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Ist ein Arzt an Bord?

Das ist jetzt kein Scherz: Hat jemand da draußen irgendwo einen Arzt übrig? In meiner geschätzten Tageszeitung, dem Sydney Morning Herald, hat heute die westaustralische Ärztekammer Kopfgeld auf GPs (General Practitioners = Allgemeinmediziner) ausgesetzt. Das ganze geht so: Ich finde den Arzt, der Arzt arbeitet für mindestens 12 Monate in Westaustralien, und ich bekomme 3000 Dollar, könnte ich grade gut gebrauchen. Und WA ist eine wirklich klasse Gegend!

 

Natürlich bin ich bereit zu teilen, logisch. Denn wir sind hier unten im doktorlosen Kontinent auf jede Hilfe angewiesen, koste es was es wolle. Also, Tipps aus folgenden Ländern immer gern an mich, (faires 50-50 ist Eherensache): Gefragt sind Weißkittel aus Kanada, USA, South Africa, von den Neuseeländischen Inseln ;-), aus Singapur, den Niederlanden, Schweden, Norwegen, Dänemark, Belgien, Irland und dem UK. Warum deutsche Ärtze nicht oben auf der ‘Wanted’ Liste stehen, ist mir nicht ganz klar, die müssen evtl. noch extra Beweise ihres Könnens einbringen. Aber wer Mediziner aus genannten Regionen kennt: Get them over here! Aber lasst  es mich vorher wissen, danke. 

 

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Auf, in oder unter den Inseln

Alle Jubeljahre passiert mal was in meiner Region, das auch den Rest der Welt interessiert. Zumindest für eine Minute Live-Schaltung. In der knappen Zeit muss ein Hauch von Südsee, von Hula-Röcken und Stammestänzen ins kalte Europa herüber wehen. Da hilft es ungemein, wenn gute alte Eurozentristen in den Redaktionen geographische Verniedlichungen verwenden.

 Weil es wohl zu lange dauern würde, den Zuschauern zu erklären, dass es Staaten mit richtigen Ländernamen im Südpazifik gibt, spricht man bei deutschen Sendern am liebsten nur von „den Samoa-Inseln“. Das klingt so schön nach Pippi Langstrumpfs Takatuka. Dass es sich um zwei Staaten – American Samoa und Western Samoa – handelt, verwirrt nur unnötig. Vielleicht sollten Fernsehmoderatoren der Einfachheit halber in Zukunft auch nur noch von „den deutschen Ländern“ sprechen, wenn sie Österreich, Schweiz und die Bundesrepublik meinen? Klingt doch viel netter. Und es soll noch Winkel der Erde geben, wo man das ganze Germanenvolk eh nicht so richtig auseinanderhalten kann. Frag mal einen Österreicher. „I come from Austria.“- „What, Australia?“

 Verziehen sei den Kollegen, die die Korrespondentin aus Christchurch ankündigen und die Stadt wie Christkind aussprechen statt wie „kreist der Geier“. Geschenkt. All die Jahre Schulenglisch stören bei einer Fernsehkarriere wahrscheinlich nur, und die korrekte Aussprache von Arkansas und Edinburgh hat auch nicht jeder drauf. Was jedoch schmerzt: Unsere Frau im TV ist stets „auf Neuseeland“. Auf, jawohl, nicht in. Genauso wie auf Malle, auf Maloche, auf dem Klo. Neuseeland hat doppelt so viel Grundfläche wie England und besteht aus zwei Inseln. Aber in der deutschen Wahrnehmung ist es ein kleines Eiland, das irgendwie nach Helgoland klingt. Ist schon mal jemand auf Irland, auf Japan oder auf Island gewesen? Na also. Merke: Gegenden mit Staatsgrenzen, auch weit entfernte, verdienen ein „in“. Alles andere kränkt, hier bei uns auf den Neuseeland-Inseln.

 

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Angriff in Abu Dhabi

Ich arbeite ja am ‘gefährlichsten Ort der Welt’ (so Bill Clinton über Pakistan). Und man darf getrost Afghanistan einschießen wie der von US-Strategen erfundene Begriff ‘AfPak’ nahelegt. Da wird man natürlich oft gefragt, wie das so sei und ob man keine Angst habe. Hier kommt eine der Begebenheiten, mit denen ich in Zukunft Familie und Freunde davon überzeugen werde, dass es anderswo viel gefährlicher ist (Neben der indischen Verkehrsopfer Statistik: Allein in Neu-Delhi sterben taglich (!) im Durchschnitt sieben Menschen im Straßenverlehr – und trotzdem sind immer alle froh, wenn ich wieder aus Kabul oder Islamabad hierhin zurückkehre…).

Ich war letzte Woche auf Urlaub in den Vereinigten Arabischen Emiraten (bekannt für Strände, 7-Sterne-Hotels und Einkaufszentren in der Größe deutscher Kleinstädte). Als ich mich am Wochenende mit einem Freund in Abu Dhabi auf den Weg in einen Jazz-Club machte, wurden wir allen Ernstes auf einmal von einer Motorrad-Gang bedrängt. Ich hielt das zunächst für ein Privatrennen einiger Halbstarker im James-Dean-Stil. Dass es mehr war, merkte ich erst als mein Freung Hector aus Nicaragua, der in seiner Jugend bereits Somoza bekämpft hat, das Steuer blitzartig herum riß und auf einen Parkplatz neben der Staße fuhr. Als ich mich vom abrupten Aufprall gegen das Handschuhfach erholt hatte, merkte ich, dass nicht nur Hektor das Auto im Kreis um den Parkplatz jagte, sondern dass uns ein Auto Stoßstange an Stoßstange folgte und die gesamte Gang aus sieben Motorradfahrern mit ihm. Plötzlich schnitt uns einer der Ledermänner von vorn den Weg ab.

Das war nun nicht mehr witzig. Ich fürchtete schon, dass gleich jemand eine Waffe ziehen würde und wollte mich bereits wegducken, als der Motorradfahrer uns mit einer schnellen Handbewegung signalisierte, dass wir vom Tatort verschwinden sollten.

Ich weiss nicht, was danach mit dem Mann passierte, den die Gang verfolgt hat. Aber ich muss sagen, dass ich weder in Afghanistan noch in Pakistan jemals einen solchen Moment der Angst erlebt habe. Hector hatte die ganze Nach Alpträume. Ich hingegen habe gut geschlafen – ich war ja im Urlaub.

 

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Der Römer an sich telefoniert die ganze Zeit

Weil die Welt immer unübersichtlicher wird, ist es gut, ein paar Dinge zu wissen, die ganz sicher sind. Dazu gehört: Wasser ist nass, Pizza ist flach und am sichersten: Die Römer haben immer ein Telefon am Ohr.

Wissen Sie warum in Rom ausklappbare Handys viel beliebter sind, als in Deutschland? Vielleicht liegt es daran, dass sich der homo sapiens generell für’s Aufklappen begeistert -von Auster bis Pizzakarton – ganz sicher aber daran, dass man mit einem aufklappbaren Handy beim Motorino-Fahren telefonieren kann: Man setzt den Helm auf, wählt die
Nummer eines Freundes, stopft das ausgeklappte Handy zwischen Ohr und Helm – und fährt los. Mit einem normalen Handy können Sie das vergessen – das rutscht aus dem Helm.

Noch praktischer: Der „Squillo.Der „Squillo“, wörtlich übersetzt „das Klingeln“ ist der geniale Weg der Römer, sich der ragazza, mama und nonna mitzuteilen, ohne etwas zu bezahlen. Ein Beispiel: Sagen wir Lara, die zauberhafte Bedienung in meiner Espressobar, dem „Papagallo“, will Barmann Dino mitteilen, dass sie sich verspätet: „Dino, ich komme in einer Viertelstunde, Entschuldigung, Lara“, schreibt sie in einer SMS. Dino will kein Geld für einen „Kein-Problem-Ciao!“ Anruf ausgeben. Deshalb greift er zum Handy, wählt Laras Nummer, es klingelt – und dann legt Dino auf. Lara sieht das und weiß: „Kein Problem.“ Dieses Klingeln, das eine Botschaft in sich trägt die nur der Empfänger interpretieren kann, das ist der „Squillo“.

Die Römer haben das perfektioniert und machen „Squilli“ den ganzen Tag. Vor allem Verliebte lassen es mehrmals täglich beim anderen „anklingeln“. Mancher Geizhals hat die Technik mit den Squilli derart perfektioniert, dass er gar nicht mehr zu telefonieren- Geld ausgeben – braucht. Klingelt es bei mir einmal, ist es ganz bestimmt mein Freund Davide. Das heißt dann: „Ruf Du mich an. Ich will sparen.“

 

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Die scheinheiligen 3 Cent-Tüten

In Frankreich erwacht mehr und mehr das Umweltbewusstsein und das ist gut so. Doch zwischen den Absichtserklärungen und dem tatsächlichen Handeln der Mitbürger liegt ein weites Feld. Noch immer schmeißen Franzosen und Pariser ihren Müll auf der Straße lieber neben den Mülleimer, als in den Mülleimer hinein. Noch immer brennen im Haus und Wohnung alle Lichter. Denn der Atomstrom kostet wenig. Und noch immer gehen alle einkaufen ohne Jute-Tasche oder Einkaufskorb. Die dünnen Plastiktüten in den Supermärkten gingen jahrzehntelang weg wie warme Semmeln und landeten alsbald im Hausmüll. Nun aber haben die Supernmärkte aus Imagegründen einen Schlussstrich unter diese Umweltsünde gezogen und bieten nur noch Kauftüten an.

Die sind qualitativ wenig hochwertiger als die dünnen Gratis-Tüten, die es vorher gab, und dürfen deswegen dann eben auch nicht so viel kosten. Ganze 3 Cent muss man für die “grünen” (welche Frabe auch sonst), wiederverwertbaren Einkaufstüten hinblättern. Das kann sich jeder leisten, sogar der Chlochard, der sich seinen Rotwein für den Nachmittag kauft.

Bloß er, wie auch die Kunden stellen leider schnell fest, dass sie nicht weit kommen mit den Tüten. Spätestens nach 10 min. Fußweg hängen die Tüten durch, hat man zuhause den Einkauf ausgepackt, kann man die 3-Cent-Tüte auch direkt in den Müll schmeißen, denn sie hat Löcher. Die Frage stellt sich also: Zu was sind die gut? Oder sehen die Supermärkte in ihnen nur eine zusätzliche Einnahmequelle? Mit Umweltdenken hat diese Aktion auf alle Fälle gar nichts zu tun. 

Fotos: Markert

 

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Selbst Mr. President kann es nicht

Gut, dass er in Japan war, der amerikanische Präsident. Mir geht’s seither besser. Der angeblich mächtigste Mann der Welt kann’s nämlich auch nicht besser als ich. Was denn? Na, das Verbeugen. Was den Europäern ein kräftiger Händedruck  ist und in den ehemals sozialistischen Ländern der Bruderkuss war, ist hier in Japan das Verbeugen. Aber so einfach machen es einem die Hiesigen nicht. So viele Regeln gibt es, wann, wie oft und wie tief man sein Haupt oder den ganzen Oberkörper zu neigen hat, dass es ein Ausländer kaum kapieren kann. Ich jedenfalls weiß nie, ob ich nun stocksteif stehen bleiben oder doch höflich lächelnd meinen Oberkörper beugen soll.

Auch Barack Obama hat’s nicht kapiert. Der war nämlich am vergangenen Samstag eingeladen zum feierlichen Dinner mit Kaiser Akihito und dessen Gemahlin Michiko. Und was passiert? Während der Kaiser dem Staatsgast aus Amerika in westlicher Manier die Hand reicht, verneigt sich Obama brav und nahezu im 90-Grad-Winkel.  

In den USA war das ein gefundenes Fressen für seine Kritiker. Ein Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika habe sich vor nichts und niemandem zu verbeugen, geiferten bissige Kommentatoren. In Japan hingegen wurde Obama gelobt. Nobuko Akashi, Chef der “Japan Manners and Protocol Association” (die gibt’s wirklich!), meinte in der Tageszeitung Asahi Shimbun: “Indem er sich so tief vor unserem Kaiser verbeugt hat, zeigte er Respekt.”

