem Desk: „Es ist bestimmt wegen des Namens, nicht wahr? Mattauch ist mein Mädchenname und Piper…“ – „Das habe ich mir schon gedacht“, entgegnet ein vergnügter Rheinländer, blättert in meinen Papieren und entlässt mich mit einem Lächeln.

Den Künstlernamen hat in dem ganzen Kuddelmuddel kein Mensch beachtet, und ich war zugegebenermaßen froh drum. Vermutlich hätte der mich erst recht verdächtig gemacht. Denn wer kommt schon auf die absurde Idee, seinen Mädchennamen als Künstlernamen eintragen zu lassen?

 

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Agententhriller in Bangkok

Wären die Szenen, die sich in diesen Tagen um die Auslieferung des vermeintlichen russischen Waffenhändlers Viktor Bout abspielen, die Handlung eines Actionthrillers, dann würde der Film vermutlich schlechte Rezensionen bekommen: Kritiker fänden in zu übertrieben, zu sehr an den Haaren herbeigezogen und vor allem viel zu sehr Kalter-Krieg-mäßig.

Bout, 43, sitzt in einem Hochsicherheitsgefängnis in Bangkok und wird von Dutzenden Mitgliedern einer Kommando-Sondereinheit bewacht. Auf dem Flughafen Don Muang im Norden der Stadt steht seit Tagen eine Maschine der US-Marshalls bereit, um Bout in die USA zu schaffen. Gleichzeitig setzen Mitarbeiter der russischen Botschaft im Hintergrund alle Hebel in Bewegung, um die Auslieferung zu verhindern. Und in einer Präsidentensuite in einem der Fünfsternhotels der Stadt verführt vermutlich gerade James Bond die bezaubernde russische Agentin Dana, um ihr weitere Geheimnisse über die neue Superwaffe aus den Labors des KGB, Pardon, FSB zu entlocken.

Zur alles-kann-jetzt-noch-passieren-Charakteristik schlechter Agentenfilme trägt auch bei, dass Bouts Auslieferung am Mittwoch in allerletzter Minute gestoppt wurde. Im Februar haben die USA weitere Anklagepunkte gegen Bout hervorgebracht, um die Wahrscheinlichkeit einer Auslieferung zu erhöhen. Offenbar muss ein Gericht erst noch diese Anklagepunkte fallenlassen.

Tatsächlich hat Bout schon einmal die Vorlage für einen großformatigen Hollywood-Streifen geliefert: Im 2005 erschienenen Film „Lord of War“ erklärt Nicolas Cage alias „Yuri Orlow“ in der Eröffnungsszene, auf der Welt gäbe es 550 Millionen Waffen, was bedeute, dass jeder zwölfte Mensch eine besitze. Er fragt: „Wie bewaffnet man die anderen elf?“ Dann zeichnet der Film die Geschichte von Viktor Bout nach. Und zeigt, wie Bout Waffen aus Beständen der ehemaligen Ostblock-Staaten an Kriegsparteien weltweit verkauft hat und damit zu einem der größten Waffenschieber aller Zeiten geworden ist.

In Bangkok zeigt sich die Regierung unterdessen gelassen. „Wir handeln in Einvernehmen mit dem Gesetz, und niemand kann uns vorschreiben, die Auslieferung zu beschleunigen“, freute sich Vize-Premier Suthep Thaugsuban am Mittwoch. Thailand sei ein „souveräner Staat“ und lasse sich von niemand etwas vorschreiben.

Ganz so einfach ist es dann doch nicht. Denn Thailand war während des Kalten Krieges der Frontstaat Washingtons in der Mekong-Region. Der USA haben in Bangkok daher noch heute erheblichen Einfluss. Zudem war Bout offenbar offiziell als Militärberater Moskaus nach Bangkok gereist, um die Lieferung eines russischen U-Boots an die thailändische Marine vorzubereiten. Dass er ausgerechnet dabei von US-Ermittlern hochgenommen und von thailändischen Behörden festgenommen worden ist, dürfte sowohl der Regierung in Moskau als auch hohen Kreisen in Thailand, die den Ausbau der thailändisch-russischen Beziehungen vorantreiben wollten, wenig gut bekommen.

