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Nazis beim Uni-Oktoberfest

 Die Lincoln University ist eine Bauern-Hochschule. Nichts gegen Bauern, und schon gar nicht an der Uni. Da können 18jährige Farmerkinder Wollproduktion, Forstwirtschaft und Freizeit-Management studieren. Vor der Bibliothek in Lincoln stehen keine Schirmständer für Regenschirme, sondern reihenweise Gummistiefel. Draußen parken schlammbespritze Geländewagen. Eine Bildungseinrichtung, an der Ackerkrume klebt.

Letztes Wochenende feierten die Erstsemestler eine Party. Wie es in Neuseeland üblich ist, mit Motto: Oktoberfest. Bier im Exzess saufen liegt den Leuten in Lincoln, denn was unten und oben rauskommt, das düngt den Boden. „Verkleidet euch als Deutsche“, lautete die Parole an die rund zweihundert jungen Gäste. Die kramten nur kurz im Hirnstübchen, aber tief in der Mottenkiste und brachten auf kreative Weise spielerisch zum Ausdruck, was ihnen spontan zum Stichwort „Germans“ einfiel.

Es war eine bunte Kostümparade, die den Kölner Rosenmontagszug in den Schatten stellte: Hitlerbärtchen, Uniformen mit Hakenkreuzen, Nazis in aller Couleur. Ein Student, der immerhin SMS-Englisch beherrscht, hatte „Hitler is my boi“ auf sein T-Shirt geschrieben. Ein anderer stellte einen KZ-Häftling dar. Er trug ein weißes Laken wie Hui-Buh, das Schlossgespenst. Darauf hatte er ein paar künstlerisch arrangierte Davidsterne gesprüht. An den Handgelenken rasselten Ketten. Das kam an. Großes Hallo. Dass Holocaust so lustig sein kann!

Das Oktoberfest kam richtig in Schwung, als ein paar Tische zu Bruch gingen. Im  Studentenwohnheim wurde ein Waschbecken aus der Verankerung gerissen. In Auschwitz hatten sie ja auch keine ordentlichen Bäder, also war das historisch nur korrekt. Leider gibt es aber selbst in einer unprätentiösen Institution wie Lincoln Menschen, die anderen den Spaß verderben. Verkniffene, sauertöpfische, politisch korrekte Kontrollfreaks ohne Sinn für Humor. Garantiert Deutsche. Die studieren dort nämlich in Scharen.

Als Neuseelands Medien Wind von der Studentensause bekamen, drohte die Uni mit disziplinarischen Konsequenzen. Da war die Empörung groß. Weniger darüber, dass Folter und Massenmord verharmlost wurden. Noch weniger darüber, dass Deutsche automatisch als Nazis gelten (kein einziger Kommentar). Aber das Talk-Back-Radio und sämtliche Blogs sind voll von Stimmen, dass man den Kids doch den Spaß gönnen und sich nicht so anstellen soll. Schließlich verkleide man sich auch als Cowboy oder Indianer, obwohl es die Ausrottung der Urbevölkerung Amerikas gab. Und die Juden, die sollten mal endlich Ruhe geben, das sei doch alles lang genug her. Genau wie mit den Maori.

In der „Dominion Post“ bekennt sich ein Kolumnist dazu, selber als Adolf auf eine Kostümparty gegangen zu sein. Das Motto hieß „Total daneben“. Da gab es einen Dalai Lama in Porno-Pose, einen Aborigine, der an der Flasche hing, einen Sklaven (der Darsteller war Afro-Amerikaner) und eine Menge Mercedes-Airbags, denn Prinzessin Diana war gerade tödlich verunglückt. Alles Geschmackssache.

 

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Bitte um eine Stimme

22.09.2009

Ich habe gehört dass in Deutschland jetzt auch unter Intellektuellen das Unpolitische in Mode sein soll. Wenn man in Indien lebt, kriegt man das erst mit einer gewissen Zeitverzögerung mit – dass Bücher mit Titeln “Warum ich mich nicht für Politik interessiere” erscheinen. Ich habe das Buch nicht gelesen, aber es frustriert mich ungemein, dass offenbar Leute nicht zur Bundestagswahl gehen wollen – in einem Moment wo ich gerade per ordnungesgemäßem Verfahren meiner Stimme beraubt wurde.

Ja, wirklich. Und ich kann noch nicht einmal “J’accuse” oder so rufen. Wenn man nicht mehr in Deutschland gemeldet ist, muss man sich nämlich erst wieder ins Wählerregister eintragen und dazu ein Formblatt ausfüllen, das dem entsprechenden Wahlamt bis zum 6.September vorliegen musste. Leider hat mein Brief aus Indien trotz “Speed Post” eine ganze Woche gebraucht und traf einen Tag nach dem Stichtag in Berlin ein. Perdu war mein verfassungsmäßiges Recht. Ich fühle mich auf einmal ganz ausgeschlossen.

Ich habe bereits einen Freund gefragt, der aus irgendwelchen Gründen zwei Mal die Wahlunterlagen zugeschickt bekam (ja, das gibt es nicht nur in Afghanistan!), mir einen Stimmzettel abzugeben. Aber er besteht darauf, zwei Mal zu wählen und dann der “Bild” davon zu erzählen. Auch legitim, jeder verdient seine fünf Minuten Berühmtheit.

Daher meine Bitte: Falls Sie auch zu den neuen Unpolitischen gehören: Könnten Sie mir nicht vielleicht ganz unbürokratisch Ihren Wahlzettel abtreten? Ich werde sicher guten Gebrauch davon machen!

 

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Wissen Sie, wer Alexander Suworow ist? Der größte Feldherr aller Zeiten. Das finden zumindest die Russen. Erstens, weil er Russe ist, zweitens weil er die Alpen überquert hat. Wie Hannibal, nur ohne Elefanten, und in eine andere Richtung. Suworow soll übrigens die ganze Aktion für ziemlichen Schwachsinn gehalten haben. Trotzdem führte er 1899 seine Truppen aus Norditalien auf einer halsbrecherischen Route über den Sankt Gotthard Pass, wurde dann aber in der Schweiz von französischen Revolutionstruppen geschlagen. (Ab hier berichtet die russische Geschichtsschreibung ziemlich ungenau.) Suworow und seine Krieger mussten über verschneite Pässe nach Österreich ausweichen, von 25.000 Mann kamen 15.000 an. Ein ebenso überflüssiger wie wahnwitziger Feldzug. Aber die Russen mögen so was.

Der Historienmaler Wassilij Surikow fand den Kanonenrohralpinismus seiner Landsleute jedenfalls ziemlich abgefahren.

http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/99/Suvorov_crossing_the_alps.jpg

Die Schweizer offenbar auch. Die haben das anstehende 210. Jubiläum der Alpenüberquerung Suworows zum Anlass genommen, um den russischen Präsidenten Dmitrij Medwedew einzuladen. Denn weder vor noch nach Suworow hat es ein russisches Staatsoberhaupt je zum einen offiziellen Besuch ins Eidgenössische geschafft – von Iwan dem Schrecklichen bis Gorbi oder Putin. (Klar, Lenin, war mal länger da, aber das noch als Privatmann, bevor er auszog, um in der Heimat Oktoberevolution zu veranstalten.) Und tatsächlich, Medwedew ist heute in der Schweiz eingetroffen, kein russischer Staatsmann sagt nein, wenn es darum geht, die ruhmreichen Waffentaten der Ahnen zu feiern.

 

War also eine prima Idee der Schweizer mit Suworow. Aber sie dürfen sich nicht wundern, wenn ihr Bundespräsident in 3 Jahren eine Einladung von Alexander Lukaschenko (allgemein bekannt als letzter Diktator Europas) aus Weißrussland kriegt. Den will seit Jahrzehnten kein westlicher Staatsmann besuchen, weil er sich innenpolitisch so daneben benimmt. (Und Lukaschenko hat weder Öl noch Gas zu verkaufen.) Aber das sollte man in Helvetien vergessen. Im November 1812 standen 4 dezimierte Schweizer Regimenter am Ufer der Beresina. Auf dem Heimweg eines danebengegangenen Moskau-Trips. Aber sie hielten mit blanken Bajonetten und unter Absingen später als Beresina-Lied berühmt gewordener Verse eine russische Übermacht auf, retteten so die Reste der Großen Armee Napoleons. Die Masse dieser Armee ging auf der weiteren Flucht trotzdem vor die Hunde. Und von 1300 Schweizer Helden überlebten den Tag nur 300. Auch der heroischste Männerchor aller Zeit verreckte völlig sinnlos. Also, die Berner Diplomaten könnten das Beresina-Lied schon mal auswendig lernen:

 

Unser Leben gleicht der Reise
Eines Wandrers in der Nacht;
Jeder hat in seinem Gleise
Etwas, das ihm Kummer macht.

Aber unerwartet schwindet
Vor uns Nacht und Dunkelheit,
Und der Schwergedrückte findet
Linderung in seinem Leid.

 

Mutig, mutig, liebe Brüder,
Gebt das bange Sorgen auf;
Morgen steigt die Sonne wieder
Freundlich an dem Himmel auf.

Darum laßt uns weitergehen;
Weichet nicht verzagt zurück!
Hinter jenen fernen Höhen
Wartet unser noch ein Glück.

 

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Von der Wiege bis zur Bahre

Mein Sohn Marius (4 Jahre) hat gerade seinen ersten Steuerbescheid bekommen! 4 Kronen (!) aus Zinserträgen vom Sparkonto. Die stehen der Gesellschaft zu, denn in der Abfuhr irdischer Besitztümer übt sich der Schwede früh. Die Verwaltung der Steuerschuld hat Väterchen Staat denkbar einfach gestaltet: Jedes Schwedenkind wird bei seiner Geburt mit einer zwölfstelligen Personenkennziffer ausgestattet, unter der alle nur denkbaren Informationen gespeichert sind. Jede Behörde hat Zugriff auf diese Daten. Ohne die personnummer geht auch in reiferen Lebensjahren nichts: Man kann kein Konto eröffnen, keine Wohnung mieten, keine Brille kaufen und nicht zum Arzt gehen. Hat man sie, ist alles ein Kinderspiel. Hat man sie nicht – wie gewisse Zugewanderte mit fragwürdigen Biographien – lohnt es kaum weiterzuleben.

Praktisch ist auch die auf eine Metallplatte gestanzte Erkennungsmarke mit Name und Nummer, die bei einer eventuellen Evakuierung des Kindes an einem Kettchen um den Hals baumelnd mitzuführen ist. Sie erinnert streng an die „Hundemarken“ amerikanischer Marinesoldaten und erleichtert die Identifizierung, sollte Marius einmal  im Dienst für das Vaterland sein zartes Leben aushauchen oder einer Katastrophe zum Opfer fallen. Solche sind von Natur aus überwältigend und folglich auch von der ebenso fürsorglichen wie allmächtigen Kinderaufsichtsbehörde Barnavårdcentralen (BVC)  kaum vorauszuplanen.

Manchmal ist die Sammelwut ihrer Behörden selbst den Schweden unheimlich. An der Stockholmer Uniklinik Karolinska werden die Blutproben sämtlicher Neugeborener seit 1975 im so genannten PKU-Register aufbewahrt. Noch hindert ein Gesetz Polizei und Versicherungen daran, ohne Bedenken auf die sensiblen Daten zuzugreifen. Der Versuch, eine solche systematische Erfassung aller Bürger einzuführen, würde in Deutschland unweigerlich zum Aufstand führen. Man möge sich nur an die westdeutsche Volkszählung von 1987 erinnern!

Doch solche revoluzzerhafte Gedanken, helfen zur Stunde nicht weiter. Ausnahmsweise bin ich am Sonntag ins Büro geeilt, mit der festen Absicht, noch emsiger in den Papieren zu rascheln, noch mehr Geschichten zu ersinnen, noch mehr Angebote rauszugeben. Die Steuern des Filius darf nämlich fürs Erste der Papa bezahlen.