Allerdings, ein wenig was haben auch die Japaner zu mäkeln. Denn eigentlich verbietet es die Etikette sich gleichzeitig zu verneigen und die Hand des Gegenüber zu schütteln. Genau das aber ist dem US-Präsidenten passiert. Wie gesagt, Obama kann’s eben auch nicht besser als ich. Bloß ernte ich keine hämischen Zeitungskommentare, auch ein entlarvendes Fotodokument meines tappsigen Benehmens geistert nicht durchs Internet. Das macht mein Leben hier gleich viel entspannter.

Thank you, Mr. President, you made my day!  

 

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Obama für alle

 

Jetzt ist er also wieder weg. Barack Obama. Zweieinhalb Tage China, jetzt ab nach Südkorea. „Was, hast du ihn wirklich gesehen`?“ Ungläubig schaute mich heute Vormittag einer der jungen Klamottenhändler auf dem Fake-Markt an.  „Ehrlich?“ Die Chinesen mögen den US-Präsidenten. So lässig ist hier nämlich kein Politiker. Nie.

Auf dem Markt wollte ich eigentlich nur schnell ein „Oba Mao“-T-shirt kaufen. Eines, das  Obama mit chinesischer Armeemütze zeigt. Und den Mao-Worten: “Dem Volke Dienen”.

Aber die Händler sind offenbar angewiesen worden, die despektierlichen Bekleidungsstücke nicht mehr anzubieten. Zumindest nicht jetzt. Also muß ich noch ein paar Tage warten. Dann ist Obama in weiter Ferne und die T-shirts sicher wieder in den Shops.

Ich zeige dem Händler das Foto, das ich gestern mit der Handy-Kamera gemacht habe. Obama bei der Pressekonferenz in der Großen Halle des Volkes. Hunderte von Journalisten. Irgendwo ganz weit weg der Präsident. Aber, ich habe ihn gesehen. In echt. Das zählt. „Toll!“, sagt der Händler.

In China, wo Politikern jegliches Charisma abgeht, hätte man auch gerne mehr Obama. Er ist cool. Und natürlich „shuai ge“, gutaussehend.

Doch ausser bei der steifen Pressekonferenz  gab es nur wenig echten Obama zu sehen. Und eine PK war es ja eigentlich gar nicht. Mehrfach waren wir vorher  ermahnt worden, auch ja keine Fragen zu stellen. Hu Jintao stand ja auch auf der Bühne und starrte ausdruckslos ins Publikum. Er mag sichtlich keine Fragen.

 

Den „echten“, lockeren Obama bekamen die meisten Chinesen erst gar  nicht zu sehen. Sein „town hall meeting“ mit Studenten in Schanghai wurde auf den landesweiten Fernsehsendern nicht gezeigt. Xinhua wollte erst live online übertragen und tat es dann doch nicht. Welcher Chinese wusste schon, dass man sich das Ganze auf der Website des Weißen Hauses hätte ansehen können? Und überhaupt, die Hälfte der handverlesenen Studenten waren Mitglieder der Kommunistischen Jugendliga, schreibt die New York Times. Vier Tage lang seien die Studenten auf die Begegnung mit Obama eingeschworen worden. Keine Fragen zu Tibet oder den Menschenrechten, hieß die Vorgabe. Und bitte, schön höflich bleiben. Genauso langweilig waren dann auch die meisten Fragen. „Town hall meetings“ oder Bürgerversammlungen sind anders. Lauter und unordentlicher.

Aber dennoch. Obama was here. Jetzt bleiben uns nur wieder die blutleeren Topkader der KP. Schade eigentlich.

 

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Ein Mann, ein Feiertag

Dieser Tage mit Václav Havel zu sprechen, käme einem Lotto-Volltreffer gleich. Heute ist in Tschechien Nationalfeiertag, „Tag des Kampfes für Freiheit und Demokratie“ heißt er und ist die tschechische Form der Erinnerung an den Fall des Kommunismus.

Eigentlich aber ist der Name etwas irreführend: Václav-Havel-Tag könnte er genauso heißen, denn in Tschechien verteilen sich die Verdienste um die historischen Sternstunden des Jahres 1989 nicht auf mehrere Schultern wie in Deutschland; hier ist Havel und nur Havel das Gesicht der Wende.

Der einstige Dissident und spätere Präsident, inzwischen 73 Jahre alt und gesundheitlich angeschlagen, ist rund um den Gedenktag allgegenwärtig. Die Zeitungen widmen ihm Sonderseiten, das Fernsehen zeigt Dokumentationen und vielen Tschechen stehen die Tränen in den Augen, wenn sie die berühmten Worte Havels hören, die es vor 20 Jahren zum Motto des Aufbruchs gebracht haben: „Wahrheit und Liebe müssen siegen über Lüge und Hass“.

Schon seit Monaten türmen sich im Büro von Václav Havel die Interviewanfragen aus aller Welt. Selbst aus Asien und Südamerika haben Journalisten ihr Begehr angemeldet. Havel entsprach keinem einzigen – und lud stattdessen alle Fragesteller gebündelt zu einer großen Pressekonferenz ein. Dazu hat er ein ganzes Theater gemietet; natürlich das, in dem er als Dramatiker mit seinen frühen Werken den Durchbruch geschafft hat. So groß war der Ansturm, dass die Plätze nicht ausreichten.

Ihren Höhepunkt erreichte die Havel-Show aber schon kurz vor dem eigentlichen Feiertag: Da lud er zu einem Konzert ein, das zu einer großen Feier von Havel und seinen Freunden wurde: Lou Reed war da, Suzanne Vega, Joan Baez und Opernsängerin Renée Fleming. Und alle huldigten Václav Havel: „Der Beweis, dass friedliche Revolutionen existieren“, sagte Joan Baez und zeigte auf Havel, „sitzt hier vor uns.“

 

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Capital of Cool

Neulich ist es schon wieder passiert. Ich saß in dem frisch renovierten Büro eines Chefredakteurs einer Berliner Zeitung und musste diesen mitleidigen Blick über mich ergehen lassen. Wie ich es ertrüge, statt in New York nun in Berlin zu leben, wollte er wissen. Diese Frage ist mir in den vergangenen Wochen gefühlte 500mal gestellt worden – und immer noch macht sie mich so fassungslos wie beim ersten Mal. Sie basiert auf so vielen falschen Annahmen, dass sie sich kaum beim Small talk beantworten lässt. Also brummle ich meistens etwas Belangloses und verabschiede mich mit dem festen Vorsatz, mir eine deftige Strafe auszudenken für den nächsten, der dasselbe wissen will.

Ein Arbeitsweg, der nur mit den G-Train zu bewältigen ist, wäre etwa ein schöner Anfang. Der G-Train verbindet Brooklyn mit Brooklyn und gehört garantiert zu den meist gehassten U-Bahnverbindung der Stadt, weil sie entweder super langsam ist oder gar nicht fährt. Noch schöner allerdings wäre es, die Fragesteller in den drei Wohnungen hausen zu lassen, für die ich in den vergangenen sieben Jahren knapp 140.000 Dollar Miete gezahlt habe. Am liebsten im Winter.

Da wäre dann zum Beispiel das WG-Zimmer, dessen Fenster ich mit Folie bekleben musste, um von November bis März die Innentemperatur auf einem erträglichen Maß zu halten. Beim Renovieren unseres zweiten Schlafzimmers beschwerten wir die Malerfolie notgedrungen mit Gewichten, weil der kalte Wind aus den Ritzen im Fußboden sie davon wehen wollte. In der dritten Wohnung konnte man im Winter seinen eigenen Atem sehen und wurde nachts davon wach, dass das Kondenswasser einem von der Decke direkt auf die Stirn tropfte.

Lehrreich wäre auch ein Gang zum Department of Motor Vehicles, von dem man nach zwei Stunden des Wartens mit der Erkenntnis nach Hause geschickt wird, dass man noch ein weiteres Papier und noch einen anderen Stempel braucht. Ohne wenigstens drei Anläufe ist es mir nie gelungen, beim DMV etwas zu erledigen. Gerne erinnere ich mich auch an meinen Versuch, die Brooklyn Bridge zu fotografieren, der mit einer halbstündigen Vernehmung durch das FBI endete. Die Akte, die dort inzwischen über mich existiert, würde ich gerne mal sehen. Wem also die Stasi fehlt, der sollte sich eine Weile in New York versuchen.

Die größte Strafe für Berliner wäre aber wahrscheinlich, wenn sie einem New Yorker erklären müssten, was ihre eigene Stadt eigentlich so liebenswert macht, dass sie in Amerika stets mit Verklärung in der Stimme von ihr sprechen. Und dabei sollen sie ohne den Artikel auskommen, in dem das „Time Magazine“ gerade die deutsche Hauptstadt als „Europe´s Capital of Cool“ anpreist.

Anyway, all das ging mir durch den Kopf, als ich in dem Zimmer des Chefredakteurs saß, das so weitläufig war, dass es in New York als Luxus-Studio durchgegangen wäre. Mit Zentralheizung, Isolierglasfenstern und einer mehr oder minder großzügigen Aussicht noch dazu. Natürlich.

 

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Pferde empfinden auch Schmerz

Die Tel Aviver Kinder lieben ihn: Den Trödler und sein Pferd. Andächtig bleiben sie stehen, wenn das klapprige, mit ausgemusterten Kühlschränken und den Eingeweiden ausrangierter Fernseher beladene Gespann durch die morgendlichen Straßen der Stadt klappert. „Alti Sachien!“, ruft der Araber aus Jaffa in sein Megaphon. Breitbeinig und stoisch geradeaus blickend sitzt er auf dem Kutschbock seines baufälligen Holzkarren. Jeden Tag aufs Neue durchkämmt er mit seinem matten Gaul die ruhigeren Nebenstraßen der Tel Aviver Innenstadt. Die Schrott-Sammler mit ihren Pferdewagen gehören schon seit Ende der 1920er Jahre zum Tel Aviver Stadtbild. „Alte Sachen, alte Schich“, riefen sie damals.

Eine Tierschützerbewegung wollte diesem Zauber nun ein Ende machen. Zehn Jahre lang hat die Organisation „Hakol Chai“, zu deutsch „Alles lebt“, dafür gekämpft, die Pferdekarren in Tel Aviv und im Rest des Landes zu verbieten. Sie haben demonstriert, mit Sitzblockaden den Zugang zum Rathaus versperrt und Flyer mit Fotos von gequälten und halb verhungerten Pferden verteilt. Vor ein paar Tagen dann hat der Bürgermeister von Tel Aviv, Ron Huldai, dem Druck der Tierschützer nachgegeben. Pferdewagen sind jetzt in Tel Avivs Straßen verboten.

Eine erstaunliche Entscheidung. Immerhin verfolgt die Knesset einen entgegen gesetzten Kurs. In einer Aussprache Ende Oktober haben die israelischen Volksvertreter erst befunden, Tiere hätten keine Rechte. Schließlich definiere sie das israelische Recht nicht als „Rechtspersonen mit Rechtsanspruch“.

„Pferde empfinden auch Schmerz“ überschrieb daraufhin ein empörter Redakteur der Tageszeitung „Haaretz“ seinen Kommentar zum Thema: „Nur zur Information der Regierung: Tiere haben Gefühle. Sie sind glücklich und traurig, genau wie Menschen“, fauchte Amiram Cohen.

Da sehen wir’s mal wieder: Tel Aviv ist dem Rest des Landes eben immer eine Nasenlänge voraus. Zumindest auf dem Papier.

Heute morgen erst, als ich beim Espresso saß, drang der vertraute Ruf „Alti Sachien“ an mein Ohr. Unterlegt vom Geklapper der Pferdehufe.