Denn sollte Bout vor einem Gericht auspacken, wie er jahrelang offenbar unbehelligt ganze Flugzeugladungen voller Waffen aus den Staaten der GUS schaffen konnte, wäre das für Russland sicher sehr peinlich. Doch Bout hat nicht nur für Kriegsfürsten und Freischärler weltweit gearbeitet: Eine zeitlang transportierten Bouts Flugzeuge im Auftrag des Pentagon Soldaten und Kriegsgerät der USA in den Irak. Auch für die Vereinten Nationen hat Bouts Unternehmen mehr als einmal gearbeitet: Seine Flugzeuge lieferten in einigen Fällen Hilfsgüter in Kriegsgebiete, die Bout zuvor mit Waffen überschwemmt hatte.

Natürlich kann ein Thriller, der in Thailand eine so bedeutende Wende erfahren hat, nicht ohne eine Prise Thai-Gangster-B-Movie enden. Sirichoke Sopha, der Assistent von Premierminister Abhisit Vejjajiva, ist in diesen Tagen in die Defensive geraten. Denn es ist herausgekommen, dass Sirichoke erst kürzlich Bout im Gefängnis besucht hat. Jatuporn Promphan, Abgeordneter der oppositionellen Puea Thai-Partei und während der blutigen Proteste im April und Mai einer der Anführer der „Rothemden“-Demonstranten hat nun erklärt, er gäbe ein Tonband, auf dem das Gespräch zwischen Bout und dem Assistenten des Premierministers aufgezeichnet ist.

Darauf sei zu hören, wie Sirichoke versucht, Bout dazu zu überreden, eine mysteriöse Waffenlieferung, die im vergangenen Dezember auf dem internationalen Flughafen von Bangkok entdeckt und sichergestellt worden ist, auf seine Kappe zu nehmen und zu erklären, die Waffen seien im Auftrag von Ex-Premier Thaksin Shinawatra (2006 von der Armee aus dem Amt geputscht) für die Rothemden-Proteste bestimmt gewesen. Sirichoke gab zu, dass sein Treffen mit Bout mit den Rothemden-Protesten zu tun hatte, aber dass es kein Tonband gäbe.

Wäre das alles die Handlung eines Films, dann würde spätestens jetzt der letzte Kritiker den Kopf schütteln, seinen Stift und seinen Notizblock einpacken, den Kinosaal verlassen und etwas Sinnvolleres mit dem angebrochenen Abend machen. Dabei hält die Fortsetzung der Bout-Saga garantiert noch unzählige unglaubliche Wendungen und Enthüllungen bereit.

 

 

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Endlich darf gemeckert werden

Auf der linken Seite fahren? Das hat man als Tourist nach sieben Tagen raus. Nicht mehr meckern dürfen? Das habe ich als Einwanderin nach sieben Jahren noch nicht perfekt drauf. Aber ich arbeite daran. Es ist ein Kreuz mit der ewigen Nettigkeit. Ich schleppe es tapfer herum und beiße mir nur noch einmal täglich auf die Zunge. Die ist längst so vernarbt wie mein Rücken. Immigrantenwunden, die langsam heilen, zeugen von einem zähen Kampf: Unterdrück ihn, den Unmut! Bezwing sie, die Empörung!  Nieder mit dem Nörgeldrang!

Schreib keine Leserbriefe. Lobe alles und jeden, oder schweig. Sag nicht „Der Fisch war trocken, es hat eine Stunde gedauert, und das bei den Preisen“, wenn die Kellnerin dich fragt, ob’s geschmeckt hat. Sondern nicke und lächle. Ich habe es gelernt – mittlerweile so gut, dass ich es kaum ertragen kann, mit frisch eingeflogenen Landsleuten in einem Restaurant zu sitzen, da sie nach jeder Bestellung das Wörtchen „please“ vergessen und sich darüber auslassen, wie kalt doch das Wetter/verregnet die Fjorde/schlecht gekleidet die Frauen sind.

Da sind wir Deutschneuseeländer – kurz Schneuseeländer – empfindlich. Immerhin haben wir uns im Griff, auch wenn es bei manchen von uns länger gedauert hat. Nie würde ich mehr auf die Idee kommen, nach einem Film einfach meine kritische Meinung kundzutun. Selbst wenn man mich fragt, warte ich erst mal vorsichtig ab, wie weit sich jemand mit einem diplomatischen „Nun, es war vielleicht nicht so ganz mein Ding…“ oder zweideutigen „very interesting“ (was nicht unbedingt „interessant“ heißt) hervor wagt. Zu viele Fettnäpfchen säumen meinen Weg ins Auswandererparadies. Ich bin jetzt Kiwi und halte mich zurück.

