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Blizzard in Brooklyn

Während meine deutschen Freunde von weißen Winterlandschaften berichteten, war New York bitterkalt, aber Schnee gab es nicht. Aber dann, ein Blizzard!

Am Abend des zweiten Weihnachtsfeiertags ging es los. Es schneite und stürmte und hörte gar nicht mehr auf. Am anderen Morgen waren mehr als 60 Zentimeter Neuschnee gefallen.

Die Stadt lag in Agonie. Der Verkehr war komplett zum Erliegen gekommen. Alle Flughäfen waren geschlossen. Es fuhr kein einziger Bus und keine U-Bahn. Auf den Straßen standen gestrandete Autos und Busse.

Es war Montag, aber als ich mich vermummt und in Schneestiefeln gegen 10 Uhr zu unserer Viertelshauptstraße durchkämpfte, waren alle Läden dicht, auch die Post. Nur der Hardwarestore Tarzian hatte seine kompletten Vorräte an Schneeschippen bereit gestellt.

 

 

Die Preise waren über Nacht rasant gestiegen – ein Beutel tierfreundliches Salz kostete 30 Dollar. Als ich die Frau hinter der Kasse fragte, wie sie überhaupt zur Arbeit gekommen war, lachte sie und deutete nach oben: „Ich wohne über dem Laden!“ Ein Hoch auf die Neighborhoodstores.

Für Pendler, die teilweise Stunden in liegengebliebenen Bussen und Bahnen verbrachten, war der Blizzard eine Katastrophe. Wir mussten nicht reisen und fanden den Schnee gemütlich. Da keine Autos fuhren, war es still wie nie zuvor. Der gesamte Alltag schien entschleunigt. Weder Zeitungen noch Post wurden zugestellt. Auch die Müllabfuhr kam nicht durch. Der Gang zum Supermarkt dauerte doppelt so lang wie üblich. Trotzdem schienen die Menschen guter Laune zu sein. Väter, die nicht zur Arbeit konnten, bauten mit ihren Kindern Schneemänner, Treppen und Straßen verwandelten sich in Rodelbahnen. Bürgermeister Mike Bloomberg präsentierte sich in rustikaler Lederjacke souverän vor Reportern und versprach, die Stadt habe die Lage im Griff.

 

Von wegen. Nach drei Tagen sind viele Nebenstraßen immer noch nicht geräumt, und die ungeduldigen New Yorker finden das absolut inakzeptabel. Der lokale Fernsehsender New York One berichtet von einer Hochschwangeren auf Staten Island, die von ihren Nachbarn freigeschaufelt werden musste, und von Supermärkten in Queens, denen Brot und Milch ausgegangen ist. Es gibt Rücktrittsforderungen gegen den Bürgermeister, der inzwischen wieder im Anzug und nicht mehr ganz so gut gelaunt vor die Mikrofone tritt. 

Aber Sylvester soll die Temperatur auf vier Grad steigen und die Sonne scheinen, dann taut der Schnee sowieso. Zwar fällt dann vermutlich wieder die U-Bahn aus, die auf größere Wassermengen notorisch empfindlich reagiert. Aber für die ist Mike Bloomberg nicht verantwortlich.

Fotos: Christine Mattauch

 

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Interreligiöse Perspektiven

„Selamat Natal – Frohe Weihnachten und Friede und Wohlstand für uns alle“ – diese Wünsche schickten mir in vielfacher Form Freunde aus Indonesien ins kalte Deutschland. Nicht etwa Christen, sondern vor allem muslimische Bekannte bedachten uns mit Rundmails und individuellen SMS.

Indonesien ist das Land mit der größten muslimischen Bevölkerung der Welt und ja: Es findet eine schleichende Islamisierung statt, die allen anderen Religionsanhängern in dem Vielvölkerstaat unheimlich ist. Dennoch ist Indonesien immer noch ein säkularer Staat, in dem die wichtigsten Feiertage der großen, anerkannten Religionen zugleich nationale Feiertage sind. So bleiben Schulen und Behörden nicht nur am muslimischen Opferfest und an Weihnachten geschlossen, sondern auch am buddhistischen oder hinduistischen Neujahrsfest.

Das ist mehr religiöse Toleranz als wir zum Beispiel in Deutschland zeigen: Der Anteil der muslimischen Bevölkerung bei uns ist größer als der von Buddhisten und Hindus in Indonesien. Dennoch wünscht hier kaum ein Nicht-Muslim alles Gute zum Idul-Fitri-Fest am Ende des Ramadan, geschweige denn bekommen die muslimischen Bürger für ihre religiösen Feierlichkeiten frei.

In dieser angeblichen Zeit der Besinnung sollten wir einmal mehr über unseren Tellerrand und die geballte westliche Angst vor dem Islam hinausschauen und erkennen, dass es auch im anderen Teil der Welt tolerante und offene Menschen gibt, an denen wir uns ein Beispiel nehmen können.

 

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festliches braten und trinken in Bondi

 

“Und, wie ging Weihnachten so in Bondi Beach?” fragt sich die Blogleserschaft ungeduldig. Sonnig, warm und randvoll mit Menschen. Der Strand war weitgehend ausgebucht. In den umliegenden Parks tranken sich Backpacker an die Grenzen der Besinnungslosigkeit.

Fröhlich prostend saß man unter “Alcohol-free Zone” Schildern mit Kühlboxen voller Wein und Bier. Abgemahnt wurde kaum jemand, die Schilder sind offenbar mehr dekorativ und ideell gedacht. Die Polizei behielt die Mengen im Auge, und dann kollabierten alle gemeinsam zu einer decibel dröhnenden Rave-party.

 

 

Und all das, weil vor gut 2000 Jahren in Bethlehem little Baby Jesus geboren wurde!  

ho-holy night, silent night…  

 

 

 

 

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6000 Passagiere hängen am Charles-de-Gaulle Airport fest, ich bin wieder heim

Das Brat-Hühnchen hatten wir den Clochards gegeben und die Heizung auf ECO gestellt. 12 Stunden später sind wir wieder daheim. Unser Ausflug ging zum Flughafen Paris CDG und eigentlich sollte es in den Weihnachtsurlaub gehen. Doch 7-10 cm Schnee verhinderten das. Als wir um 9 Uhr am Airport ankamen, war er gesperrt. Bis 11 Uhr. Und dann noch mal bis 12 Uhr. Um 12.40 saßen wir alle brav im Flieger, das Gepäck war drinnen und wir warteten. Bis zur Durchsage: “Annuliert, bitte alle wieder aussteigen.” Und dann das Versprechen: “Draußen wartet jemand, der sie weiter leitet.” Ach, wie erleichternd. Doch leider war da niemand. Eingestiegen sind wir in 2D und dann mit dem Bus zu 2F. In der Gepäckhalle von 2F stellten wir alle fest, dass nicht nur unser Flug, sondern ALLE Flüge storniert worden waren und dass dort sehr viele Koffer stehen. Nur unsere nicht! Und wo ist nun das Gepäck?

Die Fragen stellten sich viele Menschen und keiner bekam eine Antwort. Tatsache war: Wir mussten zu Fuß zurück zu 2D. Und dann? Dann sollten wir alle ein neues Ticket kaufen. Nur Sonntags haben alle Ticketschalter gschlossen, bis auf die 2F und 2E. Auf dem Weg zurück zu 2F (von dort waren wir gerade gekomen) sahen wir eine Schlange. Nein, nicht die am Getränkeautomaten, nicht die bei der Kofferverluststelle, nicht die vor der Bäckerei, sondern die vor der Billetterie. Sie war geschätzte 100 m lang und ganz vorne stand ein Soldat und erklärte mir, der mit dem Baby auf dem Arm, dass diese viele Menschen umsonst warten, weil nämlich gleich die Ticketverkaufsstelle zumacht. Wir sollten es bei 2E probieren.

Dort auch war auch schon alles zu und beim Air France Service Center trafen wir auf eine aufgelöste Chinesin, die fragte, ob man ihr denn ihr Gepäck nach China nachsenden würde. Die Antwort: “Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht und dann müssen Sie nach Frankreich zurück kommen, um ihr Gepäck abzuholen.” Zu uns war der Air France-Mitarbieter dank Baby-Bonus gnädiger: “Ticket kaufen? Probieren Sie es per Telefon: 3654.”

Ok, das Baby musste mal wieder essen, wir hatten die Nahrungsaufnahme angesichts der Schlangen aufgegeben, und konnten dabei telefonieren. Wir klingelten ins Leere und wurden mehrmals aus der Leitung geschmissen. Fazit: nach 12 Stunden nahmen wir ein Taxi zurück nach Hause. Auch zuhause war an ein Durchkommen bei Air France nicht zu denken.

Was gibt es für Alternativen? Alle Züge nach München sind ausgebucht bis 24.12.2010. Alle Flüge, egal welche Airline, sind morgen , am Montag, sind ausgebucht. Außerdem sind weitere Schneefälle angekündigt. Ab Dienstag zahlt man bei Airberlin für den einfachen Hinflug nach Bayern 400 Euro und bei Lufthansa darf man mit dem letzen Flieger mit und muss um 6.30 Uhr zurück, wenn man nicht 500 bis 600 Euro ausgeben will.

Kurzum: Das ist ein Winter endlich mal wieder ein Winter und was passiert? Er legt Europa lahm. Am CDG in Paris hängen heute 6000 Passagiere fest. Air France hat 2500 Hotelbetten gebucht. ich will gar nicht wissen, wie lange die Schlange an der Hotelbetten-Verteilung ist. Ich bin wieder zuhause, konnte online was für Dienstag blocken. Morgen gehe ich zu Fuß zur Air France Verkaufsstelle und hoffe. Denn noch ist nicht 100% sicher, dass wir überhaupt hier vor Heilig Abend wegkommen.

Ach ja: Ein Tipp für alle, die meinen morgen gebe es eine Chance. Nein, vergessen Sie es. Alles ist überbucht und man kann den Leuten nur raten, ein Auto zu mieten oder den Paris-Aufenthalt zu verlängern. Viel Glück! Und ich esse jetzt mal was.

 

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Und nun: zum Wetter …

Hart ist für Auslandsdeutsche in Australien in den letzten zehn Jahren vor allem eines gewesen: Sie durften nicht über Wetter meckern. Vor allem nicht über Regen, denn das gehört sich einfach nicht, wenn ein Kontinent die “schlimmste Dürre aller Zeiten” durchlebt.  

Australier, die nebenbei gesagt auch ganz gern mal die Witterung besprechen (vor allem wenn Regen länger dauert als einen Nachmittag) mussten sich ebenfalls beherrschen. Schauer oder Güsse durften zehn Jahre lang bestenfalls mit “oh, how lovely!” oder “let’s hope it falls where the dams are /on farmland” (hoffe es regnet die Dämme voll / auf Farmland) kommentiert werden.

 

Nörgeln und Jammern indes: komplett Tabu!

Inzwischen ist alles anders. Die Dürre ist vorbei. Während ich bei sehr blauem Himmel (es regnet schließlich nicht überall und immer) in Sydney dem Laptop per Ventilator eine Extraration Luft zublase, schüttet es jenseits der blauen Berge. Seen, die jahrelang riesige Sandkästen waren sind wieder beschiffbar, unsere Trinkwasser-Dämme schwappen über, Pläne für neue, milliardenteure Entsalzungsanlagen sind den Politikern plötzlich insgeheim ein bisschen peinlich.

Denn es nässte stellenweise heftig. Farmer, die sich nach staubtrockenen Leidenszeiten auf die erste feiste Ernte freuten, strahlten uns knöcheltief im Wasser watend via TV an: Glückliche Gesichter unter tropfnassen Akubrahüten aus einstigen Krisenzonen in Neusüdwales, Erleichterung sogar bei Gemüsebauern in Victoria und im besonders gebeutelten Südaustralien.

Dann allerdings war Schluss mit lustig. Denn es hörte einfach nicht wieder auf, das heiß ersehnte Geregne. Die Farmer zogen Stiefel höher und Hüte tiefer ins Gesicht, das Wasser stieg zur Hüfte, die Ernte ersoff. Letzte Woche wurde in einem meiner Lieblingsorte, Wagga Wagga, der Parkplatz zum Schwimmbad, Gunnedah drohte Evakuierung.

“Drei Wochen Sonne und Wärme”, so Archie Kennedy, ein Landwirt in der Überschwemmungszone, bräuchte er nun, um seine Ernte retten zu können. Und dann sagte er das Unsagbare: Die Dürre sei ihm lieber.

Zum ersten Mal erlebe ich also den eigentümlichen Zustand, dass deutsche Weihnachtsferien-in-Australien-Touristen vom Niederrhein exakt das gleiche wollen wie australische Landwirte: Sonne satt. Über Regen nörgeln ist plötzlich nicht nur okay, sondern ein Akt der Solidarität und endlich erlaubt!

Ob Archies Wünsche erhört werden? Not sure. Das australische Bureau of Meteorology verspricht: Mit 75 % Wahrscheinichkeit wird Sydney dieses Jahr deutlich höhere Regenfälle als in anderen Sommern erleben. 

Daher für alle Reisenden noch rasch der Expertentipp aus dem Strandbüro: Mückenspray nicht vergessen! 300 der weltweit 2700 Moskito-Arten sind in Australien heimisch, und die brüten derzeit um die Wette.

 

 

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Auf der Kirmes trainiert fürs Leben

Meine Freundin, gebürtige Kongolesin, die im Alter von elf Jahren nach Deutschland kam, hatte das größte und gescheiteste Mundwerk des Ruhrgebietes. Wie ich fühlte auch sie sich in regelmäßigen Abständen magisch hingezogen zu Veranstaltungen und Orten der Prollkultur. Wir liebten die Kirmes, den Marktplatz stereotyper, rassistischer Bräuche, und immer, wenn wir am Süßwarenstand einen ‘Eis-Neger’ wollten, salmonellenhaltiges Softeis mit Schokosauce, schrie meine Freundin der fülligen Verkäuferin entgegen: ‘Guten Tag! Einen Eis-Nazi, bitte!’

Es war eine Mutprobe und jedes Mal der Höhepunkt unseres Aufenthalts. Wir machten aus dem rassistischen Stumpfsinn kurzerhand noch stumpfere Performancekunst. In Teenie-Agitprop waren wir irgendwann richtig gut, denn unsere mittelgroße Stadt war voll von diesen fremdenfeindlichen Stilblüten.

Als ich mit neunzehn durch die Fußgängerzone schlurfte, fragte mich eine Verkäuferin von Abonnements der regionalen Westdeutschen Zeitung strahlend: ‘Sie sprechen Deutsch? Deutsch lesen vielleicht sogar? Interessiert an einem Abo der WAZ?’ ‘Nein, fällt mir schwer zu lesen’, war meine Antwort, und die war nicht mal gelogen. Es fiel mir tatsächlich schwer, die WAZ zu lesen, weil ich sie schlicht unerträglich fand.

Dass ich dort zu dem Zeitpunkt auch noch ein Praktikum absolvierte, habe ich erst gar nicht erwähnt. Es war mir einfach zu anstrengend, dieser furchtbar harmlosen Dame mitten am Tag einen kleinen Exkurs in Rassismustheorie zu geben. Heute würde ich ihr den Exkurs wahrscheinlich dezidiert und charmant lächelnd reindrücken.

Kürzlich las ich in der britischen Sunday Times eine Titelgeschichte, die sich dem Thema Rassismus in England widmete. Der Autor erzählte, wie es sich anfühlt, als Weißer mit einer schwarzen Britin und vier gemeinsamen Kindern die turbo-tolerante Metropole London hinter sich zu lassen und aufs englische Land zu ziehen. Der Mann heulte sich auf sechs Seiten aus. Aber so richtig. Er klagte, dass Leute die krausen Haare seiner Tochter lustig finden. Oder, dass sein Sohn von einem Klassenkameraden ‘farbig’ genannt wurde. Heul doch! In Deutschland benutzen dieses Wort selbst die Lehrer! Und fühlen sich besonders emanzipiert, weil sie endlich eine Alternative zu ‘Mulatte und Co.’ gefunden haben.

Ich las den Artikel durch und hatte den Eindruck, hier erzählt Spongebob von seinen Comic-Problemen. Dabei weiß dieser Autor gar nicht, wie verwöhnt er ist! Eingebettet in eine britische Kultur, die durch die eigene Kolonialgeschichte ein geradezu sensibilisiertes Vokabular in den Köpfen der Briten installieren konnte. Die Extralight-Diskriminierungen, von denen der Autor nun in seinem Kaff klagte, passieren Deutschen mit Migrationshintergrund in jeder größeren deutschen Stadt jeden Tag! Der Gute sollte mit seiner ganzen Familie einmal zu uns kommen. Und da muss es noch nicht einmal gleich Stralsund oder Chemnitz sein. Berlin-Mitte reicht schon.

Mitten im liberalen Berliner Wellnessparadies, dem Weinbergspark, beobachtete ich kürzlich einen kleinen Jungen, der ein afrodeutsches Mädchen mit ‘Du bist eine Negerin!’ beschimpfte. Und der Vater? Stand daneben in seinem frisch gebügelten FC-St.-Pauli-Kaputzenpulli und las die SZ! Diese Situation war gruseliger als jeder Horrorfilm. Denn immerhin befand man sich im Epizentrum der Toleranz. Toleranter als hier wird’s nicht. Wer hatte dem Kleinen in diesem liberalen Umfeld überhaupt gesteckt, dass es dieses Wort gibt? Unser britischer Autor hätte den St.-Pauli-Vater wahrscheinlich direkt am Kapuzenpulli vor Gericht gezerrt. Und ein schwarzer Brite, der in London von Abo-Damen angesprochen wird, ob er Englisch spreche, würde höchstens entgegnen: ‘Geht so. Ich komme aus Wales.’

 

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Russland lacht über WikiLeaks

WikiLeaks ist richtig witzig. Finden zumindest die Russen. Hier amüsiert man sich über die Enthüllungen der Website. Auch wenn sie das Vaterland betreffen: Die Nato rüstete sich erst Anfang dieses Jahres, um einen angeblich drohenden Angriff der russischen Streitkräfte auf das Baltikum abzuwehren. Haha, russische Panzer schaffen es vor lauter Motorpannen sowieso nie bis Riga. Bei Hochzeiten im Kaukasus flattern 100-Dollarnoten. Hihi, ist doch klar, die sind viel weniger wert als 5000-Rubelscheine. Und Russland, ist ein Mafiastaat, korruptionsgetränkt, mit einem Boss namens Putin, der Milliarden Schwarzgelddollar beiseite geschafft haben soll. Hoho, was für Dollarmilliarden, wenn die doch schon alle im Kaukasus auf den Hochzeiten herumflattern.

Die Russen nehmen WikiLeaks nicht ernst. „Und zum Schluss veröffentlicht WikiLeaks eine neue Mickey Mouse-Geschichte“, spottet Radio “Echo Moskwy”. Auch im Kreml wird gelacht. Ein Topbeamter hat WikiLeaks-Chef Julian Assange sogar inkognito für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.

Russland weigert sich glatt, all die Russland-Sensationen ernst zu nehmen, mit der WikiLeaks die Weltöffentlichkeit seit Wochen füttert. Schon aus dem banalen Grund, dass diese Sensationen zum größten Teil schimmeln. Dass auf Putins Geheimkonten über 30 Milliarden Dollar liegen sollen, verkündeten russische Oppositionelle schon vor Jahren. Dass laut Transparency International in Russland jährlich 300 Milliarden Dollar Schmiergeld fließen, gilt in Moskau eher als Untertreibung. Aber WikiLeaks und seine aufgeregte Kundschaft ignorieren bei ihren  Sensationen, dass, wenn wirklich Fakten dahinter stehen, diese  längst öffentlich jedermann zugänglich sind. Halbwegs informierte Moskauer Botschafter finden bei WikiLeaks nur einen Verdacht bestätigt: Die Jungs von der US-Botschaft, deren Schriftverkehr WikiLeaks unter anderem enthüllt, können zum Teil durchaus Russisch lesen, zum Teil studieren sie zumindest die einzige englischsprachige Zeitung vor Ort, die „Moscow Times“, gründlich.

Und immerhin erstaunt die sprachliche Kraft, mit der die Gesandten ausdrücken, was sie ahnungsvoll vermuten. Putin und seinen Gehilfen Medwedew mit Batman und Robin zu vergleichen – eine kühne metaphorische Leistung. WikiLeaks, die Literatur-Seite? Dazu sind Bilder wie Batman Putin und Robin Medwedew leider zu wenig erbaulich und belehrend. Es sei denn, in der Moskauer US-Botschaft besitzt man doch intimste Informationen über das Tandem Putin-Medwedew. Und bemüht den kulturellen Code der heimischen Schwulenszene, um sie ganz raffiniert zu verschlüsseln: Batman und Robin?! Russland, wollen die Amerikaner ja vielleicht sagen, wird von einem Pärchen Gays regiert! Die Topsekrete, die WikiLeaks absondert, sind wirklich ungeheuerlich.

 

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Hassliebe – Weihnachtsrituale in Kalifornien

 

Die Sonne scheint, Surfer warten auf die perfekte Welle und Palmblätter glitzern silbrig unter wolkenlosem Himmel. Alles wie immer im Süden Kaliforniens. Wäre da nicht die üppige Weihnachtsdekoration des Nachbarn, die unsere Küche seit Halloween jeden Abend in ein blinkendes Lichtermeer verwandelt. Peters Stromrechnung steigt jedes Jahr im November auf das Doppelte, doch das stört den begeisterten Hobby-Dekorateur nicht. Jedes Jahr hängen ein paar Lichterketten mehr an Dach, Treppengeländer und Fenstern. Die wahren Höhepunkte seiner Weihnachtsstimmungs-Kreationen hebt sich Peter für die Woche vor Heilig Abend auf: erst dann wird permanent Heissluft in einen Vier Meter hohen Schneemann im grünen Vorgarten geblasen und es dreht sich eine in Regenbogenfarben blinkende Rentier-Familie neben der Einfahrt. Peter ist nicht nur ein Weihnachts-Lichterketten-Deko-Enthusiast, er arbeitet auch furchtbar gerne am Computer. Ich wette, er arbeitet daran, seine Lichterkreationen mit dem von ihm geliebten Latino-Rap zu synchronisieren. Bald wird er uns mit einer ganz neuen Stufe von Lichter-Glück überraschen, den Verkehr im Viertel lahm legen und das Heimvideo seines Christmas-Lighting-Raps zu dem anderem Christmas-Deko-Wahnsinn ins Internet stellen. 

Ohne Peter würde sich hier gar nichts wie Weihnachten anfühlen. Musikberieselung und Schoko-Sonderangebote im Supermarkt reichen da nun wirklich nicht aus. Manchmal stöhne ich zwar über die seltsamen US-Weihnachts-Rituale, vom Tannen-kranz auf der Kühlerhaube bis zum unvermeidlichen, surfenden Santa Claus, aber im Grunde finde ich das alles ziemlich grossartig. Bis ich wieder in meiner gnadenlos blinkenden Lichterlandschaft in der Küche stehe. 

 

 

 

 

 

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Beredtes Schweigen

Als kritischer Untertan frage ich mich gelegentlich, ob die schwedische Königsfamilie gut beraten ist. Das legendäre Pressegespräch des Königs im Wald von Trollhättan war zwar erfrischend ehrlich aber sicher kein Musterbeispiel für gelungene Krisenprävention. Auch seine leidensfähige Gattin Silvia gab keine Figur ab, als sie wenige Wochen vor der Hochzeit ihrer ältesten Tochter Victoria ein Team des Stockholmer Senders TV 4 zur Audienz empfing. Die Frage nach der NSDAP-Mitgliedschaft ihres verstorbenen Vaters Walther Sommerlath kam sicher nicht unerwartet. Gleichwohl druckste die 1943 in Heidelberg geborene Silvia herum. Ihr Vater sei der brasilianischen Auslandsorganisation der NSDAP in einem Überlauf der Gefühle beigetreten, aus Freude über die „Wiedergeburt des Vaterlandes“, das sich damals „aus der Asche erhob“.

Ein erster Proteststurm nach der Ausstrahlung im Mai ging alsbald im Taumel der Traumhochzeit unter. Doch Mats Deland ließ nicht locker. Im brasilianischen Domizil der Familie Sommerlath forschten der Historiker und seine Kollegen vom Politmagazin “Kalla fakta” den strammen Nazi-Kumpanen des Patriarchen nach. In Berliner Archiven stieß er auf die brisanteste Spur. Sie führt zum jüdischen Fabrikanten Efim Wechsler, der 1939 seinen lukrativen Betrieb für einen Spottpreis an Walther Sommerlath verkauft haben soll. Der Vater der Königin – ein Profiteur der „Arisierung“. 

