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Krank wegen Schweizer Feinstaub

Weisser Staub liegt auf den Strassen, Dächern und Fensterbalken der Häuser in Las Mercedes, einem kleinen Viertel in der Vorstadt Virrey del Pino am Rand der Metropole Buenos Aires. Jorge Sosa, ein Anwohner, greift zum Boden und nimmt sich eine Handvoll. Das Pulver bleibt an seinen Händen hängen. Es ist fein wie Mörtel, kurz bevor man ihn mit Wasser mischt, um beispielsweise Fliesen zu befestigen.

„Dieser Staub macht uns krank“, sagt Sosa. Verantwortlich dafür sei die anliegende Fabrik des Zuger Chemiekonzerns Sika. Seit 2009 protestieren Anwohner*innen gegen die Präsenz der Fabrik: Sie sind überzeugt, das Unternehmen sei verantwortlich für eine Reihe von Krankheiten, die überdurchschnittlich viele Menschen in den Strassenzügen rundum die Fabrik betreffen.

Zusammen mit der argentinischen Zeitung El Diario AR hat das Lamm während zwei Jahren zur Frage recherchiert, ob die Vorwürfe der Anwohner*innen gegen die Zuger Firma berechtigt sind. Auch die Koalition für Konzernverantwortung und der Tages-Anzeiger beschäftigten sich mit den Aktivitäten der Fabrik. Die Rechercheergebnisse erscheinen heute gleichzeitig.

Das Lamm hat unzählige Interviews geführt, Gerichtsunterlagen gesichtet, Anfragen per Öffentlichkeitsgesetz verschickt und medizinische Untersuchungen analysiert. Das Resultat ist die Geschichte eines Schweizer Konzerns, der lokale Gegebenheiten und tiefe Umweltstandards ausnutzt und so die Anwohner*innen in Panik versetzt. Und davon, wie die Justiz sich erst dann darum scherte, als sich Journalist*innen einschalteten.

Eine Explosion in der Fabrik

„Unsere Industrieanlage in Virrey del Pino […] ist ein weltweiter Referent für Flexibilität, Automatisierung und Produktionskapazitäten“, heisst es auf der argentinischen Webseite der Zuger Firma Sika. Ein Bild der Anlage, die seit 1972 am gleichen Ort steht, ergänzt die Beschreibung. Im rötlichen Sonnenuntergang erkennt man Schornsteine und dahinter einen vollkommen rauchfreien Himmel.

Doch die Realität ist weniger malerisch. „Ich spüre sofort, wenn die Fabrik läuft“, erzählt Jorge Sosa. Seine Augen brennen, das Atmen fällt ihm schwer und hin und wieder bekommt er Juckreiz auf der Haut. Ausserdem hat er Asthma – eine Krankheit, die laut einer Ärztin vermutlich mit der Präsenz des Pulvers in der Luft zusammenhängt.

Das Fenster von Sosas Schlafzimmer im ersten Stock seines selbst gebauten Hauses liefert einen direkten Blick auf die Fabrik. Regelmässig wacht Sosa wegen Atemproblemen in der Nacht auf, blickt auf die Fabrik, sieht Rauchschwaden von den Schornsteinen emporsteigen und nimmt die nächtlichen Erlebnisse mit seiner Handykamera auf. Das Lamm hat mehrere dieser Videos gesichtet.

Die Anwohner*innen liessen den Staub, den Juckreiz auf der Haut und die Atembeschwerden über Jahrzehnte hinweg über sich ergehen, bis es im Jahr 2009 zu einer Explosion auf dem Gelände kam – so erzählen es jedenfalls die Anwohner*innen selbst. Das Unternehmen seinerseits leugnet den Vorfall. Tagelang soll es weissen Staub geregnet und das Atmen noch mehr erschwert haben. In den Tagen darauf verteilte das Unternehmen Putzmittel, industrielle Staubsauger und Geld – im Gegenzug sollten die Anwohner*innen einen Vertrag unterschreiben, der eine zukünftige Klage gegen das Unternehmen aufgrund von Erkrankungen unterbindet, so die Erzählung. Aufbewahrt haben sie den Vertrag nicht.