Nur manchmal noch erlaube ich mir kleine Ausrutscher: Am Telefon gegenüber Behörden, Firmen und Versicherungen. Da werde ich dann pampig, fordernd, mäkelig, mache andere zur Schnecke, weiß alles besser, echauffiere mich. Immer in der Hoffnung, dass niemand meinen Namen und Akzent klar einordnen kann. Ich will das ramponierte Image der Deutschen nicht noch weiter ruinieren. Aber irgendwo muss sie ja ab und zu raus, die teutonische Galle. So habe ich mich arrangiert und durch die Jahre der Immigration gehangelt. Als Preis winkte die neuseeländische Staatsbürgerschaft.

Und jetzt soll all die Anstrengung für die Katz gewesen sein? Ich schlage die Beilage meiner Sonntagszeitung auf und bin fassungslos. Zwölf Autoren lassen sich darüber aus, was sie alles nicht mögen. Zwölf von vier Millionen dürfen ungestraft meckern – über den schlechten Service und die pappigen Muffins in Szene-Cafés, über Vordrängler in Schlangen, über ihren Chef, über Leute, die Leute verspotten, die das Apostroph nicht richtig setzen können. Ein ganz Mutiger pinkelt sogar gegen den heiligen Gral kiwianischer Freizeitkultur und spricht sich offen von der Seele, was er kaum erträgt: Kostümpartys, in all ihrer Schrecklichkeit. Ich lese seine Zeilen, grün vor Neid. Hätte ich das jemals gewagt – ich säße in Abschiebehaft.

 

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Mit einem Kilometer durch die Wüste

China stellt wieder mal einen neuen Rekord auf. Nein, es geht weder darum der schnellstwachsende Markt für Autos zu werden, die meisten Jasmintee-Trinker zu haben oder die größte Zahl unter den Top 20 der dreckigsten Städte der Welt. Nein, China is dabei, den größten Stau der Welt zu bilden (Fotos hier)

Auf der Nationalen Landstraße G110 von Tibet über die Innere Mongolei Richtung Peking stauen sich zwischen den Städten Jining und Huai’an seit Mitte August wegen Bauarbeiten Zigtausende Laster und Autos. Tempo: Rund ein Kilometer pro Stunde. Nichts geht mehr, und der Stau soll bereits mehr als 100 Kilometer lang sein. Wann er sich auflöst weiß niemand. Das Parteiorgan Volkszeitung zitiert Verkehrsbeamte mit der Vermutung, bis Mitte September werde es wohl schon noch dauern.  

Einen Monat lang im Stau? Das würde wohl jeden guten deutschen Autofahrer zum Steinewerfer werden lassen oder ihn in den Herzinfarkt treiben. Heiß ist es an der Strecke – der Stau befindet sich in der Halbwüste kurz vor den Toren der Hauptstadt Peking.

Die Landschaft dort ist spektakulär, aber es ist trocken und staubig. Schatten gibt es kaum. Über die Landstraße G 110 sowie die parallele Autobahn quälen sich seit Jahren Laster, voll bis zum Rand mit Kohle für die Hauptstadt. Derzeit kommen viele Obstlaster hinzu. Die Straße, die unter all den – teils deutlich überladenen – Lastern Dellen bildete, muss repariert werden – und das erzeugte nun das Chaos.  

Doch Gewaltausbrüche oder Schreiduelle bleiben in der Staubwüste bisher aus. Während das Fahren auf vollen Autobahnen ebenso wie Anstehen an Ticketschaltern oder das Besteigen eines Busses in der Rush-Hour in China oftmals irgendwo zwischen Drängelwettbewerb und Nahkampf anzusiedeln ist, üben sich die meisten Chinesen in Krisensituationen in beeindruckendem Gleichmut. Was nicht zu ändern ist, ist nicht zu ändern. Also finden die Trucker neue Freunde im Stau. Sie spielen zusammen Karten auf dem Asphalt. Sie halten Mittagschläfchen – unter ihren Lastern, weil es dort kühler ist. Sie waschen sich am Straßenrand. Klagen hagelt es nur über die Bauern der Gegend, die einen Reibach machen, indem sie den Fahrern Wasser, Reisgerichte oder Instant-Nudeln verkaufen, viermal so teuer wie im Supermarkt. Umwege fahren wollen die meisten nicht. Das kostet Benzin und zusätzliche Mautgebühren, sagen sie. Also lieber abwarten und Tee oder ein Bierchen trinken.