 

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Idul Fitri in Indonesien: ein Gebet für die Toleranz

Das Erste, was mir heute Morgen beim Aufwachen auffiel, war diese Stille. Nur das Klimpern des Bambuswindspiels vor dem Fenster war zu hören. Letzte Nacht hörte sich das noch anders an: Bis in die frühen Morgenstunden verkündete die volle Lautsprechermacht aller Moscheen Jogjakartas, dass Allah groß und Mohammed sein einziger Prophet sei – und zwar ununterbrochen, immer den gleichen Satz, vom gestrigen Sonnenuntergang bis zum Sonnenaufgang heute früh. So begrüßen die Indonesier Idul Fitri, das Fest am Ende des Fastenmonats Ramadan: Es ist diese eine Nacht im islamischen Jahr, in der jeder einmal ans Mikrophon darf. Wenn die Muezzine sich heiser gerufen haben, übergeben sie an die Dorfältesten, bis diese wiederum von ihren Söhnen abgelöst werden und auch Kinder dürfen sich zwischendurch versuchen, sobald sie von ihren Laternenumzügen zurückgekehrt sind.

Auf der Suche nach den letzten geöffneten Läden – wir hatten vergessen, Milch zu kaufen – sind wir gestern Abend mehrmals zwischen diese leuchtenden Paraden geraten, die nach dem Abendgebet von jeder Moschee loszogen. Viele Umzügler trugen mehr oder weniger kunstvolle Modelle ihrer jeweiligen Gotteshäuser vor sich her, es gab aber auch andere Motive wie zum Beispiel überdimensionale Schmetterlinge oder geflochtene Palmblätter, in denen der traditionelle Festtagsreis gekocht wird. Weniger Kreative hatten sich einfach vorgefertigte Laternen im Teletubby-  oder Mickymaus-Design besorgt. Jede dieser Paraden kündigte sich ebenfalls mit dem lautstarken Lobpreis Allahs an, meist begleitet von Trommelgruppen.

Während die glühenden Gesichter der Kinder hinter den Laternen auch bei mir Festtagsstimmung aufkommen ließ, erhielt diese einen Dämpfer, als ich die Sicherheitskräfte bemerkte: In der gesamten Stadt hatten Anhänger der radikalen „Front der Verteidiger des Islam“ (FPI) die Koordination übernommen. Anfang des Jahres stand die FPI kurz vor dem Verbot, nachdem sie in Jakarta Mitglieder eines gemischt-religiösen Forums während einer friedlichen Demonstration brutal zusammengeschlagen hatte. Doch außer der Festnahme des FPI-Anführers unternahmen weder Polizei noch Regierung weitere Schritte – wie so oft bei früheren Vorfällen dieser Art.

Die FPI ist auch eine der treibenden Kräfte hinter einem neuen Gesetz, das das Parlament der autonomen Provinz Aceh vergangene Woche verabschiedet hat. Tritt es in Kraft, werden Ehebrecher in Aceh – der einzigen Provinz Indonesiens, in der das Scharia-Recht gilt – demnächst mit Tod durch Steinigung bestraft. Zwar hat die Regierung eine Revision des Gesetzes beantragt, doch bringt schon allein die Tatsache der regionalen Parlamentsentscheidung viele indonesische Intellektuelle zum Zweifeln an der bisher so gepriesenen Toleranz ihres Landes. Dementsprechend unwohl wurde mir also, als ich sah, dass die FPI im sonst doch sehr moderaten Jogjakarta die Koordination der Idul-Fitri-Feierlichkeiten übernahm. Erst recht, als eine Parade an mir vorbeizog, die einen riesigen Davidstern mit sich trug – durchstochen von einem Schwert.

Seit heute morgen trudeln Dutzende von SMS auf meinem Handy ein, die alles Gute zu Idul Fitri wünschen. Dazu gehört die traditionelle Formel, mit der man sich für alle Fehler entschuldigt, die man jemals begangen hat. Auch ich werde diesen Spruch heute noch mehrmals sagen, werde ihn sogar manchmal so meinen, werde Palmblüten in Kokosnusscurry essen und süßen Tee trinken. Und hoffen, dass Indonesien das tolerante Land bleibt, als das ich es bisher kennen und lieben gelernt habe: ein offenes, säkulares, mittlerweile demokratisches Land, in dem fundamentalistische Schlägertrupps keine Gesetze bestimmen können. 

 

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Lieferung mit Gottes Segen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der seelige Blick täuscht. Dieser LKW fuhr wie ein Henker. Kann ihm ja auch egal sein, denn eine höhere Macht wacht übr ihn.

Gesehen bei Salerno (Italien)

Foto: Barbara Markert

 

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Fahrradfahren in Rom – kann man so blöd sein?

In Rom mit dem Fahrrad zu fahren macht ungefähr so viel Spaß wie im Zirkus in die Hände eines Messerwerfers zu gelangen. Manchmal, wenn ich mit meinem Motorino durch Rom brause, sehe ich trotzdem erstaunlicherweise solche todesmutigen Menschen. Während ich an ihnen vorbeidüse und sie mit meinen Abgasen einneble, fällt mir auf, wie lange ich keinen Fahrradfahrer gesehen habe. Man tut es einfach nicht: Wer in Rom mit dem Fahrrad fährt, gilt entweder als lebensmüde, als verstockter Umweltaktivist oder als armer Schlucker, der sich kein Auto und kein Motorrad leisten kann. Und außerdem: Man könnte ja schwitzen.

Nun will die italienische Regierung mich oder noch viel mehr die eigenen Landsleute zwischen Bozen und Palermo dazu überreden, es doch mal zu versuchen und vom Auto oder Moped auf das Fahrrad umzusteigen. Wer ein Fahrrad kauft, so hat es die italienische Umweltministerin jetzt versprochen, bekommt vom Staat 30 Prozent des Preises bezahlt, bis zu 200 Euro. Die Fahrradhändler freuen sich über diese staatliche Förderungswelle, die schon die zweite ist in diesem Jahr: Im Mai und Juni kauften die Italiener dank der staatlichen Mittel in kurzer Zeit 50.000 Räder, mit der Folge dass die Internetseiten des Umweltministeriums vor der Antragsflut zusammenbrachen.

Aber wer sind die Käufer der Räder? Wer sich jetzt dank der staatlichen Förderung in Norditalien ein Fahrrad kauft, den kann ich ja noch verstehen. Hier gibt es mancherorts ja sogar sogenannte Fahrradwege, ich selbst bin im Studium fröhlich durch Padua geradelt. In Süditalien dagegen ist Fahrradfahren ein Extremsport und kein Vergnügen: Der dichte Verkehr, die höheren Temperaturen und die oft am Hang gelegenen Städte haben dort bisher nicht für einen Fahrradboom gesorgt.

Deshalb hat Umweltministerin Stefania Prestigiacomo ein Einsehen und will langsam aber sicher alle zu einer umweltfreundlicheren Fortbewegung bringen – und wenn`s schon ein umweltfreundlicheres Motorino ist. Deshalb hat sie 5,1 Millionen Euro für eine Abwrackprämie für Roller freigeschaufelt. Nun soll die staatliche Förderung dazu überreden, vom blauen Rauch spuckenden Uralt-Moped auf einen schnurrenden Viertakter umzusteigen. (Mein Motorino verströmt auch nicht den Duft eines Wunderbaums)

Ich bin ja mal gespannt, ob jetzt ausgerechnet im beginnenden Herbst der große Fahrrad-Boom in Rom ausbricht, kann ich mir jedenfalls nicht vorstellen. Heute habe ich bislang noch kein Fahrrad gesehen, obwohl ich eine Viertelstunde zur Arbeit gedüst bin. Aber ob mit oder ohne staatliche Förderung: Vielleicht kauf ich mir jetzt auch ein Fahrrad, dann kann ich mich „Extremsportler“ nennen und mir von Eiskletterern und Fallschirmspringern auf die Schultern klopfen lassen.

 

 

 

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Partystimmung

Am 1. Oktober feiert die Volksrepublik bekanntermaßen den 60. Jahrestag ihrer Gründung und schon  seit Monaten sind die Behörden so nervös wie vor über einem Jahr vor Olympia. Man sorgt sich ums Image und die Sicherheit. Warum eigentlich? Der Propaganda zufolge  ist doch alles gut im Riesenreich. Fortschritt und Harmonie aller Orten.

Und hübscher wird die Stadt auch: Bei uns in der Straße hängen seit ein paar Tagen rote Lampions an jedem Laternenmast. Überall werden Blumen gepflanzt. Überall stehen jetzt auch wieder „Freiwillige“ mit roten Armbinden rum – und wachen über unsere Sicherheit.

Seit Wochen schon hagelt es Einladungen des Staatsrates zu Pressekonferenzen: Diese Woche ging es um „Themen zu Chinas kultureller Entwicklung in den 60 Jahren seit der Gründung der Volksrepublik“. Ausserdem: „Erfolge von Chinas wisssenschaftlicher und technologischer Entwicklung in den letzten 60 Jahren“.

Staatsratspressekonferenzen sind ermüdend. Meist liest ein Vizeminister eine lange Erklärung mit vielen Zahlen ab. Das Wort „Fünfjahresplan“ kommt häufig vor. Dann dürfen Fragen gestellt werden. Aber was nützt das, wenn die Antworten, nun ja, keine wirklichen Antworten sind.

Aber es gibt ja noch andere Dinge zu berichten ausser den offiziellen Verlautbarungen.  Vor dem Petitionsbüro in der Nähe des Südbahnhofs drängen sich jeden Morgen hunderte von Menschen, die hier Eingaben machen wollen. Meist geht es um Korruption in ihren Heimatgemeinden, um Machtmissbrauch und Behördenwillkür.

Doch zum 60. Jahrestag will man die Petitionäre nicht in der Stadt haben. Und schon gar nicht soll man über sie berichten oder am Eingang Fotos machen. Journalisten werden sofort aufgefordert, „zur eigenen Sicherheit“ doch bitte mal mitzukommen. Man sitzt dann ewig in einem schäbigen Büro rum. Die Sicherheitsleute nehmen die Personalien auf, studieren minutenlang den Presseausweis und telefonieren stundenlang mit ihren Vorgesetzten. Zur „eigenen Sicherheit“ muss man dann die Örtlichkeit umgehend verlassen. 

Vielleicht Schulen und Unis? Aber Professoren, die man zum Geschichtsbild Chinas befragen will, sagen lange vereinbarte Termine plötzlich wieder ab. Sie seien eigentlich gar keine Fachleute, so die lahme Erklärung. Schulen, in den für die 60-Jahr Feiern geprobt wird, darf man auch nicht besuchen. Man solle doch lieber nach dem 1. Oktober wiederkommen, heißt es.

Nicht mal über die offiziellen Vorbereitungen darf man berichten. Wenn für die große Militärparade geprobt wird, an der 200,000 Menschen teilnehmen, ist die gesamte Umgebung weiträumig abgesperrt. Am heutigen Freitag ist Generalprobe, viele Schule müssen daher früher schließen, unzählige Straßen sind gesperrt.

Auch die Hotels  in der Nähe des Tiananmen Platzes sind bereits ausgebucht – alle Zimmer mit Blick auf die Chang’an Avenue und den Platz sollen von chinesischen Sicherheitsbehörden reserviert worden sein. Wer eine Wohnung an der Chang’an hat, soll nicht mehr auf den Balkon gehen. Besuch empfangen geht auch nicht mehr. So ist das halt in China im 60. Jahr seit der Gründung der Volksrepublik. Die Kommunistische Partei feiert ’ne Party, aber keiner darf hin.

 

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Wo Politik noch spannend ist

Stinklangweilig sei es gewesen, das deutsche Kanzlerduell – sagen alle Freunde, die es gesehen haben. Ich habe sie hingegen beneidet um das geordnete, zivilisierte Duell. Hier in Tschechien laufen solche TV-Begegnungen so ab: Die Kandidaten würdigen sich keines Blicks, fallen einander ins Wort, bezichtigen sich wechselseitig der Geisteskrankheit, geben sich am Schluss demonstrativ nicht die Hand und erstatten anschließend jeweils einige Strafanzeigen gegeneinander wegen übler Nachrede, Rufschädigung oder ähnlicher Delikte.