Mehrere Nachbar*innen fanden die Klausel des Vertrags verdächtig. Sie schlossen sich zusammen und protestierten, mal vor dem Fabrikgelände, mal vor dem Rathaus oder der französischen Botschaft – als das Unternehmen noch zum französischen Zementhersteller Lafarge gehörte. Doch bewirken konnten die Proteste wenig.

In den Stimmen der weiterhin aktiven Anwohnenden ist Frustration zu hören. Seit 2009 machen sie den Staub der Fabrik für eine Reihe von Krankheiten verantwortlich, die im Viertel anzutreffen sind.

Asthmamedikamente

Überall im Viertel Las Mercedes liegt der weisse Staub, nach nur wenigen Stunden sammelt er sich auf parkierten Autos an. Im Wohnzimmer von Susana Ardiles und Jorge Crespo sind die Fenster trotz der Sommerhitze geschlossen. „Wir müssen regelmässig das Haus putzen, um den Staub loszuwerden“, meint Ardiles. Das Ehepaar besitzt einen kleinen Laden im Vordergarten des Hauses.

Auch sie erzählen von ständigen Beschwerden in den Augen und Atemwegen. Besonders besorgt sind sie über ihre Enkelkinder, die regelmässig einen Asthmaspray verwenden müssen.

Der Spray, ein Bronchodilatator, wird normalerweise bei Asthmapatient*innen eingesetzt und dient zur Entspannung der Bronchienmuskeln, was wiederum das Atmen erleichtert. Hausbesuche lassen darauf schliessen, dass im Viertel Las Mercedes fast jede zweite Person einen Inhalator benutzt. Pro Monat verbrauchen die Enkelkinder von Crespo und Ardiles bis zu drei davon. Doch aufgrund der Inflation und dem Wertverfall des argentinischen Pesos ist der Preis dafür enorm angestiegen. Zwischen 10 und 15 Franken kostet ein Bronchodilatator, etwa ein 14tel des argentinischen Mindestlohns.

Wegziehen ist für Ardiles und Crespo aber unmöglich. „Wohin?“, fragen sie. Sie haben hier ihr relativ grossräumiges Haus – die Alternative wäre ein Umzug in die engen Armenviertel der Hauptstadt, wo neben Platzmangel auch Drogen- und Gewaltprobleme herrschen.

Träge Umweltbehörden

Das Viertel Las Mercedes liegt am meistverschmutzten Fluss in Argentinien, dem Riachuelo Matanza. Eigentlich ist seit 2009 die eigens für den Flusslauf gegründete Umweltbehörde Autoridad de Cuenca Matanza Riachuelo (ACUMAR) für die Verbesserung der Umweltbedingungen im Gebiet zuständig. Doch in Bezug auf Las Mercedes und den Konflikt mit der Sika wurde die Behörde erst spät aktiv und ging selbst dann lange Zeit nicht auf die Luftprobleme ein.

2014 führte ACUMAR als Reaktion auf die Proteste zusammen mit weiteren Gesundheitsbehörden eine erste medizinische Untersuchung der Bevölkerung durch, um die Zusammenhänge zwischen der Umgebung und gesundheitlichen Problemen der Anwohner*innen festzustellen. Der Abschlussbericht liegt das Lamm vor: Obwohl die Behörden schon damals feststellten, dass viele Bewohner*innen von Atemwegs‑, Haut- oder Erkrankungen der Schleimhäute sprachen, haben sie weder weiterführende Untersuchungen durchgeführt, noch die Verschmutzung in der Luft gemessen.

Im Jahresbericht von 2016 kündigte die gleiche Umweltbehörde an, man wolle fürs kommende Jahr daran arbeiten, eine konstante Messung der Luftqualität an den Schornsteinen der Fabrik durchzuführen. Doch geschehen ist diesbezüglich bis heute nichts.

Ein Jahr später, 2017, wurden ein weiteres Mal 518 Anwohner*innen von der lokalen Umweltbehörde medizinisch untersucht. Gemäss dem Abschlussbericht, der das Lamm vorliegt, wurden in 110 Fällen Atemwegs- oder Hauterkrankungen festgestellt. Doch wieder: Konkrete Massnahmen zur Verbesserung der Umweltstandards blieben grösstenteils aus.