Im zweiten Teil der Dokumentation, der am Sonntag ausgestrahlt wurde,  spürten die Autoren der Verwandtschaft Wechslers in Israel nach. Die Zwangslage ihres Onkels Efim habe sie sich nie richtig klar gemacht, sagte Daniella Wexler nun dem Boulevardblatt Expressen. Ihre Mutter habe stets von einem Tauschgeschäft gesprochen. Die Mutter sei der Königin sogar einmal auf einem Empfang begegnet, erinnert sich die pensionierte Richterin. Die Frauen hätten sich sehr nett unterhalten. Auch Wexler urteilt milde über die nunmehr schweigende Silvia: „Sie ist von diesen Enthüllungen vermutlich genauso überrascht wie ich.“

 

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Alterssitz für Riff-Raff

 

It’s astounding. Time is fleeting. Madness takes its toll! Darf ich hier so viele englische Sätze schreiben? Da sie jeder mitsingen kann, der die Achtziger Jahre mit Reis und Konfetti im Haar erlebt hat, wird so viel Anglizismus schon okay – ich meine, in Ordnung – sein. Ich werde auch ganz sicher nicht einmal das Wort ‚Kult‘ verwenden, I promise. Dabei war Riff-Raff aus der Rocky Horror Picture Show damals fast so berühmt wie heute Harry Potter, wenn auch mit deutlich mehr Potential für den Christopher Street Day. Und jetzt das!

Es ist in der Tat verblüffend, die Zeit rennt davon, und der Wahnsinn greift um sich: Der Mann, der uns das beste Transen-Musical unserer Jugend bescherte, kämpft wie der Leibhaftige darum, endlich ein ganzer Kiwi werden zu dürfen. Richard O’Brien heißt der Erfinder und Darsteller des buckligen Butlers, der den durchnässten Hochzeitsreisenden Brad und Janet an einem stürmischen Abend mit dem Dreizack in der Hand die Türe öffnet. Wie ein verlorener Tourist im Regen vor einem transsylvanischen Schloss muss der 68jährige Schauspieler sich nun selber vorkommen. Denn das Land, das die Brutstätte seines subversiven Schaffens war, das lässt ihn nicht als Staatsbürger einreisen.

Mit zehn Jahren kam der kleine Richard aus den englischen Cotswolds auf die Südhalbkugel, wo sein Vater eine Schaffarm in Tauranga kaufte. O’Brien – damals hieß er noch Smith – lernte reiten und bekam seine erste Rolle als Stuntman beim Film. Im Städtchen Hamilton arbeitete er später fünf Jahre in einem Frisörsalon, bevor er 1964 nach London zog. Dort betonte er stets, wie sehr ihn die Erlebnisse in Aotearoa beeinflusst hätten. Einige der Lieder aus Rocky Horror entstammen der Haarspray- und Schafzucht-Periode. So stolz waren die Neuseeländer auf ihren berühmten Sohn, dass sie zur Freude der örtlichen Schwulenszene und aller durchreisenden Touristen ein bronzenes Riff-Raff-Denkmal in Hamilton aufstellten – an der Stelle des ehemaligen Kinos, in dem der Transgender-Star einst so viele inspirierende B-Movies guckte.

O’Brien besitzt Land in seiner alten Heimat, zwei seiner Geschwister und sein Sohn leben dort, und jetzt wollte auch er auf seine alten Tage wieder zurück zu den Wurzeln. Doch die Behörden spielten nicht mit. Richard O’Brien hatte nämlich nie die neuseeländische Staatsbürgerschaft. Um sich als Rentner im Land der langen weißen Wolke zur Ruhe zu setzen, muss man eine halbe Million auf der hohen Kante haben oder 750.000 Dollar investieren. Riff-Raff is not amused. „Sie bauen eine Statue für mich und feiern mich als Neuseeländer, aber jetzt muss ich auf die Knie sinken und alles Mögliche versuchen.“

„Dammit, Janet!“ ruft da nicht nur Brad aus, sondern jeder, der mal Fan war. Facebook-Kampagnen wurden gestartet. Es war ein Sprung nach links, und dann ein Schritt nach rechts, und dann endlich doch ein Happy End: Der böseste Butler aller Zeiten bekommt zumindest Daueraufenthalt im freundlichsten Land der Welt. Let’s do the time warp again.

 

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Die Macht des Kohlrabi

Gestern abend entdeckte ich in unserem Lebensmittelladen eine Rarität: Kohlrabi. Nicht die verkümmerten, radieschengroßen Köpfe wie sonst gelegentlich, sondern richtig große Prachtexemplare. Ich freute mich. Und kaufte. Als ich später in der Küche stand und das Gemüse schälte, dachte ich sehnsüchtig an all die guten Dinge, die es in der alten Heimat gibt. Graubrot zum Beispiel und deftige Leberwurst. Ach, Deutschland!

Alle mir bekannten Auslandsdeutschen leiden unter Lebensmittel-Nostalgie. Sie kriegen leuchtende Augen, wenn sie über Magerquark und weißen Spargel reden, was sie übrigens sehr häufig tun. In New York gibt es Quark nur in ausgewählten Supermärkten. Er wird in Pennsylvania oder Vermont hergestellt, ist teuer wie eine Delikatesse und schmeckt trotzdem nicht annähernd so gut  wie ein 99-Cent-Quark von Rewe. Weißen Spargel gibt es überhaupt nicht, grünen Spargel hingegen im Überfluss. Weshalb das so ist, konnte mir bisher keiner erklären. Ich staunte, als ich diesen Herbst in einem Brooklyner Bioladen weißen Spargel entdeckte. Er kam aus Peru.

Wenn es stimmt, dass Liebe durch den Magen geht, dann, ja dann sind die Deutschen in New York die größten Patrioten. Wir fahren stundenlang mit der U-Bahn, um bei Schaller und Weber an der Upper East Side ein kleines Glas Essiggurken der Marke Kühne für 4,99 Dollar zu erstehen, und tauschen Adressen von Kneipen, in denen es deutsches Bier vom Fass gibt. Wir riskieren hohe Geldstrafen, wenn wir Schwarzwälder Schinken und Limburger Käse durch den Zoll schmuggeln, und verpassen keine der Vernissagen im deutschen Generalkonsulat, weil da ein wirklich guter Riesling ausgeschenkt wird und nicht das zuckersüße Zeug, das die Amerikaner mögen.

In Deutschland sind mir die unschätzbaren Vorzüge von Kohlrabi, Spargel und Essiggurken nie richtig aufgefallen. Lebensmittel-Patriotismus entwickelt sich wohl nur in der Ferne. Ein guter Grund, weiter in New York zu bleiben.

 

Foto: Christine Mattauch

 

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Wikileaks – oder: Wir sagen jedem was er hören will

Es waren schon knackige Zitate, die Wikileaks vorzuweisen hatte. Vor allem von arabischen Herrschern gegen den Iran. Doch man sollte dabei nicht vergessen, dass es eine Spezialität arabischer Politiker ist, jedem zu sagen was er gerade hören will. Auch und vor allem amerikanischen Diplomaten.

Beispiel Saad Hariri: „Irak war unnötig, aber Iran ist nötig“, sagte demzufolge der heutige libanesische Premier im August 2006 mit dem Zusatz, dass die Amerikaner im Falle des iranischen Nuklearprogramms bereit sein sollten, die Sache bis zum Ende durchzuziehen, falls nötig.

Heute in Teheran Saad mal ganz anders: Der Libanon werde sich nicht am internationalen Druck gegen Teheran in der Nuklearfrage beteiligen. Außerdem habe der Iran ein Recht auf friedliche Nutzung von Nuklearenergie. Gestern betonte er – ebenfalls in Teheran – der Libanon habe bis jetzt Widerstand gegen das zionistische Regime geleistet und werde diesen Widerstand fortsetzen. So hört sich das an, wenn man in der Islamischen Republik zu Besuch ist. Aber wie gesagt, mit solcher levantinischer Flexibilität steht Hariri in der arabischen Welt keineswegs alleine da.

 

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Oh Tannenbaum…

Um es gleich vorwegzunehmen: diese Geschichte wird keinen brisanten Inhalt haben. Sie dreht sich um etwas Banales – um unseren Weihnachtsbaum. Da wir erstmals seit Jahren Weihnachten zu Hause feiern werden, muss natürlich auch ein Christbaum her. Nur: ein solcher ist im Land der Bonsais eigentlich nicht erschwinglich.

Selbst ein spindeldürres Bäumchen ist in Tokio nicht unter 80 Euro zu haben. Stattliche Christbäume gibt’s zwischen 100 und 500 Euro. Mit einer Ausnahme: IKEA bietet japanische Nadelbäume zu europäischen Preisen an. Solange der Vorrat reicht. Und das ist nicht lange, nach zwei Tagen sind sie alle weg.

Am 17. November war es soweit, auf ihrer Internetseite warben die Schweden mit einem Sonderverkauf für 20 Euro pro Stück. Eigentlich viel zu früh, mehr als fünf Wochen vor Heilig Abend. Gemeinsam mit einigen Dutzend Japanern – die Weihnachten ja eigentlich gar nicht feiern – stand ich auf einem mächtig zugigen Platz vor dem blau-gelben Möbelhaus und fahndete nach dem perfekten Exemplar. Eine halbe Stunde später schob ich mit triumphierendem Blick den in Zeitungspapier gewickelten und gut verschnürten Weihnachtsbaum zum Lieferservice. Doch die zeigten keine Gnade mit autolosen Kunden: Pflanzen grundsätzlich nicht, sorry.

Und so kam es, dass ich Mitte November mit einem Weihnachtsbaum über der Schulter die einstündige Bahnfahrt nach Hause machte. Da entgleisten doch so manchem Japaner die sonst unbeweglichen Gesichtszüge und pubertierende Schülerinnen versuchten erst gar nicht, ihr Kichern zu verbergen. Prekär wurde die Situation beim Umsteigen, als sich die Spitze meines stacheligen Gefährten in den langen Haaren einer Japanerin verfing.

Das letzte Stück des Weges legte der Baum dann liegend auf meinem alten Fahrrad zurück, dass ich fluchend und schwitzend durch die vollen Straßen unseres Wohnviertels schob.

Jetzt steht der grüne Kamerad im Garten zwischen Bambus und japanischem Ahorn. Er genießt ein Fußbad und ich dusche ihn jeden Tag mit dem Gartenschlauch und rede ihm gut zu, nur ja durchzuhalten. Bis zu seinem großen Auftritt sind es immerhin noch einige Wochen.

Von meiner Schwägerin kam inzwischen eine ermutigende email: „Wenn die Nadeln bis Heilig Abend braun sind, sprühst du den Baum einfach mit Goldspray an.“

 

 

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Nicht unter Geiern, aber nah genug dran

 

150 Kilometer von mir, einmal über den Bergpass hinüber, ist die raue, einsame Westküste, wo die Nachfahren von Goldwäschern und Pionieren leben. Da sagen sich Hase und Igel gute Nacht (und legen sich dann in eine der illegalen Marihuana-Plantagen schlafen). An der West Coast hat sich in den letzten Tagen ein immer größeres Drama abgespielt, das gestern seinen traurigen Höhepunkt fand: 29 Bergleute starben nach einer zweiten Explosion in einer Kohlemine. Seit Freitag waren sie vermisst, ihre Leichen sind noch immer unter Tage. Es ist die größte nationale Tragödie seit über 30 Jahren – das ganze Land trauert. Normalerweise überlasse ich die Katastrophennachrichten den Agenturen. Aber ich halte das Telefon frei, da Live-Schaltungen zu deutschen Sendern geplant waren, und habe seit dem Wochenende wie vor einer Niederkunft die gepackte Tasche im Flur, falls ich doch noch die vier Stunden bis Greymouth fahren muss. In dem kleinen Küstenort wimmelt es von den „Geiern“, wie meine Kollegen jetzt wieder tituliert werden. Die australischen Journalisten machten sich besonders unbeliebt, weil sie den Chef der Einsatzleitung einen „country cop“, also Dorfpolizisten, nannten. Unter Geier komme ich jetzt doch nicht. Nur, wenn die Bergleute nach einer gebührend langen Zeit im Stollen überlebt hätten, wäre das eine weltweit einmalige Nachricht gewesen – ein zweites ‚Wunder von Chile‘. So war es aus internationaler Sicht nur ein weiteres Minenunglück.

 

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Crisis? What Crisis?

Bei 29 Grad Celsius im Sporting Club ganz entspannt in die Sonne gucken, einen Drink zu sich nehmen, ab und zu mal ins Meer oder in den Pool springen. Die Beiruter lassen sich nicht aus der Ruhe bringen. Von wegen Angst vor einem neuen Bürgerkrieg. Sollen doch die Medien spekulieren. Auch gerne über eine unmittelbar bevorstehende Übernahme der Kontrolle durch die Hisbollah. Was soll’s.

Erst am Donnerstag hatte Hisbollah-Chef Nasrallah gedroht, denjenigen, die Hisbollah-Mitglieder mit dem Hariri-Mord in Verbindung bringen wollen oder sie gar verhaften wollen, die Hand abzuschlagen. In Washington, Paris und London beteuert man indessen hektisch und immer wieder die Unterstützung für das Hariri-Sondertribunal. Minister und Sondergesandte fliegen rasch nach Beirut, essen und trinken gut, genießen das schöne Wetter und fliegen wieder nach Hause. Die Partei Gottes bemüht sich ungeachtet dessen, das Tribunal auszuhebeln oder wenigstens seine Glaubwürdigkeit so sehr zu erschüttern, dass die erwartete Anklageerhebung ohne große Folgen sein wird.  

Der politische Schaukampf um den Einfluss im Zedernstaat zwischen dem Westen und der so genannten Achse des Bösen (Iran, Syrien, Hisbollah, Hamas) geht in die nächste Runde. Doch die Beiruter ficht das nicht an. Jedenfalls nicht an einem so schönen Sonntagnachmittag, an dem man das Leben genießen kann. So oder so sind am Montag wieder die Zeitungen voll mit: A sagt, B kontert und C droht. Und D? D hat klammheimlich alle seine Förmchen aus dem Sandkasten geworfen und will nicht mehr mitspielen. Jetzt sind wir gespannt, was die anderen machen.

 

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Potenzpille ist besser als Teflonlächeln – unerträgliche US-Wahlkampfspots

 

Halleluja! Amerika hat gewählt! Am Dientag abend war mir schon total egal, wer gewinnt. Ich dachte nur noch: bitte erlöst mich von den unerträglichen Wahlkampfspots! Endlich wackeln keine schwarz-weiss Bilder von hässlichen Männern und Frauen mehr in mein Wohnzimmer, zu denen düstere Stimmen vor unerträglichen Steuererhöhungen warnen, vor Gewerkschaften, die in den USA den Sozialismus einführen wollen, vor herzlosen Milliardären oder am besten gleich vor dem Ende der Welt. Hätte ich noch einen Spot mit Meg Whitmans Teflon-Lächeln ertragen müssen, hätte ich wahrscheinlich meine Terminator-Actionfigur in den Fernseher geworfen. Über 140 Millionen Dollar vom eigenen Konto hat die Ex eBay-Chefin mit Vorliebe für Hosenanzüge und Perlenketten in ihren Wahlkampf gesteckt und Kalifornien eine Schlacht um den Gouverneursposten geliefert, wie sie der sonnige Westküstenstaat noch nie erlebt hatte. Auf spanisch und englisch warb sie in jeder freien Fernsehminute mit einer Mischung aus mildem Grinsen und stahlblauem Blick für ihre Erfahrung als Unternehmerin, versprach bessere Schulen, mehr Jobs und eine Immigrationsreform. Vergeblich hoffte Whitman, dass Kaliforniens Latinos, die immerhin 20 Prozent der Wahlberechtigten ausmachen, vergessen, was sie noch im Vorwahlkampf sagte: ‘Illegale Immigranten sind nur das – illegal. ich werde knallhart gegen sie vorgehen!’. Falsch kalkuliert, ihr cleveren und teuren Politikberater! Nach hinten losgegangen ist auch Whitmans Entscheidung, zu Beginn der politischen Karriere ihre Angestellte zu feuern, die seit neun Jahren ohne Papiere im Haushalt der Unternehmerin gearbeitet hatte. War doch klar, dass die andere Seite Nanny Nikki ausgraben würde – eine Geschichte, die selbst Latinos, die gar keine Lust hatten zu wählen, gegen die eiserne Lady mit dem unverwüstlichen Lächeln aufbrachte. Nun soll der 72jährige Demokrat Jerry Brown Kalifornien aus dem absoluten Tief holen: 20 Milliarden Haushaltsdefizit, 12,4 Prouzent Arbeitslosigkeit, zerstrittenes Parlament. Viel Glück! Im Januar tritt er sein Amt an. Im Fernsehen ist unterdessen kalifornische Normalität eingezogen. Ich wusste gar nicht, wie erholsam Werbespots für Pillen gegen Potenzstörungen sein können, die dazu raten, im Falle einer vierstündgen Erektion den Arzt aufzusuchen. 

 

 

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Jagdglück im Sündenpfuhl

 

Noch eine Erfolgsmeldung aus der Reihe “Bücher, die sich verkaufen”: Nachdem der König bei seiner Elchjagd die neue Skandal-Biographie “Den motvillige monarken” zwar eigentlich nicht, dann aber doch (und erfrischend zweideutig) rezensierte, geht das Werk ab wie ein Zäpfchen. Das Autoren-Trio grub tief in der Unterwäsche der Bernadottes. Thomas Sjöberg ist der bekannteste der drei Sudelfinken. Seine unverlangt eingesandten Porträts sind Legende. Er hat Nationalheiligtümer wie den IKEA-Boss Ingvar Kamprad und die Regie-Legende Ingmar Bergman zur Strecke gebracht. Hat er diesmal einen kapitalen Zwölfender geschossen, wie Beobachter in Stockholm munkeln, oder doch nur einen Bock? Auf ein Wort dazu auf NDR und WDR.

 

 

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Ein Bißchen Spaß muss sein …

In Italien tanzt man nicht mehr den Waka Waka, sondern Bunga Bunga, wenn auch auf dieselbe Musik.

Der Hintergrund:

Eine junge Marokkanerin will mehrmals in der Villa von Berlusconi gewesen sein und dort beim “Bunga Bunga” mitgemacht haben. Was immer das auch sei, – die Untersuchungsrichter ermitteln, denn Ruby ist noch keine 18 Jahre alt – gibt es eine bessere Vorlage für eine Parodie, wie diese von Elio e le Storie Tese in einer satirischen Mitternachtssendung?

http://tv.repubblica.it/copertina/il-waka-bunga-di-elio-e-le-storie-tese/55544?video=&ref=HREA-1

 

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New Yorker Geisterstunde

Als ich in Deutschland lebte, fand ich es albern, wenn Ende Oktober in den Supermärkten Plastik-Skelette lagen und Freunde zu Geisterpartys einluden. Halloween? Ich? Niemals. Und jetzt? Im Schrank hängen das Hexen- und das Joe-the-Plumber-Kostüm. Mein Mann kauft gerade Candy für die Kinder der Nachbarschaft, und ich habe einen winzigen, sehr gefährlich dreinblickenden Kürbis erstanden, der unseren Hauseingang bewacht.

Halloween erfasst New York wie eine Welle, der man nicht ausweichen kann. Es ist wie in Köln mit dem Karneval – trotz allem Kommerz ein authentisches Fest, und die Menschen fiebern seinem Beginn entgegen. Schon Wochen vorher beginnen unsere Nachbarn, ihre Hauseingänge zu dekorieren. Zäune werden mit künstlichen Spinnweben drapiert, in den Bäumen hängen kleine Gespenster und in den Haustüren Fledermäuse und Sensenmänner. In manchen Vorgärten stehen gar künstliche Grabsteine. Viele morbide Kulissen sind liebevoll selbst gebastelt, an manchen sind offenbar ganze Hausgemeinschaften beteiligt.

 

 

 

 

 

 

 

Dann ist, am 31. Oktober, endlich Halloween, und man sieht nur noch Hexen, Piraten und Vampire auf den Straßen. Und unkostümierte Touristen, die nicht gewusst haben, dass New York am Vorabend von Allerheiligen einem uralten keltischen Brauch huldigt. Kinder ziehen durch die Viertel und sammeln Süßigkeiten, wie beim deutschen Martinsabend. Nur dass sie rücksichtsvoller sind. In meinem ersten Jahr habe ich mich gewundert, dass bei uns keiner klingelte. Und ich war ärgerlich, weil sich zu meinen vielen ungelösten Problemen ein Topf voller Snickers gesellte. Im nächsten Jahr kaufte ich nichts mehr. Erst im dritten Jahr bekam ich mit, dass die Kinder an überhaupt keiner Haustür klingeln, weil die spendierfreudigen Nachbarn mit ihren Bonbontöpfen in den Vorgärten oder auf dem Treppenaufgang sitzen. So müssen die Kinder nicht in fremde Wohnungen, und wer zu arm oder zu knauserig zum Geben ist, wird in Ruhe gelassen. Ich hoffe nur, dass es nicht zu kalt wird, wenn wir morgen den Platz auf unserer Treppe einnehmen.

Abends gibt es in Manhattan eine große Parade durchs West Village. Das sei aber nur etwas für Erwachsene, warnt unser Vermieter, weil da „Nudisten“ zu sehen seien. Auch ein schöner Ausdruck. In den Stadtteilen hingegen finden kleine, familiäre Umzüge statt. Es ist, bis auf die Nudisten, wirklich wie in Köln, mit dem großen Rosenmontags- und den kleinen Schull- und Veedelszöch. Noch ein Unterschied: In New York darf kein Alkohol auf der Straße getrunken werden.

Und was macht man nach Halloween mit den ganzen Süßigkeiten, die man zwar begeistert gesammelt hat, aber gar nicht mag? Ein paar Straßen von uns entfernt bietet Fußarzt Dr. Rinaldi eine Lösung, mit seinem „Halloween Candy Buy Back Program“: Pro Pfund zahlt er einen Dollar. „Die Süßigkeiten werden unseren Truppen in Irak und Afghanistan gespendet“, heißt es in seiner E-Mail, die mich über Umwege erreicht. Ein Brooklyner Fußpfleger, der sich berufen fühlt, eine Massenverschickung von Bonbons und Schokoriegel für amerikanische Soldaten zu organisieren? Ich glaube an einen Witz. Aber mein Mann sagt: „Beim Militär verstehen die Amerikaner keinen Spaß.“ Ich muss wohl mal mein Hühnerauge untersuchen lassen. Irgendwie hat mich Dr. Rinaldi neugierig gemacht.

 

Fotos: Christine Mattauch

 

 

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“Wir lassen keine Kremlzwerge ran!”

Ukrainische Feministinnen können ähnlich schamlos sein wie Pin Up-Girls anderswo. Dieser Tage protestierten in Kiew Aktivistinnen der Frauengruppe „FEMEN“ mit entblößten Oberkörpern gegen einen Besuch des russischen Premierministers Wladimir Putin. 

Ihre Parole lautete: „Die Ukraina ist nicht Alina“, eine politisch ziemlich unkorrekte Anspielung auf Gerüchte über Putins Affäre mit der russischen Olympiasiegerin Alina Kabajewa. Wie Anna Kuzop, Leiterin von „Femen“ in einem Blog schreibt, gaben die Feministen ihren Unmut über das „freche russische Eindringen in den politischen, ökonomischen, kulturellen und nationale Raum der Ukraine“ kund. Putin solle aufhören, die Ukraine mit der Kabajewa zu verwechseln.

http://www.echo.msk.ru/ua/blog/721734-echo/

Die halbnackten Patriotinnen schwenkten ukrainische Fähnchen und Plakate mit weiteren deftigen Sprüchen: „Wir lassen keine Kremlzwerge ran!“ Oder: „Uns nagelst du nicht!“ Einen Versuch der Polizei, sie festzunehmen, wehrten die frechen Feministinnen mit vereinten Kräften ab. Zivilcourage auf ostslawisch.

 

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Der Hüter des Vulkans

Immer wenn in Indonesien eine Naturkatastrophe passiert, die groß genug ist, um es in die deutschen Medien zu schaffen, klingeln bei uns die Telefone. Geht es Euch gut? Weißt Du schon Genaueres? Meistens erfahre ich erst durch diese Anrufe, dass irgendwo wieder die Erde gebebt hat oder ein Vulkan ausgebrochen ist – oft Tausende von Kilometern entfernt.

Seit gestern Nachmittag jedoch pustet der Merapi, einer der aktivsten Vulkane der Welt, heiße Gaswolken und Asche in die Luft – und das nur 30 Kilometer nördlich von Yogyakarta, wo ich zurzeit wohne. Seltsamerweise spürt man dennoch hier in der Stadt gar nichts vom Ausbruch des spirituell bedeutsamen Berges. Nur die Anspannung ist fast greifbar: Beim letzten (kleineren) Ausbruch des Merapi vor vier Jahren kam es fast zeitgleich zum größten Erdbeben in Yogyakartas Geschichte mit rund 6000 Toten.