Solcherlei Duell ist aber erst der Auftakt zu Größerem, es ist sozusagen die Prelude zur echten Politik. Denn im Abgeordnetenhaus geht es genauso weiter. „Es ist manchmal schwierig“, wird dieser Tage der Prager Außenminister Jan Kohout zitiert, „unseren Kollegen im europäischen Ausland zu erklären, was hier in Tschechien los ist.“ Es ist für seine Diplomaten vor allem ebenso peinlich wie schwierig.

Gerade jetzt gipfelte das politische Tohuwabohu in einer Posse um die vorgezogenen Neuwahlen. Die waren nötig geworden, nachdem die linksgerichtete Opposition es fertiggebracht hat, die Regierung mitten in der EU-Ratspräsidentschaft zu stürzen. Jetzt, zweieinhalb Wochen (!) vor dem ursprünglich geplanten Termin, werden die vorgezogenen Wahlen abgeblasen: Erst hatte das Verfassungsgericht Bedenken, daraufhin änderten die Parteien mit einem großen und seltenen Konsens kurzerhand die Verfassung – und jetzt weigerte sich die selbe Oppositionspartei, die schon die Regierung gestürzt hatte, der Parlamentsauflösung zuzustimmen, obwohl sie noch einen Tag zuvor am heftigsten auf rasche Neuwahlen gedrängt hatte. Ohne Parlamentsauflösung aber keine Neuwahlen. Das ist jetzt die Kurzfassung, in Wirklichkeit gibt es noch ein paar Winkelzüge, Verwicklungen und persönliche Verstrickungen mehr.

Uns Korrespondenten stellt das vor eine entscheidende Herausforderung: Längst geplante Sendetermine und Interviews „vor den Wahlen“ müssen wir verschieben oder absagen und in den Redaktionen daheim erklären, dass wieder einmal alles anders ist als gedacht. „Ach ja, die Tschechen“, seufzen dann meistens die Kollegen in Deutschland. Und für uns hier wäre es ohnehin langsam ein besseres Geschäftsmodell, von der politischen Berichterstattung ganz auf Glossen umzusatteln – Steilvorlagen immerhin gibt es täglich.

 

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Video-Portraits wider den Schmuse-Wahlkampf

Eine erfahrene Korrespondenten-Kollegin hatte mich gewarnt: „Wenn Du nach Deutschland zurück gehst, dann sag´ bloss nicht dauernd, `in den USA machen sie das aber so und so´.“ Das sei der sicherste Weg, um auf augenrollende Ablehnung  zu stossen. Ich habe ihren Rat sofort erfolgreich missachtet und preise seit meinem Umzug nach Berlin unermüdlich mein Lieblingsprojekt an. Die mehrfach ausgezeichnete Videoserie „OnBeing“, die die „Washington Post“ auf ihrer Webseite veröffentlicht, ist einfach zu gut, um ihre Idee nicht aufzugreifen. Mit großem Vertrauen in die Geschichten, die die Menschen zu erzählen haben, und ohne Angst, Fernsehkonventionen zu brechen, zaubert Jennifer Crandall dort jede Woche ein kleines Kunstwerk des modernen Multimedia-Journalismus.

Um so überraschter war ich, als ich bei der taz auf offene Ohren für meine Idee stieß, etwas Ähnliches in Deutschland umzusetzen. Heraus kam „Unerhört“, eine Serie von Videoportraits zum Bundestagswahlkampf. Die Idee dahinter ist, Leute aus der Zivilgesellschaft zu Themen zu Wort kommen zu lassen, die im aktuellen Schmuse-Zirkus zwischen Merkel und Steinmeier nicht oder nur oberflächlich vorkommen. Die taz veröffentlicht die knapp vierminütigen Stücke auf ihrem Youtube-Kanal nun im Tagesrhythmus bis zur Wahl, die Resonanz kann sich sehen lassen. Es ist wirklich nicht alles schlecht, was aus den USA kommt.

http://specials.washingtonpost.com/video/onbeing/

www.youtube.com/dietageszeitung

 

 

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Frohes Fest!

«Osher ve briut!» wünscht mir Talia, bei der ich immer dienstags Biogemüse per Telefon nach Hause bestelle. Glück und Gesundheit.  «Chag sameach!», ruft mir Jossi nach, der Blumenverkäufer auf der Dizengoffstraße, als ich mich mit meinem Paket frischer gelber Lilien zum Gehen wende. Frohes Fest. Und Nissim, der Elektriker, sagt zum Abschied «kol tuv», nachdem er mir meinen verklemmten Rolladen wieder ins Laufen gebracht hat. Alles Gute.

Normalerweise sind sie nicht so zugewandt, die Israelis. Aber jetzt ist auch nicht «normalerweise». Denn das Jahr 5769 nach Schöpfung der Erde geht zu Ende. Ein Jahr, in dem Bibi Netanjahu zum zweiten Mal Ministerpräsident und Avigdor Liebermann zum ersten Mal Außenminister wurde. Ein Jahr, in dem die israelische Armee den Gazastreifen verwüstete. Ein Jahr, in dem der Kassam-Beschuss den Lebensrhythmus der Menschen in Sderot und Netivot bestimmt hat.

In den Hauptnachrichten klagt Noam Shalit die politischen Akteure an: «Bald ist Rosh Hashana und wir sehen immer noch nicht das Licht am Ende des Tunnels.» Sein Sohn Gilad wird seit 1179 Tagen von der Hamas festgehalten. Bibi lässt sich von George Mitchell, dem US-Sondergesandten für den Nahen Osten, nicht einschüchtern und besteht auf den Plänen seiner Regierung, 3000 neue Wohneinheiten für jüdische Siedler in der Westbank zu bauen.  Die Goldstone-Kommission der Vereinten Nationen weist der israelischen Armee und der Hamas in einem 547-Seiten-Bericht nach, während des Gaza-Krieges Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben.

Rosh Hashana, das ist auch die Zeit der «Slichot», der Buße. In den Synagogen wird das Widderhorn geblasen, der Shofar. Wer religiös ist, hat jetzt Gelegenheit, sich mit Gott und den Menschen auszusöhnen. Um Vergebung zu bitten. Das Angebot gilt bis Jom Kippur, dem Versöhnungstag, zehn Tage nach Rosh Hashana.

Am Freitag Abend also ist Neujahr. Dann versammeln sich die Großfamilien. Sie singen, beten, essen. Sie sitzen um einen großen Tisch, tauchen Apfelschnitze in Honig, auf dass das neue Jahr süß werde. Sie kauen Granatapfelkerne und nehmen sich vor, im neuen Jahr sämtliche in der Torah festgeschriebenen göttlichen Gebote zu halten. Sie kosten von einem Fischkopf in der Hoffnung, im neuen Jahr immer vorneweg und nie Schlusslicht zu sein.

Rosh Hashana, das ist die Zeit der guten Vorsätze. Es ist eine vielversprechende Zeit in einem Land, das guten Willen gut gebrauchen kann. In diesem Sinne also «chag sameach»!

 

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Im Herzen der Finsternis

Kaddisch im Wald von Paneriai. Fania Brantsovskaya reicht dem Reporter bis zum Bauchnabel. Die alte Dame, Jahrgang 1922, überlebte die Auflösung des Wilner Ghettos 1943, ging als Partisanin in die Wälder. Sie hat ein vergilbtes Foto mitgebracht. Von ihrer Familie ist nichts geblieben als die Erinnerung. 70 000 Menschen haben die deutschen Besatzer in Ponar, rund 20 Kilometer südwestlich der litauischen Hauptstadt Vilnius, erschossen, in Gruben aufgeschichtet und verbrannt.

Vor dem Einmarsch der Nazis war fast jeder zweite Bewohner der Stadt jüdischen Glaubens. „Vilne“ ein Zentrum jüdischer Kultur, das es so in Nordeuropa kein zweites Mal gab. Litauens jüdische Emigranten, die Litvaken,  sind noch einmal zurückgekehrt ins Herz Europas, wollen die Erinnerung an dieses litauische Jerusalem mit seinem weltberühmten Gaon wieder aufleben lassen. Aber sie sprechen auch ein Thema an, das in der jungen Republik tabuisiert wird: Mit bestialischen Greueltaten beteiligten sich Litauer als willige Helfer der Nazis am Judenmord.

Unterdessen mühsame Spurensuche in der barocken Altstadt. Kein Schild, kein Hinweis. Im offiziellen Programm der Kulturhauptstadt findet das jüdische Erbe kaum statt. Kritiker halten Vilnius ohnehin für unwürdig, weil es bis heute Streit um die Rückgabe jüdischen Eigentums gibt. Frostig sei der Umgang mit der Minderheit, klagt der rastlose Simon Gurevičius von der Gemeinde (3 000 sind sie noch): Litauische Staatsanwälte ermittelten gegen jüdische Partisanen um Brantsovskaya. Neonazis durften vor der Synagoge aufmarschieren.

Immerhin, im Streit um den ehmaligen jüdischen Friedhof von Vilnius lenkte das Kulturministerium in diesen Tagen ein. Auf den von den Sowjets eingeebneten Flächen darf eine Bebauung nur nach Zustimmung der Gemeinde erfolgen. Auch in den Verhandlungen um Entschädigung für geraubten Besitz im Zuge der Enteignung und Arisierung gibt es Bewegung. Allerdings liegen die gegenseitigen Vorstellungen vom Umfang der Zahlungen noch weit auseinander.

 

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Aus für “polymorphes Parken” in Beirut?

Aus für „polymorphes Parken“ in Beirut?

Der libanesische Innenminister meint es ernst, sehr ernst sogar. Ziad Baroud hat nun schon mehrfach versucht, die Autofahrer in der libanesischen Hauptstadt an den Gedanken zu gewöhnen, dass es tatsächlich so etwas wie Straßenverkehrsregeln gibt. In einem Land, wo man einen Führerschein ohne Fahrstunden oder ordentliche Prüfung für 100 bis 350 US-Dollar erwerben kann und wo das Missachten staatlicher Regelwerke als eher normal gilt, ist das mutig. Barouds Devise lautet: Die libanesischen Strassen müssen sicherer werden, 850 Verkehrstote im Jahr 2008 sind entschieden zu viele für ein Land mit rund 4 Millionen Einwohnern.

Ich staunte dennoch nicht wenig, als ich kürzlich auf der Corniche, der Strasse, die in Beirut am Meer entlangführt, gleich mehrere Arbeitertrupps sah, Eimerchen mit weißer Farbe in der einen Hand, dicke Pinsel in der anderen. Sie begannen tatsächlich, Parkverbotszonen am Straßenrand, so wie wir das in Deutschland auch gewohnt sind, mit weißen Streifen zu markieren. Meine spontane Reaktion: „Was für eine Verschwendung von Farbe! Wer verdient sich denn an dieser Aktion eine goldene Nase?“ Denn oft werden derart unsinnig erscheinende Projekte vom Gewinnstreben einzelner Regierungsmitarbeiter getrieben, zumal, wenn der Staat das Portemonnaie öffnet. Zu hoffen, dass ein Parkverbot in Beirut respektiert wird, das ist ungefähr so absurd wie darauf zu warten, dass Ostern und Weihnachten auf einen Tag fallen. Selbst auf Hauptverkehrsadern parken Beiruter in zweiter oder sogar dritter Reihe – was dann zu dramatischer Staubildung führt, aber wen interessiert das! Die dritte Reihe wird aber, das muss man schon einräumen,  meist nur in Anspruch genommen, wenn man rasch etwas in einem Laden am Straßenrand besorgen muss.