 

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Gewaltenteilung auf Libanesisch

Der libanesische Innenminister Ziad Barroud ist ein Mann der Praxis. Das mögen die Menschen an ihm. Er schwafelt nicht nur über hehre Ziele wie „Nationale Einheit“, „Sicherheit“ oder „Recht und Ordnung“, er setzt sie in die Tat um. Im Kleinen, aber mit Signalwirkung. So hat der Minister, Ex-Vorkämpfer der libanesischen Bürgerrechtsbewegung, parteilos aber eher dem pro-westlichen Lager zuzuordnen, unmittelbar nach der Bildung einer Regierung der nationalen Einheit in der vergangenen Woche eine zukunftsweisende Vereinbarung mit der Hisbollah geschlossen: Erstmalig seit dem Bürgerkrieg ist die libanesische Polizei in großer Zahl wieder in der überwiegend von Schiiten bewohnten Dahiyeh präsent.

Die Dahiyeh, das sind südlichen Vororte von Beirut. Früher einmal überwiegend von der christlichen Mittelschicht bewohnt, haben sich hier während des Bürgerkrieges 1975 – 1990 immer mehr Schiiten aus dem Süden des Landes angesiedelt. Die Hisbollah fasste ebenfalls Fuß und errichtete hier ihr politisches Hauptquartier. Weil der libanesische Staat jahrelang durch Abwesenheit glänzte, übernahm die Schiitenpartei infrastrukturelle Versorgungsfunktionen aber auch die Sicherheitskontrolle. Drum ist die Dahiyeh eine Welt für sich: Die Hisbollah-Polizei regelt den Verkehr, Hisbollah-Sicherheitsleute sorgen für Ordnung auf den Straßen und kümmern sich unmittelbar um Auffälligkeiten vor allem ausländischer Besucher.

So ist es erst kürzlich wieder zwei ahnungslosen deutschen Touristinnen passiert. Sie hatten sich regelrecht in die Dahiyeh verirrt, wussten nicht, wo sie waren, fanden die Umgebung aber reizvoll und so ganz anders als das Zentrum Beiruts, und packten ihre Kamera aus. Kaum hatten sie ein paar Schnappschüsse gemacht und den Fotoapparat wieder in ihrer Tasche verschwinden lassen, standen schon ein paar junge Männer vor ihnen. Die Personalien bitte. Und dann wollten sie wissen, warum um alles in der Welt die Damen hier Fotos gemacht hätten. Wo doch jedes Kind im Libanon weiß, dass die Dahiyeh Sperrgebiet für jede Art von Kamera oder Tonaufzeichnungsgerät ist. Es sei denn, man hat eine Ausnahmegenehmigung der Partei Gottes. Es entspann sich eine längere Befragung der jungen Frauen, nachdem die Hisbollahis sie zunächst zuvorkommend gebeten hatten, auf Plastikstühlen auf dem Gehweg Platz zu nehmen. Auch für das leibliche Wohl wurde gesorgt, man reichte Tee und Wasser, fehlten nur noch die Kekse.

Die Hisbollah-Sicherheitsleute erklärten den beiden Ahnungslosen, warum dies so sensibles Gebiet sei: Weil die Partei, deren Führer auf der Abschuss-Liste der Israelis stehen, Sorge vor israelischen Spionen habe, die kämen, um potentielle Ziele zu demarkieren. Das geht übrigens nicht nur auf Paranoia und Kontrollsucht zurück, denn tatsächlich wurden in den vergangenen Monaten im Libanon mehrere Dutzend israelische Spione enttarnt und vor Gericht gestellt. Die deutschen Spaziergängerinnen waren geschockt: „Um Gottes Willen, wir sind doch keine Spione!“  Bleich saßen sie auf den weißen Stühlen. Doch statt der befürchteten Verschleppung in dunkle Verliese erhielten sie ihre Kamera zurück sowie noch ein paar freundliche Tipps für den Heimweg und damit war der Fall erledigt. Kein Einzelfall übrigens.

Für Deutsche mag das schockierend sein, für Libanesen ist die Geschichte wenig überraschend. Wie so etwas in Zukunft ablaufen wird, bleibt abzuwarten. Ob dann vielleicht Hisbollah-Schutzleute gemeinsam mit der regulären Polizei operieren? Oder ob die Staatsordnungshüter nur den Verkehr regeln dürfen, während die Hisbollahis die Hoheitsaufgaben in ihrer Dahiyeh lieber weiter selbst in die Hand nehmen? Es wird spannend sein zu beobachten, wie diese ‚Gewaltenteilung’ in der Praxis aussehen wird. Aber eines steht fest: Innenminister Baroud, der Mann der leisen aber entschiedenen Töne, hat es wieder einmal geschafft, dort Pflöcke einzurammen, wo andere nur lautstark Slogans durch die Gegend posaunen von der Notwendigkeit, die Souveränität des libanesischen Staates auf das gesamte Staatsgebiet auszudehnen.   

 

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Ich will nicht deine Facebook-Freundin sein

“Nein, danke, ich will nicht deine Gesichtsbuchfreundin sein.” Bislang hat das einigermaßen geklappt. Okay, zwischen 6 Millionen australischen Nutzern dieser “sozialen Plattform” vereinsame ich natürlich langsam. Facebook-Feind zu sein, ist hier derzeit etwa so sozial kompatibel wie wenn man zu schimmligem Kürbiseintopf einlädt. Ebenso gut könnte ich sagen: Bugger off, ich will nie wieder in Gesellschaft Kaffee trinken, Geburtstag feiern, ins Kino, auf Parties, Politik diskutieren…

Da mir diese www-Seite aber aus etwa 20 bis 30 Gründen (die u.a. mit Privatsphäre zu tun haben und mit denen ich jetzt niemanden langweilen will) total suspekt ist, bleibe ich standhaft. Und freu mich insgeheim an den Vorteilen meiner gesichtslosen Existenz:  Mensch ohne ‘Profil’ zu sein, arm an twinkels und events, hat nämlich viele schöne Seiten: Ich muss weder die Fotos meiner Nachbarin beim Poledancing kommentieren, bleibe vor Unmengen von Blablabla verschont, und gestern habe ich die Einladung zum vierten “Baby-Shower” in diesem Jahr verpasst.

Noch kenne ich auch eine handvoll Leute, die Emails schreiben. Manche greifen sogar, wie in grauer Vorzeit, zum Telefonhörer wenn sie wissen / erzählen wollen wie’s so geht (statt zu signalisieren, man könne ja die “Facebook-Pinnwand” besuchen). Wie gesagt, mein Exil ist gut erträglich. Anders lautenden Warnungen zum Trotz habe ich auch nach wie vor Jobs. Neulich machte mir sogar ein NY Times Artikel Hoffnung, der unkte: der penetranten Seite gehen allmählich die Fans aus. Wow.

Allerdings geht meine plumpe Strategie (“Ich will da nicht rein”) nicht auf. Selbst als profillose und stadtbekannte FB-Hasserin spaziere ich durch das “soziale Netzwerk”, als sei ich Fan Nr 1: Party-Schnappschüsse, von denen ich nicht mal gemerkt habe, das sie gemacht wurden, Bilder beim Lifesaven am Strand, vom Pool, von Vorträgen, bei denen ich mich für die einzige mit Kamera gehalten hatte – ich bin bildreich präsent.

“Habe dich grade auf Facebook gesehen…”  ist Albtraumsatz meiner Montagnachmittage. Dann ruft mich Freundin Ch. an und berichtet die Ergebnisse ihrer büroalltäglichen, zweistündigen FB-Lektüre.

Die Krux ist: als nicht FB-Nutzer, kann man solche peinlichen Fotos weder löschen noch um deren Löschung bitten (sign on to be Andi’s Facebook friend first…) Wahrscheinlich werde ich mir bei Gelegenheit ein ‘Profil’ zulegen… nur um mich dann anderswo löschen zu können.

 

 

 

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Wer zum Teufel ist Noripi?

Kann mir jemand sagen was 0.008 Gramm auf der Hand sind, unter dem Fingernagel oder sonst wo? Ich meine, wie sieht das aus, Mehl, Staubzucker, Tabak,Vitamine? Am Montag stand Noripi vor Gericht. Kerker, 18 Monate für 0.008 Gramm, “stimulierende Substanz”, aber was genau? 3000 Neugierige balgen sich um 21 Lotterie-Tickets für Plätze im Gerichtsaal. Erniedrigung, Reue, mitunter Nachlass – das alte japanische Spiel auf dem Weg zur Läuterung.  In einem Land, wo Galgen-Bodentüren genauso schnell fallen wie im Irak (mit einem Unterschied: japanische Angehörige erfahren von der geheimen Hinrichtung erst Monate später), in so einem Land verwundert ein Drama um 0.008 Gramm nicht. Begonnen hatte alles am 2. August. Die Polizei stoppt Ehemann Yuichi Takaso, findet “eine stimulierende Substanz”. Telefoniert dann mit seiner Frau. „Kommen Sie!“ Sie kommt sofort. Entschuldigt sich für das Verhalten ihres Mannes. Danach ist sie bis zum 8. August verschwunden. Sie habe die Zeit genutzt, um “stimulierende Substanzen” in der Wohnung zu entsorgen (ausser diese 0.008 Gramm). Das sei niederträchtig, gemein, verbrecherisch. Richter Hiroaki Murayama (übersetzt „Dorfberg“) lässt die Japaner wissen: Noriko Sakai (bürgerlicher Name) habe seit vier Jahren genau einmal pro Monat eine “stimulierende Substanz” zu sich genommen. Yuichi habe sie dazu animiert. Von der eigenen Sucht sei sie auch ein paar Mal getrieben worden. Ein Mal pro Monat. Woher die Information? Geständnis? Freiwillig? (Europäische Botschaftsangehörige wissen um die mittelalterlichen Zustände in den japanischen Gefängnissen, unterliegen aber der Schweigepflicht).

Der Richter schimpft. Stoesst kaum auf Widerstand, und wenn, dann ist das Auflehnen wattiert, verfloskelt, vage.  Kommen auf 10,000 Deutsche 15 Rechtsanwälte, sind es in Japan nicht einmal 2 (genau 1.8). Bei denen gilt die Faustregel: Besser sich als Unschuldiger schuldig bekennnen, als  sich unschuldig verteidigen. Die Polizei irrt nie. Die Verurteilungsrate nach Verhaftung ist 99 Prozent Komma nochwas.

Und dann schwenkt Richter Murayama plötzlich ein. Er wird Gnade walten lassen. Noriko Sakai habe ihn überzeugt, ihre Reue, ihr Wille zur Besserung, dass sie dem Show-Business für immer den Rücken kehren wird, den Krankenpflegeberuf erlenen will,  und vor allem, ihre Scheidung vom Nichtsnutz-Verbrecher-Ehemann, demnächst, irgendwann, wie versprochen. Noriko Sakai – Noripi — hat in ihrem Leben hunderte Millionen CDs verkauft. „18 Monate auf Bewährung!“ verkündet Richter Murayama und geniesst seine letzten Sekunden vor dem Star: „Ich will meine Worte aus Ihrem Mund hören, langsam und deutlich!“ Der Saal ist still. Noripi verbeugt sich tief, sehr tief und haucht: „18 — Monate — auf —  Bewährung.“

 

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Der tägliche Wahnsinn

Die Lektüre türkischer Zeitungen ist eine Wissenschaft für sich. Nicht nur äußerlich unterscheiden sich die bunt und boulevardesk aufgemachten Blätter von westlichen Zeitungen, auch journalistisch muss man sie zu nehmen wissen. Nachrichten, Neuigkeiten und Exklusives stehen nicht unbedingt auf der Seite Eins mit ihren Balkenüberschriften. Sie sind vielmehr übers Blatt verteilt in den Kolumnen der sogenannten „Eckenschreiber“ (köse yazarlari) zu finden – das sind hochbezahlte Kolumnisten mit guten Kontakten in Ankara, treuen Lesergemeinden und gewaltigem politischen Einfluss. Jeder Kolumnist hat seinen speziellen Draht. Ins Außenministerium etwa ist Murat Yetkin von der Zeitung „Radikal“ bestens verdrahtet; wer aus der Westentasche von Oppositionführer Deniz Baykal informiert werden will, greift zur Kolumne von Fikret Bila in „Milliyet“, usw. Und während Zeitungen im Westen meist eine einheitliche politische Ausrichtung haben, findet sich innerhalb einer türkischen Zeitung ein ganzer Regenbogen von Kolumnisten, von rechtsnational bis liberal, die im selben Blatt oft entgegengesetzte Meinungen zum selben Thema vertreten.