Man installierte einzig eine Messanlage in unmittelbarer Nähe zur Fabrik, um die Feinstaubwerte zu messen. Die öffentlich zugänglichen Messwerte zeigen fast konstant über 30 µg/m3 Feinstaub einer Partikelgrösse von kleiner als Zehn Tausendstel-Millimeter an. An manchen Tagen steigen die Werte auf knapp 300 µg/m3. Die Höchstwerte stimmen zum Teil zeitlich mit den Videos von Jorge Sosa und anderen Nachbar*innen überein, die einen besonders hohen Ausstoss von Abgasen aus der Fabrik zeigen.

Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt derweil, dass das Jahresmittel nicht über 15 µg/m3 liegen soll. Das Problem: Die argentinische Gesetzgebung kennt nur einen zulässigen Tageshöchstwert, der deutlich höher bei 150 µg/m3 liegt.

So eine hohe und konstante Feinstaubbelastung ist laut dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) gesundheitsschädlich und kann zu Atemwegs‑, Kreislaufsystems- und Nervenerkrankungen führen. Die Luftverschmutzung bewirke schlussendlich eine Verkürzung der Lebenserwartung der ihr ausgesetzten Personen, so das BAG.

Von Sika gekaufte Probleme

Sika strebt seit einigen Jahren einen aggressiven Expansionskurs an. Dafür kaufte es im Jahr 2019 das Unternehmen Parex, das nur wenige Jahre zuvor aus der französischen Lafarge-Gruppe ausgegliedert wurde. Lafarge ist allgemein wegen seiner schlechten Umweltstandards und dubiosen Geschäftspraktiken bekannt: Im Jahr 2022 verurteilte ein US-amerikanisches Gericht Lafarge zu einer Geldbusse aufgrund von Geschäften mit dem sogenannten Islamischen Staat in den Jahren 2013 und 2014.

Zu Parex gehörte auch der argentinische Mörtelhersteller Klaukol und die Fabrik im Viertel Las Mercedes in Buenos Aires.

Die Fabrik gehört laut argentinischem Gesetz zur umweltschädlichsten Kategorie und müsste fernab jeglicher Wohnviertel stehen. Doch als sie Anfang der 70er Jahre gebaut wurde, existierte diese Bestimmung noch nicht – und das heutige Gesetz gilt nur für Neubauten.

Konfrontiert mit den Vorwürfen wiegelt das Schweizer Unternehmen Sika ab. Im Februar 2022 sagte der Mediensprecher, in der Fabrik neben Las Mercedes würden in einem reinen Mischprozess ausschliesslich Baustoffe hergestellt und diese Tätigkeit setze keinerlei gesundheitsgefährdende Stoffe frei: „Die Behörden haben in den letzten Jahren mehrere Audits durchgeführt. Bei keinem der Audits wurde ein Mangel festgestellt. Auch das letzte Audit hat keinerlei Verschmutzungen oder Staubpartikel aufgezeigt.“

Weitere Kontaktversuche per Mail wurden vom Mediensprecher nicht beantwortet. In Argentinien reagiert gegenüber El Diario AR mittlerweile ein Kommunikationsunternehmen, das ebenfalls alle Vorwürfe bestreitet.

Die Umweltbehörde ACUMAR widerspricht der Darstellung von Sika. Im April 2020 mahnte sie das erste Mal das Unternehmen ab. Die Messstation gleich neben der Fabrik hatte in den Tagen zuvor weit über die ohnehin schon lasche Norm schreitende Feinstaubwerte gemessen. Das Lamm hat die Dokumente des Strafverfahrens per argentinischem Öffentlichkeitsgesetz sichten können. In ihrer Stellungnahme versuchte die Zuger Firma anhand eigener Messdaten aufzuzeigen, dass die Feinstaubwerte der Schornsteine sehr gering gewesen seien und unmöglich die Ursache der hohen Messwerte sein konnten.

Auch das Umweltministerium der Provinz von Buenos Aires sprach im März 2023 eine Busse aus, da Sika die Normwerte für Staubemissionen überschritten hatte.