Auch Eisenpoller, die ein Parkverbot markieren, werden schlicht ignoriert. Dann stellt man sich eben daneben. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt, und unsere mitteleuropäische Phantasie überbieten die Autofahrer hier mit Leichtigkeit. Die Bloggerin und Illustratorin Joumana Medlej hat den Eigenheiten libanesischer Verkehrsteilnehmer übrigens eine ganze Reihe wunderbarer Cartoons unter dem Stichwort ‘polymorphes Parken’ gewidmet. Um auf die Corniche zurückzukommen, verwunderte es mich denn nicht weiter, dass, kaum war die weiße Farbe trocken,  zahlreiche Autos ihre Schatten über die fein säuberlich aufgemalten Streifen am Straßenrand warfen.

Doch Ziad Barouds Malertrupps ließen sich nicht beirren, sie malten wenig später Fahrstreifen auf mehrspurige Strassen – in einem Land, in dem das Konzept der Fahrspur an sich gänzlich fremd ist. Im Libanon lautet das Credo: Der durch die Seitenbebauung am Rand begrenzte Raum einer Strasse ist maximal auszunutzen, das heißt es gibt jeweils so viele Spuren, wie gerade Autos nebeneinander Platz finden. Das findet der Mitteleuropäer mitunter etwas beängstigend, aber wir sind zugegebener Maßen ziemliche Mimosen im Straßenverkehr.

Die zahlreichen neuen Ampeln, die von den Ordnungskräften an Kreuzungen aufgestellt wurden, haben bis jetzt lediglich zu Verwirrung geführt. Plötzlich leuchten da rote, gelbe oder grüne Lichter, wo man sich früher schlicht dem Nahkampf hingegeben hat. Was nun? Soll man sie beachten – oder eher nicht? Gut, wenn der Strom gerade wieder ausgefallen ist, stellt sich die Frage nicht. Dafür stehen an jeder Kreuzung weiterhin Verkehrspolizisten, die in dem Fall ihrem Auftrag mit wild wedelnden Armen nachkommen. Doch wenn die Ampeln ihre Farbe wechseln, dann scheint es als beobachteten diese Ordnungswächter eher amüsiert die Unschlüssigkeit der Verkehrsteilnehmer darüber, was man mit diesem ungeahnten Einbruch des hoch technologisierten Zeitalters in den Beiruter Verkehrsalltag anfangen soll. Meist gilt am Ende weiter das Gesetz des Dschungels, das heißt „Frech kommt weiter“ und bahnt sich den Weg.

Bleibt die Frage: Glaubt der Minister tatsächlich, dass diese immer neuen Signale einer bisher ungekannten ordnenden Hand im Beiruter Verkehr langfristig Wirkung zeigen werden? Ist er gar ein Anhänger der Broken-Windows-Theorie ? Bisher gibt es noch keine Anzeichen dafür, dass die Maßnahmen in Beirut die gewünschte Beachtung finden. Aber vielleicht muss man es wirklich nur lange genug versuchen und hoffen, dass sich die Idee eines Regelwerkes, das man unter Umständen sogar befolgen könnte, irgendwo im Unterbewusstsein der Libanesen niederschlägt. 

 

 

 

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Titel, Thesen, Tageszeitungstraum

Die linksliberale dänische Tageszeitung Politiken überrascht mich immer mal wieder, wenn ich sie morgens von der Fußmatte aufhebe.
Erklärte Strategie ist, die siebenmal die Woche erscheinende Zeitung täglich und vor allem am Wochenende etwas mehr zu einer Wochenzeitung zu machen, schließlich gibt es die reinen Nachrichten im Netz. Wenn also wie jetzt Wahlen in Afghanistan sind, Obama für die Gesundheitsreform kämpft, in Dänemark über das Burka-Verbot gestritten wird, dann gilt es dennoch etwas anderes auf den Titel zu heben. "Forscherurteil: Dänische Kunst ist gleichgültig" prangte mir am gestrigen Samstag auf der ersten Seite von Politiken entgegen. Die zeitgenössische dänische Kunst sei an den Markt angepasst und ästhetisch, nicht aber politisch, so der junge Kunsthistoriker Mikkel Bolt. Mich hat der Text (der auch im Kulturteil Aufmacher war) sehr interessiert, schließlich muss sich Dänemarks Vorzeigekünstler zumindest hinter vorgehaltener Hand von Kollegen und Kunsthistorikern schon lange immer wieder vorhalten lassen, vor allem die Massen zu unterhalten.
Dennoch dürfte der Großteil der Leser von Politiken bei der Überschrift wohl gedacht haben "Interessiert mich herzlich wenig". Umso mehr bekräftet diese Geschichte meinen Eindruck, dass Politiken nicht wenige ganz besondere Leser hat. Nämlich jene, die zwar gewisse Geschichten nicht lesen, aber stolz darauf sind, wenn ihre Zeitung diesen trotzdem einen prominenten Platz einräumt. Das bestärkt sie darin, dass sie die bessere Zeitung lesen. Die beiden konservativen Konkurrenzblätter Berlingske Tidende und Jyllands-Posten würden solche Geschichten so nicht wagen. Einerseits zeugt das von einer gewissen moralischen Überheblichkeit der Politiken-Leser, andererseits hat das den hübschen Nebeneffekt, dass auch etwas abwegigere Themen groß rauskommen – ein Traum vor allem von Journalisten.

 

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Wenn der Muezzin die “Traviata” trifft

Die Nacht ist sternenklar, eine leichte, kühle Brise weht durch die römischen Ruinen von Baalbeck. Mehrere tausend Libanesen und Ausländer blicken gebannt von den Zuschauertribünen auf die ungewöhnlich große Bühne, direkt am Fuße der 19 Meter hohen Steinsäulen, die den gewaltigen Bacchustempel aus dem 2. Jh vor Christus umgeben. Violetta, die Titelheldin von Guiseppe Verdis „La Traviata“ besingt im vollem Sopran gerade ihre Liebe zu Alfredo – da setzt er ein, der Muezzin in der Nachbarschaft. „Allahu akbar“. Nicht nur einer! In Abständen von Minuten beginnt eine ganze Kakophonie der Gebetsrufe in Baalbeck, der Hochburg der schiitischen Hisbollah im libanesischen Bekaa-Tal. Könnte ich sie aus der Ferne der eher günstigen Sitzplätze so genau sehen, ich bin mir sicher, ich könnte bei Ermonela Jaho, die die Violetta singt, nicht einmal ein Wimpernzucken bemerken. Die Töne perlen ihr aus dem Mund, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen. Bei mir hingegen zucken nicht nur die Wimpern sondern auch die Ohren. Ein paar Minuten später, als dieses ungewöhnliche Duett – oder ist es vielmehr ein Sextett? – nach dem Motto „Islam meets Opera“ zu Ende ist, geht ein fast hörbarer Seufzer der Erleichterung durchs Publikum. Doch zu früh gefreut: Der Muezzin erhebt erneut seine Stimme, und damit nicht genug. Eine Weile später beginnt in einem Restaurant auf dem Nachbarhügel eine libanesische Hochzeitsfeier, deren laute arabische Musik in Wellen vom Wind zu uns getragen wird. Dazu ein gelegentliches Hupkonzert aus dem Dorf (es wurde sicher irgendetwas gefeiert) sowie mehrere Salvos Freudenschüsse und ein kleines Feuerwerk – als Opernfan, der sich seit Monaten auf seine „Traviata“ gefreut hat, muss man schon sehr viel kulturelle und akustische Toleranz mitbringen, um sich davon nicht irritieren zu lassen. Die Kulisse ist dennoch atemberaubend schön, der jahrhundertealte, majestätische Tempel, die blinkenden Sterne im dunkelblauen Nachthimmel… Aber vielleicht muss ich doch erkennen, dass der Libanon mit seinen lärmbesessenen Menschen (ich glaube fast, sie haben gar kein Empfinden für Lärm, das dem des durchschnittlichen Europäers auch nur nahe käme), sich trotz magischer Konzertorte einfach nicht für Aufführungen klassischer Musik mit sanften Tönen eignet. Jedenfalls sicher nicht Baalbeck, wo die Tempel in unmittelbarer Nähe der Stadt stehen. Natürlich unken ein paar libanesische Zuschauer, die Hisbollah-Anhänger in Baalbeck inszenierten diese Störmanöver extra, weil sie das als dekadent empfundene „International Baalbeck Festival“ boykottieren wollten. Das glaube ich gar nicht. Die Hisbollah macht ihren Punkt auf ganz andere Weise deutlich: Mit einer kleinen Ausstellung zum islamischen Widerstand in den Tempelruinen. Hisbollah-Fähnchen und die Hochglanzbroschüre „Warum widerstehen wir?“ bekommt man als Geschenk. Immerhin ist der Zugang, direkt neben dem Eingang zum Festival, fakultativ. Wenn man sich hinein begibt, steht man vor blutigen Bildergalerien aus dem Krieg vom Juli 2006 mit Israel, einem Raum  voller Märtyrerbilder und am Ende eines kleinen Ganges vor dem Nachbau des „Büros“ von Imad Mughniyeh, einem Ex-Hisbollah-Sicherheitschef und international gesuchten Terroristen, der im Februar 2008 in Syrien bei einem Bombenanschlag ums Leben kam. Ob Guiseppe Verdi, der schließlich nicht nur Künstler sondern auch ein sehr politischer Mensch war, sich diese Nachbarschaft gewünscht hätte, wage ich zu bezweifeln. Aber wer hätte ihn fragen sollen.

 

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Kaupthing lässt Journalisten jetzt in Ruhe recherchieren

Seit dem Ausbruch der Finanzkrise auf Island oder soll man besser sagen seit dem Zusammenbruch der Banken dort, tauchen ständig neue Gerüchte darüber auf, wie die Banker ihre Stellung systematisch ausgenutzt haben und so zum Absturz beigetragen haben. Schon lange heißt es, die Finanzinstitute hätten ihre größten Eigner mit sehr vorteilhaften und risikobehafteten Krediten bedient. Ende vergangener Woche (also Ende Juli) tauchte dann ein internes Dokument der Kaupthing Bank auf, dass genau dies bestätigte. Erst kursierte es auf Island, von wo aus auch ich es zugesteckt bekam (siehe den Bericht in der FTD). Für jedermann ist es auf der Seite von Wikileaks zugängig. Das war der mittlerweile verstaatlichten Kaupthing zu viel. Sie schrieb an Wikileaks und forderte, dass das Dokument entfernt werde. Doch das gelang nicht. Auch an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk RUV, der in der Abendsendung berichten wollte, wandte man sich. Hier ließ Kaupthing eine Verfügung zustellen und untersagte den Bericht, schließlich gehe es um das Bankgeheimnis.
Die auch für die Medien zuständige Kultusministerin Katrin Jakobsdóttir forderte daraufhin eine Gesetzesänderungen, damit die Journalisten nicht in ihrer Arbeit behindert werden. Schließlich wollen sie die Isländer darüber aufklären, was in ihren Banken geschehen ist und wie diese den Crash in dem Land mit verursacht haben.
Genau deshalb protestierten die Isländer im Netz und in Gesprächen gegen die Blockadepraxis von Kaupthing. Mit Erfolg. Die Bank will fortan nicht mehr gegen die Veröffentlichung des Dokuments vorgehen.

 

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Kleiner Sieg für die Zivil-Courage

Es passiert nicht oft, dass Chinas Blogger und Bürgerrechtsaktivisten Grund zum Feiern haben. Im Land mit der schärfsten Internetnetzensur der Welt, rechnet man schon gar nicht mehr damit, dass die Regierung auch mal klein beigeben könnte. Aber genau das ist jetzt passiert. Nur Stunden bevor am 1. Juli neue Vorschriften in Kraft treten sollten, wonach alle neuen Computer in China mit einer speziellen Filter-Software ausgestattet werden müssen, wurde das Vorhaben auf unbestimmte Zeit verschoben. 

Die neue Software sollte eigentlich die chinesischen Internetnutzer vor Pornografie schützen – das zumindest behauptete die Regierung. Aber Chinas 300 Millionen Internet-User witterten – zu Recht – einen Angriff auf ihre Privatssphäre. 

