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The early bird gets the worm…

 

Obwohl sich die Amerikaner bekanntlich seit mehr als 200 Jahren dafür rühmen, dass sie die Weitsicht besaßen, sich von der britischen Monarchie loszusagen, pflegen sie immer noch einige royalistische Rituale. Die jährliche Rede zur Lage der Nation gehört in diese Kategorie. Ähnlich wie die Thronrede in London ist die Substanz der präsidialen Ansprache vor den Mitgliedern des Repräsentantenhauses und des Senats jeweils schnell wieder vergessen; die Rituale und die Popanz haben es aber in sich. In einem minutengenauen Fahrplan handelt die Hausherrin – die Parlamentspräsidentin Nancy Pelosi – jeweils aus, wer wann in den großzügigen Versammlungssaal marschieren darf. Zuerst sind die Abgeordneten dran, dann die Senatoren, schließlich folgen die beiden First Ladies, Jill Biden und Michelle Obama, die Obersten Bundesrichter sowie das Kabinett. Und dann ist der Stargast selber an der Reihe, der mit den Worten: «The President of the United States» begrüsst wird.

Nicht planen lässt sich, was sich nach dem offiziellen Willkommensgruß durch den Parlamentsbediensteten – pardon: durch den House Sergeant at Arms – abspielt: Minutenlang musste sich Barack Obama am Dienstag durch einen Korridor von Parlamentariern kämpfen, die ihm unbedingt die Hand schütteln wollten. Darunter hatte es auch einige gefitzte Demokraten und Republikaner, die sich jedes Jahr einen Sitzplatz möglichst nahe dieses Schauplatzes von euphorischen Begrüßungskundgebungen, Schulterklopfen und Händeschütteln sichern. Dafür beweisen die Berufspolitiker einige Stehkraft. Ihnen ist es gemäß offizieller Weisung nämlich verboten, Sitze mittels einer strategisch platzierten Jacke oder gar eines Klebebandes zu reservieren. Stattdessen müssen sich die Abgeordneten bereits um 8 Uhr in der Früh in der Kammer einfinden, und dann dürfen sie ihren hart erkämpften Sitz nicht mehr verlassen. Er sei deshalb am Dienstag um 5 Uhr in der Früh aufgestanden, sagte der Kongressabgeordnete Eliot Engel aus New York (unser Bild) mit stolzem Unterton, um sich einen der begehrten Sitze zu sichern. Die Mühe lohne sich aber. Immer wieder sprächen ihn Menschen in seinem Wahlbezirk in Brooklyn auf die Fernsehbilder an. Oh, Herr Engel, «wir haben sie am TV gesehen», hieße es jeweils. Und wenn er dann nachfrage, an welches Interview sie sich erinnerten, erhalte er regelmäßig die Antwort. «Nein, wir haben Sie gesehen, wie sie dem Präsidenten die Hand geschüttelt haben.» Und was die Wähler lieben, gefällt auch dem Volksvertreter. Kein Wunder, wiederholt Engel sein jährliches Ritual zur Lage der Nation seit 1988.

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