Das Kommunikationsunternehmen bestreitet im Auftrag von Sika die Rechtmässigkeit der Busse durch das Umweltministerium. Diese sei ohne ausreichende wissenschaftliche Basis verhängt worden und deshalb sei in zweiter Instanz die Busse aufgehoben worden. Der Tenor: Hier wird ein Unternehmen für allgemeine Probleme im Viertel verantwortlich gemacht.

Ein aussergerichtliche Einigung

Trägt das Unternehmen also keine Schuld an der Luftverschmutzung? Einen Vorfall lesen Bewohner*innen als Schuldeingeständnis.

Im November 2020 kam die damals 28-jährige Nadia Carabajal, Bewohnerin von Las Mercedes, in die Notaufnahme. Ihr ging es sehr schlecht, die Studentin konnte kaum mehr atmen. Die Diagnose: Ihre 23 Jahre zuvor implantierte Niere funktionierte nicht mehr.

Carabajal lebte damals gleich gegenüber der Fabrik. Sie kam mit einer defekten Niere auf die Welt, die mit drei Jahren ersetzt werden musste. Während Carabajal auf eine neue Niere wartete, sollte sie auf ärztliche Anordnung hin möglichst wenig Staub ausgesetzt sein. Ein enormer Aufwand für die Familie, die das Zimmer des Mädchens total isolieren musste. Im Garten oder auf der Strasse mit anderen Kindern spielen war für Carabajal in dieser Zeit unmöglich.

Nach der Einlieferung der 28-Jährigen in die Notaufnahme begann für sie alles von vorne. Carabajals Mutter Siria Rodríguez beginnt zu schluchzen, als sie ihre Geschichte erzählt. Zusammen mit ihren Anwält*innen, die gratis für sie arbeiteten, verklagten sie Sika, da sie die Fabrik für das erneute Nierenversagen verantwortlich machen.

Aussergerichtlich einigen sie sich darauf, dass Sika die Mietkosten für ein Haus ausserhalb des Viertels und der Staubwolke bezahlt. Für viele ein Etappensieg, den sie im Viertel gleichzeitig auch als erstes Schuldeingeständnis von Sika interpretieren. Das Unternehmen behauptet hingegen, man trage die Kosten aus „humanitären Gründen“.

Nach Carabajals Umzug in ein Viertel, weit entfernt von der Industrie, verbessert sich ihr Gesundheitszustand merkbar. Bei einem Besuch im April 2022 erzählt Carabajal, dass sie weiterhin auf eine neue Niere warte, doch dass allein die neue Luft ihr Leben deutlich verbessert habe. Vorher lag sie fast dauernd im Bett, fühlte sich krank und hatte kaum Energie. Im neuen Haus fühle sie sich wohl und sie bewege sich sehr viel mehr, erzählt sie. Carabajal konnte sogar ihr Studium wieder aufnehmen, das sie kurz nach ihrem Rückfall unterbrechen musste. „Es ist wie ein neues Leben“, resümiert sie.

Doch der Kampf ist noch nicht gewonnen. Aufgrund der Inflation in Argentinien, die über 120 Prozent jährlich beträgt, werden die Mietpreise ständig erhöht. Jede Mietpreiserhöhung bedeutet aber auch, dass sie mit Sika über die Mietsubvention streiten müssen. Es ist ein ständiges ringen um ein Leben in Würde. Die Familie erzählt, dass Sika derzeit nur noch einen Teil der Miete übernimmt.

Der Staub kommt aus der Fabrik

Seit Januar 2022 recherchiert das Lamm gemeinsam mit El Diario AR zu den Geschehnissen im Viertel Las Mercedes. Dabei wurde schon früh die Umweltbehörde ACUMAR kontaktiert und die Zuger Firma Sika zu den Vorwürfen befragt.

Im Interview verteidigt Daniel Larrache, der im Direktorium von ACUMAR sitzt, das bisherige Vorgehen der Behörde. Man habe zuerst versucht, anhand verschiedener Studien die Ursache der Luftverschmutzung im Viertel zu finden. ACUMAR gehe davon aus, dass ein beträchtlicher Teil durch die naheliegende Autobahn entstehe. „Die Fabrik stellt einen weiteren Faktor dar“, meint Larrache. Es gäbe weiterhin viele Fabriken im Umkreis des Viertels, doch nur eine arbeite mit Quartzfeinstaub und Mörtel, den man vor Ort im Viertel antrifft – jene der Schweizer Firma Sika.

