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Pot bei Reverend Ike

Washington Heights hieß mal „Frankfurt on the Hudson“, weil dort so viele Einwanderer wohnten, die aus Deutschland kamen. Heute leben in dem Stadtteil im äußersten Norden Manhattans zu 85 Prozent Latinos, Immigranten aus Südamerika, vor allem aus der Dominikanischen Republik. Eine Attraktion dort ist das United Palace Theatre, eine Kirche, die mal ein Kino war. Dort wollten wir kürzlich ein Konzert der Allman Brothers besuchen, Kultband der 70er Jahre.

 

 

Vorher kehrten wir im Steakhouse „El Conde“ ein, das der Gegend alle Ehre macht: Die Speisekarte ist auf spanisch, große Fleischlappen werden auf einem Mus aus Kochbananen serviert, und die rund hundert Gäste machen so viel Krach, dass man die Hände zur Flüstertüte formen und seinen Gegenüber anbrüllen muss, um verstanden zu werden. Trotzdem gelang es uns, ein paar Worte mit unserem Tischnachbarn zu wechseln, dem blonden Ken aus New Jersey. Auch er wollte zum Konzert und fand den Auftakt schon mal sehr gelungen. „Great“, sagte er und deutete auf seine Grillplatte.

Das United Palace Theatre ist gleich auf der anderen Straßenseite, ein kurioser Prachtbau von 1928. Architekt Thomas Lamb hat sich von der spanischen Alhambra, indischen Schreinen und thailändischen Tempeln inspirieren lassen. Die New York Times nannte es einmal ein „delirious masterpiece“, ein verrücktes Meisterwerk. Innen sind die Wände überladen mit geschnitzten Löwen, Buddhas und Elefanten.

Ursprünglich ein Kino mit 3600 Sitzen, wird der skurrile Bau seit 1969 als Kirche genutzt. Jahrzehntelang predigte hier Reverend Frederick Eikerenkoetter, kurz Ike, und er erklärte seiner Gemeinde vor allem, wie man reich wird. So was ist in den USA relativ verbreitet und mehrt nicht zuletzt das Vermögen der Prediger. Doch vergangenen Sommer starb Reverend Ike. Seitdem fließen die Einnahmen wohl nicht mehr so reichlich, jedenfalls vermietet die Kirche das Gebäude jetzt als Konzertsaal.

Im Foyer versammelten sich hunderte von Althippies mit langen Haaren und Bikern in schwarzen Lederjacken. Sie kauten Popcorn, das sie von den „United Church Fundraisers“ erstanden hatten, und lasen die Lebensweisheiten von Reverend Ike, die zwischen den Buddhas und Elefanten an den Wänden stehen: „Es ist nett, wichtig zu sein, aber wichtiger ist es, nett zu sein.“ Oder: „Nichts ist so schlecht wie eine gute Entschuldigung.“ Zwischendurch holten sie Bier, das in kleinen Plastikbechern ausgeschenkt wurde, für stolze sieben Dollar. Eine Ausweiskontrolle, bei Konzerten in New York sonst äußerst streng gehandhabt, gab es nicht. Entweder waren die Gemeindemitglieder im Bierausschank unerfahren, oder sie wollten getreu der Lehren von Reverend Ike den Umsatz steigern.

Unsere Eintrittskarten hatten stattliche 60,99 Dollar pro Stück gekostet, doch die Plätze lagen ganz hinten im obersten Rang, vorletzte Reihe. Von dort aus sahen die Leute im Parkett aus wie Däumlinge. Immerhin war das Motiv des Bühnenvorhangs gut zu erkennen – riesige psychedelische Pilze. Um uns herum herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, weil die Leute ihren Biervorrat auffüllten. Außerdem hing ein verdächtig süßlicher Geruch in der Luft, wie bei Popkonzerten der 70er Jahre. Hatte die Hallendirektion der Klimaanlage ein Pot-Aroma beigefügt, der Nostalgie halber? Wenn es so war, wussten die Platzanweiser nichts davon. Sie brüllten mehrfach „No Smoking“ – vergebens.

Endlich hoben sich die psychedelischen Pilze und eine Gottesdienst-Bühne wurde sichtbar. Im Chorgestühl lümmelten sich Groupies und andere Ehrengäste. Als Gregg Allman endlich in die Gitarre griff, wurde klar, dass die Palast-PA möglicherweise für Gottesdienste geeignet ist, nicht jedoch für eine Rockband. Plötzlich waren wir froh, so weit hinten zu sitzen. Es war ein unglaublicher Klangbrei. Wir konnten nicht einmal erkennen, um was für Lieder es sich handelt. Dafür war es umso lauter. Um uns herum leerten sich die Sitze. Nach dem fünften Song gingen auch wir.

Unten im Foyer machte der Bierausschank Rekordumsätze. Falls Reverend Ike von seiner Wolke aus zusah, hat ihn das bestimmt gefreut. Wir holten uns auch eins und gesellten uns zu Ken, den Fan aus New Jersey. Er pulte sich erstmal Kleenex aus den Ohren, das er als Schallschutz benutzt hatte. Dann grinste er und sagte: „Was soll’s, immerhin kennen wir jetzt ein gutes dominikanisches Steakhouse“.

Foto: (c) wikimedia

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