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Das Yacoubianische Haus

Zwei Monate lang hatte ich mir es vorgenommen, gestern endlich bin ich ins Kino gegangen, um mir "Omaret Yacoubian" anzuschauen, "The Yacoubian Building", kein Film, sondern ein Phänomen.

Vor einigen Monaten hatte ich den Autor der Romanvorlage interviewt, den Zahnarzt Alaa Al Aswany, der immer noch praktiziert, der der Anti-Mubarak-Reformbewegung angehört und der einen Bestseller geschrieben hat, der seltsamerweise nicht verboten wurde, sondern von dem 50 mal mehr Exemplare über die Ladentische gingen, als es für einen arabischsprachigen Bestseller üblich ist.

Die Verfilmung hält sich an die Romanvorlage: In einem runtergekommenen Downtown-Art-Déco-Haus lebt unten die verblühte Elite, Pseudo-Aristokraten und Intellektuelle, und oben auf dem Dach das Volk, die Portiersfamilie, Habenichtse vom Land, die Verkäuferin Bussaina.

Ihre Geschichten kreuzen und verschränken sich. Keine Kränkung, kein Elend, keine Gemeinheit und keine Tragödie im Ägypten von heute wird ausgelassen – und über allem schwebt die Politik des korrupten Regimes, die die Biographien der Menschen zermalmt.

Gestern im Kino war das für einige im Publikum schwer zu ertragen, zu schwer. Als der Portierssohn in der Untersuchungshaft von Geheimdienstbütteln vergewaltigt wird und danach nackt und blutverschmiert in der Zelle hockt und jammert, da nehmen einige Männer ihre Frauen und verlassen das Kino.

Dasselbe geschieht, als der prominente, mehr oder weniger heimlich schwule Chefredakteur zärtlich seinen Liebhaber verführt. Und nochmal, als der Chef der jungen Verkäuferin Bussaina im Lagerraum auf ihr Kleid onaniert, eine Pflichtübung für alle jungen Verkäuferinnen in dem Laden, die ihren Job nicht verlieren wollen. Sie erhalten dafür 10 Ägyptische Pfund pro Abspritzen, umgerechnet 1,35 Euro.

Immer wieder verlassen Zuschauer den Saal. Bis zum Schluss guckten höchstens zwei Drittel von ihnen. In dem Film kommt nichts vor, was die Leute nicht wissen, aber diese geballte Ladung überfordert so manchen. Ägypter lieben die Illusion. Wenn ein Heuchler den frommen Muslim spielt, aber hin- und hersündigt, dann sehen sie drüber weg und reden nur privat darüber. Das ist Selbstschutz, anders wäre die Wirklichkeit vielleicht gar nicht zu ertragen.

Im Film kommen haufenweise Leute vor, die Gebetskettchen schwenken und alle paar Sekunden "So Gott will", "Der Herr wird uns beschützen" usw. sagen und im nächsten Moment eine Zweitfrau heiraten, weil das besser als eine Prostituierte ist, aber letztlich nichts anderes. Und die gleichzeitig bestechen, was das Zeug hält, sich Parlamentssitze kaufen, mit Rauschgifthandel reich werden usw. Und, auch das sagt der Film deutlich, die Mächtigen des Regimes (in Gestalt eines Ministers zum Beispiel) sind nur so mächtig, weil sie skrupelloser sind als all die anderen Schufte.

Nach dem Film bin ich durch die Innenstadt gegangen, über den Talaat Harb Square, auf dem eine Schlüsselszene spielt. Einer der Hauptdarsteller läuft nachts betrunken über ihn rüber und beklagt laut grölend den Niedergang des Landes. Seine Begleiterin sagt: "Die Leute gucken schon. Lass uns hochgehen!" Er antwortet, schreit: "Sie sollen nicht uns angucken, sondern unser Land, das mehr und mehr zerfällt!"

Vor einigen Wochen war ich genau hier auf diesem Platz bei einer Demonstration, für einen Hörfunkbericht. Linke(!) und Säkulare(!) protestierten für(!) die schiitische Hisbollah. Hundertschaften bewaffneter Polizisten hatten das Areal abgeriegelt.

Plötzlich stand ich irgendwie mittendrin, im inneren Absperrring, was mir normalerweise nicht passiert, weil ich eigentlich vorsichtig bin. Die berüchtigten Schlägertrupps zogen direkt vor meiner Nase auf, Beamte in Zivil und vermutlich auch Underdogs, die für ein bisschen Kleingeld bereit sind, die Schmutzarbeit zu machen. Mehr als einmal in den letzten Monaten richteten sie ihre Gewalt auch gegen in- und ausländische Journalisten.

Das alles sah vor ein paar Wochen aus wie gestern im Film "Yacoubian Building", nicht ohne Grund, denn die Produktionsfirma, gut mit dem Regime vernetzt, durfte echte Polizeitrupps bei den Dreharbeiten verwenden. Die wussten, was sie spielten, es wirkt im Film authentisch und ebenso bedrohlich wie in der Realität.

Die Demo vor ein paar Wochen wurde nicht gewaltsam aufgelöst, sondern verlief sich einfach so nach einer Stunde. Und während die Demonstranten in den Kaffeehäusern verschwanden, in die sie immer gehen, und sich vielleicht fragten, was es bringt, wenn man sehr viel mehr als früher sagen und tun kann, ging ich hinüber zur beliebten Konditorei "Al Abd", holte mir zwei Stückchen Schwarzwälder-Kirsch-Torte, die ich dann nachts zu Hause auf dem Balkon aß.

Kairo ist wie immer in diesen Tagen, nur greller als sonst, mit ganz scharfen Konturen, in Kunst wie Realität.

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