Der Plan der Regierung wurde seit Wochen im Reich der der Mitte heiss diskutiert. Und das obwohl die Regierung die staatlichen Medien offenbar angewiesen hatte, der Debatte nicht allzuviel Raum zu geben. Aber selbst in den ansonsten regierungstreuen Blättern erschienen teilweise erstaunlich kritische Berichte über das Vorhaben.  

Auf dem Netz hatte sich der Widerstand schon früh formiert.  In dem Land, wo man ohne Proxy-Server keine einzige Webseite von Tibet- oder Menschenrechtsgruppen aufrufen kann, hatte es  gegen die Filtersoftware „Grüner Damm“ eine wahre Protestflut gegeben.  

Der ungewohnte Widerstand mutiger Blogger mag ein Grund gewesen sein, warum das Ministerium für Informationstechnologie in buchstäblich letzter Minute dann doch eingeknickt ist. Oder es war die Aussicht auf zermürbende Auseinandersetzungen mit den USA, die den freien Welthandel durch die zwangsweise Einführung der Software bedroht sahen. 

Aber der Sieg von Chinas Netizens über die Zensoren könnte nur von kurzer Dauer sein. Denn die „Grüner Damm“-Software ist nur ein Teil  einer groß angelegten Kampagne zur Internetkontrolle. So musste sich Google erst  in den vergangenen Wochen wiederholt vorwerfen lassen, „ungesunde“ und pornografische Inhalte zu verbreiten. Googles Suchmaschhine in China und andere Google-Dienste waren zweitweise nicht mehr nutzbar. 

Dennoch haben Chinas Bloggers für heute erst einmal Grund zum Feiern. Der Künstler Ai  Weiwei, der wegen der Filtersoftware für den 1. Juli zu einem eintägigen Internet-Boykott aufgerufen hatte, kann nun statt seiner ursprünglich geplanten Protest-Grillparty eine Siegesparty für die Zivilcourage feiern.  

 

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4 Überlegungen zum Frühstück: Krise des Journalismus oder der Hotellerie? Oder sind es nur die Schweizer? Oder die von sich überzeugten Berliner?

Mitte Juni verbrachte ich für eine Konferenz einige Tage in Berlin. Man hatte mich im Swissôtel einquartiert. Das Haus am Kudamm gehört zu den nobelsten der Hauptstadt. Im Frühstücksraum angekommen, blickte ich am ersten Morgen in nahezu fieberhafter Erwartung auf das Zeitungsangebot, das mir präsentiert wurde. Zwar habe ich im Kopenhagener Büro zwei deutsche Tageszeitungen, doch kommt die eine stets einen Tag zu spät. Ein solches Hotel aber würde mir sicher die Wahl lassen zwischen den aktuellen Ausgaben von FAZ, FTD, Welt, Handelsblatt, SZ sowie einigen ausländischen und regionalen Blättern.

Eine Wahl, die bei mir meist dazu führt, sich in Flieger und Hotel etwas beschämt mindestens fünffach zu bedienen. Am liebsten würde ich in solchen Fällen immer allen Umstehenden, die sehen, wie ich so viele Zeitungen abgreife, entschuldigend und mit einem Lächeln zuflüstern "Ich bin Journalist".

Im Swissôtel war das gar nicht nötig. In der Auslage gab es die Berliner Zeitung und den Tagesspiegel im Überangebot, dann das Handelsblatt und Welt kompakt, einzig ausländische Zeitung war die International Herald Tribune.

Nun ist natürlich gegen keines dieser Blätter etwas einzuwenden, aber was heißt es, wenn ein solches Haus es nicht für nötig hält, seinen Gästen ein großes, überregionales Blatt ohne Spartenfunktion anzubieten (Also etwa Welt statt Welt kompakt und FAZ zusätzlich zum Handelsblatt)? Dass die Berliner Blätter sich als überregionale sehen, ist bekannt. Geteilt wird diese Meinung aber vor allem in der eigenen Redaktion. Ist es also ein Beweis dafür, dass in Berlin die Berliner Medien als die besten angesehen werden (These: überzeugte Berliner)? Oder sind Zeitungen heutzutage so uninteressant, dass die Gäste großer Häuser sich nicht drum scheren, was sie als Lesestoff geboten bekommen (These: Krise des Journalismus)? Oder hat das Hotel einfach eine schlechte Geschäftsführung, ist gar die Branche in Mediendingen unbewandert (These: Krise der Hotellerie)? Oder liegt es einfach daran, dass das Hotel Swiss im Namen hat, die NZZ spart ja bekanntlich auch tüchtig und entwickelt sich zu einem immer lokaleren Blatt (These: die Schweizer)?

Pay TV gab es jedenfalls. Allerdings nicht im Frühstücksraum.

 

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Die Weltreporter werden erwachsen

Auf einem Podium mit Guardian-Starreporter Nick Davies und Krisenberichterstatter Ashwin Raman, mit  ARD-Legende Dagobert Lindlau, Stern-Auslandschef Hans-Hermann Klare und Tagesthemenredakteurin Ariane Reimers. Alle preisgekrönt und weit bekannt. Und mittendrin ich? Klar, warum nicht! Schließlich sitzt Du da für die  Weltreporter – und die haben mittlerweile auch einen guten Namen. Außerdem organisieren wir immerhin die ganze Veranstaltung. Sagt unsere Geschäftsführerin Barbara Heine, für die das Wort unmöglich irgendwie nicht existiert. Doch dann kommt Dagobert Lindlau als Erster durch die Tür, mittlerweile 78 und mit Stock in der Hand, aber mit jungenhaft verschmitztem Lächeln, und alle Bedenken sind vergessen.

Zum ersten Mal präsentieren die Weltreporter auf der Jahrestagung von Netzwerk Recherche eine  Podiumsdiskussion zur Auslandsberichterstattung. „Früher war alles besser!“ ist der Titel der Veranstaltung. War wirklich alles besser? fragt Moderatorin Julia Sen zum Auftakt. Nein! sagt Dagobert Lindlau fröhlich, während  Ashwin Raman schimpft, dass heute auf jeden Fall alles schlecht sei. Reimers und Klare relativieren ihre  Einschätzungen: Als Mitverantwortliche für das, was wir heute über das Ausland zu sehen und zu lesen bekommen, könnten sie wohl auch schlecht sagen, dass früher alles besser war. Aus meiner Freien-Sicht würde etwas mehr Rückgewandtheit zu intensiver und qualitativer Recherche vor Ort allerdings nichts schaden. Und deswegen gibt es ja die Weltreporter, sage ich. Dann trifft Stargast Nick Davies ein, dessen Platz neben mir bislang leer blieb, weil das Flugzeug zu spät landete. Der Guardian-Reporter erhält sogleich das Wort, das er für die nächsten fünf Minuten auch nicht mehr abgibt und – mit einem Arm noch in der Jacke – sogleich für eine Zusammenfassung seines  Bestsellers „Flat Earth News“ nutzt.

Trotz des redegewandten Briten kommen alle Podiumsteilnehmer etwa gleich oft zu Wort, es geht um   „Fallschirmspringer“ und zu viel Agenturjournalismus (was offensichtlich alle schlecht finden), um Abgrenzung zur  Propaganda von öffentlichen Institutionen und NGOs sowie „Embedded Journalism“ (was nicht alle ganz so schlimm finden). Hier wird es schon differenzierter: Raman zum Beispiel meint, es komme darauf an, ob der Journalist sich auch wirklich einbetten lasse, er könne sich samt seiner Kamera langfristig sozusagen unbemerkbar machen. Davies dagegen glaubt, dass unsere Weltmedien heute überwiegend propagandagesteuert sind.

Wie kommen Themen überhaupt ins Blatt oder auf Sendung, hinterfragt die Moderatorin, und lässt mich erklären, warum welche Themen gut ankommen (einfache Antwort: Katastrophen, Krisen, Krankheiten, deutsche Akteure oder islamische Extremisten) oder nicht (einheimische Akteure bei friedlichen Themen oder muslimische  Menschenrechtler zum Beispiel). Klare und Reimers bestätigen und scheinen sich doch irgendwie schuldig zu fühlen, zumindest holen sie zu längeren Rechtfertigungen ihrer Themenwahl aus. Dann die Frage an den Auslandschef des Stern: Warum jetzt ein Titel mit Folterfotos aus dem Irak? Bestimmt nicht für die Auflage, so Klare, man habe die Fotos bekommen und der Zeitpunkt passte zu den brisanten Äußerungen der neuen und der  alten US-Regierung. Der Stern wollte Haltung zeigen. Ein Relikt aus alten Zeiten der Auslandsberichterstattung, als  alles besser war? Oder doch eher die Sensation? Raman schimpft, was an den Fotos denn Besonderes sei, er habe diese seit Langem gehabt.

Davies von der Moderatorin auf den Stern-Titel angesprochen wirkt trotz der brillanten Übersetzerin an seiner Seite  verwirrt, den habe er nun wirklich noch nicht lesen können. Daher nutzt er die Gelegenheit eine weitere Kostprobe seiner provokanten Beredsamkeit zu geben und über neue Möglichkeiten der länderübergreifenden Zusammenarbeit von Medien zu referieren. Ob die Weltreporter denn nur für deutsche Medien berichten würden oder auch schon mal über Partnerorganisationen in anderen Ländern nachgedacht hätten? fragt er mich im  Anschluss an die Diskussion.

Für Fragen aus dem Publikum blieb bei der kurz bemessenen Stunde leider nicht viel Zeit, so blieb es bei drei Fragern, die sich vor allem für die Themenauswahl interessierten. Wie man denn als Freier Geschichten beim Stern unterbringen könne, fragte ein Kollege. Man habe keine guten Erfahrungen mit Freien, erklärte Hans-Hermann Klare, daher würden sie selten Geschichten von außen nehmen. Dann schob er jedoch nach: Bei den Weltreportern allerdings würden sich die Redaktion immer auf der sicheren Seite fühlen. Nette Geste, so zum Schluss.

Der gut gefüllte Seminarraum blieb dies auch bis zum Ende der Veranstaltung, offensichtlich war die Diskussion spannend genug, um nicht vorzeitig zu gehen. Ein Journalistikstudent bittet mich im Anschluss um ein Interview für seine Diplomarbeit, ein Redakteur aus Osnabrück um Tipps für die freie Arbeit im Ausland. Andere Kollegen  erzählen beim Mittagessen im Stehen von ihren erfolgreichen oder weniger erfolgreichen Versuchen als freie Korrespondenten, man tauscht sich aus. Es läuft immer auf das erfolgreiche Verkaufen der Geschichten heraus –  und das Non-plus-Ultra dafür ist: ein gut funktionierendes Netzwerk.

Am gleichen Abend noch feiert die Henri-Nannen-Schule ihr 30-jähriges Jubiläum in Hamburgs  Völkerkundemuseum. Bei der Begrüßung erkenne ich einige Gesichter aus dem Publikum der Podiumsdiskussion wieder: die aktuellen Journalistenschüler. Eine Schülerin kommt auf mich zu und fragt: Sie saßen doch heute Mittag auf dem Podium? Waren Sie wirklich bei der Gründung der Weltreporter dabei? Ich muss lachen und denke daran, dass ich mich heute Morgen noch selbst wie eine Journalistenschülerin gefühlt habe. Offensichtlich alles eine Frage der Perspektive. Ja, sage ich, und der Begrüßungssekt prickelt im Hals.

(Foto: Wulf Rohwedder, netzwerk recherche e.V.)