Ob es ihnen hilft, dass sie alle gemeinsam an einem Weltrekord arbeiten? Ob sie das überhaupt wissen? Das Guiness-Buch der Rekorde verzeichnet bisher einen 176 Kilometer langen Stau zwischen Paris und Lyon als längsten der Welt. Doch das wird der Stau von Jining doch locker aushebeln können. Und einen Monat lang Stau ist für sich schon ein Rekord. Also weiter so! Augen zu und durch! 

 

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Hongkong will kulturell sein

Schnöselige Hongkong-Bewohner aus dem westlichen Ausland (=Expats) bezeichnen Hongkong immer mal wieder gern als „cultural desert“, als Kulturwüste, wo allein – pfui – das Geld regiere und die künsterlischen Darbietungen nicht einmal europäisches Kleinstadtniveau erreichten. Ich muss zugeben, selbst ohne schnöselig zu sein, bereitet einem das Hongkonger Kulturleben Kopfschmerzen, etwa wenn man angestrengt nachdenkt, was man denn abends unternehmen könnte. Das Kinoprogramm beschränkt sich nahezu auf US- oder chinesische Blockbuster. Klassische Konzerte sind, sofern keine internationalen Stars eingeflogen werden, ziemlich schlecht und trotzdem teuer. Die Ballett-Truppe au weia. Kunstausstellungen sind rar oder irrelevant. Und die Subkultur steckt noch in den Babyschuhen. Hongkong ist nicht Tokio.

Doch das soll jetzt alles anders werden, auf einen Schlag. Hongkong baut den West Kowloon Cultural District und will sich damit auf die Weltkarte der Kulturstädte hieven. Das Projekt ist ehrgeizig: Zwei Milliarden Euro für ein ganzes Kulturviertel mit einem Museum für zeitgenössische Kunst, mehreren Theatern, Konzertsälen und sonstigen Bühnen. Die Stadt hat den früheren künstlerischen Direktor des Londoner Barbican, Graham Sheffield, eingekauft. Er soll das Ganze leiten. Hongkong klotzt, zunächst einmal auch baulich.

Das neue Kulturviertel entsteht auf aufgeschüttetem Land an der Einfahrt zum Victoria Harbour, der Wasserstraße zwischen den beiden Stadthälften Hong Kong Island und Kowloon. Exponierter geht es kaum:

 

 

Dieser Bauplatz schreit geradezu nach Spektakel-Architektur à la Sydney-Oper. Jetzt haben die drei Finalisten ihre Entwürfe vorgestellt: Norman Foster, Rem Koolhaas und der Hongkonger Rocco Yim Sen-kee. Entschieden wird Anfang des kommenden Jahres.

 

 

 

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Steit um einen berühmten Knack-A.

Es ist ja schon die Frage, ob es allzu schlau ist von Italiens Kulturminister Sandro Bondi, sich ausgerechnet mit DEM anzulegen. Gibt es nicht andere Kunstwerke, auf die er sich stürzen kann? Ahnt er denn nicht, dass es so ausgehen könnte wie im ersten Buch Samuel, Kapitel 17? Dass er, Sandro Bondi, Goliath ist und früher oder später „mit dem Gesicht zu Boden“ fällt?

Aber Sandro Bondi tut es eben doch – er kämpft gegen David, beziehungsweise um ihn: Um jenen kolossalen David, den der große Michelangelo ab dem Jahr 1501 aus einem Block weißen Marmors herausschlug. Den besichtigen jedes Jahr rund 1,3 Millionen Besucher in der Galleria dell’Accademia in Florenz und hinterlassen bei 6 Euro 50 Eintritt eine Menge Geld. Und weil die Galleria dell’ Accademia nicht ein städtisches Museum ist, sondern ein staatliches, fließen alle Eintrittsgelder in die Kasse des italienischen Staates: Jeder Euro, den ein Tourist hier zahlt, fällt sozusagen auf ein Fließband und wird zur Freude von Kulturminister Sandro Bondi direkt nach Rom getragen. Er hat sich nun durch ein Gutachten bestätigen lassen: Ja, David gehört dem italienischen Staat, mitsamt seiner Schleuder, seinem berühmten Knack-A. und all dem Geld, das er bringt: Schließlich sei die ehemalige Eigentümerin Davids, die Republik Florenz, im italienischen Nationalstaat aufgegangen.