 

In solchen Situationen wenden sich die Bewohner der Sultansstadt gern an den Hüter des Merapi, den 83-jährigen Mbah Maridjan, der angeblich im direkten Kontakt mit dem Berggeist steht. So lange er es für sicher hält, lassen sich auch die Menschen in den gefährdeten Bergdörfern nur widerstrebend evakuieren – immer wieder eine Herausforderung für die Sicherheitskräfte, die den Alten beim letzten Ausbruch weder mit Drohungen noch mit dem Angebot, in einem Fünf-Sterne-Hotel zu übernachten, von seinem Berg locken konnten. Damals wurde das Dorf von Maridjan sowie der heilige Stein, an dem er meist betete, nur um wenige Meter verschont – so wie es der Weise vorhergesagt hatte. Dank seiner spirituellen Macht wurde der rüstige Urgroßvater so nicht nur zum gesuchten Berater von Politikern und anderen Persönlichkeiten, sondern auch zum Werbestar für einen potenzsteigernden Energy-Drink.

 

Doch diesmal scheint Maridjan den Kontakt zum Berggeist verloren zu haben. Durch sein Dorf fegte gestern Abend eine tödlich heiße Gaswolke, bevor es komplett evakuiert war. Die Rettungskräfte entdeckten heute Morgen 15 verkohlte Leichen, darunter Helfer, die den alten Mann wegbringen sollten, sowie einen Journalist, der ihn interviewen wollte. Auch im Schlafzimmer des Berghüters fand sich ein menschlicher Körper. Noch ist nicht bestätigt, ob es sich bei dem Toten um Mbah Maridjan handelt. Sollte dies der Fall sein, stehen Yogyakarta – das glauben zumindest die Einheimischen – schlimme Zeiten bevor: Die Stadt liegt genau auf der Mitte einer spirituellen Linie, die den nun entfesselten Berggeist mit seiner mindestens genauso wilden Geliebten, der Göttin des Südmeeres, verbindet. Werden sie nicht mehr gehütet und regelmäßig besänftigt, schicken sie sich gegenseitig Lava und Tsunamis als Geschenke.

 

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Vaterländisches Pinup-Girl

In Russland wird es mal wieder peinlich. Am vergangenen Montag zeichnete Präsident Dmitri Medwedew im Kreml die Spione aus, die im Juni in den USA aufgeflogen waren. Unter strenger Geheimhaltung. Die Moskauer Öffentlichkeit rätselt darüber, mit welchen Orden sie beehrt wurden? Und für welche Verdienste? Schließlich hat die Affäre um die 10 im Juni ausgehobenen und später ausgetauschten „Maulwürfe“ den russischen Auslandsgeheimdienst weltweit bis auf die Knochen blamiert.

 Anna Chapman aber, die jüngste, fotogenste und deshalb berühmteste der verhinderten Meisteragenten, ließ sich außerdem für das Moskauer Männermagazin „Maxim“ fotografieren. Die 28jährige enthüllte den Lesern der Novembernummer augenzwinkernd einen Großteil ihrer Weichteile. (Die Fotos sind auch im Internet zu bestaunen:

http://www.mk.ru/photo/politics/1219-chapman-snyalas-dlya-zhurnala-maxim.html?page=1&img_id=17503)

Fehlte nur, dass der Orden „Für Verdienste vor dem Vaterland Erster Klasse“ zwischen ihren jungen Brüsten baumelte.

„Maxim“ aber behauptete, Anna habe mehr für Russland geleistet als die Fußballnationalmannschaft oder die Rakete „Bulawa“. Stimmt. Die Nationalelf wurde nach ihrem blamablen Scheitern in der WM-Qualifikation vergangenen Herbst als Versager des Jahres geschmäht, der „Bulawa“-Flugkörper gilt nach mehreren Bruchlandungen gar als Blindgänger des Jahrzehnts. Die Chapman aber hat bewiesen, dass sie zumindest als Pin Up-Girl durchaus brauchbar ist.

 

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Taifun, kein Taifun

Zwei Tage lang sah es so aus, als käme Taifun Megi nach Hongkong. Die Prognosen auf den Wetterkarten ließen keinen Zweifel zu. Den Hongkongern wurde das Herz schwer.

 

 

 

 

Ein Super-Taifun, hieß es in der Presse. Der schlimmste seit vielen Jahren. Mit seinem Auge direkt über der Stadt! Hongkongs Katrina!! 225 km/h!!! Zeitungen zeigten Verwüstungsfotos vom letzten „direct hit“ eines Taifuns 1979 und vom ganz schlimmen 1962, als über 100 Menschen starben.

Irgendwann begriff ich, dass das wohl berichtenswert wäre. Eine freudige Erregung machte sich breit. Nicht dass ich den Hongkongern eine Katrina wünschen würde. Aber ich sah mich schon in meiner wind- und sinftlutumtosten Wohnung souverän Live-Gespräche mit Radio- und TV-Sendern führen, nebenbei mit einer Hand das Fenster gegen den Druck von außen zuhaltend. Ich sah mich mit Mikrofon durch menschenleere Straßenfluchten hechten, immer im letzten Moment den umherfliegenden Objekten ausweichend. Ich sah mich am Tag danach bei der Pressekonferenz der Stadtregierung kritische Fragen zum Katastrophenschutz stellen. Ich sah mich schon ganz groß rauskommen. Und dann das:

Und DAS!!!

 

 

Megi bog ab. Stunde für Stunde wurden die Verlaufsprognosen korrigiert. Stunde für Stunde rückte Megi weiter nach Osten, weg von Hongkong. Da saßen wir nun mit unserer aufgeputschten Katastrophenstimmung und sahen die Katastrophe davonziehen! Das war eine Art Enttäuschung, wie ein Advent ohne Weihnachten, nur in Gruselform. Während ich hier schreibe, hätte Megi draußen wüten sollen. Ich habe heute keine journalistischen Heldentaten vollbracht, sondern im Sonnenschein Kaffee getrunken.

Am Ende hat Megi dann in Fujian und Taiwan gewütet. Dort sind mehrere Menschen bei Erdrutschen ums Leben gekommen. Taifune sind nichts zum Drauffreuen.

 

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Erst ein Koffi, dann ein Drillere

Ein sehr naher Verwandter von mir in Deutschland ist militanter Gegner von Anglizismen, also englischen oder pseudo-englischen Ausdrücken. Deshalb vermeidet er sie unbedingt: Wenn er etwa von seinem Handy-Vertrag bei „T-Mobile“ spricht, sagt er „T-Mobile“, als würde er von einem unlängst gebastelten, dann aufgehängten und jetzt schief hängenden Mobile sprechen. Vor diesem Hintergrund überrascht nicht mehr, dass er für „O2“„Oh Zwei“ sagt und für „Vodafone“ zuweilen mit diebischer Freude „Mannesmann.“ Affig, so sagt er, seinen Anglizismen. Schrullig, sagte ich, seien militante Anglizismus-Vermeider. 

Ich habe meine Meinung mittlerweile geändert: Wenn es im Deutschen auch nur halb so schlimm klingt, wie im Italienischen, dann sind Anglizismen ganz und gar affig. Zum Beispiel gibt es jetzt immer mehr Leute in Rom die, aus welchen Gründen auch immer „Koffi“ bestellen – und das sind nicht Anzugträger mit Knopf im Ohr, die sich dann irritiert umblicken, merken, dass sie in Rom sind und peinlich berührt erklären: „Oh, ich dachte ich wär noch in New York“. Nein, es ist zum Beispiel mein Mopedreparateur, der jeden Morgen mit schon dann völlig ölverschmierter Latzhose in meine Kaffeebar geschlurft kommt, sich müde an die Theke hängt und auf eine cowboymäßige Art einen „Coffee“ verlangt. Ich sehe dabei in seinen Zügen stets große, aber lässig kaschierte, Befriedigung und versuche, sie zu deuten: Träumt er davon, einmal auf der Route 66 Harley-Davidsons zu reparieren und sagt deshalb „Koffii“? Küsste er vor 40 Jahren eine englische Touristin in einem Tanzlokal? Als ich wieder einmal mein Moped zu ihm brachte, fragte ich ihn. „Warum, Koffiii oder Caffè, kann man doch beides sagen, für mich ist das kein Unterschied“, meinte er.  

Die Mutter meines Freundes Giulio pflegt eine Liebesbeziehung zu einem anderen Anglizismus, er heißt „optional“, sie sagt „obtschonale“. Alles, was man tun, aber auch lassen könnte, ist ein „obtschonale“, insbesondere Kinoprogramme und Speisekarten sind natürlich ein Paradies der Möglichkeiten. Aber jedes Wort, das auf „-zion“ endet, bekommt von den Römern derzeit ein englisches „schhhhhhh“ verpasst. So wurde ich kürzlich bei einem Fußballspiel darauf aufmerksam gemacht, dass ich mich in einer Notfall-„situeyschon“ an einem bestimmten Punkt einfinden sollte – zum Glück wurde das aber nicht nötig. Und in den Nachrichten sah ich ein Gespräch mit einem Oppositonspolitiker, der eine große „manifesteyschon“ ankündigte, die natürlich auch auf „Dwittere“ und „Feysbukke“ zu verfolgen sei. Lange verstand ich auch nichts, als ich  kürzlich in einem Telefonladen ständig vor die Wahl gestellt wurde, „Flatte“ oder „keine Flatte“, bis ich feststelle, das es um „unbegrenztes Telefonieren zum Festpreis“, ging. Zur Erholung ging ich in die Videothek bei mir in der Straße und lieh mir einen vom Chef empfohlenen, besonders spannenden „Drillere“ aus.  

 

 

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Voll daneben

Neulich hab‘ ich mich wieder total daneben benommen. Am 11. Oktober war’s, dem „Tag des Sports“ in Japan. Das Feiertagswetter war fantastisch, warme 26 Grad. Perfekt für eine Wanderung im Gebiet des Mt.Takao, Tokios Hausberg. Schweißtreibend war die Bergtour, Kalorien haben wir ordentlich verbrannt beim steten Auf und Ab.

Die Zeit haben wir auch ein wenig vergessen und daher den Zug zurück nach Tokio nur durch einen beherzten Sprint erreicht. Mir hat das den Rest gegeben. Hungrig und durstig kramte ich im Rucksack, holte eine Mandarine raus und begann sie zu schälen, in Gedanken noch im lichtdurchfluteten Bergwald.  „Ich setz‘ mich gleich weg“, maulte da mein Mann und holte mich grob zurück in die japanische Wirklichkeit. Und da herrscht nun mal Zucht und Ordnung im Öffentlichen Nahverkehr. Will heißen: Lautes Unterhalten, Telefonieren oder Musikhören sind ein Tabu. Essen und Trinken ebenso.

 Gosh, da saß ich nun tatsächlich in diesem Vorortzug, und hantierte mit der Mandarine so heimlich wie ein Pennäler bei der Klassenarbeit mit seinem Spickzettel. Schuldbewusst dachte ich daran, wie meine Japanisch-Lehrerin wenige Tage vor meinem Sündenfall empört auf den Verfall der Sitten in Tokios U-Bahnen zu sprechen gekommen war. „Seit einigen Jahren“ hatte sie geseufzt, „benehmen sich die Leute immer schlechter. Die jungen Mädchen schminken sich ungeniert oder quatschen laut. Und telefoniert wird auch immer öfter.“

Ich konnte da nur halbherzig zustimmen. Hatte ich im Sommerurlaub doch oft genug gedacht, wie super gesittet es in japanischen Zügen zugeht. Während sich in Frankfurt oder München jeder so benimmt, wie es ihm passt und manche U-Bahnen nach der Rushhour fahrenden Mülltonnen gleichen, sind Tokios Züge immer tipp topp sauber und 99 Prozent der Fahrgäste verhalten sich tadellos.

Und nun saß ich selber da, fühlte mich ertappt und steckte hastig das letzte Mandarinenstückchen in den Mund. Mein Mann hat sich zwar nicht weggesetzt. Aber die saftige Frucht, auf die ich mich so gefreut hatte, die hat irgendwie sauer geschmeckt.  

 

 

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Sind das noch Kirchen?

Das habe ich mich gestern gefragt bei der Besichtigung von Notre-Dame in Paris. Ich war in der Kirche seit Jahren nicht mehr. Aber dann kam mein Vater zu Besuch. Er war in den 50ern drin gewesen und wollte rein. Draußen stand ein Schild, dass Kinderwagen und Rollkoffer aus Sicherheitsgründen nicht mit in die Kirche genommen werden können. Die Dame vor mir hatte einen Koffer. “Wohin damit?”, fragte sie und der Kontrolleur zuckte mit den Achseln. Ja, klar, an so einen Tourispot lässt man eben den Koffer und den Kinderwagen einfach so vor der Tür stehen. Wer nach der Besichtigung beides noch vorfindet, hat dann vielleicht den Glauben an Gott und das Gute im Menschen zurückgewonnen.

 

 

Drinnen geht es weiter: Für alle, die schon lange nicht mehr in der Kirche waren, gibt es den Hinweis, dass man in christlichen Kirchen die Kopfbedeckung abnehmen sollte. Na, da finde ich schon wieder gut. Dann folgt man – wie in der Sicherheitskontrolle an den amerikanischen Flughäfen – den Absperrungen, die einen sukzessive durch die Kirche führen. Man kommt zu dieser Abzweigung: Messe oder Visite? das ist die Frage!

 

 

Wer die Visite nimmt, darf auf Teppich laufen, die anderen dürfen den Marmorboden betreten.

Wer nun müde ist und sich hinsetzen will, der muss über eine Absprerrung klettern. Kurze Zeit später steht er vor diesem Schild: “Eintritt für Treue”.

 

 

Was für Treue? Treue Gläubige oder treue Besucher der Kirche? Ich bin nicht nur ratlos, sondern auch leicht angewidert.

Beim Rausgehen (über zwei Absperrungen geklettert) mache ich nicht einmal ein Kreuzzeichen. Für mich ist das keine Kirche mehr. Aber mir wurde auch bewusst, wie der Massentourismus christliche Stätten entheiligt und zerstört. Alles sehr traurig!

Fotos: Barbara Markert

 

 

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Helden des Alltags: Mein Elektriker

 

Es reicht! Das ständige Flackern des Halogen-Strahlers in meiner Küche treibt mich in den Wahnsinn. Ich weiß nicht, ob der ungleichmäßige Stromfluss in Tel Aviv daran Schuld ist oder der letzte Stromausfall, ich weiß nur, dass es mir reicht. Ich rufe Nissim an. Nissim ist mein Retter. Er löst jedes noch so knifflige Elektrizitäts-Problem. Und darum gebührt ihm eine Hommage. 

Zunächst möchte ich die Glanzpunkte seiner Leistungsbilanz hervorheben: Nissim hat meinen Kühlschrank dazu gebracht, nach mehr als zwei Jahren das Ablassen penetranter Wasserlachen aufzugeben. Er hat meine uralte Spülmaschine so einfühlsam bearbeitet, dass sie nicht mehr überläuft. Auch die Klimaanlage überschwemmt nicht länger den Boden, wenn sie länger als eine halbe Stunde kühlt. Und ganz nebenbei hat Nissim noch ungezählte verkohlte Stecker und Steckdosen erneuert. 

Wenn ich nicht mehr weiter weiß, rufe ich Nissim an. Es dauert zwar manchmal ein paar Tage und meist viele Telefonate bis es soweit ist, er aus Petah Tikva hierher ins Tel Aviver Zentrum kommt und am Ende auch einen Parkplatz für seinen Pickup vor meiner Haustür gefunden hat, aber er kommt. Und wenn Nissim kommt, kann ich sicher sein, er geht nicht, bevor sich nicht all meinen Sorgen in Wohlgefallen aufgelöst haben. Und wenn es darüber halb zehn abends wird.

Nissim ist nicht einfach nur Elektriker. Nissim ist leidenschaftlich. Er will jedes Problem bis auf den Grund durchdringen und gibt nicht auf bevor ihm das gelungen ist. Ich habe in meinem Leben noch nie so ausführliche und detailreiche Vorträge über Spannung, Wechselstrom und Fehlerstromschutzschalter gehört, mich bislang – wie konnte ich so ignorant sein! – auch nie besonders dafür interessiert.

Nissim ist aber nicht nur leidenschaftlich, er ist auch empathisch: Er hält Vorträge über die Welt der Kontakte und Leitungen, die ein schlichtes Drähtchen als eigenständige Persönlichkeit mit guten und weniger guten Charaktereigenschaften erscheinen lassen. Dank Nissim ist mir jetzt klar, dass diese Art von Empathie unerlässlich ist, wenn man Kontaktstörungen dauerhaft heilen will.

Nissim ist ein leuchtender Stern am Tel Aviver Handwerkerhimmel, der ansonsten ziemlich verhangen ist mit wirren Gestalten, die souverän hohe Rechnungen schreiben, aber wenig mehr als Ratlosigkeit zurücklassen. Zum Beispiel Eran. Nissims Vorgänger im Amt. An den denke ich heute nur noch mit Kopfschütteln: Wenn Eran zu mir kam, hatte er zwar immer seine Pistole im Gürtel, den Schraubenzieher aber lieh er sich von mir. 

 

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Mein Freund der Baum

Vielleicht nennt man sie demnächst die Achse der grünen Männchen. Nicht, dass sie vom Mars kämen. Obwohl man schon mitunter das Gefühl hat, sie leben auf einem anderen Planeten. Dabei sind sie mitten unter uns. Die Baumpflanzer. Die Rede ist von Hisbollah-Chef  Nasrallah und Irans Präsident Ahmedinejad. Ja, sie sind unter die Ökos gegangen. Ganz öffentlich. Der nebenberufliche Chef der Schiitenmiliz hat den biblischen Aufruf „Schwerter zu Pflugscharen“ selbst in die Tat umgesetzt. Er kam tatsächlich aus seinem Versteck, wo er sich vor israelischen Attentatsdrohungen schützt, ins pralle Sonnenlicht und pflanzte den  Millionsten Baum der Aufforstungskampagne der Hisbollah-Wiederaufbauorganisation Jihad al Bina. Direkt vor seinem Haus steht das Bäumchen jetzt. Wer es gießt, ist unbekannt.

In einer langen Rede, der erstaunlicher Weise selbst die libanesischen Medien keinerlei Beachtung schenkten, erklärte der Chef der „Partei Gottes“, die Aufforstung des Libanon sei Teil der nationalen Sicherheitsstrategie. Nicht nur, weil Guerrillakämpfer sich unter diesen Bäumen prima verstecken können (nicht umsonst haben die israelischen Besatzer im Südlibanon tatsächlich zahlreiche Bäume gefällt und erst im August kam es zu einem Zwischenfall an der Grenze, weil israelische Militärs neuerlich einen Baum entfernen wollten). Sondern auch weil Nasrallah als einziger libanesischer Politiker erkannt hat, dass der Klimawandel eine der größten Bedrohungen nicht nur für die Libanesen sondern für die ganze Welt ist.  

Weil der gute Nasrallah sich nun mit seinem grünen Finger hervorgetan hatte, dachte der iranische Präsident vermutlich: „Was der kann, kann ich schon lang“. Kaum hatte Ahmedinejad sein ausgedehntes Mittagessen mit dem libanesischen Präsidenten Suleiman beendet, stürzte er in Suleimans Garten und bestand darauf, auch einen Baum zu pflanzen. Zuerst dachte ich, es wird wohl ein Kaktus gewesen sein. Aber nein, Ahmedinejad wählte eine Zeder. Wie originell! Eine Freundschaftszeder, wie er es nannte. Nur zu dumm, dass Zedern in Beirut gar nicht überleben können – hier ist es zu warm. Sie gedeihen nur in den Bergen, wo im Winter auch Schnee fällt.

Kann man nur hoffen, dass dies kein schlechtes Omen für den Bestand der Freundschaft ist. Aber derzeit muss man da wohl keine Angst haben. Denn dass ein großer Teil der Libanesen feurige Anhänger Ahmedinejads sind, stellten sie während seines Besuches mehrfach unter Beweis. Aber so richtig überwältigt war der Mann aus Teheran während einer Willkommensfeier am Abend in der Dahiyeh, den südlichen Vororten Beiruts. Dort flogen ihm die Herzen zehntausender jubelnder Menschen nur so zu, eine Hisbollah-Band spielte ein eigens für diesen Besuch komponiertes Willkommenslied – und der Präsident aus dem gefährlichen I-Land wischte sich verstohlen die Tränchen aus den Augen. Es war geradezu rührend. Zu Hause dürfte ihm das in diesen Tag nicht so häufig passieren. Aber im Libanon ist er unter Freunden. Jedenfalls in den südlichen Gefilden des Landes.

Wir dürfen nun gespannt sein, ob Ahmedinejad nach seiner Heimkehr auch eine Aufforstungskampage ausruft. Weil er auch gerne öfters dem Vorbild Nasrallahs folgend wie ein Rockstar gefeiert werden möchte. Bäume statt Nuklearanlagen. Meinetwegen auch für die nationale Sicherheit. Das wär doch mal was.

 

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Schweigsame Gelehrte

Bis heute sieht sich das Nobelkomitee am Karolinska Institutet (KI) nicht in der Lage, auf meine Anfragen zum Skandal um die Bekanntgabe des diesjährigen Nobelpreises für Physiologie oder Medizin zu antworten. Gewöhnlich wird man unter der Woche mit gefühlten zwei Dutzend Pressemitteilungen aus der Stockholmer Uniklinik bombardiert. Doch diesmal schweigen die Gelehrten vielsagend. Das Leck in ihren Reihen ist einer der größten Skandale in der Geschichte der Preisvergabe. Bereits im Juni hatten sich die sechs Mitglieder des Nobelkomitees  auf den Briten John Edwards als Preisträger geeinigt, die Abstimmung im Kollegium der Nobelversammlung am Morgen der Verkündung ist eine Formalität. Den Kreis der Insider schätzt Karin Bojs, erfahrene Wissenschaftsjournalistin der Zeitung Dagens Nyheter daher auf gerade einmal 10 Personen. Die Motive für den Verrat sieht sie in anhaltenden Konflikten an der Klinik, die dem Fachblatt Nature bereits im Sommer eine Geschichte wert waren. Während sich die Konkurrenz vom Svenska Dagbladet für den gelungen Scoop auf die Schulter klopft, fürchtet Bojs um den guten Ruf der Nobelstiftung. Selbst hätte sie keine Sekunde gezögert, das Geheimnis auszuplaudern, sagte sie mir. Sie legt aber Wert drauf, dass sie einen anderen Stil pflege. Kollegen bewundern sie für ihre Einsichten in die Forscherwelt. Mit ihren Spekulationen über die Preisträger hat sie immer wieder richtig gelegen. Keine Zauberei, versichert sie mir, sondern Früchte eines fleißigen Studiums offener Quellen. Sie liest die Publikationen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften und die Kommentare, lauscht den Symposien. Von Forschern lässt sie sich höchst ungern beeinflussen. Und Pressemitteilungen sind so launisch wie der Herbstregen in Schweden (s.o.).

 

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Prohibition auf australisch

Freunde des Trink- und Motorsports müssen sich dieses Wochenende in Australien schwer zusammenreissen. Vor allem in Bathurst, einem Bergort westlich von Sydney. Dort findet zum 50. Mal ein beliebtes Autorennen statt: Die Bathurst 1000: (Die Fahrzeuge umkreisen dabei den Mount Panorama so lange bis sie 1000 Kilometer geschafft haben). Für Zigtausende ist dies ein beliebter Anlass, rund um die Rennstrecke zu campieren und zu picknicken. Traditionell missachten dabei einige ihre zulässige Trinkgeschwindigkeit und anschließend Gebote der Höflichkeit. Deshalb griffen Behörden zu – runder Geburtstag hin oder her – DRASTISCHEN Maßnahmen: Die Alkoholmitnahme für Besucher wurde reglementiert, die Einhaltung des Limits kontrollieren Polizisten! Viele! Und die kennen kein Pardon: Erlaubt ist nur ein slab Bier. Genauer: 24 Dosen normalen Biers, 30 Dosen Leichtbier (was aber in Australien schwer zu kriegen ist), oder eine Flasche Hochprozentiges oder vier Liter Wein. Dieses Limit gilt übrigens pro Person, pro Tag. Harte Bandagen, fürwahr! 

Heute tröstet der örtliche Abgeordnete via Zeitung die Pissköppe: “Leute können auch mit w e n i g Alkohol noch eine Menge Freude haben.” Wobei das wenig nicht in Anführungszeichen gesetzt war. (“There’s been a review of that so certainly we’re finding that suddenly people can deal with less alcohol and still have a good time.”) Fast zynisch ist natürlich angesichts derlei radikaler Prohibition, wenn man auf einem von einer Biermarke gesponsorten Zeltplatz campen muss oder gar im von einer Whiskey-Marke finanzierten Eventbus zum Rennen fährt. Ich hoffe, die V8-Fans haben trotzdem ein schönes Wochenende. Happy Birthday Bathurst!