 

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Unter schwarzer Flagge

Schwedens Piratenpartei ist stolze Siegerin der Europawahlen. Erstaunlich eigentlich, denn zu den meisten politischen Themen haben die Rebellen der Generation Internet keine Meinung. Dennoch holten sie aus dem Stand  7,1 Prozent der Stimmen. Unter großer Anteilnahme der jugendlichen Zielgruppe wollen die Freibeuter um Rick Falkvinge und Christian Engström nun auch auf dem Kontinent für Bürgerrechte und gegen immer neue Abhörgesetze, Spitzeltrojaner und Softwarepatente streiten. Die Partei entstand im Umfeld der Raubkopierer-Plattform „The Pirate Bay“ und hat allgemein ein Problem mit dem geistigen Eigentum.  Beobachter in Schweden rätseln nun, ob es sich nur um einen kurzweiligen Erfolg oder vielmehr um eine nachhaltige Protestbewegung handelt.

 

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Absurdes Theater auf dem Platz des Himmlischen Friedens

„Den Pass bitte!“ Die junge Polizistin streckt fordernd die Hand mit dem weissen Handschuh aus. Neben mir strömen die Menschen durch die Sicherheitskontrolle auf den Platz des Himmlischen Friedens im Herzen Pekings. Nur der Mann vor mir in der Schlange darf auch nicht weiter. Aus seiner Aktentasche fischen die Beamten engbeschriebene Papiere. Ob er die auf dem Platz etwa verteilen wollte, fragt der Polizist barsch. Der Mann schüttelt irritiert den Kopf.

Der 4. Juni ist in China ein heikler Tag. Weil sich die Niederschlagung der Demokratiebewegung heute zum 20. Mal jährt, sind die Sicherheitsbehörden besonders nervös. Die junge Polizistin entdeckt das Journalistenvisum in meinem Pass. „Guck mal“, sagt sie triumphierend und reicht das Dokument an ihren Vorgesetzten weiter. Der studiert minutenlang meinen Pass, schreibt sorgfältig alle Details in eine große Liste und schickt mich dann zurück. Ohne Sondergenehmigung dürfen Journalisten heute nicht auf den Platz, heißt es.

Ein Begründung gibt es nicht. Denn der 4. Juni ist ja kein offizieller Gedenktag. Eigentlich ist es ein Tag wie jeder andere, behaupten die Behörden. Dass man vor 20 Jahren den „konterrevolutionären Aufstand“ der Studenten mit Panzern und scharfer Munition niederschlug, soll das Land am liebsten vergessen. Dennoch ist man überall in der Stadt in Alarmbereitschaft. Besonders am Tiananmen. Keiner soll demonstrieren oder versuchen, in irgendeiner Form der hunderten, vielleicht tausenden von Toten vor 20 Jahren zu gedenken.

Ich mache mich auf ins „Verwaltungsbüro für den Platz des Himmlischen Friedens“ und bitte dort um eine Genehmigung, um den Platz als ausländische Journalistin betreten zu drüfen. „Gar nicht nötig“, lacht der Beamte dort. „Du hast ja gar keine Fernsehkamera dabei.“ Und dann der Rat, es doch am besten an einem anderen Eingang zu versuchen. Dort seien die Beamten freundlicher.

Diesmal halten mich an der Sicherheitsschleuse, wo alle Taschen wie am Flughafen durchleuchtet werden, nicht drei, sondern zehn Polizisten auf. „Wo ist Deine Sondergenehmigung“, kommt schon wieder die Frage. Wieder wird der Pass studiert, diesmal auch mein Mikrofon und Aufnahmegerät gefilzt. Erst als ich verspreche, dass ich auf dem Platz mit niemandem sprechen werde, darf ich passieren.

Interviews hätte man heute sowieso nicht machen können. Auf dem Platz sind vor allem Sicherheitsleute unterwegs: Gruppen von Polizisten, Soldaten der Nationalen Volksbefreiungsarmee und junge Männer in Zivil. Viele tragen einen Knopf im Ohr und ein Mikro am T-Shirtkragen. Fast alle haben Anstecknadeln mit der chinesischen Flagge dabei – und gleichfarbige Sonnenschirme. Die sollen offenbar vor der brutalen Hitze schützen, können aber auch jederzeit vor die Linsen der Fernsehkameras (mit Genehmigung, versteht sich) gehalten werden. Man spaziert über den Platz und gibt sich gelassen. 4. Juni. War da was? Ist doch ein Tag wie jeder andere auch.

 

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Der König ist tot, es lebe die Königsfamilie

In der Oper gewesen, Livlægens besøg (Per Olov Enquists Livläkarens besök / Besuch des Leibarztes). Auch bei dem Stück ging die Verbeugung beim Schlussapplaus zunächst gen Loge der Königsfamilie.

 

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Im sichersten Zug der Welt

Vor ein paar Wochen fuhr ich in einem Hochsicherheitstrakt. Der TranzAlpine ist einer von gerade mal drei Zügen, die durch Neuseeland rattern. Außerdem bringt er einen in viereinhalb Stunden von der Ostküste der Südinsel zur Westküste. Schneller und schöner lässt sich kaum ein Land durchqueren, Alpenpanorama inklusive. Und rundum abgesicherter auch nicht. Das größte Risiko bei einer Fahrt auf dem sichersten Zug der Welt besteht darin, dass man sich aus Verzweiflung darüber, wie unausstehlich sicher alles auf dieser Zugfahrt ist, am liebsten vor den Zug werfen will.  

Denn der TranzAlpine ist nicht einfach nur ein Pendlerzug, der Schichtarbeiter von Christchurch nach Greymouth bringt. Oh nein. Der TranzAlpine ist ein Touristen-Erlebnis und entsprechend teuer, obwohl er keinerlei Hauch von Orient-Express verströmt. Was den hohen Preis rechtfertigt, ist die Fürsorge auf dieser Fahrt. Mit unzähligen Durchsagen wird der Passagier alle Viertelstunden gemartert. Sie dienen zum einen dem besseren Verständnis der Umgebung – wer möchte nicht gerne mehr über die Schluchten des Waimakariri Rivers erfahren? – zum anderen der Abwendung von Schaden an Leib und Seele.  Stecken Sie Ihre Hand nicht zwischen die Abteiltüren – es könnte sehr schmerzhaft sein. Bleiben Sie während der Fahrt durch den Tunnel auf jeden Fall auf Ihren Plätzen sitzen – auf keinen Fall aufstehen! Wir schalten solange das Licht aus, also höchste Vorsicht. Verzehren Sie bitte keine alkoholischen Getränke, die Sie nicht von uns gekauft haben. Wenn Sie auf der Aussichtsplattform am Zugende stehen, dann halten Sie bitte keine Körperteile und fotografische Ausrüstung nach draußen: Sie können sich ausmalen, was passiert! Bleiben Sie beim Zwischenstopp nicht zu lange auf der Toilette – Sie könnten die Abfahrt verpassen! Und lesen Sie auf jeden Fall die Sicherheitshinweise, die auf einem Blatt in ihrer Sitztasche stehen. 

All diese Instruktionen sind so entwaffnend freundlich vorgetragen, dass man den Babysittern in Schaffneruniform gar nicht böse sein kann. Mir fehlte bei dieser Intensivbetreuung rein gar nichts, außer einem Anschnallgurt. Seltsamerweise waren keine Schwimmwesten unterm Sitz verstaut, für denn Fall, dass der Zug in den Waimakariri River stürzt. Aber das kommt sicher noch. Denn das ach so wilde Neuseeland, einst Spielwiese von Pionieren, Wildschweinjägern und polynesischen Kriegern, ist längst zu einer Nation von Weicheiern mutiert, die in Watte verpackt werden.  

Schuld daran, dass man nicht mal mehr im Zug durch einen Tunnel fahren kann, ohne per Ansage an seinen Sitz gefesselt zu werden, ist OSH – „Occupational Safety and Health“. Der Kiwi-TÜV, gehasst und gefürchtet. Zugegeben: Dank OSH verlieren weniger Bauern ihre Finger in Häckselmaschinen. Dafür drohen jetzt andere Gefahren. Ein flüchtender Fahrradfahrer, der in Nelson ohne Helm fuhr, wurde im Februar von einem aufgebrachten Beamten mit Pfefferspray attackiert. Als der Helmverächter nach dieser Sicherheitsmaßnahme immer noch nicht aufgab, rammte ihn der Polizeiwagen und drückte ihn gegen eine Böschung. Der Mann kam mit einer Beule an der Stirn davon. Wäre er doch bloß Zug gefahren.  

 

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Sex in rasender Fahrt

Rein sportlich betrachtet war es schon eine Leistung, was sich da am Ostersonntag auf der Autobahn E18 bei Oslo vollzog. Anerkennende Pfiffe soll es gegeben haben als sich die Streifenbeamten im norwegischen Søndre Buskerud mit dem zur Beweissicherung gedrehten Film vergnügten. Der körnige Streifen – vermutlich bald auch für Jedermann im Internet zu sehen – zeigt einen Mazda in rasender Fahrt. Das Gefährt schlingert heftig, und das muss wohl auch so sein, denn auf dem Schoß des Piloten sitzt eine Frau. Die hat als einzige noch die Piste vor Augen, während die beiden – sagen wir es trocken – den Akt vollziehen.

Einen knappen Kilometer halten die amtlichen Papparazzi dem hochtourigen Treiben mit, dann wird das Paar zur Ordnung gerufen. Kleinlaut gibt sich der Gigolo, die Strafe ist hart, die Pappe ist weg, den Fahrersitz muss er der
Gefährtin künftig allein überlassen.

Noch tragischer, weil tödlich für alle Beteiligten, endete ein ganz ähnliches Abenteuer bei Krefeld. Wie auch immer die nicht gänzlich geklärten Umstände – auch hier ist der Tatort ein Automobil. Schon schwingt Otto Normalverbraucher die Moralkeule über das schändliche Tun.

Doch hier ist Einhalt geboten: In beschleunigten Zeiten leben wir, die automobile Gesellschaft hat den Planeten geprägt. Da werden Internet-Bekanntschaften halt mal eben mit dem Wagen abgeholt. Mit der Triebabfuhr will sich niemand lange aufhalten.

Das war schon in den Fünfzigern so: In Skandinavien entstand im Gefolge der Rock-´n´-Roll und Rockabilly-Welle die Subkultur der „Raggare“: Wilde Arbeiterburschen mit viel Pomade im Haar kreuzten in ihren blank gewienerten Amischlitten über die Landstraßen und imponierten der weiblichen Bevölkerung. Und die „Aufreißer“ gibt es immer noch, sie schrauben an chromblitzenden Chevrolets, Buicks und Cadillacs und fahren von einer Wurstbude zur nächsten.

Welch schönes Kompliment an das zuletzt so verteufelte Massenprodukt, das ja angeblich so gar nicht mehr in die Zeit passt und in die Umwelt schon gar nicht. Vergessen die Krise, die Zahlen aus Detroit, das Bangen in Bochum,
auch der schmelzende Gletscher und der hungernde Eisbär : Das Auto ist unser Freund und Begleiter, es ist
an unserer Seite in Momenten der Freude und in Zeiten der höchsten Not. Dies endlich einmal anzuerkennen ist doch wohl wahrlich nicht zuviel verlangt.

 

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Morgens auf dem Planeten Erde (12): New York

Die gefühlte Weltlage entscheidet darüber, wie lange ich schummeln darf, nachdem um sechs der Wecker geklingelt hat. Eine Viertelstunde, eine halbe? Ist über Nacht wieder eine Bank in die Knie gegangen, ein Flugzeug im Hudson gelandet, ein Milliardenbetrüger aufgeflogen? Oder hält sich Präsident Obama an seinen Tagesablauf, spricht die Worte in die Kameras, die mir seit Stunden vorliegen und die die amerikanischen Kollegen bereits ausgiebig debattiert haben?

Gestern wieder bis zwei geschrieben, die Knochen sind müde, das Hirn bleiern, der Kreislauf nicht vorhanden. Doch der erste Redaktionsschluss ist um zehn und man weiß nie, was in der Inbox schlummert. Oft nichts Aufregendes, aber manchmal eben die arglose Anfrage für 300 Zeilen bis 15.30 Uhr, also 9.30 Uhr bei mir. Und bis sieben muss die Tagesvorschau für die Schweiz ohnehin raus. Also gibt´s wieder nur den kalten Espresso vom Vortag, mit reichlich Milch verdünnt schmeckt er kaum noch bitter.