 

Gegen die Allmacht des großen italienischen Staates und des fülligen Kulurministers zieht nun Matteo Ricci zu Felde, der Bürgermeister von Florenz. Er ist es leid, dass seine Stadtreinigung vor dem Museum jenen Touristen hinterherputzt, deren Geld dann ja doch nur an den italienischen Staat fließt. Deshalb hat er nun zum einen angekündigt, in Zukunft solle der italienische Staat für die Reinigungskosten vor der Galleria aufkommen; und zum anderen gehöre Michelangelos David ohnehin seiner Stadt. Dafür gäbe es „unanfechtbare Dokumente“. Für seine Sicht spricht: Immerhin war es die Florentiner Wollgilde, die den David bei Michelangelo in Auftrag gegeben hatte.

Im Streit um David wollen sich beide treffen, Sandro Bondi und Matteo Ricci, von einem Termin ist noch nichts bekannt. Womöglich übt der Bürgermeister von Florenz schon einmal mit einer Steinschleuder. Und womöglich warten auch bereits hunderte italienische Journalisten im Terebinthental im Heiligen Land, wo einst der Kampf zwischen David und Goliath stattgefunden haben soll, auf eine Neuauflage des biblischen Duells.

 

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Blindes Vertrauen

Starker Andrang altbackener Medien auf WikiLeaks-Boss Julian Assange, der sich im Norden vom Verfolgungsdruck des Pentagons entspannt. Die Militärs hätten ihm statt der angefragten Hilfe bei der Sichtung der über 90.000 Dokumente des kürzlich veröffentlichten  „Afghan War Diary“ eine Liste von Forderungen übersandt, klagt der Australier: Er möge das bereits munter zirkulierende Material löschen, auf künftige Publikationen von als geheim gestempelten Dokumenten verzichten und generell die Zusammenarbeit mit Informanten im Dienst der US-Streitkräfte einstellen.

Dass die Namen “unschuldig Beteiligter“ an die Öffentlichkeit gerieten, will Assange nicht ausschließen. Solche Fehler seien auch bei “vergleichbar voluminösen Projekten” wie etwa der “Aufarbeitung der Stasi-Akten” unterlaufen. Für die kritisierte Veröffentlichung von Klarnamen gäbe es allerdings auch gute Gründe, wehrt sich Assange. Wenn sich etwa örtliche Journalisten oder Offizielle vom US-Militär bestechen ließen, hätten die Afghanen ein Recht darauf, dies zu erfahren.   

Die publizistische Sorgfaltspflicht nehme man durchaus ernst. Aus diesem Grund würden in Kürze auch 15.000 weitere Dokumente mit besonders sensiblen Hinweisen auf die Quellen nachgereicht. Dieses Material habe seine kleine, wenn auch rapide wachsende Organisation nämlich erst einmal Zeile um Zeile auf denkbare Gefährdungen abklopfen müssen.

Auch die Sicherheit der eigenen Informanten wird WikiLeaks nicht garantieren können, solange die Internetplattform einen Großteil ihres traffics über schwedische Server abwickelt, warnen indessen Rechtsexperten wie Anders Olsson. Um vom legendären Quellenschutz im selbst ernannten Musterland der Pressefreiheit  zu profitieren, müsse die flüchtige Organisation nämlich erst einmal einen Verantwortlichen mit fester Adresse benennen.

Er sei bemüht, solche Zweifel auszuräumen, sagt Assange mit sanfter Stimme. Ohnehin sei man auf den Umgang mit Organisationen eingestellt, die sich von Recht und Gesetz traditionell kaum beeindrucken ließen. Man darf vermuten, dass ihm die Tunneldienste schwedischer Hacker-Kollegen mehr Vertrauen einflößen als Schwedens stolzes Presserecht aus dem Jahre 1766.

 

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Wo die Wahrheit nicht zu finden ist

Schon wieder verbrannte Erde dort, wo ich gerade noch stand. Die PKK jagte in dieser Woche die Erdöl-Pipeline zwischen Midyat und Idil in die Luft – genau an der Stelle, wo ich letztes Jahr mit einer Patrouille kurdischer Milizionäre unterwegs war. Die Jungs sind unverletzt, ich habe sie erreicht, aber drei andere Menschen hatten weniger Glück.