Auch die Einteilung der Zeitung ist gewöhnungsbedürftig. Bei „Hürriyet“ etwa kommt nach der Seite Eins erst einmal eine Seite mit Klatsch aus der türkischen Promi-Szene. Zwei bis drei Seiten Mord und Totschlag folgen, dann kommen die Wirtschaftsseiten. Darauf folgen mehrere Seiten große und kleine Anzeigen, in denen manchmal auch die Seite mit den Auslandsberichten versteckt ist. Erst nach den Anzeigen kommt die Politik, gefolgt vom Sport und einer letzten vermischten Seite.

Als Korrespondentin muss ich natürlich vor allem die Kolumnisten studieren, um aus ihren oft recht ausschweifenden Betrachtungen die News herauszufiltern. Fasziniert bin ich aber immer von den zweiten und dritten Seiten, die Leben und Tod in der türkischen Gesellschaft so viel plastischer abbilden als die Politik. Allein am heutigen Tage vermelden die türkischen Zeitungen auf diesen Seiten folgende Geschichten:

Polizeitaucher suchen in See bei Hakkari nach vermisster Braut. Die 19jährige war am Vorabend einer Zwangsheirat aus ihrem Elternhaus geflohen, von ihrer Familie in Yüksekova aufgespürt und heimgeholt und seither nicht mehr gesehen worden. Ermittler gehen von einem Ehrenmord aus.
Junger Mann in Adana ermordet seine Freundin, weil sie schwanger war
Zwei Tote und zwei Verletzte bei Streit um Tänzerin in einem Nachtclub in Usak. Der Streit wurde mit Schnellfeuergewehren ausgetragen
Drei Männer wegen Entführung und Vergewaltigung einer 14jährigen in Ankara festgenommen. Die Entführer hatten an der Haustür der Familie geklingelt, sich als Polizisten ausgegeben und das Mädchen aufgefordert, „zur Wache mitzukommen“.
Ehemaliger Bürgermeister von Bursa an seinen Schussverletzungen gestorben, nachdem er letzte Woche von seinem Geschäftspartner niedergeschossen worden war
Vierfache Mutter in Zonguldak geköpft, Ehemann bestreitet Tat
Mann in Izmir erschießt seine Ehefrau und sich selbst, weil sie sich scheiden lassen wollte. Die beiden Kinder hatte er vorher zum Nachbarn geschickt
In Erzurum zu Tode gefolterter 13jähriger wurde vermutlich von seinem Cousin getötet
Arzt in seiner Praxis in Gaziantep von Unbekannten erschossen, sieben Kugeln im Kopf
Anwältin in ihrem Haus in Bodrum vom Klempner erstochen
Brutaler Raubüberfall auf 70jährigem in seinem Haus in Izmir: Seine Pflegerin holte die Täter ins Haus
Leiche in Izmir als seit fünf Jahren vermisster Geschäftsmann identifiziert
Gemeinsamer Selbstmordversuch von vier 13jährigen Mädchen in Kütahya
Schwer verbrannte Schülerin kämpft um ihr Leben. Die 17jährige war am Sonntag von einem Molotow-Cocktail getroffen worden, den Unbekannte in einen Linienbus in Istanbul warfen

So geht das hier jeden Tag. In der Berichterstattung bringe ich kein Promille davon unter.

 

 

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Pop vor der Haustür

Von meinem Bürofenster aus schaue ich auf ein klobiges, legendäres Lehrstück in Popkultur, die Brixton Academy. Woche für Woche pilgern hier ganz unterschiedliche Fans die Straße entlang,um sich für einen Moment in einem Revival des Revivals unkaputtbarer Bands zu verlieren und ewige Hits mitzugrölen, von den Pixies, Blur, Massive Attack. Jeder von ihnen glaubt, er stecke in seiner ganz eigenen, individuellen Maskerade, dabei sehen am Ende doch wieder nur alle aus wie eine Kopie des charismatisch verlebten Sängers. Die Iron-Maiden-Fans kramen ihre speckigen Lieblingskutten hervor und färben sich die ergrauten Matten. Die Morrisey-Jünger richten ihre dünner werdenden Tollen auf und zwängen sich in ihre Kopf-bis-Fuß-Denim-Tracht. Ein gut sortierter Supermarket of style direkt vor meinem Fenster!

In Deutschland belächelt man diese Fans, die einfach nicht loslassen können. Definitiv hängen geblieben. In England dagegen gibt es Respekt, diese Leute seien sich immerhin treu geblieben! Briten sind gern treu, wenn es um Tradition geht. Sie bleiben bei ihrem Stil, ob Fred-Perry-Poloshirt oder Tweed-Jackett, sie lieben ihre Band und ihren Fußballverein. Sie schlüpfen nach der Arbeit in andere Identitäten, wollen aussehen wie Rod Stewart, zwängen sich in Offiziersuniformen aus dem Zweiten Weltkrieg und spielen Szenarien minutiös nach, als seien sie damals selbst dabei gewesen. Reenactement wird dieses seltsam verklärte Hobby genannt, die Sehnsucht der ewigen Wiederholung
und Wiederbelebung.

Wie hervorragend sich diese Wiederholungssehnsucht vor allem in der britischen Popindustrie vermarkten lässt, sehe ich Woche für Woche vor meinemFenster: In der Brixton Academy findet das zehnte Comebackstatt, und die Fans kommen in ihren zu eng gewordenen Sex-Pistols-Kostümen und zahlen für anderthalb Stunden eine Menge Geld.
Popkultur ist die coole Tante, die man nie so recht durchschaut. Jede Saison gelingt es ihr, das Neuste vom Neuen aus der Subkultur ans Licht zu zerren, gestern Grime, heute UK Funky, und die Briten gleichzeitig dazu zu bringen,sie wie ein nationales Kulturerbe zu vergöttern. Schließlich ist Pop tatsächlich eines der wenigen Dinge, die Großbritannien perfekt beherrscht. Als Band zu altern ist wahrscheinlich nirgendwo schöner als hier, wo Anhänger ihre Helden mental und finanziell bis in die Rente auf den Händen tragen. Als bekannt wurde, dass es ein neues Beatles-Album geben werde, befand sich das Land wochenlang am Rande des Nervenzusammenbruchs. Ein bisschen erinnert diese Unterwürfigkeit an das Verhältnis zur Queen. Auch sie ist für die Briten ein kostspieliges Hobby, das sie Jahr für Jahr finanzieren. Dafür bekommensie die legendäre zugeknöpfte
Etikettenexzentrik, von der ihre Königin seit Regierungsantritt nicht einen Millimeterabgewichenist. Das nennt man Tradition. Zufriedenes Grölen der immer gleichen Blur-Hits vor meinem Bürofenster aber eben auch.

 

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Die Mauer wird wieder aufgebaut – in Los Angeles

 

Erst war ich etwas sauer. Der Termin hatte sich von morgens neun auf abends 21 Uhr verschoben und niemand hatte mir Bescheid gesagt! Ich war natürlich um neun Uhr morgens da. Als Einzige. Den für den nächsten Morgen versprochenen Beitrag musste ich absagen! Gab dafür später auch keinen Platz mehr. Etwas genervt ging ich dann abends nochmal los. ‘Na gut, dann werd ich eben meine Töne sammeln, vielleicht werd ich die Geschichte ja noch wo anders los. In spätestens einer Stunde hau ich wieder ab,’ sagte ich mir. Und war dann sehr, sehr, sehr froh, dass ich mich auf den Weg gemacht hatte. Denn vor meinen Augen wurden sehr sorgsam Original Mauersegmente aus Berlin direkt neben einer Hauptverkehrsstrasse in Los Angeles abgestellt. Und mir, die ich bevor ich nach Los Angeles kam, 13 Jahre lang in Berlin gelebt habe, wurde plätzlich ganz schwummerig ums Herz. Ich bin dann geblieben bis das letzte Segment auf der Wiese gelandet war, habe endlos Interviews gemacht mit Amerikanern, die mehr über die Mauer wissen wollten, Koreanern, die von der Grenze zwischen Nord und Süd sprachen, mit einer Ostdeutschen aus Jena, die Gänsehaut hatte beim Anblick der Mauer. Kurz vor Mitternacht bin ich dann ganz gerührt nach Hause gefahren.

Irgendwie hatten die Mauerteile den Weg vom Potsdamer Platz durch den Panamakanal nach Kalifornien gefunden. Seit Mitte Oktober sind sie die Hauptattraktion des wallprojects   in Los Angeles. Künstler aus Berlin und Los Angeles haben sie inzwischen bemalt.

 

Täglich bleiben überraschte Fussgänger an den Segmenten stehen und lernen mehr über die Berliner Mauer. Zusätzlich zu den Originalsegmenten haben Architekten in Los Angeles 30 Teile nachgebaut und auch darauf haben Künstler ihre Werke zum Gedenken an den Mauerfall und die Geschichte der Mauer verewigt. Diese nachgebauten Segmente versperren in der Nacht vom achten auf den neunten November, also heute Nacht die Hauptverkehrsstrasse und werden um Mitternacht wieder symbolisch zum Einsturz gebracht. Mit einer Riesenfete, DJs, Ute Lemper, einem zugespielten Grußwort von Berlins Bürgermeister Wowereit und lauter wichtigen Vertretern der Stadt Los Angeles. Initiiert hat die Aktion ein sehr beeindruckender junger Historiker aus Los Angeles: Justin Jampol, der ist jetzt gerade Mal 31 Jahre alt und hat schon im Jahr 2002 das Wende Museum gegründet, das er jetzt auch leitet. Er hat in Oxford Kulturgeschichte studiert und die Ostblockstaaten wurden sein Spezialgebiet. Er reiste überall dahin, wo die Studienobjekte buchstäblich auf der Strasse lagen, sammelte und sammelte und sammelte. irgendwann hatte er so viel Material gesammelt, dass er einen formalen Rahmen dafür brauchte. Den hat er mit Hilfe von Freunden und ehemaligen Lehrern in Los Angeles gefunden. Und so kam es, dass in einem unscheinbaren Gebäude unter der Sonne Kaliforniens inzwischen die größte Sammlung von Dokumenten und Objekten aus den Ostblockstaaten mit mehr als 100 tausend Stücken untergebracht ist.

Das Wallproject ist der bisherige Höhepunkt in Jampols Auseinandersetzung mit der deutsch-deutschen Geschichte. Das muss man sich mal vorstellen – der junge Historiker hat nicht nur Lenin-Büsten, eine Komplettausgabe des Neuen Deutschland, Brigadebücher und die Aufzeichnungen Erich Honeckers aus dem Gefängnis in Moabit. Er bringt Originalsegmente aus Berlin nach Los Angeles und die Stadt sogar dazu, eine der wichtigsten Verbindungsstrassen zwischen Downtown und Pazifik zu sperren! Für die Erinnerung an den Fall der Mauer vor zwanzig Jahren. Heute nacht wird gefeiert und ich freu mich riesig drauf, dabei zu sein!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Vom Schweigen der Fische

Das Bücherschreiben gilt ja gemeinhin als brotlose Kunst. Allen darbenden Literaten sei zum Trost die folgende wundersame Geschichte der Isabella Lövin ans Herz gelegt: Die kernige Schwedin, Jahrgang 1963, schrieb in ihrem Journalistenleben für das Boulevardblatt Expressen über Umwelt und Naturschutz. In ihren Kolumnen im Feinschmecker-Magazin Allt om mat lässt sie sich über die fragwürdige Herkunft unserer Lebensmittel und das lasterhafte Verhalten des gemeinen Konsumenten aus.  