 

 

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Von wegen “It never rains in Southern California”

 

Sonne, Palmen, Margaritas am Strand und laue Nächte an Pools der Promis in Hollywood – so stellen sich viele das Leben einer Reporterin in Los Angeles vor. An dieser Stelle muss ich zumindest eine Illusion zerstören – die von der Sonne und den lauen Nächten. Die Beach Boys haben schlicht völlig verantwortungslos gelogen mit ihrem „It never rains in Southern California“. Das hab ich gemerkt, kaum war ich angekommen als Korrespondentin in Los Angeles. Das war in einem völlig verregneten März. Endlose Wasssergüsse führten zu bedrohlichen Erdrutschen, stundenlangen Telefon-, Internet- und Fernsehausfällen. Das Spielchen wiederholte sich jedes Jahr. Bisher aber nur im Winter und Frühling. Und dann kam der Sommer 2010! Erst gab es wochenlang eine hartnäckige graue Suppe aus Meeresrichtung, die die Südkalifornier in Depressionen schickte. Dann kamen plötzlich drei Tage Rekordhitze von über 45 Grad, bei denen wir nicht ins Auto steigen konnten ohne uns den Hintern am Sitz zu verbrennen und das Cabrio-Verdeck zulassen mussten, um nicht als Trockenpflaumen zu enden. Dann kam eine kurze sehr interessante Zwischenphase mit dramatischen Wolkenlandschaften und zugegebenermaßen wunderschönen Regenbögen.

Und jetzt das! Feuchte Kälte! In den letzten Tagen versammeln sich Kalifornier lieber mit Kuscheldecken vorm Kaminfeuer als mit Drinks an Pazifik oder Pool. Ich gestehe, dass wir hier etwas empfindlich sind und dazu neigen, schon bei 15 Grad Plüsch-Puschen, gefütterte Stiefel, dicke Pullis, Handschuhe und Strickmützen anzuziehen.

Die einzigen, die sich über das verrückte Wetter freuen, sind die Meteorologen. Bei denen ist endlich mal was los! Die Grafikabteilung muss nicht mehr nur blauen Himmel malen, sondern kann bei der Sieben-Tage-Vorhersage ihre ganze Symbol-Palette ausschöpfen: Wolken, Wind, Regen – Aus deutscher Sicht wirklich nichts Besonderes, aber für so ein Wetter zieht doch kein Mensch nach Kalifornien!

 

 

 

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Die Qual der Wahl

Ginge es nach dem gesunden Menschenverstand, müsste der Friedensnobelpreis am Freitag an Liu Xiaobo gehen. Der chinesische Schriftseller ist ein unbeugsamer Kritiker der allmächtigen kommunistischen Partei. Reichlich Ärger würden sich die Norweger mit einer solidarischen Geste an den inhaftierten Dissidenten einhandeln, raunt Geir Lundestad, Direktor des Nobelinstituts, bei jeder Gelegenheit. Zuletzt habe ihn Vize-Außenministerin Fu Ying bei einer Begegnung im Sommer in der chinesischen Botschaft in Oslo vor bösen Konsequenzen gewarnt. Eine Preisvergabe würde man in Peking als „unfreundlichen Akt“ verstehen. Zumal sich unter den 237 Nominierten weitere Oppositionelle aus dem Riesenreich finden, wie etwa Rebiya Kadeer, die sich für die Rechte des Urvolks der Uiguren einsetzt.

Bereits im Vorjahr galt Xiaobo als heißer Kandidat für den Friedenspreis, der dann aber zum ungläubigen Staunen der versammelten Weltpresse und des Geehrten selbst an den US-Präsidenten Barack Obama ging. Auf die vielen Fehlgriffe angesprochen, reagiert der sonst so warmherzige Gelehrte Lundestad überaus dünnhäutig. Der Vorwurf des Opportunismus sei ungerecht, sagte er mir einmal bei einem Besuch im Nobelinstitut. Schließlich habe seine erlauchte Runde unbequeme Preisträger wie Andrei Sacharow, Lech Walesa und den Dalai Lama ausgezeichnet. „Man darf die Kontroverse nicht scheuen, wenn es um die grundlegenden Prinzipien geht“, dröhnte Lundestad mit viel Pathos in der Stimme.

Thorbjørn Jagland verteidigt die Wahl Obamas bis heute als gelungen. Man wolle auch künftig keine „Friedensarbeit am Schreibtisch“ honorieren, sondern mutige Helden auszeichnen, die ein echtes persönliches Risiko eingehen und bereit seien für ihre Überzeugung zu kämpfen. Auch in diesem Jahr preist der Leiter des Nobelkomitees eine „echte Überraschung“ an. Das lässt Schlimmes ahnen. Zumal das schwedisch-deutsche Konkurrenzprojekt der Familie von Uexkull das norwegische Weltgewissen seit geraumer Zeit medial in den Schatten stellt.

Nicht amtierende Staatsmänner sondern kleine Alltagshelden mit großer Wirkung bekommen den Preis für das „Gerechte Leben“. Da sehen die steifen Norweger mit ihrem staubigen Testament ganz schön alt aus.

 

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In Vorfreude auf die Frankfurter Buchmesse 2014

 

Sie sieht aus wie ein dezenter Grufti und schreibt wie eine junge Kreuzung aus Herta Müller und Günter Grass – Sofie Oksanen, der neue literarische Jungstar aus Finnland. Nun ist ihr Buch ‘Fegefeuer’ in Deutschland erschienen.

 

Mit ihrer politisch-privaten Familiengeschichte hat die junge Schriftstellerin mit estnischen Wurzeln gleich zwei Generationen eine eindrucksvolle Stimme gegeben. Zara, eine Russin im Alter der Autorin, in Deutschland zur Prostitution gezwungen, ins Estland ihrer Vorfahren geflohen, trifft dort 1990 auf ihre Großtante Aliide Tru, die im Krieg und unter sowjetischer Besatzungszeit ebenfalls unter der Macht der Männer litt. Die Peinigung hat sie stark gemacht, so stark, dass sie zu unerwarteten Rachetaten fähig ist.

Leidensweg, Kraft und Kapitulation der Frauen in den Jahrzehnten nach 1930 und nach 1990 beschreibt Oksanen eindrücklich und mit einfallsreicher Sprache. Der Roman ist nicht nur eine Geschichte der zwei Frauen, sondern gibt zugleich Einblicke in das Leben unter einem Regime, dass die nun aufwachsende Generation nur noch vom Hörensagen kennt.

Finnland ist erst in vier Jahren Gastland bei der Frankfurter Buchmesse, vielleicht kommt bis dahin ein weiterer Oksanen. Zu wünschen wäre es. Die nordischen Nachbarländer überschwemmen den deutschen Buchmarkt nahezu mit Titeln (leider handelt es sich dabei vielfach um Krimis, die nur zu lesen lohnt, wenn wirklich Zeit vertrieben werden muss – Müßiggang ist meist die bessere Alternative.). Finnische Literatur wird im Ausland oft vernachlässigt, Oksanen hat das Zeug dazu, das zu ändern.

 

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Generalstreik und Existenzkrise – für Vierjährige

Am Mittwoch war Generalstreik in Spanien. Vor meiner Haustür trug der Streik das Gesicht von Robert de Niro. Der warb auf einer Leuchtreklame mit zwei Schusswaffen in den Händen für den Film „Machete“. Weil ihm aber jemand „Vaga!“ (Streik auf katalanisch) über die Brust gesprüht hatte, sah er plötzlich aus wie ein strenger Gewerkschafter, der seine Ziele by all means necessary durchsetzt. Ich verbrachte einen Gutteil des Vormittags vor dem Bildschirm und verfolgte via Internet die Streiknachrichten. Gelegentlich tauchte auch mein gerade vier Jahre alt gewordener Sohn an der Seite des Computers auf. Der Kindergarten hatte allen Eltern nahegelegt, die Kinder am Streiktag besser zuhause zu lassen. Mein Sohn wollte mit mir spielen. Ich sagte: Geht jetzt nicht, ich muss arbeiten. Er fragte: „Was guckst Du da an?“ – Das hat alles mit dem Streik zu tun. – „Was ist ein Streik?“ – Wenn die Leute nicht zur Arbeit gehen. – Mein Sohn sagte eine kleine Weile gar nichts. Er warf noch einen Blick auf den Bildschirm. Dort wurde gerade eine Straßenumfrage gezeigt. Mein Sohn legte nach: „Die Leute gibt es wirklich?“ – Ja, die gibt es wirklich (das heißt für ihn: weder Walt Disney noch die Gebrüder Grimm oder andere haben sie sich ausgedacht). „Und die arbeiten alle nicht?“ – Nein, in ganz Spanien arbeiten die Leute heute nicht. – „Und warum arbeitest du dann?“ Mein Sohn hatte mich in die Ecke getrieben. Ich konnte nur noch sagen: Die Spanier arbeiten nicht – aber die Deutschen ja! Das klang irgendwie nach einem uralten Vorurteil. Ich hoffte gleich, der Satz würde nicht bei ihm hängen bleiben wie so mancher andere.

Am nächsten Tag, als der Generalstreik vorüber war und die Spanier wieder arbeiteten wie die Deutschen, merkte ich, dass mein Sohn an einer ganz anderen Frage hängengeblieben war. Nach gemeinsamer Ansicht eines alten Disney-Strips, in dem sich Donald und Dagobert als Weihnachtsmänner verkleiden und am Ende auch noch der echte Weihnachtsmann auftaucht, nach diesem im Grunde also komplexen Stück Fiktion in der Fiktion, sah mich mein Sohn ernst an und fragte: „Papa, wir sind aber nicht in einem Film, oder? Wir sind nicht ausgedacht…“

 

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Money Never Sleeps

Zu den angenehmen Pflichten einer Wirtschaftsjournalistin in New York gehört mitunter auch ein Kinobesuch.

Vergangenen Freitag lief der Film „Wall Street – Money never sleeps“ in den USA an. Von der Finanzkrise inspiriert, wollte der linke Starregisseur Oliver Stone mit den Spekulanten abrechnen – und dabei auch seinen ersten Wall-Street-Film von 1987 aufarbeiten. Darin hatte Michael Douglas den rücksichtslosen Investmentbanker Gordon Gekko gespielt. Zu Stones Ärger wurden Gekko und sein Motto „Gier ist gut“ zum Vorbild einer ganzen Börsengeneration. 

Weil ich einen riesigen Ansturm auf den Film erwarte, reserviere ich im AMC Empire 25 unweit des Times Square eine Karte und bin eine halbe Stunde zu früh da, um noch einen guten Platz ergattern. Die erste Überraschung ist, dass es keine Schlangen gibt. Die zweite, dass der Kinosaal bestenfalls halb gefüllt ist. Gut, es soll an dem Abend noch acht weitere Vorstellungen in fünf Sälen geben, aber das ist in einem Großkino mit 25 Sälen nicht so ungewöhnlich, der Fantasyfilm „Legend of the Guardians“ läuft in dreien. Und die dritte Überraschung? Dass der Film schlecht ist.

Es fehlt die scharfsichtige Analyse, die den ersten Wall-Street-Film so gut machte. Die Finanzkrise wird zur dramatischen Kulisse einer rührseligen Familiengeschichte degradiert. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal einen Film gesehen habe, in dem so viele Tränen fließen. Der einzige Lichtblick ist Michael Douglas, der eine fantastische Vorstellung als alternder Gekko gibt.

Da ich keine geübte Kinokritikerin bin, beruhigt es mich am nächsten Tag zu lesen, dass es dem New-York-Times-Kolumnisten Joe Nocera auch nicht anders ging als mir. Im Gegensatz zu mir hatte er allerdings die Gelegenheit, mit Stone darüber zu reden. Auf Noceras Vorwurf, die Finanzkrise sei nicht angemessen thematisiert, antwortete der Regisseur, das sei in einem Mainstream-Film nicht möglich: „Die Leute wollen kein Business Movie sehen.“

Genau da liegt vermutlich das Problem: Der Film war von vornherein darauf ausgelegt, ein Kassenschlager zu werden. Und warum sollen Stone und die Filmgesellschaft nicht ein paar hübsche Millionen verdienen? Aber mit dem linken Anspruch verträgt sich das dann doch nicht so recht.

Auch das Product Placement ist nicht unbedingt als antikapitalistisch zu bezeichnen. Es erstreckt sich nicht nur auf Heineken Bier, sondern auch auf den New Yorker Hedge Fonds Skybridge Capital, dessen Logo in einer Szene groß eingeblendet wird. Dessen Gründer Anthony Scaramucci hat Oliver Stone bei den Dreharbeiten beraten. Scaramucci hat dann auch gleich noch ein Buch geschrieben, „Goodbye Gordon Gekko“, in dem er für den Film wirbt und fordert, dass er und seine Kollegen bessere Menschen werden. Auf der Rückseite des Buchs prangt ein Zitat von Oliver Stone: „Macht Spaß und ist leicht zu lesen.“ Ein gelungenes Cross-Marketing, das allerdings nicht unbedingt für Stones Distanz zur Wall Street spricht.

Am nächsten Tag laufe ich zufällig am City Cinema in der 86. Straße vorbei, an Manhattans vornehmer Upper East Side. Ich ärgere mich schon, dass ich nicht auf die Idee gekommen bin, den Film genau dort anzusehen, wo die reichen Leute wohnen, die es an der Wall Street zu etwas gebracht haben. Bestimmt hätte ich tolle Zitate von Börsenhändlern und Brokern sammeln können, die den Film über ihr eigenes Leben sicher in Massen begutachtet haben.

Doch dann stelle ich fest, dass der Film in der 86. Straße gar nicht gezeigt wird. Wie naiv ich bin! Gordon Gekkos Jünger gehen nicht ins Kino. Selbst wenn es um die Wall Street geht. Wenn sie einen Film sehen, dann auf den Großbildleinwänden ihrer Luxusappartments.

 

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Kairo: It´s Tea-Time auf der Stoßstange

Heute Nachmittag bei einem Interviewtermin  in der Kairoer Innenstadt: Wieder einmal zu spät, weil die Fahrt dorthin praktisch im permanenten Stau im Schritttempo verlaufen war.

Selbstverständlich gibt es nirgends Parkplätze, obwohl die parkenden Autos in der engen Strasse bereits zu beiden Seiten in der zweiten Reihe parken. Bis auf eine Lücke, wohlgemerkt in der zweiten Reihe.

Ein netter Verkehrspolizist  im Pensionsalter weist mich freundlicherweise mit zittrigen Händen ein und schreit dabei immer wieder stoisch den in der Situation recht paradoxen Satz: „Parken in der 2. Reihe ist verboten“, Unterbrochen von einem kurzen: ‘Vorne hast du noch einen halben Meter’.

Frei nach dem Motto, je öfter und je lauter er mich auf die Strassenverkehrsordnung hinweist, während er sich gleichzeitig als mein Partner im Brechen derselben anbietet,  umso größer das Bakschisch – die polizeiliche Motivationszulage.

Nachdem sich beide Seiten schnell geschäftseinig waren, beruhigt er mich noch. Was das eingezwängte Auto in der ersten Reihe angeht, solle ich mir keine Sorgen machen. Die Bürostunden des Besitzers endeten erst am frühen Abend.

Eine gute Stunde später nach dem Termin, wieder auf der Strasse: Stück für Stück manövriere ich den Wagen aus der Parklücke und fahre los, als mir ein junger Mann hinterrennt, sich atemlos vors Auto stellt und mich wild gestikulierend zum Halten bringt. Er duckt sich, lächelt  und hebt zwei leere Teegläser hervor. Die hatte er zuvor nach einer kleinen Teepause mit seinem Freund auf meiner vorderen Stossstange vergessen.

Wir lachen beide lauthals. Er zufrieden dass er auch seinen nächsten Tee aus dem gleichen noch heilen Glas trinken kann, ich glücklich, dass mein ansonsten nutzlos parkendes Gefährt und dessen Stoßstange sinnvoll zu einer Teeküche zweckeentfremdet wurden.  Wir winken uns zum Abschied zu. \’Ich liebe dieses verrückte Kairo\’ denke ich, und gebe Gas.

 

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Truthahn statt Hering

 

Ganz Leiden bereitet sich schon darauf vor, bald ist es wieder soweit. Dann gibt es Jahrmarkt, Feuerwerk und viel Musik. Dann teilt unser Bürgermeister vormittags gratis Hering und Weissbrot aus. Und wer auf sich hält, tischt seiner Familie zum Abendessen „Hutspot“ auf, ein Eintopf aus Rüben, Zwiebeln und Kartoffeln mit einem Stück Rindfleisch. Es schmeckt besser als es klingt.

Einen noch warmen Kessel mit diesen Ingredienzen, so will es die Legende, soll ein Waisenjunge aus Leiden während der Belagerung der Stadt im 80Jährigen Krieg gefunden haben. Der Topf hing ausserhalb der sicheren Deiche, von denen die Stadt umgeben war, über einer erloschenen Feuerstelle im Lager der spanischen Truppen – als triumphierender Beweis dafür, dass der Feind tatsächlich wie beabsichtigt Hals über Kopf flüchten musste, um nicht jämmerlich in den Nordseefluten zu ersaufen. Denn um dem spanischen Erzfeind, der ihnen die Religionsfreiheit nehmen wollte, das Fürchten zu lehren, hatten die Holländer einen anderen Feind eingesetzt, der zwar noch viel grösser war, den sie aber im Laufe der Jahrhunderte zu bändigen gelernt hatten: das Wasser.

So endete am 3. Oktober 1574 die Belagerung von Leiden – ein Ereignis, das jedes Jahr im grossen Stil gefeiert wird. Immerhin hätten die Spanier die Bürger von Leiden fast ausgehungert. Doch die hielten dank ihres heldenhaften Bürgermeisters durch. Der sprach ihnen immer wieder Mut zu und bot ihnen am Ende sogar seinen eigenen Körper zum Aufessen an: „Snijdt het aan stukken en deelt ze om“, rief er, „schneidet ihn in Stücke und teilt diese aus!“

Soweit brauchte es glücklicherweise nicht zu kommen, statt dessen kamen die niederländischen Widerstandskämpfer, die so genannten Geuzen, auf die Idee, weiter rheinabwärts Richtung Rotterdam die Deiche zu durchbrechen. Petrus stand auf ihrer Seite: Er beglückte sie nicht nur mit einem handfesten typisch holländischen Sturmtief, sondern sorgte auch dafür, dass der Wind aus der richtigen Richtung kam und die Nordsee-Wassermassen Richtung Leiden trieb. Dem Feind jedenfalls blieb noch nicht einmal Zeit, sein Abendessen zu beenden.

Über den genauen Inhalt des Kessels, den der Waisenjunge fand, scheiden sich die Geister zwar, immerhin war Krieg, auch die Spanier konnten nicht allzuviel zu essen gehabt haben. Vermutlich bestand der Hutspot bloss aus Rüben und Zwiebeln und haben die Holländer – um das Ganze dann doch etwas schmackhafter zu gestalten – Kartoffeln und Fleisch hinzugefügt. Am nächsten Morgen jedenfalls, so die Legende, fuhren die Geuzen auf mit Hering und Weissbrot vollbeladenen Schiffen über das überflutete Land Richtung Leiden, um mit den hungrigen Bürgern die Befreiung zu feiern.

   

Die durften als Belohnung für ihr Durchhaltevermögen zwischen einer Universität und einer drastischen Steuersenkung wählen und entschieden sich natürlich – Legenden sind einfach zu schön! – für die Universität. So kommt es, dass Leiden heute eine der ältesten und renommiertesten Unis der Niederlande hat, selbst Königin Beatrix und ihr Kronprinz Willem Alexander haben hier die Hörsaalbänke gedrückt. Wobei sich Willem in Leiden den Beinamen Prins Pils verdiente: Das Studentenleben gefiel ihm so gut, dass er mit dem Auto auch mal in der Gracht landete.

Ob er am 3. Oktober zusammen mit seiner Maxima Hutspot kocht, weiss ich nicht. Zu meinen Lieblingsgerichten jedenfalls gehört es nicht unbedingt. Auch den Hering lasse ich lieber stehen. Die amerikanische Variante ist mir da schon lieber.

Für die haben die Pilgrim Fathers gesorgt, die legendären Gründerväter Amerikas. Diese Glaubensflüchtlinge aus England liessen sich nämlich zunächst in Leiden nieder, wo sie ihren Glauben problemlos ausüben durften. Nach einigen Jahren allerdings fanden sie die lockeren Holländer dann doch etwas zu liberal und gottlos und beschlossen, in die Neue Welt weiterzuziehen: Nach einem Zwischenstopp in Plymouth, wo sie auf die Mayflower umstiegen, landeten sie an der amerikanischen Ostküste – im Reisegepäck viele Sitten und Gebräuche aus Leiden. Auch den dritten Oktober feierten sie weiterhin, nun allerdings als Erntedank- statt Befreiungsfest. Bis Abraham Lincoln diesen Thanksgiving Day auf den vierten Donnerstag im November verlegte. Dass dabei nicht mehr Hering mit Weissbrot gereicht wird, hat mit der Fauna Neuenglands zu tun: In der Neuen Welt gab es Truthahn im Überfluss.

 

 

 

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Trauma keinem mit Trauma

Ich erinnere mich noch an eine Ladenkette in den USA, die dem Kunden versprach: „Wenn wir Sie nicht mit einem Lächeln begrüßen, bekommen Sie zehn Dollar von uns.“ Super. Bring‘ die Kassiererin zum Weinen, und dir winkt vielleicht ein Hunni. Im Land der langen weißen Flauschwolke sind wir auf dem Service-Sektor noch nicht ganz so weit, aber umso liebenswürdiger. „Wie geht‘s“, fragt der Neuseeländer zur Begrüßung, und die korrekte Antwort darauf lautet „bestens, danke!“ anstatt einer Erörterung der momentanen Befindlichkeit. Die will niemand hören, denn sie könnte das Gegenüber überfordern oder gar negativ klingen.  Und das wäre unhöflich.

 Mit diesen Umgangsformen kann ich prima leben. Auch, dass jede Verkäuferin, egal ob im Supermarkt oder vom Telemarketing, mir als Erstes das hohle „Und wie war Ihr Tag so?“ entgegen flötet. Man bricht sich keinen Zacken aus der Krone, „ganz wunderbar!“ zurückzusäuseln, auch wenn man gerade von einer Beerdigung kommt. Und siehe da: Schon sieht der angegraute Tag dank der kleinen Heuchelei um eine Nuance rosiger aus. Es lebe die Floskel.

Seit zwei Wochen gibt es eine neue Variante: „Und wie ist Ihr Haus so?“ Was dem Amerikaner sein 9/11, ist dem Bewohner Christchurchs sein 4. September. Vor drei Wochen bebte bei uns die Erde so stark wie in Haiti, aber mit dem kleinen Unterschied zur Karibik und damals New York: Keine Toten, kein Elend, kein Hunger, kein Terror. Nur viel Bauschutt und schlaflose Nächte – die Unruhe, die Nachbeben. Dennoch Drama allerorten, denn wer ist nicht gerne mal in ausgedehnter Katastrophenstimmung?  Es gibt kein anderes Thema mehr als The Big E. Alle, alle sind erschüttert, vor allem seelisch. Ja, wir haben was durchgemacht. Das war mir die ersten Tage gar nicht so klar, aber ich ahnte es spätestens, als ich Tag für Tag in der Zeitung die blutrote Graphik der Nachbeben sah, unter der flammenden Zeile „Das haben Sie durchlebt“: 4,3. 3,6. 5,3 auf der Richter-Skala. Spätestens da fühlte ich mich als Opfer, das war ich schon meinem Nachnamen schuldig. Und Opfer müssen reden, reden, reden. Sie müssen immer wieder daran erinnert werden, dass sie das, was sie erlebt haben, bloß nicht zu leicht nehmen dürfen. Dass sie ein Recht darauf haben, sich mies zu fühlen, auch wenn das vielleicht in erster Linie daran liegt, dass alle über nichts anderes mehr  reden.

Die wenigsten haben so gelitten wie die Familie in Kaiapoi, deren Haus in der Mitte entzwei brach, als sich darunter ein Riss in der Erde auftat, in dem man jetzt einen Weinkeller unterbringen könnte. Dem häuslichen Inferno zu entkommen, während die Wände einstürzen, Glas splittert und Kinder schreien, hinterlässt sicher Kratzer auf der Seele. Aber der glückliche Rest soll sich mal nicht so anstellen. 2,4 Millionen Dollar hat Neuseelands Regierung rausgerückt, um Therapeuten aus anderen Städten einzufliegen. Selbst aus Australien rückten zehn Trauma-Beauftragte der Heilsarmee an. Halleluja. Schickt sie zurück, liebe Dauerbetroffenen, und grüßt mich bitte wieder so belanglos wie früher.