An solche Dinge gewöhnt man sich. Nach fast sieben Jahren New York ist das Frühaufstehen zur Routine geworden, Zeitzonen, Redaktionsschlüsse, Zeilenlängen haben sich tief ins Unterbewußtsein eingegraben. Nur der Mittwoch und der Donnerstag, die liegen mir immer noch schwer auf der Seele. An den beiden Tagen muss ich gegen acht rausrennen und unser Auto umparken. Straßenreinigung. Konkret kommt zwischen 8.30 und 10 Uhr ein kleines Wägelchen vorbei und schiebt den ganzen Dreck vor sich her. Ob´s wirklich etwas hilft? Wer weiß.

Auf jeden Fall bringt die Sache buchstäblich die halbe Stadt auf die Beine. Zum Umparken eben, eine Wissenschaft für sich, für die es ein Diplom geben sollte. Wenn ich Glück habe, fährt gerade ein Nachbar auf der Donnerstagsseite zur Arbeit und ich ergattere seinen Platz. Oder ich finde einen auf einem Block, wo sie montags, dienstags oder freitags umparken müssen. Oder ich rufe 311 an, die städtische Hotline, und drücke die Daumen, dass gerade einer der unendlich vielen religiösen Feiertage herrscht in der Stadt, dann sind nämlich alle vom Umparken entbunden. Manchmal, habe ich das Gefühl, hängt es auch einfach von der Laune unseres Bürgermeisters Michael Bloomberg ab, ob tausende New Yorker gezwungen sind, ihre Motoren zu starten.

Sollte das stimmen, ist er in letzter Zeit ziemlich mies drauf. Oder hat einfach kein Geld in der Stadtkasse. Die Verkehrspolizisten verfolgen jedenfalls schummelnde Umparker gerade besonders gnadenlos. Neulich war ich zwei Minuten zu spät. Macht 45 Dollar. Manchmal kann es ok sein, in der zweiten Reihe zu parken, aber nur, wenn man das Fahrzeug auch auf die Minute genau wieder vorschriftsmäßig auf der gerade gereinigten Seite abstellt. Und double parking auf einem Straßenblock mit einer Schule solle man sich tunlichst sparen. Kostet 115 Dollar. Frag´ mich mal einer, woher ich das weiß.

 

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Morgens auf dem Planeten Erde (11): Belgrad

Warm ist es in Belgrad geworden, ganz plötzlich. „Aus den Stiefeln direkt in die Badehose“, meckert gestern Mira, die Nachbarin. Klar, bei 27 Grad Lufttemperatur könnte man schwimmen gehen, wenn das Baden an der Save und Donau nicht verboten wäre. Das Wasser, 19 Grad, sei noch zu kalt – sagen die Stadtväter. Die kennen die Ostsee nicht, denke ich.

Nachts kommt der warme Wind durchs offene Fenster, am Kopfkissen breitet sich die dicke Mondscheibe aus. Heute früh schleicht sich die Sonne unter meine Wimpern. Vorsichtig ein Auge nach dem anderen aufmachen, feststellen, alles ist genauso wie gestern, endgültig räkeln, aufwachen.

Morgenrituale: Puschen an, runter auf die Straße, im Kiosk nebenan Zeitung kaufen, Zigaretten kaufen, die Weltkrise im Mikrokosmos Serbien („alles wird teurer“) mit den Mädels vom Kiosk bereden. Türkischen Kaffee kochen, Balkonblumen grüßen und wässern, Katzen grüßen und füttern, mich selbst wässern und seifen, Radio einschalten, Blechkiste einklicken. Kurz gucken was WELTREPORTER so in der Welt machen. Man weiß nie ob sie noch ruhig schlafen oder hundert Mails pro Stunde in die Welt schicken…  Einer aus Rio, Sydney oder Rom stellt eine Frage und plötzlich entwickelt sich eine ungeheure Maildynamik, die Gedanken wuseln im weltweiten Netz, umgarnen die Kontinente und du kannst nicht anders, du bist auch dabei und statt  Themenvorschläge zu schreiben und Geld zu verdienen, palaverst du per Tastatur mit den Gleichgesinnten.

Heute früh, alles ruhig. Die Welt da draußen ist in Ordnung. Endlich ein Morgen, der nichts von mir will.
Also, raus auf die Terrasse,Türkenkaffee in der Tasse, eine Lulle in der Hand, „POLITIKA“, die serbische SZ und FAZ in einem, vor der Nase, der Tag kann kommen. (À propos Zigaretten: Es soll demnächst zu einem milden Rauchverbot kommen. Das gefällt dem Volk nicht, Serben, die Weltmeister im Rauchen, sammeln seit gestern Unterschriften gegen das neue Gesetz, wahrscheinlich mit Erfolg.)

Meine Lieblingsrubrik in der „Politika“ heißt „Handy-News aus Belgrad“, die lese ich zuerst. Hier werden unredigierte Polizeimeldungen der letzten Nacht weitergegeben. Die BILD ist nichts dagegen, schon die Überschriften sind himmlisch: „Käse, Laptop und Schinken aus dem Laden gestohlen“, „Frau aus dem Bus gefallen“, „Betrunkener Schwiegervater misshandelt Hausbewohner und Hund“,  „Lüster aus dem Hochhaus auf den VW gefallen“. Die Texte lauten dann so: „Auf der Straße Pancevacki put haben sich zwei Nachbarn einen bösen Kampf geliefert. Einer von ihnen bekam einen Schlag auf den Kopf, und zwar mit der ausgerissenen Tür einer Scheune. Im Krankenhaus wurde eine Fraktur des Schädels festgestellt“. Oder: „In der Straße Cvijiceva hat eine Frau auf dem Herd türkischen Kaffee gekocht. Die Feuerwehrmänner haben die Tür aufgebrochen und das Feuer am Verbreiten gehindert“. Und das auch noch: „In der Resavska Straße ist durch Messerstiche eine Person verletzt worden. Gleichzeitig hat in derselben Straße ein betrunkener Ehemann seine Frau mit einem Stuhl am Kopf getroffen. Sie kam ins Krankenhaus“.

Nach dieser erbaulichen Lektüre wäre der Markt, dann der obligatorische Kneipenbesuch am Mittag dran, wo man Opa und Enkelkind, Schulfreund und Marktbauern trifft.  Aber da hat sich der Morgen schon längst verabschiedet.
Ach, ja, Ostersonntag heute!

Nicht so in Belgrad. Wir Orthodoxen sind in diesem Jahr erst am nächsten Sonntag dran. Diese Verschiebungen haben mit  den Neumonden und Vollmonden zu tun und mit den römischen Kalendern. Wie das genau läuft  ist mir noch immer ein Rätsel. Sicher ist aber, auch wir haben Ostern jedes Jahr, mal früher und mal später als die Deutschen.

 

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Morgens auf dem Planeten Erde (10): Stockholm

Oh, diese Stille! Ein Morgen ohne Marsmenschen. Man glaubt es kaum. Vor ein paar Tagen waren sie in unser Quartier eingefallen. Stets beim ersten Hahnenschrei fand   sich unter dem Schlafzimmerfenster die ganze Truppe ein. Den Kompressor auf den Rücken geschnallt, den Luftschlauch schwenkend, so ging es munter hinein in die Rabatten. Wie Antennen staksten oben die Ohrenschützer heraus.

An Schlaf ist nicht zu denken, wenn sich so ein Puste-Kommando zum Ostermarsch formiert. Im Visier der Krachmacher sind die winzigen Steinchen, die so lästig unter dem Schuhwerk knirschen. Im Winter verhütet das Granulat das Ausgleiten auf dem Eis. Nun liegt es überall nutzlos herum. Also wird mit Hochdruck die Platte geputzt. Solange bis der toxische Feinstaub alles Leben erstickt. Oder gesetzliche Feiertage dem unchristlichen Treiben endlich Einhalt gebieten.

Der schlaue Schwede ist ohnehin längst entfleucht, in die einsame Hütte am schweigenden See. Alle Nachbarn fort, niemand zu sprechen. Auch ich erwäge   ernsthaft, in der Natur aufzugehen. Der Geistesarbeiter sollte das Rennrad satteln, die Straße ist frei, kein Geröll mehr im Wege. Über sanfte Hügel und durch dunkle Wälder zieht sich das schwarze Band bis hinaus in die Inselwelt der Schären. Training tut bitter Not: In einigen Wochen startet Vätternrundan , ein mörderisches Radrennen über 300 Kilometer einmal rund um den Vätternsee. Tausende radeln in rasender Fahrt, mit dicken Beinen und verzweifelter Hoffnung, im Gepäck reichlich Schokolode und warme Blaubeersuppe.

Über die Saison verteilt gibt es für unsere Helden weitere Prüfungen zu bestehen: Im Juli quälen sie sich durch die eisigen Wasser des Vanån und Västerdalälven, im September mischen sie sich unter die bis zu 30.000 Teilnehmer beim größten Crosslauf der Welt über die Stockholmer Insel Lidingö, dem Lidingöloppet .  Wer alle Wettbewerbe im Laufe eines Jahres absolviert, hat den so genannten „Schwedischen Klassiker“ gemeistert und darf sich die Medaillen mit vollem Stolz über den Kamin hängen.

Keine Ahnung, warum sie in diesem Land immer alles gemeinsam tun. Jedenfalls naht unten im Hof schon das nächste Kollektiv: Kleine Osterhexen, sie schwenken ihre Kupferkanne. Ich greife zu den Schokoladeneiern und eile zur Tür. Alles hat eben seine Zeit.

 

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Morgens auf dem Planeten Erde (9): Manila

Der Blick aus dem Fenster enttäuscht nicht. Die Luft ist rein, und das im Wortsinne. In der Ferne kann ich die Hafenkräne an der Manila Bay erkennen. An normalen Tagen saugt sich fetter, grauer Smog in der Stadt fest und verhindert jeden Durchblick. Aber heute ist ein besonderer Tag. Good Friday heißt er hier und ein guter (Kar-)Freitag soll es werden. Bereits gestern haben wir die Reifen unserer eingestaubten Räder aufgepumpt, Helme gesucht und Gelenkschützer zum Inlineskaten bereitgelegt.

Kurz vor sieben Uhr stehen wir auf der Straße. Es ist ruhig, himmlisch ruhig. Statt kakophonischem Autolärm hören wir nur die Gockel aus der Nachbarschaft. Großstadtidylle am Good Friday. Es ist der einzige Tag im Jahr, wo Ruhe herrscht im Molloch Manila. Denn Gründonnerstag und Karfreitag sind auf den erzkatholischen Philippinen so heilig, dass selbst die ansonsten sogar an Weihnachten geöffneten Shopping Malls geschlossen sind. Millionen haben sich daher am Mittwoch in endlosen Staus aus der Stadt gequält, um Ostern mit der Familie im Grünen zu feiern. Die Folge: Nahezu autofreie Straßen in der Mega-Metropole und Luft ohne Bleigeschmack.

Meine Kinder können die ungewohnte Freiheit kaum fassen. Wo sonst hupende Autokonvois den Ton angeben, fahren sie unbeschwert in Schlangenlinien dahin. Meine Jüngste versucht x-beinig ihre Inliner auf Kurs zu halten. Dass sie dabei über die große Kreuzung vor unserer Wohnanlage schwankt, juckt mich nicht. Unser Viertel gehört heute früh unmotorisierten Sportlern. Die Stimmung ist bestens, alle grüßen sich locker.

Nur die sommerliche Hitze bremst uns allmählich runter. Es ist Sommer auf den Philippinen, das heißt Schmoren bei 35 und mehr Grad im Schatten. Unter den Fahrradhelmen wird’s da doch arg heiß. Doch bevor das Kindergenöhle losgehen kann, rettet mich völlig unerwartet eine amerikanische Coffeeshop-Kette, die sich um den Good Friday nicht zu scheren scheint. Nach sieben Jahren gibt’s das Frühstück am Karfreitag erstmals außer Haus. Drinnen kühlt die Klimaanlage, zischt die Espressomaschine. Perfekt.

