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Der Schlüssel zur verlorenen Zeit

Immer wieder frage ich mich, welche Geschichte wohl hinter der angebrochenen Räute, dem Griff unseres alten, eisernen Hausschlüssels steckt. Wer ihn wohl schon alles in der Hand hatte? Vielleicht sogar die letzte pensionierte Nonne, die hier alleine lebte. Sie war behindert, wurde von den Großeltern unserer Nachbarn gepflegt. Als Dank erhielten die nach ihrem Tod dieses Haus und so kam „l’ancien couvent“, das „ehemalige Kloster“ in Belloc, in weltlichen Besitz.

 

Der Schlüssel hat ebenso wie die Holztüre mit ihrem Türklopfer in Form eines metallenen Löwenkopfes

schon vieles überstanden. Drum sollte man sich nicht allzu große Sorgen machen. Aber nicht nur sein Zerbrechen könnte drohen, wahrscheinlicher ist vermutlich sogar sein Verlust. Und dann stehen wir da, ohne Ersatz. Also muss ein Doppel her.

 

Als ich mich endlich aufraffe, den Hausschlüssel sowie seinen etwa gleichaltrigen Bruder, den Garagenschlüssel (ebenfalls ein Unikat mit etwas Grünspan verziert) zu kopieren, ahne ich nicht, dass ich mich auf eine Zeitreise begebe. Beim Schlüsseldienst in Toulouse, einer dieser modernen Kopierklitschen mit ihren ohrenzersägenden Fräsemaschinen, habe ich keine Chance. Vielleicht in einer altmodischen Eisenwarenhandlung, einer Quincaillerie, sagt der Schlüsselmacher vom Dienst. In der Kleinstadt Saint Girons werde ich fündig.

Die schwere Glastüre löst ein kurzes Bimmeln aus, als ich sie öffne. Die Quincaillerie Lapeyre ist ein unübersichtlicher, düsterer Laden, der eher an eine Rumpelkammer erinnert. Vermutlich gibt es hier eine Ordnung, sie erschließt sich dem ahnungslosen Besucher nur nicht. In der linken hinteren Ecke höre ich es rumoren. Es riecht nach Zigarettenqualm. Ich gehe vorbei an Eisenstangen, Schweißerutensilien, Stellwänden mit aufmontierten Türgriffen und Schlössern, bis ich plötzlich vor einem Mann im blauen Arbeitsanzug stehe. Der Mittvierziger hockt auf dem Boden, im Halbdunkel, umgeben von hunderten Schlüsselrohlingen, die teils auf kleinen Metallständern hängen, teils auf dem Boden zerstreut liegen. In seinem Mundwinkel hängt eine Zigarette, die langsam verglimmt, während der Mann Unverständliches vor sich hin murmelt.

Durch ein kurzes Räuspern mache ich auf mich aufmerksam. Der Verkäufer mustert mich von unten nach oben mit fragendem Blick. „Ich würde gerne zwei sehr alte Schlüssel nachmachen lassen“, sage ich zögernd. „Bin mir aber nicht sicher, ob Sie das tun können.“ „Wir machen keine Schlüssel“, lautet die trockene Antwort. Aha. „Aber wir haben welche.“ Ich krame meine beiden alten Schätzchen aus der Jackentasche und zeige sie ihm. „Hmm, dann wollen wir mal sehen.“ Die Zigarette zittert bei jedem Wort zwischen seinen Lippen, bleibt aber gerade noch hängen. Von nun an heißt es: Geduld!

Seelenruhig kramt mein neuer Freund – nennen wir ihn mal Jacques, er sieht aus als könnte er Jacques heißen – in seinen Schlüsselvorräten. Ab und zu zieht er voller Hoffnung einen Rohling hervor, studiert ihn minutenlang im Vergleich zum Original, rümpft die Nase, was dazu führt, dass wieder ein wenig Asche von der Zigarettenspitze fällt, und hängt ihn wieder an seinen Platz. Oder an einen anderen. Das Konzept von „jeder Schlüssel hat seinen Platz“ scheint hier ohnehin nicht zu greifen.

Als die Glut der Zigarette sich bedrohlich seinen Lippen nähert, drückt Jacques sie rasch an einem Metallteil auf dem Tisch zu seiner Linken aus und legt den Stummel daneben.Weiter geht die Schlüsselsuche. „Ah, le voilà!“, sagt er plötzlich nach etwa 20 Minuten mit einem Anflug von Begeisterung. Der Hausschlüssel ist gefunden. Aber wir sind noch lange nicht fertig. Nun ist der Garagenschlüssel dran. Das gleiche Prozedere. Jacques hat alle Zeit der Welt. Dann erneutes Aufblitzen in seinen Augen. Auch dieser Schlüssel soll seinen Meister finden.

Nun geht es an die kleine Fräsemaschine, anschließend zieht Jacques ein paar Handfeilen aus einer hölzernen Schublade. Hingebungsvoll macht er sich an die Feinarbeit. Ein wunderbares Erlebnis, von Menschen bedient zu werden, die ihre Arbeit mögen! Wieder vergehen mindestens 15 Minuten, bis Jacques zufrieden ist. Stolz reicht er mir die neuen, glänzenden Schlüssel. Sie sind genauso klobig wie die alten, aber aus einer gelblichen Metalllegierung. Haben deutlich weniger Charme. Egal, sie tun ihren Dienst (ich hab’s probiert).

Und Jacques, den Meister der Langsamkeit und Hingabe, den habe ich ins Herz geschlossen. Ich möchte eigentlich nie mehr woanders meine Schlüssel duplizieren lassen als in der Quincaillerie Lapeyre. Dort, wo die Zeit stehen zu bleiben scheint. „Bon“, sagt Jacques lächelnd, „kann ich noch irgendetwas anderes für Sie tun?“ „Nein,“ antworte ich grinsend und gehe gedankenverloren, ja fast bezaubert zur Kasse.

 

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