 

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Das Geheimnis des Sawobaums

In Java herrscht der Glaube, dass jeder Mensch sein Leben lang an seine Plazenta gebunden ist. Sie wird als kleines Geschwisterchen des Neugeborenen angesehen, dass direkt nach der Geburt mit diversen Beigaben und guten Wünschen an einer geschützten Stelle begraben werden muss – Mädchen links vor dem Elternhaus, Jungs rechts davor. Den ersten Monat lang muss dort fortwährend ein Licht brennen, um die Seele des Kindes zu schützen. Als unser Sohn geboren wurde, entschieden wir uns für eine – unserer Meinung nach besonders schöne – Stelle neben einer Buddhastatue, die unter einem Sawobaum (eine kiwiähnliche, nach Honig schmeckende Frucht) in unserem Vorgarten steht. Dort wurde also der „kleine Bruder“ unseres Kindes mit alle Ehren und symbolischen Gaben begraben, ein Öllämpchen darüber angezündet.

Als der Kleine zwei Wochen später mit seinen wohl ersten Dreimonatskoliken kämpfte, baten wir die am nächsten wohnende Hebamme, ihn zu massieren, damit er die Blähungen loswürde. Die ältere Dame kam gern, massierte das Baby mit erfahrenen Händen und begutachtete ihn eingehend. „Ein gesundes, kräftiges Kind“, bescheinigte sie uns. Von Dreimonatskoliken wollte sie allerdings nichts wissen. „Das Problem ist die Plazenta: Sie liegt zu weit weg vom Haus – und dann noch unter einem Sawobaum. Ihr müsst sie näher am Eingang begraben“, erklärte sie. „Außerdem müsst Ihr eine Glühbirne anbringen, damit das Licht bei Regen nicht immer ausgeht.“

Wir haben natürlich keine Umbettungsaktion gestartet. Wir haben der Hebamme erklärt, dass wir ein Naturkind wollen und deswegen die Bäume der Terrasse vorziehen. Unsere Weigerung, ihrer Interpretation der Traditionen zu folgen, scheint jedoch in der Stadt bereits die Runde gemacht zu haben, denn ein paar Tage später bekam ich eine SMS von einer entfernten Bekanntschaft aus der Schwangerschaftsgymnastik, von der ich noch nicht einmal weiß, wo sie wohnt: „Hallo Christina, brauchst Du Hilfe? Ich habe gehört, dass Dein Kind rebellisch ist, weil seine Plazenta unter einem Sawobaum liegt…“

Unser Sohn entwickelt sich übrigens trotz gelegentlichen Blähungen und Plazenta unter dem Sawobaum ganz prächtig. 

 

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8 qm Luxus

Ich bin umgezogen. Die alte Wohnung hatte zu viele Busse vor dem Fenster (Radioaufnahmen im Kleiderschrank), keinen Blick, lag in der falschen Gegend. Die neue Wohnung ist ruhig, mit Hongkong-Blick, liegt in einer schönen Gegend. Ein guter Tausch. Doch wie immer im Leben zahlt man für alles einen Preis: Die neue Wohnung ist nur noch halb so groß wie die alte. Deshalb brauche ich jetzt zusätzlich ein Büro, weil ich sonst zu Hause die Wände hochgehe oder in den schönen Ausblick hineinspringe.

Bürosuche in Hongkong ist kein schönes Unterfangen. Die Stadt kennt die teuersten Büromieten der Welt. Wenn ich die Preise sehe, quält mich wieder der Verdacht, dass Hongkong vielleicht doch kein guter Standort für einen freiberuflichen Journalisten ist.

 

 

Ein Schreibtisch in einem Gemeinschaftsbüro: 420 Euro im Monat

Ein 8qm-Raum ohne Fenster: 600 Euro

Ein 40qm-Raum, hell und schön: 2000 Euro

Es geht auch billiger. Doch die erschwinglichen Büros haben zu viele Busse vor dem Fenster, keinen Blick, liegen in der falschen Gegend. Hmm!

 

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Von Thunfischnudeln mit Parmesan, Sauerkrautspaghetti und anderen Albträumen der Römer

Es gibt ja viele Dinge, in denen man von “den” Römern gar nicht sprechen kann, weil etwa die einen Fans von Lazio Rom sind, die anderen von AS Rom, die einen links des Tibers wohnen, die anderen rechts, die einen Auto fahren und die anderen Moped. Doch in einem sind sich alle in einem fast unheimlichen Maße einig.  Es ist das Gebot: “Du sollst keinen Käse in die Nähe einer Pasta mit Fisch kommen lassen.”

Wie genau dieses Gebot überwacht wird, habe ich jetzt wieder erlebt: Das Restaurant “il Trionfo” in der Nähe des Vatikan, ich esse zu Mittag. Ein paar Tische weiter sitzt ein Urlauberpärchen. Claudio, der Chef, ich kenne ihn ganz gut, bringt ihnen das Essen: zwei Teller mit Spaghetti und Muscheln: “Prego!” Man bedankt sich, beginnt – doch nach zwei Gabeln steht die Frau auf, geht ins Innere von “Il Trionfo” – und kehrt mit einer Schale Parmigiano zurück: Noch nie habe ich Claudio so schnell laufen sehen. An drei Tischen vorbei eilt er auf die Frau zu und nimmt ihr den Käse wieder weg. “Sorry. No cheese with fish.” Claudio brachte dann den Parmigiano wieder ins Lokal mit einem Gesichtsausdruck, als sei er fest entschlossen, nun einen Parmigiano-Tresor in sein Restaurant einzubauen. Käse über seine “Spaghetti alle Vongole” zu streuen fügt ihm noch mehr Schmerzen zu, als wenn ein Gast NACH dem Essen Cappuccino bestellt.

Ähnliches erlebe ich, wenn ich in einer Bar ein Tramezzino bestelle, das sind diese Weißbrot-Dreiecke mit leckerer Füllung. Besteht es aus Schinken und Mozzarella bietet der Barmann von sich aus an, ob man seine Tramezzino aufgewärmt möchte. Ist etwas anderes drauf, muss man regelrecht darum kämpfen, vor allem, wenn sich im Tramezzino nur ein Molekül Thunfisch oder Mayonese befindet. “Könnten Sie es aufwärmen?” frage ich und der Barmann lächelt mich ungläubig an: “Bist Du Dir sicher? Aber da ist Thunfisch drin!”, als habe man es nicht gemerkt.  Sagt man dann “Weiß ich schon, va bene”, wird das Tramezzino “auf eigene Verantwortung” in einen dieser italienischen Flachtoaster gelegt und angeschaut, als hätte man soeben angekündigt, ohne Seil Bungee springen zu wollen.  Ich warte nur darauf, dass ich einmal nach einer Einveständniserklärung meiner Eltern gefragt werde.

Die strengen italienischen Regeln haben aber auch etwas Gutes, denn: Wer schon auf harmlose Experimente verzichtet – Käse zu Fisch, aufgewärmte Tramezzini – macht auch keine Erfahrungen, die wirklich schrecklich sind. Kürzlich erzählte ich Claudio etwa von dem Rezept für “Vollkornspaghetti mit Kohlrabi” für das  – “total lecker” – eine Nutzerin in einem deutschen Kochforum warb. Sorgte das bei Claudio schon das für Entsetzen sah ich Panik in seinem Gesicht, als ich von einem weiteren “Koch-Tipp” für “Sauerkraut-Spaghetti” erzählte, für das andere Nutzer “Verfeinerungen” mit Kümmel, Ananassaft und H-Milch vorschlagen. “Du machst doch Witze!”, sagte Claudio und wechselte das Thema als hätte er Angst, von diesem Rezept zu träumen.  Ich ersparte ihm dann, dass ich kürzlich in Deutschland von einem Freund “bekocht” wurde – es gab in kleine Stücke zerbrochene Spaghetti mit einer Soße aus Hüttenkäse und Tomatenmark.

Manchmal finde ich aber, ist der kulinarische Fundamentalismus auch übertrieben – wie können es die Römer etwa ernsthaft für die einzig richtige Form des Frühstücks halten, sich morgen zu einer Mini-Pfütze schwarzen Kaffee ein mit Pudding vollgeschmiertes Hörnchen zuzuführen? Meine ehemaligen Mitbewohner versuchte ich, für ein opulentes Frühstück mit Rührei und Aufschnittplatten zu missionieren, ohne Erfolg. Oder was ist schlecht an Gurkensalat mit einer Joghurtsoße – als ich ihnen das einmal vorsetzte, wurde ich mit grübelndem Unverständnis angeschaut wie das Orakel von Delphi. Ein einziges Erfolgserlebnis kann ich vermelden: So groß das Entsetzen im Freundeskreis war, als ich einmal Cola und Orangenlimo vermischte, so selbstverständlich trinkt es jetzt etwa mein Freund Saverio. In ein paar Monaten werde ich mich vielleicht trauen, zu einem Abend mit Sauerkrautspaghetti einzuladen.

 

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Tour de Trottoir

Ich gestehe: ich bin eine Gesetzesbrecherin. Und als solche bin ich ein schlechtes Vorbild für meine Kinder, die sich inzwischen auch wie selbstverständlich über so manche Regel hinwegzusetzen. Ich rede nicht von Ausnahmen, sondern von unserem Alltag in Tokio. Als bekennende Nicht-Autobesitzer radeln wir beherzt durch Japans Radwege-freie Hauptstadt.

 Dabei haben wir uns sehr schnell abgeguckt, wie es die Einheimischen machen. Bis auf eine Minorität, die es wagt auf den notorisch verstopften Hauptstraßen die Spur rücksichtsloser Taxi- und Busfahrer zu kreuzen, radeln hier alle auf den Bürgersteigen. Nicht, dass es dort viel Platz gäbe. Im Gegenteil, wenn ich meine Jüngste zur Schule begleite, konkurrieren wir bereits mit den Regimentern der Angestellten, die aus den umliegenden U-Bahnstationen quellen und ebenso zielstrebig wie zügig ihren Büros entgegen streben. Nachmittags wird es dann noch heikler, da die Gehwege zusätzlich mit Bummlern auf Shoppingtour verstopft sind. Zu Beginn unserer Radfahrerkarriere führte das zu so manchem „Feindkontakt“ und mein Blutdruck stieg auf dem Schulweg immens an.

Doch inzwischen erspähen wir geübt jede Lücke, schlängeln uns geschickt um langsame Fußgänger herum, klingeln uns notfalls keck den Weg frei und nehmen Abkürzungen entgegen einer Einbahnstraße. Und das in Japan, wo Gesetze und Regeln sonst in Stein gemeißelt sind. Aber wie gesagt, wir haben uns das alles abgeguckt und nur zu einer gewissen Perfektion gebracht. Gesetzesbrecher auf zwei Rädern sind ein geduldetes Übel in Tokio. Und ein schlechtes Gewissen habe ich nicht mehr, seit ich die ersten Polizisten gelassen über die Trottoirs pedalieren sah. Mangels Radwegen und angesichts der kritischen Verkehrsdichte sind Radler auf Gehwegen toleriert, ab und zu warnen an notorischen Unfallstellen auf den Boden gesprühte Bilder. Putzig ist, dass sich Einheimische nicht selten höflich entschuldigen, weil sie einem Radfahrer nicht fix genug ausgewichen sind.

Bei meinen Kindern hat diese Art der Verkehrserziehung allerdings fatale Folgen, wie sich bei unserem Sommerurlaub in Deutschland herausstellte. Mit größter Selbstverständlichkeit fuhren sie wie in Japan zunächst auf der linken Straßenseite, ignorierten das Vorhandensein von Radwegen und wunderten sich zutiefst, dass sie von Fußgängern barsch zurechtgewiesen wurden, nur weil sie fröhlich klingelnd auf den Gehwegen unterwegs waren. Mein im Reflex gestammeltes „Gomenasai“ – „ich entschuldige mich tausend Mal!“ – hat im Frankfurter Umland auch niemanden befriedet.

Aber jetzt ist alles wieder gut. Zurück in Tokio radeln wir mit großer Lässigkeit durch die dichtesten Passantenströme und grüßen freundlich die netten Polizisten, an deren Wache wir dabei  jeden Morgen vorbeikommen. 

 

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Sommer ade!

 

In Israel hat der Winter begonnen. Das Thermometer zeigt tagsüber in Tel Aviv zwar noch immer 30 Grad an und 27 Grad in der Nacht, aber formal ist hier jetzt Winter. Auf Wunsch der religiösen Parteien im Lande wurde wenige Tage vor dem Versöhnungsfest Jom Kippur der Sommer offiziell beendet. In der Nacht vom 11. zum 12. sind die Uhren eine Stunde zurückgestellt worden. Die Winterzeit soll den religiösen Juden helfen, die Stunden des Fastens am Jom Kippur leichter zu ertragen, da sie eine Stunde länger schlafen und später in die Synagoge gehen dürfen. Überall auf der Welt, von Kuba bis zum Libanon beginnt die Winterzeit frühestens Ende Oktober. In Israel aber haben sich vor fünf Jahren die ultra-orthodoxen und religiösen Abgeordneten in der Knesset mit ihrem Wunsch nach einem subjektiv kürzer empfundenen Fasten durchgesetzt.

Die an der jetzigen Regierungskoalition beteiligten religiösen Kräfte bemühen sich mit Nachdruck und Erfolg, die jüdische Identität des Staates Israel beständig zu schärfen und Staat und Religion immer enger mit einander zu verflechten. Innenminister Eli Yishai von der ultra-orthodoxen Shas-Partei hat in dieser Woche seine Verwaltung angewiesen, die Webseite des Ministeriums so umzugestalten, dass Online-Bezahlungen für Ausweise, Pässe und  Arbeitserlaubnisse nicht länger am Shabbat und während der jüdischen Feiertage ausgeführt werden können. Der ebenfalls ultra-orthodoxe Gesundheitsminister Yaakov Litzman von der Partei Vereinigtes Thora-Judentum hat inzwischen bekannt gegeben, dass er sich der Entscheidung seines Kollegen vom Innenministerium anschließen will. Die Online-Überweisungen auf Regierungs-Webseiten, die am Shabbat und an Feiertagen getätigt werden, machen glatte 3,2 Prozent des gesamten Online-Zahlungsverkehrs auf den ministeriellen Seiten aus.

Was für ein Segen, dass sich wenigstens die religiösen Mitglieder der Regierung Netanjahu während der „Friedensgespräche“ mit Palästinenserpräsident Abbas um die wesentlichen Belange des Landes kümmern!

 

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Kleine Spende für die Armee

Hätten Sie vielleicht ein paar Euro übrig? Es dürfen auch Dollar sein. Für einen guten Zweck, versteht sich. Zum Beispiel dafür, dass sechs libanesische Soldaten nicht bei nahezu 40 Grad Celsius am Straßenrand stehen und auf Hilfe warten müssen, weil ihnen wieder mal der Sprit ausgegangen ist. Oder weil ein Truppentransporter auf den holprigen Strassen im Südlibanon oder an der Grenze zu Syrien zusammengebrochen ist. Die libanesische Armee sucht dringend großzügige Unterstützer. 

Zu dem Zweck hat Verteidigungsminister Elias Murr kürzlich ein Spendenkonto eingerichtet, in das libanesische Patrioten und andere Gewogene jede denkbare Summe einzahlen können, damit die Streitkräfte endlich kampftauglich ausgerüstet werden können. Ob es Spendenquittungen geben wird, ließ der Minister offen. Er appellierte vor allem an die zahlreichen Libanesen, die im Ausland arbeiten, ihren Beitrag zur Landesverteidigung zu leisten. Murr selbst hat gemeinsam mit seinem Vater bereits 665.000 Dollar eingezahlt, quasi als Ermunterung für potentielle Nachahmer. 

Im Verteidigungsministerium zerbrechen sich nun die Strategen sicher den Kopf darüber, wie viele private Spender man durchschnittlich benötigt, um einen modernen Militärhubschrauber zu kaufen. Oder Luftabwehrraketen, die in der Lage wären, die den Libanon ständig überfliegenden israelischen Kampf- und Aufklärungsmaschinen ernsthaft abzuschrecken.

Diese dramatische Maßnahme des Verteidigungsministers folgt einer Ankündigung von US-Kongressmitgliedern, eine zugesagte militärische Unterstützung in Höhe von 100 Millionen US-Dollar zunächst einmal auf Eis zu legen. Die Begründung: Man wolle der libanesischen Armee nicht dabei helfen, gegen die israelischen Streitkräfte vorzugehen. Die Vorgeschichte: Libanesische Soldaten hatten am 3. August bei einem Zwischenfall an der Grenze zu Israel zur Waffe gegriffen, um israelische Soldaten an einem vermeintlichen Grenzübertritt zwecks einer Baumentwurzelung zu hindern. Es kam zum Schusswechsel, bei dem ein israelischer Offizier, zwei libanesische Soldaten sowie ein libanesischer Journalist ums Leben kamen.

Seither heißt es in pro-israelischen Kreisen in Washington, der libanesischen Armee könne man nicht mehr trauen. In Israel spricht man gar von einer „Hisbollahisierung“ der libanesischen Armee. Stellt sich die Frage: Wozu ist eine Armee denn gut, wenn nicht zur Verteidigung ihrer Landesgrenzen? Ok, die Frage, ob die israelischen Soldaten tatsächlich auf libanesisches Territorium vorgedrungen waren, bleibt unbeantwortet. Denn an genau der Stelle ist der Verlauf der so genannten „Blauen Linie“, welche die Rückzugslinie der israelischen Armee im Jahr 2000 definiert, umstritten. Die internationale Grenze zwischen beiden Ländern ist ohnehin nicht festgelegt. Aber Israel hatte sich nicht an die mit der Blauhelmtruppe UNIFIL vereinbarte Regelung zu Gärtnerarbeiten im grenznahen Bereich gehalten, was die Libanesen als Aggression interpretierten. Übereifrig und nicht korrekt, kann man im Nachhinein sagen. Ebenso verhält sich die israelische Marine häufig an der nicht demarkierten Seegrenze, wenn libanesische Fischer ihr auch nur nahe kommen. Doch die Fischer antworten nicht mit schwerem Geschütz und kaum jemand verliert ein Wort darüber.  

Nun muss die libanesische Armee also wieder um die westliche Hilfe bangen. Im Westen sollte man sich wirklich überlegen, was man will: Will man die libanesische Armee stärken und zu einer ernstzunehmenden Streitmacht heranbilden, damit endlich das Hisbollah-Argument nicht mehr zieht, nur die Schiitenmiliz könne den Libanon verteidigen? Oder will man die Dinge lieber so lassen wie sie sind, dann ist es auch leichter der Hisbollah als von den USA und Israel gebrandmarkter Terrororganisation den schwarzen Peter im Konfliktfalle zuzuschieben.

Die libanesische Armee benötigt dringend eine adäquate Ausrüstung sowie entsprechendes Training  – und zwar nicht nur leichtes Gerät, Maschinengewehre und ein bisschen Munition. Sondern moderne Panzer, Truppentransporter, die nicht bei jeder Gelegenheit zusammenbrechen, Kampfhubschrauber, ein ernstzunehmende Luftabwehr und hochseetaugliche Schiffe, die auch im Winter die Patrouillen der Küste sicherstellen können. Einer Studie des amerikanischen „Center for Strategic and International Studies“ zufolge braucht die Armee mit ihren knapp über 50.000 Soldaten mindestens 1 Milliarde US-Dollar, um ein Minimum an Einsatzbereitschaft zu erlangen. Da müssten sich schon sehr viele private Patrioten zusammenfinden, um die aufs Spendenkonto zu bringen. Andernfalls hat sich auch schon Teheran angeboten. Vermutlich ein Bluff, aber wer weiß. 

 

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massive – Wenn John Travolta OW ins Oprah House fliegt…

Natürlich konnte in all der Aufregung niemand widerstehen: Das Sydney Oprah House heißt Australiens Wahrzeichen Nr 2 demnächst. Jedenfalls im Dezember. Denn dann fliegt Oprah Winfrey, eine Talkshow-“Personality” aus Amerika, ein. Wir wissen das hier unten seit heute, und seit heute ist alles anders, alles! Auch für Oprah. Zum ersten Mal kommt sie nach Australien. Und sie ist soooo irre aufgeregt über das ‘absolute Abenteuer’. Verständlich, “The first cut is the deepest” wusste Yusuf Islam schon als er noch Cat Stevens hieß, und so ist Australiens Tourismusindustrie einfach ebenfalls irre nervös. Fast noch aufgeregter als OW. Heute auch nur von Irgendjemandem aus der Tourismusbranche einen nicht Oprah-relevanten Halbsatz zu bekommen war komplett unmöglich. “Das ganze Haus vibriert”, verriet mir hektisch eine Insiderin, die nur deshalb nicht-Oprah-bezogene Mails beantwortete, weil sie ab morgen Urlaub hat. 

1 Millionen Australische Dollar gibt allein die Regierung in Neusüdwales aus, damit Oprah das Opernhaus sieht. Diverse weitere Mio schießen andere Länder und Sponsoren für Oprahs erstes Mal dazu. Man helfe bei der Unterbringung, hieß es erklärend. Mit  Millionen? Ist Down Under so verflixt teuer geworden?

Nein, aber Oprah Winfrey bleibt ja ein bisschen (8 Tage), will Sydney und all das Outback rundum sehen, und nebenbei zwei Sendungen produzieren – Und sie kommt eben nicht allein: 450 Landsleute reisen mit. Denn zwar ist Oprah irgendwie irre positiv begeistert (was dann irre positiv für OZ ist, denn schließlich gucken massive amounts of people (Daily Telegraph) ihre Show, was dann massive für die Tourismusbranche ist). Und vermutlich auch für den Rest des Universums Folgen hat, denn wenige Stunden nach Bestätigung des welterschütternden Ereignisses meldete Google bereits 1299 Artikel, die sich mit “Oprah excitement visit Australia” befassten. Logisch, dass  es längst eine Gesichtsbuchfreundegruppe gibt, in der sich “FB-Freunde von OW visits Australia” über ihre gemeinsame Vorfreude austauschen. Und einigen Medien schien kollektiv die Kinnlade runter gefallen zu sein, wobei ein Großteil des ohnehin beschränkten Vokabulars flöten gegangen sein musste und sich fortan auf einige wenige Adjektive reduzierte: Just massive, you know. It’s massive!

Doch kurz zurück zu Reisebegleitern und Publikum, denn da traut Oprah Winfrey den Australiern trotz Gratistrip und all der achselnassen Aufregung nun wohl doch nicht so ganz über den Weg: 300 US-Amerikaner ihres Stammpublikum fliegt sie mit ein, sicher ist sicher. Wahrscheinlich um Sprachbarrieren zu verhindern. Ihren eigenen Piloten bringt sie übrigens auch mit: Kein geringerer als John Travolta soll den Qantas-Jet sicher übers Meer steuern. Heißt es. Da fällt mir nur eins ein: massive, that’s just massive!

 

 

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In Armani durch Afrika

Während der Fußball-WM war ich in London zu einem Abendessen eingeladen. Eine berühmte britische Kulturtheoretikern nahm mich besorgt beiseite. Was denn da schon wieder in Deutschland los sei, ob ich das gesehen hätte? Eine mehrseitige Modestrecke in der deutschen Grazia, ein stereotypes Festival, weiße makellose Models neben wilden, rätselhaft schönen Stammesmitgliedern. Exotik pur für die moderne Leserin zwischen Berlin und Butzbach. Die Professorin kannte die Grazia aus England, ein beliebtes Promi-Modeblatt, das seit einigen Monaten auch als deutsche Version am Kiosk liegt. Ich besorgte mir die Ausgabe, und tatsächlich fallen schon beim Titel alle geografischen Hüllen: Afrika. Ist ja auch nur ein Kontinent mit 53 Ländern, da muss man nicht weiter ins Detail gehen. Kennst du Togo, kennst du Tansania: ‘Zur WM blicken alle auf den Schwarzen Kontinent. Wir haben uns dort modisch inspirieren lassen. Bitte ein warmer Applaus für die Farben und Impressionen der Savanne.’

In Südafrika ist WM? Da macht eine Modestrecke in Kenia doch richtig Sinn und ist ungefähr so zusammenhangslos herbeikreiert, als wäre die WM in Spanien und man produziert eine Modestrecke in Finnland: Applaus für die Farben und Impressionen Europas! Auf den Fotos zu sehen sind junge weiße Models, die, passend zur Umgebung, als ‘Einheimische’ verkleidet sind: Sie suchen Fährten in Alexander-McQueen-Roben, holen Wasser in Azzedine Alaïa und tippeln mit gezücktem Speer durchs Gras. Doch wen jagen sie? Ihren Agenten, weil der ihnen einen so unfassbar doofen Job verpasst hat? Ein Model joggt in einer üppigen Miu-Miu-Kreation durch die Steppe, neben ihr ein junger Mann. Auf seinem muskulösen schwarzen Oberkörper kontrastieren die kräftigen Farben seines traditionellen Perlenschmucks, ein Posterboy des exotisierenden Blicks auf den edlen, bedrohlichen Wilden. Er als ‘echter’ Einheimischer wirkt neben diesem Zirkus wie ein Authentizitätsbeweis. Was mich allerdings am meisten erschreckt, ist sein perfekt sitzendes Kaugummilachen. Denn dieses strahlende Lächeln jenseits des absurden Modeshootings wird er wohl zwanzigmal am Tag in die Touristenkameras halten müssen.