„Wir hatten in den letzten Jahren eine konstante Verbesserung der Produktionsbedingungen“, erklärt Larrache das Vorgehen gegenüber Sika. Die Fabrik erfülle, mit Ausnahme kleinerer Probleme, die allgemeinen Umweltstandards. Doch ein Bericht, den ACUMAR im Jahr 2022 in Auftrag gegeben hat, zeigt das Gegenteil.

Der Bericht, der das Lamm vorliegt, belegt ein erstes Mal deutlich, dass ein grosser Teil der Staubbelastung in Las Mercedes aus der Fabrik von Sika stammt. Chemische Analysen ergaben, dass 7 bis 17 Prozent der Staubemissionen, die kleiner als zehn Tausendstel Millimeter gross sind, aus der Fabrik stammen. Bei grösseren Staubpartikeln, die sich nach einiger Zeit in der Luft am Boden absetzen, sind es sogar 60 Prozent.

Im Bericht angehängte Bilder zeigen eine Fabrik in einem lausigen Zustand: Dächer voller Staub, der sich mit der Zeit verhärtet hat; Rohre, die nur improvisiert repariert wurde; und eine grosse Staubentwicklung innerhalb der Produktionshalle.

Ausgeführt wurde die Studie vom Chemiker und Professor für Umweltwissenschaften an der Universität von La Plata, Andrés Porta. Im Gespräch mit das Lamm erzählt der Wissenschaftler, dass die Fabrik teilweise seine Arbeit boykottiert habe. Bei angekündigten Besuchen seien mehrmals die Maschinen ausgestellt worden, was eine Momentaufnahme verunmöglichte.

Sein Bericht fordert vor allem eine Erhöhung der Schornsteine, sowie die Verbesserung mehrerer Produktionsprozesse, bei denen unnötig viel Staubentwicklung stattfindet. Gerne würde er mehr verlangen, doch das Problem sei, dass die argentinischen Normen weit unter dem liegen, was die WHO verlangt.

Zudem seien die Kontrollbehörden überlastet und ständigem politischen Druck ausgesetzt. „Studien wie diese sollten eigentlich durch die Umweltbehörden selbst ausgeführt werden, doch häufig fehlt das Personal dazu. Deswegen helfen wir als öffentliche Universität gerne aus“, erklärt Porta. Er findet, dass zu häufig politischer Druck von oben käme, um Mängel in Fabriken zu ignorieren.

Allgemein kritisiert Porta die Rolle von Firmen wie Sika in Argentinien: „Es ist furchtbar, dass Unternehmen aus Europa oder den USA sich hier installieren und nicht einmal die argentinischen Mindeststandards einhalten, obwohl in ihren Herkunftsländern deutlich mehr verlangt wird.“

Nach dem Erscheinen von Portas Bericht verhängte die Umweltbehörde ACUMAR eine kurzfristige Suspension der Produktion und verlangte Massnahmen, um die Staubemissionen zu mindern. Sika widersprach, gab selbst eine Studie in Auftrag und erreichte die Aufhebung der Suspension. Man führe nun “freiwillig” gewisse Verbesserungen durch, heisst es auf Anfrage.

Las Mercedes, ein gesundheitsgefährdender Ort

Das Lamm, El Diario AR und die Koalition für Konzernverantwortung kontaktierten für diese Recherche auch die argentinische Expertin für Lungenkrankheiten Vanina Martín.

Martin arbeitet am Institut Vacarezza, angegliedert an die Universität von Buenos Aires. Sie willigte ein, mehrere Anwohner*innen medizinisch zu untersuchen. Dafür fertigte sie Röntgen- und Tomografische Aufnahmen der Lungen an und untersuchte die Lungenkapazität der Anwohner*innen.