Das geht mir immer öfter so. Letzte Woche wurden in der Provinz Batman vier Menschen auf einer Straße in die Luft gesprengt, die ich schon öfter gefahren bin – eine Sprengfalle der PKK, in der es diesmal allerdings vier kurdische Aktivisten erwischte. Vorletztes Jahr ging eine Bombe vor dem Hotel hoch, in dem ich in Diyarbakir normalerweise absteige; die PKK ließ anschließend ausrichten, es sei ein Versehen gewesen, aber den sechs Toten und 67 Verletzten nützte das auch nichts mehr. Wiederum eineinhalb Jahre zuvor stand ich in einer heißen Augustnacht lange vor dem Eingang zum Kosuyolu Park in Diyarbakir, in dem ich mich mit einem untergetauchten kurdischen Deserteur getroffen hatte, und plauderte mit Bekannten; wenige Tage später detonierte genau an der Stelle eine gewaltige Bombe und tötete zehn Menschen.

So geht das nun, seit ich im türkischen Kurdengebiet unterwegs bin – das sind fast 20 Jahre. Von den Straßensperren und den Maschinenpistolenläufen unter der Nase will ich gar nicht anfangen, auch nicht von den langen Stunden auf Polizei- und Militärwachen oder den nächtelangen Fahrten durch gebirgiges Konfliktgebiet, und schon gar nicht von extremer Hitze, drei Meter tiefem Schnee und den Körben voller abgehackter Schafsköpfe auf den Märkten.

 Ich mache es ja auch gern, und vor allem: Es gibt keine Alternative dazu, wenn man vernünftig über den Kurdenkonflikt in der Türkei berichten will. Der Krieg zwischen der PKK und dem türkischem Staat wird ebenso stark in den Medien ausgefochten wie in den Bergen von Südostanatolien. Da ist den türkischen Behörden und den ansonsten recht ordentlichen Medien des Landes ebensowenig zu glauben wie der PKK und deren hochprofessionellem Propaganda-Apparat. Es hilft also nichts, die Wahrheit ist nur vor Ort zu finden.

Ärgerlich ist nur, dass diese Wahrheit nicht viel zählt, wenn es um Schlagzeilen geht. So machte die „taz“ diese Woche mit einer Geschichte Furore, die vom deutschen Schreibtisch aus mit eher trüben Quellen „recherchiert“ war: Die Türkei setze möglicherweise chemische Waffen gegen Guerrillakämpfer ein. Um Bilder ging es da, die ungenannten „kurdischen Menschenrechtlern“ demnach von ungewisser Seite „zugespielt“ wurden, bevor sie ihren Weg nach Deutschland fanden. Aber immerhin war die „taz“-Geschichte selbst noch sauber geschrieben – was man von den eskalierenden Abschriften anderer Medien nicht behaupten kann. Man beachte im Folgenden vor allem, wie das Zitat des Hamburger Arztes durch die Berichte mutiert:

 So berichtete die „taz“:

In den letzten Wochen hat das rechtsmedizinische Institut der Uniklinik Hamburg-Eppendorf im Auftrag der taz die Bilder untersucht. Zwar besitzen solche Fotos nur einen sehr begrenzten Beweiswert. Doch die Ergebnisse des Eppendorfer Forensikers Jan Sperhake stützen die kurdische Darstellung: Eine der Leichen wies “hochgradige Zerstörungen” auf, wie sie an “den Zustand nach Bahnüberfahrungen erinnern”, schreibt Sperhake. Teils quellen Leber, Darmschlingen und andere Organe aus den Körpern, die Muskulatur liege teils großflächig frei, Gliedmaßen seien enorm zerstört. Neben vermutlichen Stich- und Schussverletzungen weisen die Toten auch Verletzungen auf, die auf eine Explosion zurückgehen könnten. Vor allem aber zeigen zwei der abgebildeten Leichen eigentümliche großflächige Hautdefekte. So etwas kann theoretisch auch durch Hitze entstehen. Doch dies schließt Sperhake weitgehend aus: Kopfhaare, Lider, Brauen und Bart wiesen, soweit beurteilbar, keine Hitzeeinwirkungen auf. Sein Fazit: “Angesichts des Zustands der Leichen muss deshalb in Betracht gezogen werden, dass chemische Substanzen eingesetzt worden sein könnten.”