Vor ein paar Tagen hielt ich eine britische Grazia in der Hand. Hier verhandelt man die Darstellung von kultureller Identität ein wenig anders, und neben der Neandertalersensibilität der deutschen Ausgabe wirkt der britische Ansatz fast politisch-diplomatisch: Eine der Strecken im Heft zeigt einen internationalen Lingerie-Wettbewerb, in dem jedes Land durch ein anderes Model repräsentiert wird. Länder wie Irland, Japan oder Israel verkörpern fast stoisch selbstverständlich schwarze Models. In Deutschland wäre so etwas undenkbar. Wieso soll ein ‘farbiges’ Model Irland repräsentieren oder Japan? Das ist doch absurd! Das tatsächlich Absurde? Dass man in Deutschland immer noch irritiert ist, wenn ein scheinbar afrikanisch aussehender Mensch gar kein Afrikaner ist. Oder jemand mit asiatischen Zügen gar kein Asiat. Sondern Deutscher! All die sorgsam angelegten, stereotypen Vorstellungen sind plötzlich wertlos! Perfekt.

 

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So krank ist Italien gar nicht!

Am Wochenende wurde in Kampanien der Bürgermeister  von Pollica vor seiner Haustür erschossen. Angelo Vassallo war beliebt. Er hat dafür gesorgt, dass in seiner süditalienischen Kommune, die Dinge funktionieren.  Der 57-Jährige konnte eine positive Wirtschaftsbilanz vorweisen, war engagierter Umweltschützer, der sich dafür einsetzte, dass die Schönheit des Nationalparks Cilento bewahrt wurde. Und er hat dafür gesorgt, dass in seiner kleinen Gemeinde in Kampanien, wo das Müllproblem sozusagen sprichwörtlich ist, die Mülltrennung bei 85 Prozent liegt.

Genau diese Effizienz, den Bürgersinn und die Anständigkeit hat Angelo Vassallo anscheinend mit dem Leben bezahlt. Noch weiß man nicht, wer für diesen feigen Mord verantwortlich ist. Die Camorra, heißt es. Es wird noch untersucht.

Warum erzähle ich das? Mafiamorde sind in Italien schließlich nichts Ungewöhnliches.

Nur war ich eben am selben Wochenende mit Kollegen der Stampa Estera unterwegs, Vertretern der Auslandspresse in Italien. Und dort fiel der Satz: „Italia è profondamente malata.  Italien ist durch und durch krank.“  Und  natürlich kam dann auch der Nachsatz: bei uns in der Schweiz, in Deutschland, in Frankreich hingegen …

Ich habe mich über diese Behauptung geärgert und sie als unangebrachten Allgemeinplatz abgetan. Mit dem Hinweis, dass wir nicht das Recht haben, ein Land mit den Maßstäben eines anderen zu messen, selbst wenn wir dort seit Jahren leben.  Und auch wenn sich gerade der Mord an Angelo Vassallo  als passendes Beispiel für die These vom „kranken Italien“ eignen würde, habe ich meine Meinung nicht geändert.

Für mich ist Italien nicht „durch und durch krank“.  Es stimmt.  Vieles ist krank in diesem Land. Doch hat das meiste davon mit Politik, mit Macht und den Institutionen zu tun. Ein gutes Beispiel ist das abscheuliche Sommerspektakel von Berlusconi, Bossi, Fini & co der letzten Wochen, das zeigt, dass in Italien, vielleicht mehr als anderswo, die Politik ausschließlich mit sicher selbst beschäftigt ist, während  Wirtschaft und Sozialstaat den Bach heruntergehen.

Der  feige Mord an Angelo Vassallo hingegen  bringt zum Vorschein, dass in Italien, weit weg von Rom, nach wie vor die Bürger an einer modernen, an einer zivilen, an einer gesunden Gesellschaft arbeiten.  Nur  tun sie es meist im Verborgenen. Denn etwas, das funktioniert, ist keine Schlagzeile wert.  Und vielleicht macht gerade das ihr Engagement eben auch gefährlich.

Um diesem Land also gerecht zu werden, sollten wir  von der Auslandspresse unser Augenmerk wieder mehr  auf  die Ereignisse hinter den Meldungen richten.  Denn sicherlich haben viele  von uns über den Mord berichtet, als weiteres Indiz für die These vom kranken Italien vielleicht…  Doch Hand aufs Herz! Welchem Redaktionsleiter war es anschließend die Meldung wert,  dass am darauf folgenden Tag in Pollica Tausende von Bürgern  mit einem Fackelumzug auf die Straße gegangen sind? Auf ihren Spruchbändern konnte man unter anderem lesen: Angelo, du warst unser Vorbild und wir lassen uns nicht einschüchtern. Wir werden in deinem Sinne weitermachen.

 

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Hauptsache feste Schuhe neben dem Bett – Erdbeben-Erfahrung aus Kalifornien

Das Erdbeben in Neuseeland und der Blog der heftig beben-geschüttelten Kollegin Anke Richter aus Christchurch haben mich daran erinnert, dass unsere Decken und das Notproviant für alle kalifornischen Bebenfälle mal wieder bei irgendeinem Campingtrip oder Ausflug zum Strand verschwunden sind, dass ich immernoch nicht das handbetriebene Radio gekauft habe, das es seit Wochen zum Sonderpreis im Supermarkt gibt und dass in dem Schrank, in dem eigentlich Wasser und Erste-Hilfe-Kiste sein sollten aus irgendeinem Grund seit Monaten leere Bierflaschen vor der Abgabe beim Recycling zwischengelagert sind.

Immerhin ist die Sicherheits-Lasche noch an der Schranktür. Die verhindert im Fall eines Bebens dass die Flaschen auf den Boden fallen. Das erinnert mich daran, wieder feste Schuhe neben das Bett zu stellen. Denn scheinbar gibt es vor allem nachts Erdbeben in Kalifornien, Fenster gehen kaputt, Bilderrahmen kommen von den Wänden und wenn man im verschreckten Halbschlaf barfuß aus dem Bett klettert hat man als erstes einen Glassplitter im Fuß und damit unnötig zusätzlich Probleme! Das habe ich jedenfalls bei der Recherche für zahlreiche Beiträge rund ums Phänomen Erdbeben gelernt. Kurz nach diesen Recherchen lege ich dann immer Vorräte an, stelle eine Erste-Hilfe-Kiste zusammen, deponiere Bargeld und Dokumente in einem Safe, schreibe wichtige Kontaktnummern auf, entwickle einen Fluchtplan, zwinge meinen Mann dazu, einen Treffpunkt zu vereinbaren, wo wir uns finden, falls uns das Beben getrennt voneinander erwischt und eine Telefonnummer zu vereinbaren, die wir beide erreichen, wenn unsere Handys ausfallen. Theoretisch bin ich inzwischen sehr gut in der Erdbebenvorbereitung – ein paar Wochen nach der Recherche sieht es in der Praxis aber nicht mehr so gut aus – siehe leere Bierflaschen im Erste-Hilfe-Schrank! 

 

Es gab ein paar mittel-heftige Beben in Los Angeles über die vergangenen Monate und Wissenschaftler grübeln nun ob das ein gutes Zeichen ist – heißt, dass sich Spannungen abbauen und deshalb größere Beben unwahrscheinlicher geworden sind – oder ob das kleine Ouvertüren sind für THE BIG ONE, das seit Jahren vorhergesagt wird mit mehreren tausend Toten und Milliarden an Sachschaden. Ich habe von den Beben nicht viel mitbekommen. Allerdings muss sich unser Haus innerhalb der letzten zwei Jahre bewegt haben. Und nicht wenig! Das hab ich entdeckt, als ich ein Bücherregal von einer Bürowand wegschob, die wir vor zwei Jahren frisch gestrichen hatten. Zwischen Staubwolken und Spinnweben klafft ein ziemlich heftiger Riss!

Kein Grund zur Beunruhigung! Häuser sind hier ja bevorzugt aus Holz gebaut, das hält sie flexibel und bebentauglich. Wir werden wohl nochmal streichen müssen. Oder das Regal wieder davor stellen.

Für die Kollegin Richter und ihre Familie, denen glücklicherweise allen nichts wirklich schlimmes passiert ist noch ein Tipp: hier raten alle Experten, sich möglichst NICHT in einen Türrahmen zu stellen wenn die Erde anfängt unruhig zu werden, eben weil Türen und andere Sachen da gut hinscheppern können. Sie empfehlen, sich unter eine solide Tischplatte zu begeben. Die einzige, die wir haben ist mein Schreibtisch und darunter ist wegen Kabelgewirr und Computer höchsten Platz für eine Person. Das bedeutet, mein lieber Mann muss im Fall des Falles vermutlich unter den Teak-Couchtisch kriechen. Hauptsache, er hat feste Schuhe an!  

 

 

 

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Die Rechte – bald auch in Schweden im Parlament?

In Deutschland ist noch nicht allzu viel drüber berichtet worden: In zwei Wochen wird in Schweden gewählt. Die rechtspopulistische Partei Sverigedemokraterna (Schwedendemokraten) darf auf den Einzug in den Reichstag hoffen. Einige Umfragen sagen ihr mehr als die nötigen 4 Prozent Stimmenateil voraus. Sollten die Prognosen am Wahlabend halten, könnte das in Schweden so erprobte Blocksystem durcheinander geraten. Das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der bürgerlichen Allianz unter Premier Fredrik Reinfeldt und der rot-rot-grünen Opposition unter der Sozialdemokratin Mona Salin könnte in einem Patt enden, was die Rechtsextremen in den Rang eines Königsmachers heben würde. Rein theoretisch. Denn anders als beispielsweise im Nachbarland Dänemark sind die etablierten Parteien in  Schweden sich einig: mit den Rechten wird nicht kooperiert. Im Falle eines Patt wird es also wohl zu einer Minderheitsregierung kommen, die Frage ist, welche Seite von der anderen Unterstützung bekommen kann. 

 

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Du bist nur eine Ameise

Die Kaffeetasse rappelt, der Tisch vibriert und ich bücke mich schon wieder, um jeden Moment darunter zu verschwinden: Noch eine Sekunde warten, ob der Tremor schwächer wird? Oder ist das doch das gefürchtete schwere Nachbeben, das uns die nächsten Stunden oder Tage bevorsteht? Seit dem schweren Erdbeben in Christchurch am Samstagmorgen fährt mir jede zarte Erschütterung von Boden und Wänden, wie sie sonst auch durch heftigen Wind oder das Vorbeifahren einer Straßenbahn ausgelöst werden kann, in die Glieder. Die Nerven werden zu Seismographen und melden sofort Alarm. Alle paar Stunden ein kleiner Adrenalinschub: Dann spüren wir in unserem Holzhaus am Hang, dass die Erde in Aotearoa sich noch keinesfalls beruhigt hat. Wächst sich das mittlerweile vertraute Gefühl nicht zur Panik aus, dann schleicht sich fast so etwas wie Gewohnheit ein. Also abwarten und aussitzen. Neben den großen Bildern, die wir alle von der Wand genommen haben, und den mit Klebeband versiegelten Schranktüren, aus denen hoffentlich keine Vasen mehr poltern.

 Immerhin wissen wir jetzt, wo die Taschenlampen griffbereit liegen. Vor der Tür steht ein Kanister Wasser, im Auto liegen Decken und Notproviant. Nur das alte Transistorradio in der Garage hat noch immer keine neuen Batterien – und wird sie, wie ich uns kenne, wohl nie haben. Seit den sieben Jahren, die ich mit meiner Familie an einem der erdbebenreichsten Orte der Welt lebe, rutscht auch die Notfall-Ausrüstung, wie sie sich für jeden anständigen Kiwi-Haushalt gehört, auf der „To do“-Liste immer tiefer. Typisch: Sie wird erst dann angeschafft, wenn der Ernstfall vorüber ist. Wir gehören zu den Glücklichen, die nur zerbrochenes Geschirr und einen Riss am Kamin zu vermelden haben. Unsere Straße ist noch befahrbar, alle Wände stehen, nach einem Tag ohne Strom und Wasser sind wir jetzt wieder am Versorgungsnetz – so schnell geht das Leben nach dem Beben wieder seinen gewohnten Gang. Die humanitäre Katastrophe ist nicht eingetreten, auch wenn es viele Menschen in und um Christchurch böse erwischt hat: Sie leben vorerst wischen Trümmern oder Kloake, viele sind verletzt. Doch die meisten, die ich kenne, sind in erster Linie psychisch gebeutelt. Sich fast eine Minute lang in einem gigantischen Zementmischer zu befinden, gegen den heftige Turbulenzen im Flugzeug ein Witz sind – das geht an die Substanz. Denn das Gefühl, den Naturgewalten ausgeliefert zu sein, weckt Urängste: Du bist nur eine winzige Ameise, ein Staubkorn auf der Erdoberfläche. Weggepustet, weggeschüttelt. Und da wir nicht mehr täglich wie die Neandertaler mit Mammuts ums Überleben kämpfen, kennen die meisten von uns – Bungy-Springer mal ausgenommen – nicht den Adrenalinschub, der mit dem Gefühl der Todesgefahr einhergeht. Es erwischt dich kalt.

Die Großstadtkämpfer sitzen heute in den wenigen Szene-Cafés, die offen haben, und reden sich das Wochenende von der Seele. Allein will niemand sein. Einige sehen mitgenommen aus, erschüttert in ihren Grundfesten. Die Kontrollierten und Starken hat das Gefühl des Ausgeliefertseins am heftigsten erwischt. Ihre Kinder scheinen das Ganze besser verkraftet zu haben, gehen staunend aufgeplatzte Straßen besichtigen und freuen sich, dass erst mal schulfrei ist.

Während die Gläser im Regal hinter der Theke sanft klirren – da war doch wieder ein kleines Nachbeben! – kursieren zwischen den Cafétischen Ratschläge, welche Position im Haus den besten Schutz bietet, wenn es wieder rappelt: Hände über den Kopf und an die Wand ducken? Unter den Esstisch kauern? Die lange favorisierte Tisch-Lösung ist umstritten. „Was ist, wenn die Beine wegbrechen und die ganze Platte dich erschlägt?“, fragt mich eine Freundin, die seit gestern nicht mehr im zweiten Stock schlafen kann. Der Urinstinkt sagt in solchen Situationen: Nach draußen laufen. Die Erbeben-Experten sagen: Bloß nicht, denn dann können Äste, Dachziegel, Mauern und zersplitternde Fensterscheiben auf dich stürzen. Als sicherster Standort galt bisher immer ein Türrahmen, egal wie schmal. Auch David, Vater von drei kleinen Kindern, hielt sich daran, als er nach den ersten Schrecksekunden endlich seinen Jüngsten aus dem Babybett ziehen konnte und sofort Schutz neben der Zimmertür suchte.  Die schlug dann prompt dem Kleinen heftig gegen den Kopf. „Also nur noch Türrahmen, wenn es sich um Schiebetüren handelt“, sagt David. Wir sind jetzt alle Survival-Experten. Unsere Kaffeetassen vibrieren. Da war wieder eins. Die Tischplatte sieht wirklich nicht sehr stabil aus.

 

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»Der Islam ist beendet!« – Sarrazin und Schlingensief

Die Sarrazin-Debatte ist in full swing. Es ist weder möglich, noch nötig, dem Ganzen einen Aspekt hinzuzufügen. Die Debatte ist da, wenn ich morgens das Radio anschalte, sie ist immer noch da, wenn ich am Nachmittag zur Zeitung greife, und sie hat nicht aufgehört, wenn ich abends in die Röhre gucke, sollte das mal vorkommen.

Ich bin mir nicht sicher, ob Sarrazin ein Rassist ist. Ich halte ihn für einen Demagogen mit faschistoiden Gedankenansätzen. Oder wie soll man es sonst nennen, wenn ganze Bevölkerungsgruppen – unabhängig von dem, was der oder die Einzelne tut oder lässt – in die Tonne getreten werden?

Das Gute an der Debatte: Die politische und mediale Öffentlichkeit weist, quer durch alle Weltanschauungen, Sarrazins Sündenbockthesen entschieden zurück. Das hat was mit dem Immunsystem einer Gesellschaft zu tun und stimmt leicht optimistisch, vielleicht sind wir Brandstiftern ja gar nicht hilflos ausgeliefert. Die wenigen namhaften Befürworter, die ihm zur Seite springen, verteidigen ihn ähnlich schrill.

Dennoch wird das Phänomen Sarrazin nicht mehr verschwinden. Die Debatte findet in jenem Schatten statt, den zukünftige Verteilungskämpfe bereits jetzt auf uns werfen. Oder besser formuliert:

»Es werden ganze Klassen, Schichten und Weltanschauungen ausgesondert und abgewertet: Die Muslime. Die 68er. Die Arbeitslosen. Die armen Familien. Die Alleinerziehenden. Man hackt mit ein paar Phrasen unterhalb, seitlich und über der vom Abstieg bedrohten Mittelschicht die nicht genehmen Gruppen weg. Übrig bleibt letztlich der spiessige Kleinbürger voller Angst, man könnte ihm auch seinen kleinen Status wegnehmen und zu solchen Gruppen rechnen. Gruppen des sozialen Prestigeverlustes, Gruppen, vor denen er sich fürchtet, weil sie nicht seiner und der Herrschenden Norm entsprechen. Gruppen, mit denen man den Mittelstand dazu bringt, die Herrschaft der Spalter von Oben zu lieben.«

Den kompletten Text von Don Alphonso aus seinem F.A.Z.-Blog »Stützen der Gesellschaft« gibt es hier! Er schrieb ihn, mit ausdrücklichem Bezug zu Sarrazin, bereits vor fast einem Jahr.

Den besten Kommentar zur Debatte hat, wie ich finde, Christoph Schlingensief gegeben, zweieinhalb Monate vor seinem Tod und fast drei Monate vor dem Eintreffen des aktuellen Debatten-Tsunamis. Sarrazins Phantasien, konsequenter und absurder als bei Sarrazin selber, so gespenstisch, verstörend, beklemmend, wie das nur Kunst hinkriegt. Zu Schlingensiefs kurzem Video hier entlang!

 

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Die Kunst der Namensgebung

Es ist Zeit für eine Enthüllung. Ich heiße gar nicht Christine Mattauch. Juristisch gesehen jedenfalls. Das hätte mich vergangenen Freitag fast die Einreise in die USA gekostet.

Schuld daran ist mein Eigensinn. Als vor vier Jahren der beste aller Männer um meine Hand anhielt, sagte ich nicht nur Ja, sondern beschloss zugleich, seinen Namen anzunehmen und damit alles Frauenrechtlertum über Bord zu werfen. Halt – nicht alles. Natürlich wollte ich weiter unter meinem Mädchennamen schreiben, der nach über 20 Jahren im Journalismus so etwas wie eine Marke geworden war. Das lieferte der Frauenrechtlerin in mir den perfekten Grund, den alten Namen irgendwie doch beizubehalten. Ich verfiel auf die Idee, ihn im neuen Pass als Künstlernamen eintragen zu lassen. Liebende Frauen müssen nicht logisch sein.

Der Beamte auf dem deutschen Konsulat in New York staunte nicht schlecht. „Den Mädchennamen als Künstlernamen? Wieso wollen Sie das denn, vorne wird ‚geborene Mattauch’ eingetragen, da sieht doch jeder, dass Sie mal so geheißen haben.“ Ich erklärte. Er verstand trotzdem nicht. Ich hatte keine Lust mehr zu erklären und wurde formal: „Aber es geht doch?“ – „Es geht. Allerdings nicht mehr lange.“ – „Aber jetzt geht es noch?“ Pause. Dann gab er auf: „Ja.“

Formal heiße ich also seit dreieinhalb Jahren Christine Piper, aber im Berufsalltag spielt der Name so gut wie keine Rolle. Viele Leute wissen überhaupt nicht, dass ich sozusagen doppelnamig bin. Im vergangenen Jahr saß ich bei einem festlichen Dinner an einem großen runden Tisch, an dem ein Platz unbesetzt blieb. Die Gastgeberin verteidigte ihn unverdrossen gegen Neuankömmlinge: Die Dame würde bestimmt kommen, das habe ihr der Ehemann heute noch versichert. Irgendwann wurde ich so neugierig auf die fehlende Person, dass ich mir die Platzkarte ansah. Da stand: Mrs. Piper.

Sonst sorgt mein heimliches Frauenrechtlertum für bemerkenswert wenig Turbulenzen, zumal Amerikaner in Namensangelegenheiten traditionell großzügig sind (wir hätten bei den Eheschließung sogar unsere Namen zusammenziehen können, etwa zu Pipermat, oder einen komplett neuen Namen beantragen können). Nur bei internationalen Flügen muss ich aufpassen, der strengen Sicherheitskontrollen wegen. Und da habe ich diesmal geschlafen und bei der Online-Flugbuchung meinen Mädchennamen eingegeben. Erst in der Subway zum Flughafen JFK fällt mir das auf. Mir schwant Böses.

Doch die amerikanische Bodenstewardess stutzt nur kurz und stellt umgehend die Bordkarte aus, auf Christine Mattauch. Ich interveniere: „Können Sie den Namen nicht ändern, ich heiße eigentlich Piper, und ich möchte nicht…“ – „Honey, das sieht doch jeder, dass das Dein Mädchenname ist“, unterbricht sie mich freundlich und wedelt mich in Richtung Sicherheitsausgang.

Sie kennt ja nicht das deutsche Bodenpersonal in Hamburg. Das Einchecken für den Rückflug läuft genauso alptraumartig ab, wie ich es mir vorgestellt habe. Die misstrauische Frage nach der Namensdifferenz. Das bedenkliche Gesicht nach meiner Erklärung. Der Griff zum Telefonhörer: „Ich habe hier einen Passagier, bei dem stimmen die Namen nicht überein…“ Ich schwitze. Ich bete. Ich verfluche die Frauenrechtlerin in mir. Die Bodenstewardess blättert in meinen Unterlagen und spricht in den Hörer: „Das Visum? Das ist auf den Mädchennamen ausgestellt…“ Endlich legt sie auf, sieht mich ernst an. Ich sehe mich bereits heimatlos in Hamburg. Dann sagt die Stewardess: „Das ist dann diesmal okay“, in einem Ton, der verrät, dass es natürlich ganz und gar nicht okay ist. Aber das ist mir egal. Auch, dass ich am Gate ganz besonders gründlich gecheckt werde.

Nochmal Panik, als ich beim Umsteigen in Düsseldorf ausgerufen werde. Ängstlich nähere ich mich dem Desk: „Es ist bestimmt wegen des Namens, nicht wahr? Mattauch ist mein Mädchenname und Piper…“ – „Das habe ich mir schon gedacht“, entgegnet ein vergnügter Rheinländer, blättert in meinen Papieren und entlässt mich mit einem Lächeln.

Den Künstlernamen hat in dem ganzen Kuddelmuddel kein Mensch beachtet, und ich war zugegebenermaßen froh drum. Vermutlich hätte der mich erst recht verdächtig gemacht. Denn wer kommt schon auf die absurde Idee, seinen Mädchennamen als Künstlernamen eintragen zu lassen?

 

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Agententhriller in Bangkok

Wären die Szenen, die sich in diesen Tagen um die Auslieferung des vermeintlichen russischen Waffenhändlers Viktor Bout abspielen, die Handlung eines Actionthrillers, dann würde der Film vermutlich schlechte Rezensionen bekommen: Kritiker fänden in zu übertrieben, zu sehr an den Haaren herbeigezogen und vor allem viel zu sehr Kalter-Krieg-mäßig.

Bout, 43, sitzt in einem Hochsicherheitsgefängnis in Bangkok und wird von Dutzenden Mitgliedern einer Kommando-Sondereinheit bewacht. Auf dem Flughafen Don Muang im Norden der Stadt steht seit Tagen eine Maschine der US-Marshalls bereit, um Bout in die USA zu schaffen. Gleichzeitig setzen Mitarbeiter der russischen Botschaft im Hintergrund alle Hebel in Bewegung, um die Auslieferung zu verhindern. Und in einer Präsidentensuite in einem der Fünfsternhotels der Stadt verführt vermutlich gerade James Bond die bezaubernde russische Agentin Dana, um ihr weitere Geheimnisse über die neue Superwaffe aus den Labors des KGB, Pardon, FSB zu entlocken.

Zur alles-kann-jetzt-noch-passieren-Charakteristik schlechter Agentenfilme trägt auch bei, dass Bouts Auslieferung am Mittwoch in allerletzter Minute gestoppt wurde. Im Februar haben die USA weitere Anklagepunkte gegen Bout hervorgebracht, um die Wahrscheinlichkeit einer Auslieferung zu erhöhen. Offenbar muss ein Gericht erst noch diese Anklagepunkte fallenlassen.