Kurz nachdem die Umweltbehörde ACUMAR von den Untersuchungen im Auftrag von das Lamm, El Diario AR und der Koalition für Konzernverantwortung erfuhr, beauftragte sie Martin mit weiteren Untersuchungen. Insgesamt wurden 48 Personen an die Ärztin weitergeleitet. Bei allen Personen, die von Martín untersucht wurden, konnte sie Symptome in den Lungen und weitere Beschwerden feststellen, die aufgrund des Staubes in der Luft entstehen.

Die Probleme, die Martín feststellte, reichten von Asthma über Lungen- bis zu Augenbeschwerden. Im Gespräch mit das Lamm zeigt sich Martin einerseits erleichtert, dass bei von ihr untersuchten Fällen keine Krebserkrankungen festgestellt werden konnten. Doch sie möchte die Symptome nicht kleinreden. „Unter ständigen Haut‑, Augen- oder Lungenbeschwerden zu leiden verschlechtert die Lebensqualität der Menschen enorm“.

Martin fügt an: „Die Luftbedingungen im Viertel müssen sich unbedingt ändern. Ich würde allen Menschen dazu raten, die Exposition gegenüber dem Staub möglichst gering zu halten.“

Auf Basis von Martíns Bericht verfügte ein nationales Gericht im Oktober 2023 die Suspendierung der staubemittierenden Aktivitäten der Fabrik, bis diese einen Plan vorlege, um die Staubemissionen zu reduzieren.

Bei einem Besuch vor Ort Ende Oktober zeigen sich die Bewohner*innen erfreut. Ihre Lebensqualität habe sich deutlich verbessert, versichert die Anwohnerin Susana Ardiles. Die Fenster ihres Hauses sind wieder offen, eine seichte Brise weht. Die Menschen sind überzeugt, dass die Fabrik die Produktion nicht wieder aufnehmen wird.

Doch bereits im November legte die Sika Rekurs gegen den Beschluss des Gerichtes ein und erreichte eine temporäre Aufhebung der Suspendierung. Laut Sika aufgrund „fehlender rechtlicher Grundlage“ – laut Gericht, „um während 90 Tage die Kontamination bei laufender Produktion zu messen“. Das Ping-Pong nicht endgültig greifender Massnahmen, Ankündigungen und Rekursen von Seiten der Fabrik läuft weiter.

 

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Smog in Paris

Die Dame versucht, am Metro-Eingang ihr Ticket zu entwerten – doch es funktioniert nicht. „Madame, heute ist die Metro gratis, Sie können einfach durch die Schleuse gehen“, sagt ein junger Franzose. Noch hat es sich nicht überall herumgesprochen: Seit drei Tagen ist der Nahverkehr in und um Paris umsonst. Das freut viele, auch die Touristen. Doch der Grund dafür ist weniger schön: Frankreichs Hauptstadt leidet unter Smog.

Die Pariser husten sich mal wieder durch ihre Stadt. Wie bereits genau vor einem Jahr hängt eine Smog-Wolke über der Metropole. Mehrere Tage hintereinander wurden die Feinstaub-Grenzwerte überschritten. Die Luftqualität ist an solchen Smog-Tagen in Paris zeitweise genauso schlecht wie in einem nicht gelüfteten Zimmer von 20 Quadratmetern, in dem acht Raucher gleichzeitig rauchen, stellten im vergangenen Jahr Forscher fest. Die ganze Region leidet immer wieder unter der miesen Luftqualität: 2013 sind in der Region Île-de-France die Feinstaub-Grenzwerte an 135 Tagen überschritten worden, die EU erlaubt nur 35.

Über den Dächern von Paris herrscht dicke Luft

Über den Dächern von Paris herrscht dicke Luft

Wie genau vor einem Jahr greift die Regierung zu drastischen Mitteln: Heute gilt ein Teil-Fahrverbot. Das heißt: In Paris und in 22 angrenzenden Vorstädten dürfen nur die Autos und Motorräder fahren, deren Kennzeichen mit einer ungeraden Zahl enden, alle anderen müssen stehen bleiben. In der ganzen Stadt kontrollieren 750 Polizisten, ob die Fahrer sich daran halten. 22 Euro kostet die Strafe für denjenigen, der trotzdem mit seinem Auto losdüst. Gleichzeitig wurde auf den meisten Straßen die Höchstgeschwindigkeit um 20 Stundenkilometer reduziert.