Daraus wurde bei „Spiegel Online“ (unter Berufung auf die „taz“):

Ein rechtsmedizinisches Gutachten des Hamburger Universitätsklinikums bestätigt den ursprünglichen Verdacht: Die acht Kurden starben mit hoher Wahrscheinlichkeit “durch den Einsatz chemischer Substanzen”.

 Und daraus wiederum wurde bei der „Zeit“ (unter Berufung auf Spiegel Online“):

Die Ärzte gingen davon aus, dass die acht Kurden “mit hoher Wahrscheinlichkeit durch den Einsatz chemischer Substanzen” starben.

Stille Post statt Recherche. Entsprechend steigerten sich auch die Überschriften: 

taz: “Hat die Türkei C-Waffen eingesetzt?” 

Spiegel: “Türkei soll Kurden mit Chemiewaffen getötet haben” 

Zeit: “Türkei gerät wegen möglichen Giftgasangriffs unter Druck” 

Türken, Kurden, Chemiewaffen: Klar, dass Politiker von Claudia Roth bis Rupert Polenz da sofort für Forderungen nach internationalen Untersuchungen zu haben waren, was die Geschichte natürlich wiederum aufwertete. Den PKK-Medien war das am nächsten Tag einen Aufmacher wert: „Deutsche Medien berichten über Chemiewaffenvorwürfe gegen die Türkei“.

Ein gelungener Coup war das, Hut ab! Aber ich nähre mich lieber redlich.

  

 

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Elektromillionär kauft öffentliches TV

Eine Woche vor der Wahl ist in Australien so gut wie alles politisch – außer den großen Parteien, die sich nachhaltig um ernsthafte Themen drücken und statt dessen viele Kindergärten besuchen. (Tony Abbott: “Dreijährige stellen keine schwierigen Fragen.”). Eigentlich kein Wunder, dass in so einer Situation ausgerechnet ein Fernseh-Fachhändler Heikles anfasst: Bevölkerung.

Dick Smith verkauft seit 40 Jahren Elektronik, der Mann ist so eine Art Mister-Media-Markt down under. In 433 Läden bringt er in Neuseeland und Australien alles unter die Leute was Kabel und Knopf hat. TVs, Telefone, Gameboys. Jetzt hat Smith genug verkauft, jetzt sorgt sich der Millionär um die Bevölkerung. “Bis vor sechs Monaten hatte ich noch nie über Bevölkerung nachgedacht.” Aber DS lernt schnell: Donnerstag hatte er schon seine eigene Fernsehschau zum Thema: “Dick Smith: The Population Puzzle”. 

Eine knappe Stunde prime time TV kaufte sich der Mann. Und zwar nicht auf irgendeinem Kommerzsender, nein. Das ehrenwerte ABC – Pendant etwa zur ARD in Deutschland – strahlte seine Show gleich nach den Nachrichten aus. Mister Elektrofuchs zahlte 50 000 AUS $ und durfte dafür 60 Minuten lang zeigen, wie und warum der kuschlige Südhalbkugelkontinent doch lieber hübsch elitär und klein bleiben soll.

Kein Klischee wurde ausgespart: Wolkenkratzer überwuchern Strände, Asylboote, vor Dürre knarrende Felder.

Derweil fliegt DS wahlweise im Privatjet oder per Helikopter über Sydney und nörgelt über verstopfte Züge. Eine Ein-Mann-Schau mit ein paar Statisten, nichts wird diskutiert, niemand stellt Fragen; nur Smith, meist über zu viele Menschen, über die (außer ihm neuerdings) ja niemand nachdenken wolle. Nicht mal das stimmt. Australier reden ständig über Einwanderung: “Wie viele sind zu viele?” ist in einer der reichsten Industrienationen mit 22 Mio Einwohnern immer wieder Lieblingsfrage. (Derzeit kommen übrigens 170 000 Neue im Jahr: 13 000 Flüchtlinge, 45000 Familienzusammenführungen und gut 113 000 Einwanderer, die gesuchte Berufe mitbringen). 

 

Das war das manipulativste Stück TV, dass ich in zehn Jahren in Australien gesehen habe. Aber mal abgesehen vom Inhalt: Ein Millionär kauft sich eine Stunde öffentlich rechtliches Fernsehen und darf seine Meinung verbreiten? What’s next: ‘Herr Supermarkt’ in einer “Doku” über Nuklearwaffen? “Frau Autofirma” über die richtige Religion? Der Bergbaugigant erklärt uns Gesundheitspolitik? I can’t wait…

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