Tatsächlich hat Bout schon einmal die Vorlage für einen großformatigen Hollywood-Streifen geliefert: Im 2005 erschienenen Film „Lord of War“ erklärt Nicolas Cage alias „Yuri Orlow“ in der Eröffnungsszene, auf der Welt gäbe es 550 Millionen Waffen, was bedeute, dass jeder zwölfte Mensch eine besitze. Er fragt: „Wie bewaffnet man die anderen elf?“ Dann zeichnet der Film die Geschichte von Viktor Bout nach. Und zeigt, wie Bout Waffen aus Beständen der ehemaligen Ostblock-Staaten an Kriegsparteien weltweit verkauft hat und damit zu einem der größten Waffenschieber aller Zeiten geworden ist.

In Bangkok zeigt sich die Regierung unterdessen gelassen. „Wir handeln in Einvernehmen mit dem Gesetz, und niemand kann uns vorschreiben, die Auslieferung zu beschleunigen“, freute sich Vize-Premier Suthep Thaugsuban am Mittwoch. Thailand sei ein „souveräner Staat“ und lasse sich von niemand etwas vorschreiben.

Ganz so einfach ist es dann doch nicht. Denn Thailand war während des Kalten Krieges der Frontstaat Washingtons in der Mekong-Region. Der USA haben in Bangkok daher noch heute erheblichen Einfluss. Zudem war Bout offenbar offiziell als Militärberater Moskaus nach Bangkok gereist, um die Lieferung eines russischen U-Boots an die thailändische Marine vorzubereiten. Dass er ausgerechnet dabei von US-Ermittlern hochgenommen und von thailändischen Behörden festgenommen worden ist, dürfte sowohl der Regierung in Moskau als auch hohen Kreisen in Thailand, die den Ausbau der thailändisch-russischen Beziehungen vorantreiben wollten, wenig gut bekommen.

Denn sollte Bout vor einem Gericht auspacken, wie er jahrelang offenbar unbehelligt ganze Flugzeugladungen voller Waffen aus den Staaten der GUS schaffen konnte, wäre das für Russland sicher sehr peinlich. Doch Bout hat nicht nur für Kriegsfürsten und Freischärler weltweit gearbeitet: Eine zeitlang transportierten Bouts Flugzeuge im Auftrag des Pentagon Soldaten und Kriegsgerät der USA in den Irak. Auch für die Vereinten Nationen hat Bouts Unternehmen mehr als einmal gearbeitet: Seine Flugzeuge lieferten in einigen Fällen Hilfsgüter in Kriegsgebiete, die Bout zuvor mit Waffen überschwemmt hatte.

Natürlich kann ein Thriller, der in Thailand eine so bedeutende Wende erfahren hat, nicht ohne eine Prise Thai-Gangster-B-Movie enden. Sirichoke Sopha, der Assistent von Premierminister Abhisit Vejjajiva, ist in diesen Tagen in die Defensive geraten. Denn es ist herausgekommen, dass Sirichoke erst kürzlich Bout im Gefängnis besucht hat. Jatuporn Promphan, Abgeordneter der oppositionellen Puea Thai-Partei und während der blutigen Proteste im April und Mai einer der Anführer der „Rothemden“-Demonstranten hat nun erklärt, er gäbe ein Tonband, auf dem das Gespräch zwischen Bout und dem Assistenten des Premierministers aufgezeichnet ist.

Darauf sei zu hören, wie Sirichoke versucht, Bout dazu zu überreden, eine mysteriöse Waffenlieferung, die im vergangenen Dezember auf dem internationalen Flughafen von Bangkok entdeckt und sichergestellt worden ist, auf seine Kappe zu nehmen und zu erklären, die Waffen seien im Auftrag von Ex-Premier Thaksin Shinawatra (2006 von der Armee aus dem Amt geputscht) für die Rothemden-Proteste bestimmt gewesen. Sirichoke gab zu, dass sein Treffen mit Bout mit den Rothemden-Protesten zu tun hatte, aber dass es kein Tonband gäbe.

Wäre das alles die Handlung eines Films, dann würde spätestens jetzt der letzte Kritiker den Kopf schütteln, seinen Stift und seinen Notizblock einpacken, den Kinosaal verlassen und etwas Sinnvolleres mit dem angebrochenen Abend machen. Dabei hält die Fortsetzung der Bout-Saga garantiert noch unzählige unglaubliche Wendungen und Enthüllungen bereit.

 

 

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Endlich darf gemeckert werden

Auf der linken Seite fahren? Das hat man als Tourist nach sieben Tagen raus. Nicht mehr meckern dürfen? Das habe ich als Einwanderin nach sieben Jahren noch nicht perfekt drauf. Aber ich arbeite daran. Es ist ein Kreuz mit der ewigen Nettigkeit. Ich schleppe es tapfer herum und beiße mir nur noch einmal täglich auf die Zunge. Die ist längst so vernarbt wie mein Rücken. Immigrantenwunden, die langsam heilen, zeugen von einem zähen Kampf: Unterdrück ihn, den Unmut! Bezwing sie, die Empörung!  Nieder mit dem Nörgeldrang!

Schreib keine Leserbriefe. Lobe alles und jeden, oder schweig. Sag nicht „Der Fisch war trocken, es hat eine Stunde gedauert, und das bei den Preisen“, wenn die Kellnerin dich fragt, ob’s geschmeckt hat. Sondern nicke und lächle. Ich habe es gelernt – mittlerweile so gut, dass ich es kaum ertragen kann, mit frisch eingeflogenen Landsleuten in einem Restaurant zu sitzen, da sie nach jeder Bestellung das Wörtchen „please“ vergessen und sich darüber auslassen, wie kalt doch das Wetter/verregnet die Fjorde/schlecht gekleidet die Frauen sind.

Da sind wir Deutschneuseeländer – kurz Schneuseeländer – empfindlich. Immerhin haben wir uns im Griff, auch wenn es bei manchen von uns länger gedauert hat. Nie würde ich mehr auf die Idee kommen, nach einem Film einfach meine kritische Meinung kundzutun. Selbst wenn man mich fragt, warte ich erst mal vorsichtig ab, wie weit sich jemand mit einem diplomatischen „Nun, es war vielleicht nicht so ganz mein Ding…“ oder zweideutigen „very interesting“ (was nicht unbedingt „interessant“ heißt) hervor wagt. Zu viele Fettnäpfchen säumen meinen Weg ins Auswandererparadies. Ich bin jetzt Kiwi und halte mich zurück.

Nur manchmal noch erlaube ich mir kleine Ausrutscher: Am Telefon gegenüber Behörden, Firmen und Versicherungen. Da werde ich dann pampig, fordernd, mäkelig, mache andere zur Schnecke, weiß alles besser, echauffiere mich. Immer in der Hoffnung, dass niemand meinen Namen und Akzent klar einordnen kann. Ich will das ramponierte Image der Deutschen nicht noch weiter ruinieren. Aber irgendwo muss sie ja ab und zu raus, die teutonische Galle. So habe ich mich arrangiert und durch die Jahre der Immigration gehangelt. Als Preis winkte die neuseeländische Staatsbürgerschaft.

Und jetzt soll all die Anstrengung für die Katz gewesen sein? Ich schlage die Beilage meiner Sonntagszeitung auf und bin fassungslos. Zwölf Autoren lassen sich darüber aus, was sie alles nicht mögen. Zwölf von vier Millionen dürfen ungestraft meckern – über den schlechten Service und die pappigen Muffins in Szene-Cafés, über Vordrängler in Schlangen, über ihren Chef, über Leute, die Leute verspotten, die das Apostroph nicht richtig setzen können. Ein ganz Mutiger pinkelt sogar gegen den heiligen Gral kiwianischer Freizeitkultur und spricht sich offen von der Seele, was er kaum erträgt: Kostümpartys, in all ihrer Schrecklichkeit. Ich lese seine Zeilen, grün vor Neid. Hätte ich das jemals gewagt – ich säße in Abschiebehaft.

 

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Mit einem Kilometer durch die Wüste

China stellt wieder mal einen neuen Rekord auf. Nein, es geht weder darum der schnellstwachsende Markt für Autos zu werden, die meisten Jasmintee-Trinker zu haben oder die größte Zahl unter den Top 20 der dreckigsten Städte der Welt. Nein, China is dabei, den größten Stau der Welt zu bilden (Fotos hier)

Auf der Nationalen Landstraße G110 von Tibet über die Innere Mongolei Richtung Peking stauen sich zwischen den Städten Jining und Huai’an seit Mitte August wegen Bauarbeiten Zigtausende Laster und Autos. Tempo: Rund ein Kilometer pro Stunde. Nichts geht mehr, und der Stau soll bereits mehr als 100 Kilometer lang sein. Wann er sich auflöst weiß niemand. Das Parteiorgan Volkszeitung zitiert Verkehrsbeamte mit der Vermutung, bis Mitte September werde es wohl schon noch dauern.  

Einen Monat lang im Stau? Das würde wohl jeden guten deutschen Autofahrer zum Steinewerfer werden lassen oder ihn in den Herzinfarkt treiben. Heiß ist es an der Strecke – der Stau befindet sich in der Halbwüste kurz vor den Toren der Hauptstadt Peking.

Die Landschaft dort ist spektakulär, aber es ist trocken und staubig. Schatten gibt es kaum. Über die Landstraße G 110 sowie die parallele Autobahn quälen sich seit Jahren Laster, voll bis zum Rand mit Kohle für die Hauptstadt. Derzeit kommen viele Obstlaster hinzu. Die Straße, die unter all den – teils deutlich überladenen – Lastern Dellen bildete, muss repariert werden – und das erzeugte nun das Chaos.  

Doch Gewaltausbrüche oder Schreiduelle bleiben in der Staubwüste bisher aus. Während das Fahren auf vollen Autobahnen ebenso wie Anstehen an Ticketschaltern oder das Besteigen eines Busses in der Rush-Hour in China oftmals irgendwo zwischen Drängelwettbewerb und Nahkampf anzusiedeln ist, üben sich die meisten Chinesen in Krisensituationen in beeindruckendem Gleichmut. Was nicht zu ändern ist, ist nicht zu ändern. Also finden die Trucker neue Freunde im Stau. Sie spielen zusammen Karten auf dem Asphalt. Sie halten Mittagschläfchen – unter ihren Lastern, weil es dort kühler ist. Sie waschen sich am Straßenrand. Klagen hagelt es nur über die Bauern der Gegend, die einen Reibach machen, indem sie den Fahrern Wasser, Reisgerichte oder Instant-Nudeln verkaufen, viermal so teuer wie im Supermarkt. Umwege fahren wollen die meisten nicht. Das kostet Benzin und zusätzliche Mautgebühren, sagen sie. Also lieber abwarten und Tee oder ein Bierchen trinken.

Ob es ihnen hilft, dass sie alle gemeinsam an einem Weltrekord arbeiten? Ob sie das überhaupt wissen? Das Guiness-Buch der Rekorde verzeichnet bisher einen 176 Kilometer langen Stau zwischen Paris und Lyon als längsten der Welt. Doch das wird der Stau von Jining doch locker aushebeln können. Und einen Monat lang Stau ist für sich schon ein Rekord. Also weiter so! Augen zu und durch! 

 

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Hongkong will kulturell sein

Schnöselige Hongkong-Bewohner aus dem westlichen Ausland (=Expats) bezeichnen Hongkong immer mal wieder gern als „cultural desert“, als Kulturwüste, wo allein – pfui – das Geld regiere und die künsterlischen Darbietungen nicht einmal europäisches Kleinstadtniveau erreichten. Ich muss zugeben, selbst ohne schnöselig zu sein, bereitet einem das Hongkonger Kulturleben Kopfschmerzen, etwa wenn man angestrengt nachdenkt, was man denn abends unternehmen könnte. Das Kinoprogramm beschränkt sich nahezu auf US- oder chinesische Blockbuster. Klassische Konzerte sind, sofern keine internationalen Stars eingeflogen werden, ziemlich schlecht und trotzdem teuer. Die Ballett-Truppe au weia. Kunstausstellungen sind rar oder irrelevant. Und die Subkultur steckt noch in den Babyschuhen. Hongkong ist nicht Tokio.

Doch das soll jetzt alles anders werden, auf einen Schlag. Hongkong baut den West Kowloon Cultural District und will sich damit auf die Weltkarte der Kulturstädte hieven. Das Projekt ist ehrgeizig: Zwei Milliarden Euro für ein ganzes Kulturviertel mit einem Museum für zeitgenössische Kunst, mehreren Theatern, Konzertsälen und sonstigen Bühnen. Die Stadt hat den früheren künstlerischen Direktor des Londoner Barbican, Graham Sheffield, eingekauft. Er soll das Ganze leiten. Hongkong klotzt, zunächst einmal auch baulich.

Das neue Kulturviertel entsteht auf aufgeschüttetem Land an der Einfahrt zum Victoria Harbour, der Wasserstraße zwischen den beiden Stadthälften Hong Kong Island und Kowloon. Exponierter geht es kaum:

 

 

Dieser Bauplatz schreit geradezu nach Spektakel-Architektur à la Sydney-Oper. Jetzt haben die drei Finalisten ihre Entwürfe vorgestellt: Norman Foster, Rem Koolhaas und der Hongkonger Rocco Yim Sen-kee. Entschieden wird Anfang des kommenden Jahres.

 

 

 

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Steit um einen berühmten Knack-A.

Es ist ja schon die Frage, ob es allzu schlau ist von Italiens Kulturminister Sandro Bondi, sich ausgerechnet mit DEM anzulegen. Gibt es nicht andere Kunstwerke, auf die er sich stürzen kann? Ahnt er denn nicht, dass es so ausgehen könnte wie im ersten Buch Samuel, Kapitel 17? Dass er, Sandro Bondi, Goliath ist und früher oder später „mit dem Gesicht zu Boden“ fällt?

Aber Sandro Bondi tut es eben doch – er kämpft gegen David, beziehungsweise um ihn: Um jenen kolossalen David, den der große Michelangelo ab dem Jahr 1501 aus einem Block weißen Marmors herausschlug. Den besichtigen jedes Jahr rund 1,3 Millionen Besucher in der Galleria dell’Accademia in Florenz und hinterlassen bei 6 Euro 50 Eintritt eine Menge Geld. Und weil die Galleria dell’ Accademia nicht ein städtisches Museum ist, sondern ein staatliches, fließen alle Eintrittsgelder in die Kasse des italienischen Staates: Jeder Euro, den ein Tourist hier zahlt, fällt sozusagen auf ein Fließband und wird zur Freude von Kulturminister Sandro Bondi direkt nach Rom getragen. Er hat sich nun durch ein Gutachten bestätigen lassen: Ja, David gehört dem italienischen Staat, mitsamt seiner Schleuder, seinem berühmten Knack-A. und all dem Geld, das er bringt: Schließlich sei die ehemalige Eigentümerin Davids, die Republik Florenz, im italienischen Nationalstaat aufgegangen.

 

Gegen die Allmacht des großen italienischen Staates und des fülligen Kulurministers zieht nun Matteo Ricci zu Felde, der Bürgermeister von Florenz. Er ist es leid, dass seine Stadtreinigung vor dem Museum jenen Touristen hinterherputzt, deren Geld dann ja doch nur an den italienischen Staat fließt. Deshalb hat er nun zum einen angekündigt, in Zukunft solle der italienische Staat für die Reinigungskosten vor der Galleria aufkommen; und zum anderen gehöre Michelangelos David ohnehin seiner Stadt. Dafür gäbe es „unanfechtbare Dokumente“. Für seine Sicht spricht: Immerhin war es die Florentiner Wollgilde, die den David bei Michelangelo in Auftrag gegeben hatte.

Im Streit um David wollen sich beide treffen, Sandro Bondi und Matteo Ricci, von einem Termin ist noch nichts bekannt. Womöglich übt der Bürgermeister von Florenz schon einmal mit einer Steinschleuder. Und womöglich warten auch bereits hunderte italienische Journalisten im Terebinthental im Heiligen Land, wo einst der Kampf zwischen David und Goliath stattgefunden haben soll, auf eine Neuauflage des biblischen Duells.

 

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Blindes Vertrauen

Starker Andrang altbackener Medien auf WikiLeaks-Boss Julian Assange, der sich im Norden vom Verfolgungsdruck des Pentagons entspannt. Die Militärs hätten ihm statt der angefragten Hilfe bei der Sichtung der über 90.000 Dokumente des kürzlich veröffentlichten  „Afghan War Diary“ eine Liste von Forderungen übersandt, klagt der Australier: Er möge das bereits munter zirkulierende Material löschen, auf künftige Publikationen von als geheim gestempelten Dokumenten verzichten und generell die Zusammenarbeit mit Informanten im Dienst der US-Streitkräfte einstellen.

Dass die Namen “unschuldig Beteiligter“ an die Öffentlichkeit gerieten, will Assange nicht ausschließen. Solche Fehler seien auch bei “vergleichbar voluminösen Projekten” wie etwa der “Aufarbeitung der Stasi-Akten” unterlaufen. Für die kritisierte Veröffentlichung von Klarnamen gäbe es allerdings auch gute Gründe, wehrt sich Assange. Wenn sich etwa örtliche Journalisten oder Offizielle vom US-Militär bestechen ließen, hätten die Afghanen ein Recht darauf, dies zu erfahren.   

Die publizistische Sorgfaltspflicht nehme man durchaus ernst. Aus diesem Grund würden in Kürze auch 15.000 weitere Dokumente mit besonders sensiblen Hinweisen auf die Quellen nachgereicht. Dieses Material habe seine kleine, wenn auch rapide wachsende Organisation nämlich erst einmal Zeile um Zeile auf denkbare Gefährdungen abklopfen müssen.

Auch die Sicherheit der eigenen Informanten wird WikiLeaks nicht garantieren können, solange die Internetplattform einen Großteil ihres traffics über schwedische Server abwickelt, warnen indessen Rechtsexperten wie Anders Olsson. Um vom legendären Quellenschutz im selbst ernannten Musterland der Pressefreiheit  zu profitieren, müsse die flüchtige Organisation nämlich erst einmal einen Verantwortlichen mit fester Adresse benennen.

Er sei bemüht, solche Zweifel auszuräumen, sagt Assange mit sanfter Stimme. Ohnehin sei man auf den Umgang mit Organisationen eingestellt, die sich von Recht und Gesetz traditionell kaum beeindrucken ließen. Man darf vermuten, dass ihm die Tunneldienste schwedischer Hacker-Kollegen mehr Vertrauen einflößen als Schwedens stolzes Presserecht aus dem Jahre 1766.

 

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Wo die Wahrheit nicht zu finden ist

Schon wieder verbrannte Erde dort, wo ich gerade noch stand. Die PKK jagte in dieser Woche die Erdöl-Pipeline zwischen Midyat und Idil in die Luft – genau an der Stelle, wo ich letztes Jahr mit einer Patrouille kurdischer Milizionäre unterwegs war. Die Jungs sind unverletzt, ich habe sie erreicht, aber drei andere Menschen hatten weniger Glück.

Das geht mir immer öfter so. Letzte Woche wurden in der Provinz Batman vier Menschen auf einer Straße in die Luft gesprengt, die ich schon öfter gefahren bin – eine Sprengfalle der PKK, in der es diesmal allerdings vier kurdische Aktivisten erwischte. Vorletztes Jahr ging eine Bombe vor dem Hotel hoch, in dem ich in Diyarbakir normalerweise absteige; die PKK ließ anschließend ausrichten, es sei ein Versehen gewesen, aber den sechs Toten und 67 Verletzten nützte das auch nichts mehr. Wiederum eineinhalb Jahre zuvor stand ich in einer heißen Augustnacht lange vor dem Eingang zum Kosuyolu Park in Diyarbakir, in dem ich mich mit einem untergetauchten kurdischen Deserteur getroffen hatte, und plauderte mit Bekannten; wenige Tage später detonierte genau an der Stelle eine gewaltige Bombe und tötete zehn Menschen.

So geht das nun, seit ich im türkischen Kurdengebiet unterwegs bin – das sind fast 20 Jahre. Von den Straßensperren und den Maschinenpistolenläufen unter der Nase will ich gar nicht anfangen, auch nicht von den langen Stunden auf Polizei- und Militärwachen oder den nächtelangen Fahrten durch gebirgiges Konfliktgebiet, und schon gar nicht von extremer Hitze, drei Meter tiefem Schnee und den Körben voller abgehackter Schafsköpfe auf den Märkten.

 Ich mache es ja auch gern, und vor allem: Es gibt keine Alternative dazu, wenn man vernünftig über den Kurdenkonflikt in der Türkei berichten will. Der Krieg zwischen der PKK und dem türkischem Staat wird ebenso stark in den Medien ausgefochten wie in den Bergen von Südostanatolien. Da ist den türkischen Behörden und den ansonsten recht ordentlichen Medien des Landes ebensowenig zu glauben wie der PKK und deren hochprofessionellem Propaganda-Apparat. Es hilft also nichts, die Wahrheit ist nur vor Ort zu finden.

Ärgerlich ist nur, dass diese Wahrheit nicht viel zählt, wenn es um Schlagzeilen geht. So machte die „taz“ diese Woche mit einer Geschichte Furore, die vom deutschen Schreibtisch aus mit eher trüben Quellen „recherchiert“ war: Die Türkei setze möglicherweise chemische Waffen gegen Guerrillakämpfer ein. Um Bilder ging es da, die ungenannten „kurdischen Menschenrechtlern“ demnach von ungewisser Seite „zugespielt“ wurden, bevor sie ihren Weg nach Deutschland fanden. Aber immerhin war die „taz“-Geschichte selbst noch sauber geschrieben – was man von den eskalierenden Abschriften anderer Medien nicht behaupten kann. Man beachte im Folgenden vor allem, wie das Zitat des Hamburger Arztes durch die Berichte mutiert:

 So berichtete die „taz“:

In den letzten Wochen hat das rechtsmedizinische Institut der Uniklinik Hamburg-Eppendorf im Auftrag der taz die Bilder untersucht. Zwar besitzen solche Fotos nur einen sehr begrenzten Beweiswert. Doch die Ergebnisse des Eppendorfer Forensikers Jan Sperhake stützen die kurdische Darstellung: Eine der Leichen wies “hochgradige Zerstörungen” auf, wie sie an “den Zustand nach Bahnüberfahrungen erinnern”, schreibt Sperhake. Teils quellen Leber, Darmschlingen und andere Organe aus den Körpern, die Muskulatur liege teils großflächig frei, Gliedmaßen seien enorm zerstört. Neben vermutlichen Stich- und Schussverletzungen weisen die Toten auch Verletzungen auf, die auf eine Explosion zurückgehen könnten. Vor allem aber zeigen zwei der abgebildeten Leichen eigentümliche großflächige Hautdefekte. So etwas kann theoretisch auch durch Hitze entstehen. Doch dies schließt Sperhake weitgehend aus: Kopfhaare, Lider, Brauen und Bart wiesen, soweit beurteilbar, keine Hitzeeinwirkungen auf. Sein Fazit: “Angesichts des Zustands der Leichen muss deshalb in Betracht gezogen werden, dass chemische Substanzen eingesetzt worden sein könnten.”

Daraus wurde bei „Spiegel Online“ (unter Berufung auf die „taz“):

Ein rechtsmedizinisches Gutachten des Hamburger Universitätsklinikums bestätigt den ursprünglichen Verdacht: Die acht Kurden starben mit hoher Wahrscheinlichkeit “durch den Einsatz chemischer Substanzen”.

 Und daraus wiederum wurde bei der „Zeit“ (unter Berufung auf Spiegel Online“):

Die Ärzte gingen davon aus, dass die acht Kurden “mit hoher Wahrscheinlichkeit durch den Einsatz chemischer Substanzen” starben.

Stille Post statt Recherche. Entsprechend steigerten sich auch die Überschriften: 

taz: “Hat die Türkei C-Waffen eingesetzt?” 

Spiegel: “Türkei soll Kurden mit Chemiewaffen getötet haben” 

Zeit: “Türkei gerät wegen möglichen Giftgasangriffs unter Druck” 

Türken, Kurden, Chemiewaffen: Klar, dass Politiker von Claudia Roth bis Rupert Polenz da sofort für Forderungen nach internationalen Untersuchungen zu haben waren, was die Geschichte natürlich wiederum aufwertete. Den PKK-Medien war das am nächsten Tag einen Aufmacher wert: „Deutsche Medien berichten über Chemiewaffenvorwürfe gegen die Türkei“.

Ein gelungener Coup war das, Hut ab! Aber ich nähre mich lieber redlich.

  

 

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Elektromillionär kauft öffentliches TV

Eine Woche vor der Wahl ist in Australien so gut wie alles politisch – außer den großen Parteien, die sich nachhaltig um ernsthafte Themen drücken und statt dessen viele Kindergärten besuchen. (Tony Abbott: “Dreijährige stellen keine schwierigen Fragen.”). Eigentlich kein Wunder, dass in so einer Situation ausgerechnet ein Fernseh-Fachhändler Heikles anfasst: Bevölkerung.