Eine Pressemitteilung der schwedischen Fischereibehörde lässt sie 2005 aufhorchen: der Aal, ein von allerhand Mythen und Fabeln umranktes Urzeitwesen, Wanderer zwischen den Weltmeeren, Meister der Metamorphose, ist in Schweden und in den Ländern rund um die Ostsee akut vom Aussterben bedroht. Auch der Dorsch bzw. Kabeljau ist in Skagerrak und Kattegatt so gut wie ausgerottet, kaum besser sind die Aussichten für den liebsten Speisefisch der Schweden in der Ostsee und in der Irischen See. Die alarmierenden Zahlen sind Forschern und Funktionären seit Jahren bekannt, doch in den Debatten werden noch immer überwiegend diffuse Umweltgifte, Emissionswerte und Belastungen durch Stockstoff und Phosphor aus der Landwirtschaft für die Krise der Weltmeere verantwortlich gemacht.

Dabei liegt das Problem auf der Hand: Europas überdimensionale Fischereiflotte zieht alles Leben aus dem Wasser, ohne Rücksicht auf die Bestände. Mit immer schnelleren Trawlern rüsten die Fischer auf, mit Echolot und ausgeklügelten Kühlsystemen. Die EU subventioniert auch den Schiffsdiesel und garantiert die Abnahme der Quoten. Mit dem Beitritt zur Union verdreifachten sich in Schweden die Staatsausgaben für die bedrohte Spezies der Küstenfischer, zugleich zweifeln immer mehr Kapitäne am wirtschaftlichen Sinn ihrer Arbeit. Ein Großteil ihres angelandeten Fangs wird zu Tierfutter verarbeitet. Die sonst so umweltbewegten Schweden machen sich für Treibnetze stark und stimmen im Rat regelmäßig für weitaus höhere Quoten als von den Forschern der ICES empfohlen.

Lövin gräbt sich weiter durch die Statistiken. 2007 erscheint ihr überaus spannendes und faktenreiches J´Accuse. „Tyst hav“ (Das stille Meer) wird in Schweden völlig unerwartet zum Bestseller, Lövin tingelt durch die Talkshows, ein Preisregen geht auf sie nieder. Die schwedischen Grünen tragen ihr einen Listenplatz in der gutbürgerlichen Stockholmer Vorstadt Nacka an. Die Journalistin triumphiert in der Europawahl und zieht ins Europaparlament ein, wo sie sich fortan gegen die verheerende Förderpolitik und ausbeuterische Handelsabkommen sträuben will.

Mehr noch als die prestigevolle Ratspräsidentschaft führen Alltagshelden wie Lövin den Schweden vor Augen, wie verbandelt ihre nordische Heimat längst mit dem scheinbar so fernen „Kontinent“ ist. Unlängst haben sogar Schwedens Grüne – notorische Europa-Muffel –  ihre traditionelle Forderung nach einem Austritt aus der Union kassiert. Auf ihre furchtlose Streiterin in Brüssel und Straßburg sind sie sogar ein wenig stolz.

Die so Gepriesene haut sich nach einer harten Sitzungswoche gern mal einen Fisch in die Pfanne. Vom Angeln nimmt die Naturfreundin Abstand. Sie findet das niederträchtig. Und womöglich fehlt ihr auch die Geduld.

 

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Absolutely

Gemessen an der Einwohnerzahl gehört Schweden sicher zu den Ländern, die am meisten nationale Ikonen hervorgebracht haben: Abba, Ikea, H&M, Volvo und natürlich Absolut. Die Wodkamarke feiert in diesem Jahr ihren 30. . Wie kaum ein anderes Produkt ist Absolut in die Werbegeschichte eingegangen. Denn mit ungewöhnlichen Kampagnen schaffte es der damals noch staatliche schwedische Produzent sich im internationalen Geschäft für Alkoholika zu platzieren. Künstler wie Keith Haring und Andy Warhol haben Anzeigen für die Flasche mit dem klaren Inhalt entworfen und sie so zur Ikone gemacht (wie das alles geschah erzählt der Schwede Carl Hamilton in seiner Biographie einer Flasche).

Zwar ist die Kampagne mit den bekannten Künstlern als Gestalter seit 2007 eingestellt, doch will sich die Marke weiterhin kulturell positionieren, wie es so schön heißt. Deshalb wurde Ende Oktober in Stockholm der erste Absolut Art Award vergeben (Preisträger und mehr hier). Aus diesem Anlass ein kurzer Abriß der schwedischen Alkohol- und Privatisierungspolitik:

Seit vergangenem Jahr gehört Absolut wie der komplette Vin & Sprit-Konzern zu Pernod Ricard aus Frankreich. Zuvor war der schwedische Staat Jahrzehnte Eigner. Dank Alkoholproduktion in staatlicher Hand sollte der Konsum eingeschränkt werden, die gleiche Aufgabe haben übrigens die immer noch staatlichen Alkoholläden. Doch die 2006 angetretene liberal-konservative Regierung will privatisieren und hat Absolut verkauft und damit einmal mehr mit Alkohol tüchtig Geld verdient. Das staatliche Alkoholverkaufsmonopol aber? Bleibt vorerst. Und Vattenfall? Ebenfalls bis auf Weiteres in Regierungshand. Der Konzern, in Deutschland aktiv und berüchtigt vor allem wegen seiner vielen Probleme mit AKWs und als Betreiber von Kohlekraftwerken, soll in Schweden seinem Namen alle Ehre machen. Vattenfall bedeutet Wasserfall. Schwedische Doppelmoral? Absolutely.

 

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Mannsbilder hinterm Deich

 

 Wenn ich Pech habe, träume ich noch von ihnen. Ich sehe es bereits genau vor mir: Die hochblond gefärbte Mozart-Haartolle des islamophoben Politikers Geert Wilders verschwimmt langsam ins Gräuliche und verwandelt sich in die weissgrauen Zotteln von Radovan Karadzic. Die glätten sich dann auf wunderbare Weise, um – versehen von einer kastanienbraunen Tönung – einen akuraten Seitenscheitel zu formen, unter dem auf einmal das bubenhafte Antlitz des niederländischen Premierministers Jan Peter Balkenende auftaucht, möglicherweise der erste Ständige Ratspräsident Europas.    

 Wilders, Karadzic, Balkenende – um diese drei Männer dreht sich in den letzten Tagen in den Poldern alles. Um Wilders nicht nur, weil er Umfragen zufolge mit seiner fremdenfeindlichen Partei der Freiheit PVV nach wie vor der Grösste werden würde, wenn jetzt Wahlen wären. Er schlug auch wieder einmal mit derben Beschimpfungen wild um sich:   Nachdem es andere Politiker gewagt hatten, ihn als Rechtsextremisten,  Rassisten und Gefahr für den Rechtsstaat zu bezeichnen, nahm Wilders es sich heraus, seine Kritiker als Handlanger von Mohammed Bouyeri zu bezeichnen, des Mörders von Theo van Gogh – und zwar gerade noch rechtzeitig zum fünften Todestag des ermordeten islamkritischen Regisseurs.

 Um Karadzic, weil er sich – einer verwöhnten Diva gleich – erst an seinem dritten Prozesstag dazu herabliess, vor den Richtern zu erscheinen, um dann – ebenfalls wie eine Diva – ausführlichst darüber zu jammern, dass er angesichts seiner Prozessvorbereitungen noch nicht einmal mehr Zeit habe, frische Luft zu schöpfen, geschweige denn, Sport zu treiben. Und obwohl er Tag und Nacht durcharbeite (er gähnte selbst ein paar Mal wirkungsvoll), brauche er einfach noch mehr Zeit, um angemessen seine Verteidigung auf sich nehmen zu können. Was ja auch kein Wunder ist, schliesslich hatte der ehemalige Führer der bosnischen Serben Besseres zu tun: Seit seiner Überstellung nach Den Haag im Juli 2008 haben er und seine mehr als 30 Mann starke Armada aus Juristen und Rechtsberatern das Jugoslawientribunal mit mehr als 240 Anträgen regelrecht bombardiert – ein absoluter Rekord, alle Achtung, das hat noch kein anderer Angeklagter vor ihm geschafft, wobei viele dieser Anträge von den Richtern als reine Schikane empfunden wurden. Ob Karadzic doch noch gegen seinen Willen einen Pflichtverteidiger bekommt, ist offen: Ende der Woche wollen die Richter bekanntgeben, in welcher Form der Prozess, der gestern nach eineinhalb Stunden abgebrochen wurde, weitergehen soll.

 Vielleicht steht bis dahin auch schon fest, ob der niederländische Premierminister Jan Peter Balkenende Den Haag gegen Brüssel eintauschen kann. Schliesslich fühlt er sich dort viel wohler als zuhause hinter den Deichen, wo ihm seine Landsleute das Leben zunehmend schwer machen. Balkenende muss aufpassen, nicht als unbeliebtester und farblosester Premierminister in die Geschichte der Niederlande einzugehen. Er gilt als blitzgescheit und brav, als tüchtig und vertrauenswürdig – aber eben auch als langweilig und grau. Ein Mann ohne Tatkraft und ohne Charisma. Wen wundert es da noch, dass ihn 57 % aller Niederländer, so ergab eine Umfrage, nicht vermissen würden! Aber ob sie ihn tatsächlich so schnell loswerden, bleibt abzuwarten. Dass da Skepsis angebracht ist, fand auch einer meiner Kollegen hier in Den Haag: So schlecht, meinte er, sei Europa nun auch wieder nicht, dass es Balkenende verdiene.

 

 

 

 

 

 

 

 

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Georgisch. Schrecklich. Schön.

Georgische Politiker neigen zur Emphase. Schalva Natelaschwili, Führer der oppositionellen Partei der Arbeit, strahlt vor Freude, einen Deutschen zu sehen. „Deutschland hat mir ein zweites Leben geschenkt. Ohne die Chirurgen, die mich in Wien am Herzen operiert hätten, wäre ich schon tot.“ Ich versuche ihn darauf aufmerksam zu machen, dass die Wiener Chirurgen sich vermutlich schwarz ärgern würden, wenn sie wüssten, dass er sie Deutsche nennt. Aber den Einwand wischt er weg. „Ihr habt doch eine Sprache, eine Kultur, eine Seele.“

Natelaschwili spricht weiter, georgische Politiker neigen zum Monolog, er beklagt sich über die abtrünnigen Abchasen und Südosseten. „Wenn sie nicht mit uns zusammenleben wollen“, jetzt verfinstert sich seine Stirn, „sollen sie doch nach Russland gehen.“ Kein Wort mehr über gemeinsame Sprache, über die Einheit der Seele. Schalwa Natelaschwili aber hat sich in Fahrt geredet, jetzt schimpft er über die Kumpanei zwischen Präsident Saakaschwili und westlichen Diplomaten: „Der deutsche und der britische Botschafter, die bekommen jeden Monat von Saakaschwili 100.000 Dollar Schmiergeld.“ Der Oppositionelle lacht grimmig. „Damit können Sie mich zitieren.“

Georgier sind bekanntlich Männer der Ehre, und die scheinen sie auf sehr altertümliche Weise auszulegen: „Viel Feind, viel Ehr!“ So machen sie gern Front gegen den eigenen Präsidenten, die Vertreter des Westens, gegen Abchasen, Osseten und das riesige Russland dahinter. Georgien ist sehr kaukasisch. Aber ist das kein schreckliches Land, dessen politische Psychologie offenbar im frühen vorletzten Jahrhundert hängen geblieben ist?