Vor einem Jahr zeigte das Fahrverbot Wirkung: Die Feinstaubbelastung nahm um sechs Prozent ab. Warum wartete die Regierung also jetzt tagelang? Wohl weil man vor den Départementswahlen am Sonntag die Wähler nicht verärgern wollte. Die Zeitung “Le Monde” fragte deswegen kritisch: „Wie viele Leben ist eine Wählerstimme wert?“

Die Behörden geben dem Wetter Mitschuld am Smog: ein Hochdruckgebiet über Frankreich, kein Wind und Regen, der den Dreck in der Luft wegpustet und fortspült. Doch die eigentlichen Verursacher sind andere: Die Schwerindustrie mit ihren Abgasen, das Düngen in der Landwirtschaft und vor allem die endlosen, stinkenden Blechlawinen in der Stadt. Täglich rollen auf dem 35 Kilometer langen „Périphérique“, der Pariser Stadtautobahn, 1,3 Millionen Fahrzeuge. Zwar haben die Pariser selbst oft gar kein Auto – nicht mal jeder zweite besitzt eines. Aber es  sind vor allem die vielen Pendler aus dem Umland mit ihren Dieselfahrzeugen, die den Smog verursachen: Dieselmotoren erzeugen besonders viele gefährliche Feinstaubpartikel.

Zwei von drei Autos in Frankreich fahren mit Dieselkraftstoff. Denn die französischen Regierungen förderten den Kraftstoff seit Jahrzehnten, indem sie ihn weniger besteuerten als normales Benzin. Viele französische Großstädte leiden nun dauerhaft wegen dieser Diesel-freundlichen Politik. Aber auch die vielen privaten Kamine der Region verpesten im Winter die Luft. So wird immer wieder heftig darüber gestritten, ob es im Großraum Paris verboten werden soll, in Wohnungskaminen ein gemütliches Feuerchen zu schüren.

Die sozialistische Bürgermeisterin Anne Hidalgo macht den Kampf gegen Luftverschmutzung zur Chefsache. Das Rathaus kündigt einen radikalen Umweltplan für die kommenden Jahre an. Denn die Feinstaubbelastung verkürze die durchschnittliche Lebenserwartung der Pariser um sechs bis neun Monate, heißt es. Laut Weltgesundheitsorganisation WHO sterben 42000 Menschen in Frankreich an den Folgen der Luftverschmutzung. Die Partikel verursachen Lungenkrebs und Atemwegskrankheiten.

Pariser, die ihr (vor 2001 angeschafftes) Dieselauto abschaffen wollen, werden unterstützt: mit Vergünstigungen für Abonnements für das Autoverleihsystem Autolib oder Fahrradverleihsystem Velib. Aber auch mit bis zu 400 Euro für den (Elektro-)Fahrradkauf oder einer Jahreskarte für die Metro. Auch Firmen bekommen Zuschüsse, wenn sie ihre Lieferwagen ausmustern und auf ein Elektrofahrzeug umsteigen. Schrittweise soll es für ältere Diesel-Laster und -Busse sowie auch für Pkw Fahrverbote geben – bereits ab Juli 2015, aber vor allem ab Juli 2016.

Anne Hidalgo will zudem mehr Fußgängerzonen. In den vier zentralen Arrondissements sollen neben Fahrrädern, Bussen, Radlern und Taxis nur die Anwohner, Lieferanten und Notärzte fahren dürfen: Das beträfe die Gegend von der Place de la Concorde über den Louvre vorbei an Notre-Dame und dem Rathaus bis zur Place de la Bastille und der Place de la République. Es soll Versuche geben, große Boulevards wie die Champs-Elysées oder die Rue Rivoli nur noch für besonders abgasarme Autos zu öffnen. Bis 2020 sollten die gesundheitsschädlichen Dieselautos sogar ganz aus der Stadt verbannt werden – und die Länge der Fahrradspuren verdoppelt werden.

Doch das ist Zukunftsmusik. Schon morgen dürfen erst einmal wieder alle Autofahrer fahren und die Metro kostet wieder Geld – denn es sind Wind und Regen angekündigt.

 

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