Kein Termin steht heute an, im Kalender steht groß FAULENZEN. Voller Mitgefühl denke ich an einen Kollegen, der sich heute den Trip nach San Fernando antut. In der nördlich von Manila gelegenen Stadt spielen sich am Karfreitag blutige Szenen ab. Flagellanten peitschen sich inbrünstig auf offener Straße. Fanatische Gläubige lassen sich trotz Missbilligung der Kirche ans Kreuz nageln. Zehntausende verfolgen die grausige Inszenierung in einem Zustand zwischen religiöser Ekstase und Gänsehaut-Gruseln.

Da lob’ ich mir doch den friedlichen Mikrokosmos in unserem Coffeeshop. Nur ein paar Westler, Japaner und Inder sitzen um die runden Tische. Die katholischen Filipinos halten sich offenbar an das Fastengebot. Ich hole mir noch einen Espresso, leg’ die Beine hoch und lass’ die Seele baumeln. Draußen radelt meine Tochter mit breitem Grinsen gegen die Einbahnstraße. Na und? Es ist doch Good Friday. Ein richtig guter Freitag in Manila.

 

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Morgens auf dem Planeten Erde (8): Tokio

 

Die Krähen in Tokio sind fette, fliegende Freischärler. Zum Morgenappell versammeln sie sich um fünf auf Stromleitungen und warten auf meinen brennbaren Müll. Sie sitzen auch auf den Beton-Kabelmasten und den zentnerschweren Transformatoren und sind dankbar, dass die Japaner – trotz Erdbeben und Taifune – ihren Kabelsalat immer noch nicht unter der  Erde verlegen. Und so hat die laute Räuberbrut vor meinem Fenster in Shibuya die strategische Oberhand.

Wie viele Boden-Luft-Raketen ich an solchen Mülltagen im Halbschlaf und Wachtraum schon verschossen habe, weiss ich nicht. Zum Beispiel, wenn Nachbar Hatano im Pyjama seinen Müll rausbringt. Dann prasselt ein gnadenloses Krah-Krah-Stakkato durch zwei Kopfpolster auf mein Trommelfell. Ich ziehe die Decke übers Ohr und verpulvere weitere Raketen. Über Nacht sind im Plastiksack von Hatano Flachsen, Fettbolzen und Fischgedärme wie außerirdische Substanzen nach unten gekrochen. Die Sackspitzen sind deshalb so  prall, dass sie in einem meiner Krähenträume schon explodiert sind und unseren Häuserblock in ein schleimiges Inferno verwandelt haben.

Sorgfältig wie alle Nachbarn, rollt auch Hatano den Mittwoch-Müll unter das blaue Krähenabwehr-Nylonnetz der Stadtverwaltung. Kaum ist er wieder im Haus verschwunden, bereiten die Wegelagerer den Angriff vor. Zunächst stapft ein Spähtrupp aus zwei Fußsoldaten um das Netz. Die Luftaufklärung sichert gleichzeitig das Beutegebiet, segelt lautlos wie eine ferngesteuerte Drone im Kreis. Dann folgt der Minenräumdienst, zurrt am Plastiknetz – kurz, testend, dann heftig und ungeduldig. Wieder bleiben Gekreischgeschosse in meinem Trommelfell stecken. Aber diesmal klingt alles wie hämisches Lachen. Ich stehe auf, starte die Kaffemaschine. Frau Noguchi von gegenüber, eine OL – Office Lady – klappert mit hohen Absätzen zum blauen Netz, stellt dort ihren Sack mit Sake-Flaschen  ab. Herr Hatano springt freudig aus dem Haus. „Noguchi-san, sumimasen, sorry, ist nicht heute brennbarer Müll dran?“„Ah, sumimasen,“ sagt sie. Herr Hatano wartet an der Tür, genießt diesen Morgen, wie jedes Mal, wenn sich Frau Noguchi irrt, und deshalb zweimal aus ihrem Haus muss, mit diesem immer zu kurzen Rock. 

 So wie bei vermummten al-Kaida Kommandos ist auch bei meiner Rabenbrut der Rädelsführer schwer auszumachen. Vielleicht der, der als erster schnabuliert? Inzwischen hat der Minenräumdienst das Netz abgezogen. Die Drone kreist weiter. Der Spähtrupp hackt gezielt in die prallen Sackenden. Auf dem Stromkabel wird die Einsatztruppe ungeduldig. Ausgerechnet, als mir das erste Stück Blaubeertoast im Mund zergeht, entfaltet sich unter meinem Fenster das Schleiminferno. Der Spähtrupp springt zurück. Vom Kabel schwingen sich vier  Kampfpiloten, landen neben den auslaufenden Sackecken, rühren ihre Schnäbel wie in fetten Eiterbeulen.  Das ungeschriebene Gesetz zuvorkommender  Nachbarn verlangt, dass derjenige das Schlachtfeld reinigt, der den letzten Müll deponiert, und das bin wieder einmal ich. Ein kräftiger Schluck Kaffee. Ich schnappe den Abfall, den Besen und den Eimer mit Wasser. Tapfer stelle ich mich den Freischärlern. „Da, nehmt das!“ Mein Plastiksack ist gefüllt mit Papierknäueln, fliegt federleicht unter die Vögel. Sie springen nicht einmal zur Seite, wie bei Herrn Hatano oder Frau Noguchi. Sie schimmern wie Seide und ihre Augen zeigen Mitleid: „Armer Kerl, ging wohl gestern nicht so gut mit dem Schreiben!“

 

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Morgens auf dem Planeten Erde (7): Christchurch, Neuseeland

In der Nacht hat jemand ans Fenster geklopft. Schmierige Spuren, wahrscheinlich die Abdrücke einer feuchten Nase, überziehen die Scheibe. „Ein Possum“, stöhnt Susanne. „Mann, hat das genervt. Dauernd hat es mit der Pfote gegens Glas gekratzt.“ Ich habe nichts von dem Störenfried mitbekommen. Geschlafen habe ich wie ein Stein. Allerdings nicht in meinem Bett, sondern auf einer Stockbett-Pritsche in einer kleinen Berghütte.
Gestern Nachmittag hat mich Susanne nach der Arbeit abgeholt. „Candlelight Dinner auf Packhorse Hut“ stand auf dem Gutschein, den sie mir vor ein paar Wochen zum Geburtstag geschenkt hatte. Jetzt musste er endlich eingelöst werden, denn die Tage werden kürzer, die Nächte kälter – und in ein paar Wochen bricht meine deutsche Freundin ihre Zelte in Christchurch ab.

Nach einer halben Stunde Fahrt zur Banks Peninsula hatte Susanne das Auto geparkt. Wir stapften in Richtung Bergkamm los. Irgendwo da oben lag die Hütte – eine der unzähligen Wanderunterkünfte, die jedermann ohne Buchung zur Verfügung stehen. In dieser  Hinsicht ist Neuseeland vorbildlich. Ohne in die Natur einzugreifen, wird allen Outdoor-Freunden ein Service geboten, der wohl auf der Welt einmalig ist: Bestens angelegte und in Schuss gehaltene Wege, saubere Hütten und eine Fülle an Karten, Broschüren und Info-Stellen, die oft noch mit Filmen und allerlei Interaktivem bestückt sind.

Im Gegensatz zu all den Wander-Profis hatten wir unseren Kurztrip nur sehr oberflächlich vorbereitet. Ich hatte nicht mal ans Taschenmesser gedacht. In unseren Rucksäcken: Schlafsäcke, warme Merino-Wäsche, Taschenlampe, Kocher, Kerzen und Essen. Und eine alte verbeulte Sigg-Flasche. „Kannst du als Wärmflasche benutzen“, empfahl Susanne, die sich auf dem Sektor auskennt.

Wir ließen uns Zeit. Kletterten über Schafzäune, durchkreuzten einen Nadelwald, schauten auf das große, spiegelklare Becken des Lyttelton Harbours, gesäumt von Hügeln und herbstlichem Grün. Diese Stille! Kaum zu glauben, dass direkt dahinter Christchurch liegt, die zweitgrößte Stadt des Landes, wo jetzt tausende von Menschen von der Arbeit kamen, Auto fuhren, einkauften, rumhetzten. Wir setzten uns in der Höhe auf einen kleinen Felsen und ließen uns die Abendsonne ins Gesicht scheinen. Noch ein paar Schritte weiter, und wir konnten den Lake Ellesmere, ein kleines Binnenmeer, links von uns sehen. Wieder ein paar Meter weiter, und wir schauten der Sonne hinterher, als sie orangerot im Dunst über den Südalpen verschwand.

Nach zwei Stunden waren wir auf unserer Hütte. Es wurde schlagartig kalt, sobald die Sonne weg war. Zum Glück hatten wir das ganze Häuschen für uns, da wir während der Woche hochgelaufen waren.  In dieser DOC-Hütte steht sogar ein Kaminoffen, frischgehacktes Holz lag daneben. Für so viel Service hinterlässt man, natürlich auf Vertrauensbasis, vorab gekaufte Bons im Wert von 15 Dollar. Ein Witz, denn unsere Unterkunft hatte alles, was wir brauchten: Wärme, Ausblick, Abgeschiedenheit und solide Betten. Susanne steuerte Burritos vom Campingkocher bei und zauberte zum Nachtisch ein Tütchen Gummibären hervor.  Ich hatte noch Lindt-Schokolade. Müde, glücklich und satt kroch ich in den Sigg-gewärmten Schlafsack. Kein Wunder, dass ich das Possum überhörte.

Possums – nicht zu verwechseln mit dem amerikanischen Opossum – sind in Neuseeland eine echte Landplage. Sie fressen Jungvögel auf und Bäume kahl und dürfen daher hemmungslos gejagt und erlegt werden. Possumfell zu tragen, ist absolut „politically correct“, denn damit unterstützt man den Erhalt der einheimischen Flora und Fauna.
Flora und Fauna waren an diesem Morgen noch frostig kalt, als wir vor die Hütte traten, um das Plumpsklo aufzusuchen (wie gesagt, die Naturschutzbehörde DOC hat an alles gedacht). Als die Sonne endlich die Hütte erreichte, hatten wir bereits unser Müsli verdrückt, Tee auf dem Gaskocher gekocht, die Schlafsäcke verpackt und die ersten Schritte in Richtung Tal gesetzt.

Jetzt fuhren meine Kinder gerade zur Schule, mein Mann stand längst am OP-Tisch, und in meinem Computer stauten sich die ungelesenen Emails. Während der Morgen in Christchurch wie an jedem Morgen begann, starteten wir auf dem windigen Bergrücken in einer Stimmung in den Tag, die man nur mit Urlaubslaune bezeichnen kann. Der Rucksack saß schon viel besser auf den Schultern als am Vortag. Ich konnte mir gut vorstellen, jetzt einfach noch drei Tage weiterzulaufen. Flüsse durchqueren, Feuer machen, abends Sternenhimmel statt Fernsehen gucken. Wo doch all das so nah ist. „Andere müssen sich dafür über 20 Stunden ins Flugzeug setzen“, sagte Susanne. Hörte sich fast etwas wehmütig an.

Gegen Mittag erreichten wir das Auto. Es sprang nicht an. Die Batterie war leer. Keine zehn Minuten später hielt ein netter Mann mit Starthilfekabel. Auch darin sind sie vorbildlich, die Kiwis: Helfen und sich zu helfen wissen. Eine halbe Stunde später war ich schon wieder zuhause und warf den Computer an.  Von meinem Schreibtisch aus kann ich den Berg sehen, hinter dem sich die Packhorse Hütte versteckt. Sonne und Wolken werfen Schatten auf seine Flanken. Da oben pfeift jetzt der Wind. Das Possum muss sich warm anziehen. Und ich viel öfter wandern gehen.

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