Draußen auf der Straße aber schaukelt es herbstgold durch die Luft. Die letzten Blätter eines Ahornbaumes fallen. Und irgendwo rast eine Trommel, eine Ziehharmonika folgt mit Schwung, das fröhliche Stakkato wirbelt aus einem offenen Fenster im Erdgeschoss. Dahinter tanzt ein Mädchen, vielleicht 13, vielleicht 17, es tanzt mit halbgeschlossenen Augen und hoch gerecktem Kinn. Dass das Mädchen bildhübsch ist, spielt dabei keine Rolle, soviel Stolz, Anmut und Glück liegt allein in seinen Bewegungen. Es tanzt einen  Volkstanz, der aus dem 18., vielleicht auch aus dem 16. Jahrhundert stammen mag. Und plötzlich ist dieses so schrecklich an seiner Vergangenheit hängende Land wieder schrecklich schön.

  

 

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Rhetorische Revolutionen

Südafrika ist auf dem Pressefreiheits-Index von „Reporter ohne Grenzen“ wieder ein Stück nach oben gerutscht. Das Land steht jetzt auf Platz 33 von 175 Ländern – vor Frankreich, Spanien, Italien und Polen. Ein Wunder eigentlich, dass Präsident Jacob Zuma, bei dessen Amtseinführung ja alle Welt das Ende der südafrikanischen Demokratie heraufbeschworen hatte, noch keine Jubel-Pressemitteilung an die ausländischen Korrespondenten verschickt hat.

Was hinter den Kulissen passiert und derzeit noch auf keinem Index erfasst ist, ist weniger erfreulich: Die Regierung arbeitet derzeit an einer Änderung des Gesetztes über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Der ist bisher (zumindest auf dem Papier) dem Gemeinwohl verpflichtet. Das würde man im Ministerium für Kommunikation, dem ein in DDR und Sowjetunion militärisch geschulter ehemaliger General vorsteht, gern ändern. Weg mit dem „öffentlich-rechtlichen“ Rundfunk, her mit dem „Entwicklungs“-Rundfunk (developmental broadcaster)! Der dann natürlich qua Mandat die Entwicklungspolitik der Regierung unter die Leute bringen dürfte – unbehelligt von eventuellen entwicklungspolitischen Alternativen. Weil es so schön klingt. Oder vielleicht auch einfach, weil in Südafrika sowieso gerade so etwas wie eine rhetorische Revolution im Gange ist: Die Polizei, einst nach Ende der Apartheid nach Scotland-Yard-Vorbild entmilitarisiert, soll demnächst wieder nach militärischen Rängen geordnet werden. Wie in der bösen alten Zeit. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

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EINE KATZE IST EINE KATZE IST EINE KATZE IST EINE KATZE

Nicht aber, wenn sie auf Reisen geht. Plötzlich schlagen die vereinigten Bürokraten aller Länder zu, sie existiert in Akten und Computern nur noch als „Haustier, hier Katze“. Falls sie die Mauern der Europäischen Union übersprungen hat, unterliegt sie ab sofort den „Einreisebestimmungen für Hunde und Katzen“. Falls sie aus der EU ins andere Ausland will, wird sie dort womöglich als  „Ausländerin“ behandelt.

 

Trotzdem entscheide ich: Puderquaste und Maseltov sollen Hamburg verlassen und mit mir in Belgrad leben. Der Katzenumzug steht an.

 

 

Recherche in Belgrad: eineTollwut-Impfung, ein Katzenpass, eine ärztliche Beurteilung vor der Reise – da ist alles was eine Katze braucht, wenn sie nach Belgrad kommen will. 

 

Der Veterinär in Hamburg kooperiert: „Impfen können wir“, sagt er, „prüfen Sie aber, wer die Gesundheitsbescheinigung unterschreibt, der Amtsarzt oder wir.“ Es ist der Amtsarzt.

Die Impfung wird kaum bemerkt, die Spritze sitzt. Nun sollen Beruhigungspillen zur Probe geschluckt werden, um zu sehen wie sie wirken. Sie helfen der gestressten Katzenseele die Reise gut zu überstehen. Leichter gesagt als getan: die Pillen werden verschmäht. Also, Goulaschfleisch gekauft, Pillen darin versteckt, meine süßeste Stimme hallt durch die Wohnung. Puderquaste, die Bunte, schluckt alles. Zehn Minuten später spuckt sie alles heraus. Maseltov, die Schwarze, riecht die Falle, rührt nichts an. Die Verlockung und die Operation Pille – fehlgeschlagen.

Der nächste Versuch ist eine Beruhigungsspritze. Die Nachbarn helfen, wir überrumpeln die scheuen Tiere, die Spritze sitzt schon wieder, aber niemand aus der Katzenwelt ist in dieser Wohnung benommen. Dafür haben sie gut gekratzt. Was tun? „Doppelte Dosis“,  rät der Tierarzt.

In der Zwischenzeit telefoniere ich mit dem Amtsarzt: „Es sind zwei Katzen, die sollen nach Belgrad…“ „Wenn Sie nach Rumänien wollen….“  „Nein, ich will nicht nach Rumänien, ich will nach Serbien“. „Ja, liegt Belgrad nicht in Rumänien?“ „Nein, Belgrad liegt in Serbien, Bukarest ist die Hauptstadt von Rumänien.“ „Von mir aus,  sie müssen trotzdem den blauen Heimtierpass haben und sie müssen gechipt werden“.

Nein, Herr Amtsarzt, sie müssen gar nichts. Denn, in Belgrad herrscht Balkan, und dort kennt jeder jeden und der Freund eines Freundes kennt einen Freund und der ist zufällig Amtsarzt am Flughafen. Also, die Viecher werden nicht gechipt. Dem deutschen Amtsarzt ist es am Ende egal, er kommt vorbei, beguckt kurz die in der Badewanne versteckten Damen, schreibt vier andersfarbige Formulare aus, stempelt sie ab, nimmt 10 Euro und geht.

 Puderquaste und Maseltov bekommen eine fette Ladung Beruhigungsspritzen und kurz vor dem Abflug ist alles ruhig. Zwei lallende Katzen, selig umschlungen, liegen im engen Käfig.

Die Hiobsbotschaft aus Belgrad kommt eine Stunde vor dem Abflug: „Versuch schnell durch den Zoll zu kommen“, sagt Milena, „denn normalerweise bekommen die Katzen eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis, die man am Flughafen ausstellt. Die musst du dann bei der Ausländerpolizei verlängern. Vielleicht schaffst du es ohne.“ Na, ob da der Freund eines Freundes helfen kann?

Aber auch der Hamburger Zollbeamte will was. Der Käfig soll „geröntgt“ werden, die Katzen sollen vorher raus, wegen der Verstrahlung. Das aber geht nicht. Einmal draußen, da finde ich sie nie wieder, trotz Valiumspritze. Gut, sagt er, und so wird der Käfig samt Katzen mit sämtlichen Geräten gründlich durchleuchtet.

Keine Drogen, keine Waffen, nur zwei Angstkatzen gucken den großen Mann an.

 

 

Zwei Stunden später landen wir in Belgrad. Die Süßen haben am Sitz neben mir den ersten Flug ihres Lebens verschlafen. Mein Pashmina-Schal verdeckt den Käfig, die Passkontrolle will meine gelben Katzenpässe gar nicht sehen, von Zollbeamten keine Spur. Ich und die Katzen sind fast draußen, da zeigt sich ein junges Mädchen, mit Zollmützchen auf dem Kopf und sagt „Sind die aber süüüüsss“.

Ich atme tief durch, die Katzenodyssee ist zu Ende. Sie sind nicht gechipt worden, sie haben die Spritze und die Pille gut vertragen, sie leben. Maseltov und Puderquaste  sind nicht zu Ausländerinnen deklariert worden, müssen nicht zur Ausländerpolizei. Jetzt dürfen sie mit mir bei sommerlichen 40 Grad in Belgrad schwitzen und im Winter, gut gerollt auf der Kommode vom hohen Norden träumen.

PS.Oder bei YOUTUBE gucken, was andere Katzen so machen.

http://www.youtube.com/simonscat?gl=DE&hl=de#p/u/3/s13dLaTIHSg

 

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Knochenarbeit

Mich beschäftigt ein junger Pirat namens Abdu Willy. Er ist etwa 18 Jahre alt und stammt aus Somalia. Anfang Oktober war er daran beteiligt, vor der dortigen Küste einen spanischen Thunfischfänger zu kapern. 48 Stunden später wurde er von Soldaten der Marine festgenommen und nach Spanien verbracht (das Schiff befindet sich immer noch in der Gewalt der Piraten). Und seitdem gibt es ein Heidentheater um jenes „etwa 18 Jahre alt“, denn für den Prozess gegen Abdu Willy ist es von entscheidender Bedeutung, ob er volljährig ist oder nicht. Je nachdem wäre ein anderer Richter zuständig, ein anderes Gericht, und auch das mögliche Strafmaß fiele jeweils deutlich anders aus. Weil dem so ist, wird Willy (der selbst behauptet, erst 16 zu sein) seit reichlich zwei Wochen von einer medizinischen Untersuchung zur nächsten geschleppt. Sieben zum Teil aufwendigen Tests hat er sich in den vergangenen zwei Wochen unterworfen. In der Zeitung „El País“ vom Donnerstag wurde sogar eine mehrteilige Grafik des Skelettaufbaus rund ums Schlüsselbein gezeigt, um die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, von welchen Knochen man sich diesmal Aufschluss über das wahre Alter des jugendlichen Piraten versprach.

Einmal davon abgesehen, dass mittlerweile jedes Mitglied der staatlichen spanischen Krankenversicherung neidisch sein dürfte auf die Geschwindigkeit, mit der man Willy Termine beim Spezialisten zugeteilt hat, und abgesehen auch von der mutmaßlichen Gewissenhaftigkeit des ganzen Verfahrens – ich kann mir nicht helfen: Vor meinem geistigen Auge verdichtet sich der bisherige „Ermittlungsprozess“ zu einer halb gespenstischen, halb kafkaesken Szene, in der sich eine Reihe Doktoren über den Leib eines sehr jungen Menschen hermacht, mal diesen, mal jenen Knochen hervorzerrend, um letztlich festzustellen, ob man hinter bzw. jenseits all der Knochen wohl ein ausreichend ausgeprägtes Bewusstsein zu fassen kriegt. Ein paar Grad mehr an Knochenbildung können leicht einige Jahre mehr Gefängnis bedeuten. Das Verfahren scheint logisch, eine Grenzziehung nötig, und doch wirkt der Testreigen auf bizarre Weise unpassend. Man würde gern mehr über das ethische Skelett des Burschen wissen, über seinen Weg ins Piratengeschäft, und kann bisher nur in den Körper eindringen, das einzig Handfeste.

Zufällig stand in „El País“ neben Geschichte & Grafik zu Willys Knochenuntersuchung ein Artikel über ein, nun ja, entfernt verwandtes Thema. Nahe Granada wird gerade jener Fleck Erde umgegraben, an dem die Reste des Dichters Federico García Lorca liegen sollen. Der war am 19. August 1936 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion von Francos Truppen erschossen und gemeinsam mit einem Lehrer, einem Steuerbeamten und zwei Wegelagerern verscharrt worden. Einige Hinterbliebene kämpfen dafür, dass die Knochen ihrer Vorfahren identifiziert und ihnen übergeben werden. Lorcas Familie verzichtet dagegen ausdrücklich auf diese Identifikation und war auch bisher immer gegen eine Öffnung der mutmaßlichen Grabstelle. „Lorca waren alle“, steht auf dem vor Ort befindlichen Mahnmal (hier eine 360-Grad-Ansicht). Mit diesem Mahnmal, das Lorca hervorhebt und ihn zugleich einreiht unter die anderen Bürgerkriegsopfer, hat der Dichter womöglich in der Tat schon einen würdigen Grabstein. Andererseits bleiben noch weit mehr als 100 000 anonyme, verscharrte Opfer und Tausende Familienangehörige, für die das Auffinden und Bestatten der Ihren ein notwendiges Stück Trauerarbeit darstellt. Bisher müssen nichtstaatliche Organisationen die komplizierten Grabungsarbeiten übernehmen. Spaniens sozialistische Regierung hat in einem Gesetz zum „Historischen Gedächtnis“ nur begrenzt kommunale Mithilfe angeboten, und die konservative Opposition würde die Massengräber sowieso lieber alle geschlossen halten.

Ich weiß, eigentlich hat der junge Somalier Abdu Willy gar nichts mit den Toten des Bürgerkriegs zu tun. Aber trotzdem, so in der Zeitung nebeneinandergerückt, erscheint mir das wie ein verrücktes Missverhältnis: Die gesetzlich verfügte, wochenlang ausdifferenzierte Sorge um Willys Knochenbau auf der einen, die gesetzlich über Jahrzehnte vernachlässigte Sorge um die Knochen von mehr als 100 000 Opfern in der eigenen Erde auf der anderen Seite.

 

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Shanghai will Schlafanzüge von den Straßen verbannen

 

Im Mai kommenden Jahres beginnt die Expo 2010 in Chinas Boomstadt Shanghai. Seit Monaten wird die ganze Stadt geschminkt und verschönert. Selbst die hässlichen alten Bürobauten in der Straße neben meinem Haus sind renoviert worden. Die alte Fassade aus grauen Kacheln ist durch Spiegelglas ausgetauscht worden, allerdings nur auf der Gebäudeseite zur Straße.

Jetzt sollen sich auch die Einwohner schön machen: Die Shanghaier Regierung will ihren Einwohnern endlich das Tragen von Schlafanzügen in der Öffentlichkeit austreiben.

Seit 30 Jahren boomt die chinesische Wirtschaft. Viele Chinesen haben seitdem viel Geld verdient. Und gerade die luxusverliebten Shanghaier geben es auch mit großer Freude wieder aus. Längst haben sämtliche westliche Luxus-Modehersteller ihre flagship stores in Shanghai eröffnet. Und in kaum einem anderen Land begegnet man auf der Straße so vielen Handtaschen von Louis Vuitton wie in Shanghai. Trotzdem ziehen Zehntausende Shanghaier jeden Tag nach der Arbeit die Anzüge und Business-Kostüme aus, schlüpfen in ihre Schlafanzüge und gehen Einkaufen oder Spazieren, gerne auch in Stöckelschuhen. Bei ausländischen Touristen sind die Shanghaier Schlafanzüge das beliebteste Fotomotiv.

Die Shanghaier selbst erklären ihre Liebe zum Pyjama übrigens mit ihrem ausgeprägten Modebewusstsein. Als die Kulturrevolution 1976 endlich vorbei war und ein frischer Wind durchs Land wehte, sehnten sich die Menschen zuerst nach bunten Farben und individueller Kleidung. Doch in ihren Kleiderschränken hingen nur die blauen Mao-Uniformen. Es heißt, dass die ersten Shanghaier damals ihre Schlafanzüge auf den Straßen anzogen, es waren die einzigen bunten Kleidungsstücke, die den Kommunismus überstanden hatten. Und sie lieben ihre Pyjamas bis heute.

Seit Jahren versucht die Regierung, die Shanghaier die Schlafanzüge von den Straßen zu verbannen. Pyjamas in der Öffentlichkeit zu tragen „verstößt gegen internationale Praktiken und soziale Rituale“, zitierte die amtliche Tageszeitung Global Times einen Pressesprecher der Stadtverwaltung. Leuchtreklamen in der Innenstadt ermahnen die Menschen, ihr Nachtgewand nicht in der Öffentlichkeit zu zeigen. Es gibt sogar Beamten, die extra dafür abgestellt wurden, die Shanghaier Abendmode zu modernisieren. Alles Teil der Kampagne mit dem schlimmen Namen „Die Schlafanzüge zu Hause lassen und ein zivilisierter Gastgeber der Weltausstellung werden“.

Ich habe die Schlafanzüge eigentlich immer sehr sympathisch gefunden. Wenn man weiß, was seine Nachbarn abends im Bett tragen, fühlt man sich ihnen automatisch näher. Die Kampagne finde ich albern. Bisher habe ich immer in Unterwäsche geschlafen. Vielleicht ist jetzt die richtig Zeit, um wieder auf Schlafanzüge umzusteigen.

 

 

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Iraks zerplatzte Hoffnungen

Iraks zerplatzte Hoffnungen

 

Und wieder ist eine Hoffnung zerplatzt. Nach fast sechs Jahren Bomben und Terror, glaubte ich, mal über etwas anderes als nur Zerstörung und Tod aus dem Irak berichten zu dürfen. Die Anschläge haben sich seit Anfang des Jahres merklich reduziert, die Einwohner Bagdads schöpften Zuversicht. Die Provinzwahlen im Januar waren als Meilenstein für die weitere Entwicklung Iraks betrachtet worden. Sie verliefen weitgehend friedlich und unproblematisch. Anders als in Afghanistan, scheint die Wahlkommission im Irak gute Arbeit zu leisten. Zwar gab es einige Beschwerden und Betrugsvorwürfe. Denen ist aber akribisch nachgegangen worden unter Oberaufsicht der Uno. Der Leiter der Wahlkommission musste sich vor dem Parlament verantworten. Die Parlamentarier haben ihn reichlich „gegrillt“. Das scheint eine wirksame Methode gegen einen ungehemmten Auswuchs von Korruption und Betrügereien. Gleichwohl steht auch der Irak auf der Liste von Transparency International als einer der korruptesten Staaten auf diesem Erdball.

 

Mit dem Argument der Verbesserung der Sicherheitslage zogen sich die Amerikaner Ende Juni aus den Städten zurück. Die Iraker jubelten und Premierminister Nuri al-Maliki ließ sich im allgemeinen Freudentaumel zu dem Satz hinreißen, man werde die Amerikaner nicht von ihren Stützpunkten zurückholen. „Das mit der Sicherheit schaffen wir alleine!“ Nun haben sich die Iraker seit dem Einmarsch der Amerikaner und Briten 2003 an Explosionen gewöhnt und reagierten teilweise gelassen, wenn nur wenige Meter vor ihnen wieder ein Sprengsatz gezündet wurde. Doch wenn man Hoffnungen schürt und diese enttäuscht, ist es etwas anderes. Die koordiniert gezündeten Autobomben vor den Ministerien Mitte August und jetzt am 25. Oktober wiegen schwerer als alle anderen vordem. Jetzt ist bei vielen auch noch die letzte Hoffnung gestorben.

 

Was die Berichterstattung dieser Ereignisse betrifft, so kann man in den westlichen Medien ebenfalls nur von zerplatzten Hoffnungen sprechen. Der Krieg im Irak ist erklärtermaßen nicht Obamas Krieg. Die Medienkarawane ist längst nach Afghanistan und Pakistan weitergezogen. Irak schaffte es in den letzten drei Monaten kaum über die Randspalten der Zeitungen hinaus. Von durchaus positiven Ansätzen der Entwicklung einer Zivilgesellschaft, von der Neuorientierung der Parteinlandschaft, von der Demokratisierung der Provinzen wollte kein Redakteur etwas wissen. Erst die Bomben, die interessieren wieder. Fast kommt es mir vor, als sei der Irak zum Terrorland abgestempelt und verdammt worden – so wie Afrika der ewige Hungerkontinent ist.

 

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Rummelplatz mit Verkehrsinfarkt

Für ein Buchprojekt über die informellen Wohnviertel von Kairo ließ ich mir vor einer Weile im ägyptischen Ministerium für Stadtentwicklung Kairos Zukunft erklären. Man rechnet dort damit, dass in zehn Jahren rund 24 Millionen Menschen in der Megacity wohnen, im Jahr 2050 dann zwischen 32 und 34 Millionen. Das wird ein ziemliches Chaos werden, zumal der interne Kairo-Masterplan, den man mir netterweise kopierte, deutlich mehr Mubarak-Fotos enthielt als konzeptionelle Ansätze gegen die Apokalypse.

Zum Schlamassel, der den schleichenden Tod der Stadt herbeiführt, zählt die Tageszeitung Al-Masry al-Youm den allgegenwärtigen Verkehrskollaps sowie die einzigartige Untätigkeit der Behörden. Ach, wenn sie doch nur untätig wären. Als wir vor ein paar Jahren in unser Viertel zogen, war an der großen Kreuzung unweit unseres Hauses die ägyptische Welt noch in Ordnung. Die Ampeln leuchteten. Niemand schenkte ihnen Beachtung.

Der Verkehr floss zäh, aber stetig. Die Autofahrer einer Richtung fuhren dann los, wenn sie fanden, dass sie lang genug auf den Verkehrstrom aus den anderen Richtungen gewartet hatten. Dieser Pragmatismus ist auf Kairos Straßen üblich, aber den Behörden offensichtlich peinlich. Das ‘unzivilisierte Bild’, wie es gern genannt wird, sollte ein Ende haben. Verkehrspolizisten begannen, den Verkehr manuell zu regeln, während die Ampeln gleichzeitig fröhlich weiter leuchteten, beide meistens asynchron zueinander.

Die Ampeln als Errungenschaft der Moderne wollte man so schnell allerdings nicht aufgeben. Die Behörden installierten große Leuchtanzeigen, auf denen zu sehen ist, wie viele Sekunden es noch dauert, bis die Ampel auf grün bzw. rot schaltet. Die Autofahrer beeindruckte das wenig. Welchen Sinn sollte es auch machen, gebannt den Ampelcountdown zu verfolgen, wenn der Verkehrspolizist dann doch die Fahrbahn sperrt, obwohl endlich Grün kommt.

Was dann geschah, erinnerte mich an die Rechtschreibreform. Jahrelang wurden Regeln aufgestellt und wieder zurückgenommen, bis sich die Leute dachten: Dann schreib ich halt einfach, wie ich es für richtig halte. An meiner Kreuzung bedeutet das: Lethargisch wird losgefahren, wenn sich die Stoßstange des Vordermannes bewegt, den Prinzipien einer unbekannten Macht folgend, deren Ratsschlüsse dem gemeinen Autofahrer verborgen bleiben.

Bald war die Kreuzung nur noch dauerverstopft, und die unbekannte Macht hängte einen riesigen Screen über die Straße, auf dem sie den Autofahrern heilige Verse offenbart. Sie lauten: ‘Geschätzter Verkehrsteilnehmer, der Gurt dient Deiner Sicherheit und der Deiner Mitfahrer.’ Oder: ‘Überfahre nicht die Fahrbahnmarkierung!’ Oder: ‘Die Signalanlage wird mit Kameras elektronisch überwacht.’ Die unbekannte Macht guckt also zu, wenigstens das.

Was die Autofahrer mit diesen Versen anfangen, ist mir ein Rätsel, vielleicht sprechen sie sie laut nach. Zeit genug haben sie im Dauerstau ja. Zwischendurch werden auf dem Screen Werbeclips gezeigt, für Coca-Cola oder für einen der neuen Luxuscompounds am Stadtrand, wo es keinen Verkehrskollaps gibt. Die Kreuzung ähnelt einem Rummelplatz mit Verkehrsinfarkt. Alles blinkt und flimmert: Ampeln, Leuchtanzeigen mit Sekundencountdown, ein Riesenbildschirm.

 

Literaturtipp: Carsten Otte. Goodbye Auto. Ein Leben ohne Führerschein. München, 2009.

 

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Taliban-Angriff gefährdet Stichwahl in Afghanistan

Leider wird es im Zuge der Medienkrise immer schwerer, Originaltexte in Zeitungen unterzubringen. Entweder weil den Zeitungen der Platz fehlt oder weil inkompetente Redakteure die Texte meinen, nach ihren Vorstellungen verschlimmbessern zu müssen. Ich nutze aus gegebenem Anlass hier zum ersten Mal die Gelegenheit, einen aktuellen Originaltext von mir abzudrucken, der es in dieser Form nicht in die Zeitung geschafft hat, der aber erscheinen sollte. Weitere werden folgen. Ich hoffe, dass in Zukunft mehr und mehr Leser mündig genug sind, nach besseren Informationsquellen selbst zu suchen. bp

 

Kabul – Der Angriff der Taliban auf ein Gästehaus der Vereinten Nationen (Uno) in Kabul hat Zweifel daran aufkommen lassen, ob die für den 7. November geplante Stichwahl zwischen Präsident Hamid Karzai und seinem Herausforderer Abdullah Abdullah wirklich stattfinden wird. „Es ist noch zu früh zu sagen, ob die Wahl abgesagt wird. Allerdings wird die UN nach dem Vorfall die Sicherheitsvorkehrungen verschärfen. Das wird ihre Rolle bei den Wahlen weiter einschränken, vor allem die Beobachtung“, sagt der frühere Stellvertreter des Uno-Sonderbeauftragten in Afghanistan und Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin,Thomas Ruttig.

Der Uno-Sonderbauftragte Kai Eide beeilte sich zwar gestern in Kabul zu erklären, der Anschlag werde die Vereinten Nationen nicht daran hindern, „ihre Arbeit beim Wiederaufbau des Landes“ fortzusetzen. Auf die Wahlen ging Eide jedoch nicht ein. Er sprach lediglich von einem „sehr schwarzen Tag für die Uno in Afghanistan“.

Schwer bewaffnete und mit Sprengstoffgürteln behängte Mitglieder der radikal-islamischen Taliban-Milizen hatten am Mittwoch morgen das „Bakhtar“-Gästehaus im zentralen Kabuler Stadtteil Shar-e-Nau gestürmt und mehrere Bewohner als Geiseln genommen. Bei der Befreiung durch afghanische Sicherheitskräfte kamen zwölf Menschen ums Leben, darunter sechs Uno-Mitarbeiter. Weitere neun Angehörige der Uno wurden verletzt. Einer der Toten ist nach Angaben der US-Botschaft in Kabul ein Amerikaner, ein weiterer Libanese, zwei waren afghanische Türwärter und ein Zivilist. Über die Nationalität der anderen Toten war bei Redaktionsschluss noch nichts bekannt.

Bereits kurz nach dem Angriff meldete sich ein Sprecher der Taliban mit der Aussage zur Wort: “Dies war erst unser erster Angriff.“ Sollte an der Stichwahl für das Amt des Präsidenten festgehalten werden, werde es zu weiteren Attacken kommen. Kurz darauf schlugen zwei Raketen in der afghanischen Hauptstadt ein: beide trafen den Garten des einzigen 5-Sterne Hotels der Stadt, des „Serena“, das bereits im vergangenen Jahr Schauplatz einer Talibanattacke war. Es war jedoch unklar, ob der Raketeneinschlag dort beabsichtigt oder ein Zufallstreffer war. Die Gäste wurden vorübergehend in einem Bunker in Sicherheit gebracht. Zu Schaden kam niemand.

Es ist das erste Mal, dass die Taliban direkt die Wahlen und die daran beteiligten Offiziellen zu ihrem Ziel gemacht haben. Bisher hatten sie stets nur den potenziellen Wählern gedroht. „Das Gästehaus war ein leicht zu identifizierendes Ziel“, sagt eine Mitarbeiterin der Uno in Kabul, die ihren Namen nicht genannt wissen will. Fahrzeuge der Vereinten Nationen seien dort ständig an- und ab gefahren, auch wenn von außen wie bei vielen internationalen Organisationen inzwischen kein Schild angebracht war. „Jetzt werden die Uno in einen Sicherheitswahnsinn verfallen, der es sehr schwer machen wird, die Wahlen durchzuführen.“

Experten hatten bereits in der vergangenen Woche davor gewarnt, dass die Stichwahl eine noch größere Herausforderung darstellen wird als der erste Wahldurchgang am 20.August, da wegen der schlechten Sicherheitslage noch weniger internationale Wahlbeobachter zur Verfügung stünden als beim letzten Mal und die Wahlbeteiligung noch geringer ausfallen werde. Die International Crisis Group (ICG) warnte, dass ein zweiter ebenfalls gefälschter Durchgang den Taliban einen „strategischen Sieg“ bescheren würde. Auch Thomas Ruttig, der auch Mitbegründer des unabhängigen „Afghan Analysts Network“ ist, ist der Auffassung, dass eine Stichwahl „zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sehr sinnvoll“ sei.

Es ist daher denkbar, dass der Druck auf Hamid Karzai und Abdullah Abdullah steigen wird, sich doch nächste Woche auf eine Koalitionsregierung zu einigen und damit den zweiten Wahlgang obsolet zu machen. Nach Informationen von Insidern laufen derzeit Gespräche in diese Richtung. Nachdem Abdullah zunächst abgelehnt hatte, zeigte sich in den vergangenen Wochen aber Karzai bockig, der es den USA verübelt, dass sie ihn in die Stichwahl gezwungen haben.

Er könnte es sich jetzt anders überlegen. In unmittelbarer Nähe des „Bakhtar“-Gästehauses wohnt ein Schwager von ihm, eines der Nachbarhäuser gehört seinem engen Verbündeten, dem Gouverneur von Dschalalabad, Gul Agha Sherzai. Und auch Außenminister Rangin Dadfar-Spanta wohnt nur eine Straße weiter. Die Taliban sind gestern den Regierenden in Kabul sehr nahe gerückt. „Zu nah um noch komfortabel zu sein“, sagt eine indische Journalistin, die direkt neben dem “Bakhtar“-Gästehaus lebt.

 

 

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sorry, Holland

 

Europa ist ja schon ein schwieriger Ort. Finden wir auf jeden Fall hier unten in Ozztralija. Ok, dass das United Kingdom eine Insel ist und daher irgendwie nicht so richtig dazu gehört, Tony Blair als EU-Boss hin oder her, ist ja halbwegs logisch. Aber Holland? Ist da bei Euch auch schon Land unter, Kerstin? Laut meinem Supermarkt jedenfalls seid ihr draußen: Klare Sache, ihr dümpelt jenseits der Eurozone irgendwo zwischen Indien, Libanon und Kosher… (die Honigwaffeln waren by the way lecker – ob nun europäisch, dutch oder made in Poland).

 

 

 

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Schlaraffenland für Gruselfans

Aus meiner Zeit in Manila bin ich einiges gewohnt, wenn es darum geht, Feste zu feiern. Vor allem Weihnachten ist auf den Philippinen eine Riesennummer. Bereits Ende September bimmeln die Glöckchen, dudeln die Christmals Carols und glitzern kunterbunt geschmückte Plastiktannen in den Einkaufszentren. Unterbrochen wird die monatelange Weihnachtseuphorie nur durch Halloween. Geister, Gespenster, Monster – alles, was hässlich und gruselig ist, wird im Oktober in die Schaufenster geräumt. Trick and Treat nach amerikanischem Muster darf natürlich auch nicht fehlen, und meine Kinder fieberten immer dem Tag entgegen, an dem sie mit ihren Eimern in Kürbisform auf Süßigkeitenjagd gehen konnten.

Mit unserem Umzug nach Tokio, so hatte ich gedacht, hätte dieser Spuk ein Ende. Von wegen. Die Japaner finden das Geistertreiben noch spaßiger als ihre philippinischen Nachbarn. Gestern paradierten Hunderte verkleidete Gestalten Tokios schicken Einkaufsboulevard Omote Sando entlang. Auch wenn Sambaklänge und Glitzerkostüme eher an Karneval in Rio erinnerten, die Halloween-Fans hatten ihren Spaß.

Apropos Kostüme. Wer nicht ein kümmerliches Dasein als Bettlaken-Gespenst führen möchte, muss nur ins nächstbeste Kaufhaus gehen. Ganze Stockwerke haben sich dort in ein Schlaraffenland für Gruselfans verwandelt. Dutzende Verkleidungen gibt es zu kaufen, von blutbesudelt-teuflisch bis neckisch-sexy. Und Unmengen an Accessoires, Deko-Materialien und natürlich kiloweise Süßigkeiten für Trick and Treat.

Mir steht der Einkauf in solch einem Halloween-Store noch bevor. Denn am nächsten Samstag ist in unserer Nachbarschaft Trick and Treat angesagt. Eine große Nummer ist das, habe ich mir erzählen lassen. Letztes Jahr seien 400 marodierende Kinder durch die Straßen gezogen und hätten lautstark drohend nach Süßem verlangt. Womit schon klar ist: meine Rechnung im Halloween-Store wird garantiert schaurig sein, schaurig hoch.    

 

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Mach mir den Kiwi bei Letterman

Alle Jahre wieder kommt es vor, dass Neuseeland auf einer Weltkarte vergessen wird. Mal auf einem Puzzle-Spiel, mal im Internet – oder auf der riesigen Globus-Ansicht am Eingang der Universal Studios in Hollywood. Pech, wenn man so weit unten am rechten Kartenrand hängt und für eine australische Insel gehalten wird. Alle Jahre wieder muss die Tourismusbehörde sich daher was einfallen lassen, um Menschen in fernen Ländern zu beweisen, dass es Neuseeland wirklich gibt. Und um sie anschließend dorthin zu locken.

 „Der Herr der Ringe“ kam da sehr gelegen, auch wenn nicht jedem nachhaltig klar wurde, dass zwar in Mittelerde Hobbits, in Neuseeland jedoch Maori leben. Die Peter-Jackson-Filme sind nun auch schon wieder ein Weilchen her. Seitdem: Nada ­, niente, und nicht mal die letzte Rugby-Weltmeisterschaft gewonnen. Also muss der Premierminister persönlich ran, um das Produkt „NZ“ unter die Leute zu bringen. Was macht er in seiner Verzweiflung? Er geht zu David Letterman.

 „Mach du mir den Kiwi“, hat Dave wohl so oder ähnlich gesagt, „ich mach euch die Promo.“  Ganz Neuseeland war in Aufregung: Der farblose John Key, der die Aura eines Filialeiters der örtlichen Bausparkasse verströmt, gerät in die Fänge des bissigsten Talkmasters der Welt – wie wird er sich im Interview schlagen? Blamiert er sich und damit alle Kiws? Lacht man im Fernsehstudio über seinen eingeborenen Dialekt? Entfahren ihm wieder Wortschöpfungen wie letztens „Afghanistanians“, wenn er Afghanen meint? Bei seiner Vorgängerin, der bärbeißigen Helen Clark, brauchte man sich solche Sorgen nicht zu machen. Die hatte Format.

 Die meiste Panik war umsonst. Key wurde nicht zum Kreuzverhör gebeten, sondern durfte nur die „Top 10“ zum Auftakt der Sendung aufsagen. Da liest der Gast Antworten vom Teleprompter ab, die ihm hoch bezahlte Gag-Schreiber vorformuliert haben. In diesem Fall in enger Absprache mit dem Zentralkomitee der Neuseeland-Werbung. Und so lief die kleine Show-Einlage für „mein liebstes Land der Welt, in dem ich noch nicht war“ (David Letterman) ab wie am Schnürchen.

 Der Premierminister wirkte nervös, aber verhaspelte sich zumindest nicht. Der Talkmaster sprach einmal von „New England“ statt „New Zealand“ und fand es drollig, dass die Bewohner sich dort „Kiwis“ nennen. Soweit, so peinlich. Dann brachte John Key seine zehn „Gründe, warum man Neuseeland besuchen sollte“, vor. Beschränken wir uns auf acht.

 1.„Im Gegensatz zum Rest der Welt mögen wir die Amerikaner noch.“  2. „Wir fahren auf der linken Seite, wie die Briten und Lindsay Lohan.“ 3. „70 Prozent unserer Energie wird durch erneuerbare Wasserkraft gewonnen – also, das müssen hier ja nicht nur Witze sein.“ 4. „Besuchen Sie mich in den nächsten 30 Tagen, ich hole Sie vom Flughafen ab.“ 6. „Unten bei uns läuft Leno um neun Uhr.“ 7. „Es ist wie England ohne die Attitüde.“ 8. „Nur einen bequemen 20-Stunden-Flug entfernt.“ 9. „Wir haben die wackeligsten Spielautomaten im Pazifik.“ Er hat ganze Arbeit geleistet. Jetzt kommen sie alle.

 

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