Dick Smith verkauft seit 40 Jahren Elektronik, der Mann ist so eine Art Mister-Media-Markt down under. In 433 Läden bringt er in Neuseeland und Australien alles unter die Leute was Kabel und Knopf hat. TVs, Telefone, Gameboys. Jetzt hat Smith genug verkauft, jetzt sorgt sich der Millionär um die Bevölkerung. “Bis vor sechs Monaten hatte ich noch nie über Bevölkerung nachgedacht.” Aber DS lernt schnell: Donnerstag hatte er schon seine eigene Fernsehschau zum Thema: “Dick Smith: The Population Puzzle”. 

Eine knappe Stunde prime time TV kaufte sich der Mann. Und zwar nicht auf irgendeinem Kommerzsender, nein. Das ehrenwerte ABC – Pendant etwa zur ARD in Deutschland – strahlte seine Show gleich nach den Nachrichten aus. Mister Elektrofuchs zahlte 50 000 AUS $ und durfte dafür 60 Minuten lang zeigen, wie und warum der kuschlige Südhalbkugelkontinent doch lieber hübsch elitär und klein bleiben soll.

Kein Klischee wurde ausgespart: Wolkenkratzer überwuchern Strände, Asylboote, vor Dürre knarrende Felder.

Derweil fliegt DS wahlweise im Privatjet oder per Helikopter über Sydney und nörgelt über verstopfte Züge. Eine Ein-Mann-Schau mit ein paar Statisten, nichts wird diskutiert, niemand stellt Fragen; nur Smith, meist über zu viele Menschen, über die (außer ihm neuerdings) ja niemand nachdenken wolle. Nicht mal das stimmt. Australier reden ständig über Einwanderung: “Wie viele sind zu viele?” ist in einer der reichsten Industrienationen mit 22 Mio Einwohnern immer wieder Lieblingsfrage. (Derzeit kommen übrigens 170 000 Neue im Jahr: 13 000 Flüchtlinge, 45000 Familienzusammenführungen und gut 113 000 Einwanderer, die gesuchte Berufe mitbringen). 

 

Das war das manipulativste Stück TV, dass ich in zehn Jahren in Australien gesehen habe. Aber mal abgesehen vom Inhalt: Ein Millionär kauft sich eine Stunde öffentlich rechtliches Fernsehen und darf seine Meinung verbreiten? What’s next: ‘Herr Supermarkt’ in einer “Doku” über Nuklearwaffen? “Frau Autofirma” über die richtige Religion? Der Bergbaugigant erklärt uns Gesundheitspolitik? I can’t wait…

 

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Blau durch den Straßenverkehr

Kürzlich stieg ich auf mein altes Rad. Keine leichte Entscheidung, denn sich gemeinsam mit Londons Autofahrern auf einer Ebene im Straßenverkehr zu bewegen ist ein freiwilliger Sturz ins Darwinsche Hierarchiesystem: auf dem Zweirad schrumpft man für Pkw-Fahrer zum störenden Insekt, das sie mit ihren PS am liebsten zerquetschen würden.

Doch nun ist auf den Straßen Londons etwas Wundersames passiert. Eine stechend blaue Spur zieht sich am Rand entlang. Nur für Radler, ein Flüsschen der Sicherheit, Zen für die stets unter Spannung stehenden Waden, eine Miniatmosphäre, die kein noch so testosterongetriebener Taxifahrer berühren darf.Ich habe lange über die Wahl der Farbe nachgedacht. Warum pinselt die Stadt eine derart lebenswichtige Zone in knalligem Blau? Als Symbol steht Blau für Vertrauen und Ganzheitlichkeit. Rein ästhetisch macht die Wahl allerdings tendenziell das Straßenbild kaputt, und genau das las ich als selbstbewusste Kampfansage der Stadt an die Autos. Leben retten vor Ästhetik!

Mein neu gewonnenes Vertrauen in die blaue, beschützende Route wurde jedoch jäh enttäuscht, als ich erfuhr, was beziehungsweise wer tatsächlich hinter diesem Blau steckt: die Barclays Bank! Ich fuhr also nicht aus psychologischen Gründen auf diesem Blau, sondern aus wirtschaftlichen! Ausgerechnet eine Bank ist ab sofort für meine Verkehrssicherheit verantwortlich. Der Name des neuen Radwegs klingt wie in heißen Asphalt gegossene Hybris: Barclays Superhighway! Und damit nicht genug. Die blaue Bank zeigte sich dermaßen spendabel, dass sie die passenden Citybikes für Londoner und Touristen gleich dazukaufte! Auf diesen klobigen Drahteseln, die innerhalb einer Woche an jeder Ecke der Stadt lauerten, sehen die meisten Leute blöd aus. Entweder wie ein im Leerlauf strampelnder Affe oder am Berg wie ein schwitzender Elefant.

Wozu das Ganze? Leidet die Stadt an dermaßen notorischem an Geldmangel, dass sie sich von einem Kreditunternehmen nun schon die Straßen und Fortbewegungsmittel bezahlen lassen muss? Sponsert Mercedes demnächst die Blitzanlagen? Was für ein Glück, dass nicht die Telekom in die engere Wahl gezogen wurde. Pinkfarbene Radwege! Tatsächlich ist London voll von bizarren Kooperationen. Wer ahnt schon, dass hinter der Unilever Series, also den jährlich wechselnden Kunstinstallationen in der Turbinenhalle der Tate Modern (am berühmtesten Olafur Eliassons “Weather Project” mit 3 Millionen Besuchern) ein Waschmittelkonzern steckt? Die winterliche Kulturveranstaltung der Royal Academy, GSK Contemporary, klang nur deshalb so hölzern, weil der Pharmariese GlaxoSmithKline eine Menge Geld gezahlt hat, um vor die Veranstaltung sein schmuckloses Kürzel zu pappen. Es ist ein eleganter Deal, bei dem ein unattraktiver Konzern seine gutmenschelnde Seite zeigen kann. Institutionen müssen im Gegenzug nicht mehr knausern, wenn es um die Champagnermarke beim Empfang geht.

Und wer rechnet schon damit, dass irgendwo am anderen Ende der Welt Öl ausläuft und damit eine globale Umweltkatastrophe auslöst? Dass die Tate Gallery dennoch keinen Funken Gespür dafür hatte, was es heißt, ihre 20-jährige Kooperation mit BP mit einem rauschenden Sommerfest zu feiern, wurde grandios bestraft. Am Ende gab es aufgebrachte Demonstranten und ölbespritzte Gäste, die über ihre versauten Armani-Sakkos und Dior-Taschen jammerten. Und was passiert, wenn Barclays in den nächsten, globalen Finanzskandal verwickelt ist? Liegen dann Nägel auf der neuen, blauen Radfahrbahn? Viel mehr Sorgen machen mir die Übermütigen, die bisher in London nie Rad fuhren und sich nun nach drei Pints, heftig angetrunken und ohne Helm, plötzlich auf die Barclays-Bikes setzen. Wenn sie in Schlangenlinien über den Asphalt eiern, wird auch die schöne, blaue Barclays-Spur sie nicht mehr beschützen…

 

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Man kann in Los Angeles tatsächlich Bus fahren – kommt nur drauf an, wo …

 

 

 

 

Kein Mensch fährt in Los Angeles freiwillig Bus – ok, fast kein Mensch. Die meisten, die das öffentliche Verkehrsnetz der Metropole am Pazifik nutzen, sind entweder zu arm, zu jung oder zu alt, um ein Auto zu kaufen oder sie sind illegal im Land und können den Führerschein nicht machen. Letzteres hält allerdings nicht wirklich viele vom Autofahren ab. Und so fahren sie dann auch … Die Bewohner von Los Angeles stehen lieber mit sechs Millionen anderen Autos in den Staus der Stadtautobahnen als auf Bus oder U-Bahn ausweichen. Der Grund ist ganz einfach – das öffentliche Verkehrsnetz ist eine Zumutung. Wenn ich mit dem Auto zu meinem Zahnarzt fahre, dauert das selbst mit Stau höchstens zwanzig Minuten. Mit dem Bus wäre ich anderthalb Stunden unterwegs, weil ich einmal fast eine Stunde auf den Anschlußbus warten muss. Also nicht wirklich eine gute Idee.

 

Ich wollte aber doch mal ausprobieren, ob es wenigstens möglich ist, von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten mit Bus und U-Bahn zu kommen. Genauer gesagt vom Walk of Fame zum Pier in Santa Monica. Besuch hatte sich angesagt und ich verspürte eine geradezu körperliche Abneigung, zum – gefühlten – tausendsten Mal unter gnadenloser Sonne und zwischen hektischem Gewusel auf dem berühmtesten Bürgersteig der Welt zu stehen und mit gebeugtem Kopf nach den Sternen von Promis zu suchen. Zu meiner Überraschung gibt es zwischen dem Kodaktheater, wo die Oscars verliehen werden und dem Chinese Theater, wo sich unter anderen Marilyn Monroe und Arnold Schwarzenegger mit Hand- und Schuhabdrücken verewigten tatsächlich einige Haltestellen, sogar eine U-Bahn!

 Leider gibt es keine Fahrpläne oder Schilder, die es einem erleichtern würden, den Weg nach Santa Monica zu finden. Man kann online nachschauen. Wer gerade zufällig keinen Computer dabei hat, ist auf die Hilfe von Fremden angewiesen. Ich hab also rumgefragt und bekam reichlich Vorschläge, wie ich am besten ohne Auto zum Meer komme. Zum Beispiel die 20 Kilometer laufen. Oder mit mehreren Sightseeing-Doppeldeckern fahren. Und ich hörte Warnungen, dass ich im öffentlichen Bus mit urinierenden, knutschenden, fummelden Menschen rechnen müsse und mit Gangmitgliedern, die sich gegenseitig durch die Sitzreihen jagen. Das hörte sich spannend an. Ich musste den Bus schon deshalb nehmen, weil es keine U-Bahn zwischen Hollywood und Meer gibt. Und die Fahrt lief deutlich besser als erwartet: Nur einmal umsteigen und sogar mit möglichem Zwischenstopp an Rodeo Drive und Beverly Wilshire Hotel, wo Richard Gere und Julia Roberts ‘Pretty Woman’ gedreht haben. Ich war die einzige Weisse auf der Rüttelfahrt in Hartschalensitzen und mit auf Hochtouren laufender Klimaanlage. Ich war vermutlich auch die Einzige, die aus Vergnügen im Bus sass. Die meisten der dösenden oder mit Handys spielenden Fahrgäste schienen auf dem Weg von oder zur Arbeit zu sein. Zur Enttäuschung meines Reporterinnen-Herzens hab ich weder fummelnde Fahrgäste noch Gangmitglieder bei der Verfolgungsjagd erlebt. Ich weiss nicht, wie meine Gäste das beurteilen. Ich weiss nur eins: die fahren von jetzt ab Bus. Außer sie müssen zum Zahnarzt.

 

 

 

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Ultra-Orthodoxe feiern Abschiebung von “Fremdarbeiter”-Kindern

 

Weite Teile der ultra-orthodoxen Community feiern in diesen Tagen die Abschiebung von 400 Kindern so genannter Fremdarbeiter als „Schritt in die richtige Richtung“. Die drei Zeitungen der nationalreligiösen Allianz in der Knesset, Vereinigtes Torah Judentum, sind erleichtert darüber, dass der „jüdische Charakter Israels“ nicht länger von Fremdarbeiter-Kindern in Gefahr gebracht wird.

In einem Leitartikel der Zeitung „Hamevaser“ heißt es: „Die Geschichte lehrt uns, dass ausländische Elemente, die in Länder kommen, die ihnen Arbeit anbieten, dazu vorherbestimmt sind, entweder das Land zu zerstören, das sie aufnimmt, oder es zu übernehmen“. Die „hunderttausenden christlichen, buddhistischen, muslimischen und hinduistischen Fremdarbeiter (zusammen mit hunderttausenden nicht-jüdischen Immigranten)“ seien eine Gefahr für den „jüdischen Charakter“ des Staates.  Die Kritiker der Abschiebungen bezichtigt das Blatt eines „abgrundtiefen Hasses gegen das Judentum“. Das habe sich in der Vergangenheit vor allem an den politischen Entscheidungen zur „nicht halachischen Konversion, dem Rückkehrrecht und der jüdischen Identität“ gezeigt. Nicht nur die so genannten Fremdarbeiter also, nein, sämtliche säkulare Zionisten, werden als Feinde der Orthodoxie, ja des Judentums insgesamt betrachtet.

Die Zeitung “Yated” schreibt, es gebe „für gewöhnlich eine Entsprechung zwischen diesen sympathischen Leuten“, die sich gegen eine Abschiebung aussprächen, „und denen, die den Hungertod von Haredi-Kindern“ (ultra-orthodoxen Kindern) förderten.

In der Zeitung “Hamodia” schließlich werden die Kritiker der Abschiebungen als „Demagogen“ tituliert. Aufgrund der Haltung dieser Leute würde Israel künftig nicht mehr als jüdischer Staat betrachtet werden können, sondern als Land „mit vereinzelten religiösen Inseln“. Die zionistische Bewegung sei von einem „Stein überrollt und ohne Sarg beerdigt“ worden, heißt es weiter. „Sogar der wahnhafteste Zionist hätte sich nie träumen lassen, dass Sudanesen, Russen, Thailänder, Ukrainer, Etritreer und Rumänen die israelische Staatsbürgerschaft erhalten.“

Netanjahus Kabinett hatte Anfang der Woche mit großer Mehrheit dafür gestimmt, 400 von insgesamt 1200 Kindern, die mit ihren Eltern um der Arbeit willen nach Israel eingewandert sind, innerhalb der nächsten drei Wochen abzuschieben. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu begründete die Entscheidung damit, er wolle keinen Anreiz dafür schaffen, dass hunderttausende Arbeitsmigranten ins Land kämen. 

Die Hetze von in Israel lebenden ultra-orthodoxen Juden gegen alles “Un-Orthodoxe” und “Nicht-Jüdische” wird immer hemmungsloser. Die Kluft zwischen säkularen und religiösen Juden wächst.

 

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Turista per sempre – das wärs: Ich bin verrückt nach römischen Rubbellosen

Ich bin der festen Überzeugung, dass man beim italienischen Lotto keinen vaso gewinnen kann, weshalb ich mich nie dazu verleiten lasse, in Italien irgendwo irgendwelche Kreuzchen auf irgendwelche Scheine zu machen. Da kann mein Arbeitskollege Michele (“Ach komm schon!”) noch so drängeln. 6 aus 49 wie in Deutschland ist ja schon unmöglich. Aber 6 aus 90 wie beim “Superenalotto”? Nein. Ich bin ja nicht stupido. 

 

Allerdings habe ich doch eine Schwäche für eine ähnlich doofe Form des Geld-aus-der-finestra-Werfens, für die “Gratta e Vinci”, “Kratze und Gewinne” genannten Rubbellose, die es in jedem Tabacchi gibt und die 5 bis sogar 20 Euro kosten. Manchmal hole ich mir da eins und wundere mich über mich selbst: Früher gönnte ich mir selbst bei wohltätigen Tombolas von Behindertenwerkstätten höchstens ein Los für einen Euro, aber ich bin in Italien sehr viel investitionsfreudiger geworden in dieser Hinsicht. Auch wenn ich ahne, dass der Finanzminister hier irgendwelche Haushaltslöcher, aber nicht die im Straßenbelag der Via Aurelia stopft.

 

 

Das Rubbeln fühlt sich nicht so irrwitzig an, wie das 6 aus 90, aber doch auch hier glaube ich langsam,  dass ich chancenlos bin: Wahrscheinlicher als ein Gewinn ist es, dass

 

es morgens um sieben an der Tür klingelt und ein Bote mir schönes deutsches Schwarzbrot und Johannisbeergelee fürs Frühstück bringt. Und doch: Mein Lieblingsrubbellos heißt dabei “Turista per sempre!”, “Tourist für immer”. Gerade habe ich mir wieder eins geholt, jetzt stehe ich in meiner Kaffeebar und rubble unter den neugierigen Augen meines Kaffeemanns und Freundes Dino: Wenn ich jetzt zwei mal ein Kästchen freirubble, auf dem “Turista per sempre!” steht, dann bekomme ich 200.000 Euro sofort, 6.000 für 20 Jahre, und am Ende nochmal 100.000. Fünf von 15 Feldern habe ich schon aufgerubbelt, einmal steht schon “Turista per sempre!” da.  Schon sage ich  Dino: “Bereite schonmal die Lokalrunde vor” – doch, völlig klar: Es kommt kein”Turista per sempre”- Feld mehr. Dino kommentiert: “Niente”. 

Also Strategiewechel: Ich hole noch weitere Rubbellose, vielleicht bin ich doch eher der Typ, der eine Million auf einen Schlag gewinnt. Sogar zu dem 10 Euro-Los “Mega Milliardario” habe ich mich vom Verkäufer überreden lassen. “Milliardario”, dass ich nicht lache! Gewinnen kann man nur eine Million´! Der Name soll den Italienern auf die Sprünge helfen: “Mensch stell Dir vor! Das waren mal eine Milliarde Lire.” 

Schnell stand ich wieder bei Dino an der Theke und rubbelte die silberne Fläche weg, Feld für Feld, damit sich die 10 Euro gelohnt haben. Meine “Glücksnummern”: 25, 24, 31, 20,45, 34. Nun muss ich hoffen, dass eine der 15 Zahlen unten mit diesen übereinstimmt. “40 -nö”, “13-nö”, 18-nö”. Und so weiter. Lass mich mal, sagt Dino, nimmt eins meiner weiteren Lose, es heißt “Schiff voller Geld” und beginnt, hastig zu kratzen. Ratz-Fatz ist alles weg, er reicht mir das Los rüber und sagt: “Niente”. 

 

 

Enttäuscht beginne ich, das letzte freizurubbeln, halte dann aber inne und sage zu Dino: “Den Rest mach ich nach und nach und Feld für Feld, da kann ich das Gefühl haben, ich könnte noch gewinnen.” Entgeistert schaut mich Dino an, nimmt mir plötzlich den Schein aus der Hand, rubbelt die restlichen Felder auf, reicht mir den Schein wieder rüber und sagt: “Niente”.  

 

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Kopenhagen sucht 500 Meerjungfrauen

In Kopenhagen kann in den kommenden Wochen jeder seine 15 Minuten Berühmtheit einfordern – als eine von 500 kleinen Meerjungfrauen. Während die Skulptur Kleine Meerjungfrau, DAS Kopenhagener Wahrzeichen, für die Expo in Shanghai weilt, wird sie durch ein Videowerk des Chinesen Ai Weiwei ersetzt. Einer Gruppe dänischer Künstler war das nicht genug, weshalb Sie nun 500 weitere Meerjungfrauen suchen. Sie haben einen Stein im Touristenviertel Nyhavn aufgestellt und dazu aufgerufen, sich als temporäre Meerjungfrau zu bewerben. Wer mag, kann auf dem Stein sitzen, dort einen Vortrag halten, singen oder was auch immer. Einzige Bedingung: 15 Minuten auszuharren. Anmelden unter www.500mermaids.dk

 

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Allah macht hart

Das »journalistische Desaster«, wie Jörg Lau von der ZEIT es in einem Gastvortrag nannte, begann am 5. Juni und nahm in den Wochen danach seinen ungebremsten Lauf. Es ist einer jener Wahrnehmungsunfälle, die im Stimmengewirr unserer postmodernen Medienwelt inzwischen leider all zu oft die Normalität sind. Den Anfang macht eine kurze, zweiseitige Zusammenfassung einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN). Ihr widmen sich an jenem 5. Juni zuerst die Süddeutsche Zeitung und dann die Nachrichtenagenturen.

In der KFN-Studie geht es auch und unter anderem um den Zusammenhang zwischen der Religiosität junger Muslime in Deutschland und ihrer Bereitschaft zu Gewalt. Die zweiseitige Zusammenfassung behauptet: »Für junge Muslime geht … die zunehmende Bindung an ihre Religion mit einem Anstieg der Gewalt einher.«

Wenn das keine Schlagzeile ist! »Die Faust zum Gebet«, überschreibt die Süddeutsche Zeitung ihren Beitrag, gefolgt vom Chor anderer Boulevard- und Qualitätszeitungen: »Allah macht hart«, »Jung, muslimisch, brutal«, »Junge Muslime, je gläubiger, desto brutaler« usw. usf. Im Artikel der Süddeutschen behauptet Christian Pfeiffer, Direktor des KFN, zwischen muslimischer Religiosität und Gewaltbereitschaft gebe es einen »signifikanten Zusammenhang«.

Es ist das Verdienst von bildblog.de, den kompletten Text der Studie einfach mal ganz gelesen zu haben. Dort findet sich nämlich dieser »signifikante Zusammenhang« von muslimischer Religiosität und Gewalt gar nicht. Er ist allenfalls sehr klein, und die Studie begründet ihn mit allem möglichen, nur nicht mit Religion. Im Gegenteil: Sie belegt, »dass diese (leicht – J. S.) erhöhte Gewaltbereitschaft weitestgehend auf andere Belastungsfaktoren zurückzuführen ist.« Es sei, heißt es in der Studie weiter, »bei isla­mischen Jugendlichen von keinem unmittelbaren Zusammenhang … zwischen der Religiosität und der Gewaltdelinquenz auszugehen.«

Bildblog.de weist auf diesen Widerspruch am 13. Juni hin und lässt sich von Pfeiffer erklären, er sei falsch zitiert worden. Zu spät, die Schlagzeilenmaschine lief da bereits seit einer Woche rund, siehe oben. Schwer zu sagen, woran diese mediale Entgleisung nun genau lag, ob zum Beispiel Pfeiffer so sehr nach Publicity für sein Institut giert, dass es ihm »offenbar lieber ist, falsch zitiert zu werden als gar nicht« (Jörg Lau). Darüber kann nur spekuliert werden. Sicher ist: Die deutsche (Medien-) Öffentlichkeit scheint auf den Kurzschluss »junge Muslime gleich Gewalt« nur gewartet zu haben. Wer muss da schon ganze Studien lesen.

Soweit ich weiß, haben sich die meisten Blätter später nicht nur nicht korrigiert, sondern basteln auch weiterhin an diesem Stigma, noch Wochen danach, wie etwa der Wiesbadener Kurier oder Spiegel Online. Eine Ausnahme bildet die österreichische Zeitung Die Presse, die sich für den Beitrag »Gewissenloses Islam-Bashing« die Mühe macht, auch mal in den ersten Teil der KFN-Studie aus dem Jahre 2009 zu gucken. Dort werde belegt, dass muslimische Migranten gar nicht gewalttätiger seien als Migranten aus anderen Kulturkreisen.

Aber solch eine Schlagzeile wäre leider längst nicht so sexy wie »Gläubige Muslime sind deutlich gewaltbereiter«.

 

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Piraten der Südsee

Oahu (Hawaii), Kamehameha Highway, gestern Nachmittag: Plötzlich stoppen Autos, einige steuern konfus den Straßenrand an, Leute springen raus mit gezückter Kamera. Ein Blick durchs Seitenfenster genügt, um zu wissen warum: Ein Segelschiff, offensichtlich mehrere hundert Jahre alt, liegt an einem kleinen Pier vor Anker. Ein Museumsschiff? Ein Restaurationsprojekt? Ein Nachbau a la Disneyland? Wir wenden. Parken am Pier, laufen zum Schiff, bis zu einer Absperrung, vor der zwei dutzend Menschen versammelt sind. Alle starren wie gebannt aufs Schiff, das aus der Nähe nicht weniger rätselhafter erscheint als aus der Ferne: Abgerissen, aber zugleich irgendwie gut in Schuss, und warum eigentlich wimmelt es hier vor Sicherheitsleuten?

 

 

 

Endlich macht einer den Mund auf. „Welcher Film?“ Der Security-Guy schiebt seinen Kaugummi von der rechten in die linke Backe und antwortet: „Fluch der Karibik.“ Die Menge erstarrt. Der Neugierige fragt ungerührt weiter: „Welcher Teil?“ – „Vier.“ Ein Teenager im Baskeballtrikot schreit hysterisch: „Ich habe Johnny Depp gesehen!“ Das ist aufgrund der Entfernung ganz unmöglich, und die Leute verdrehen die Augen. Aber später erzählen unsere netten Wirtsleute, dass auf der Insel ganze Horden von Paparazzi unterwegs sind, um den Star zu finden – bisher erfolglos. Kurz regt sich bei mir der Reporterinstinkt: Muss ich da nicht auch irgendwas machen? Ach nein – ich hab endlich mal Urlaub. Aber den Weltreporter-Blog will ich denn doch bestücken. Zumal sicher nicht jeder weiß, dass die “Pirates of the Caribbean” zumindest teilweise in der Südsee gedreht werden.  

 

Foto: Christine Mattauch

 

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Regierungsringen

Beim Einkaufsbummel durch Den Haag komme ich regelmässig bei Eisverkäufer Martijn vorbei. Sein Eiswagen steht direkt vor Paleis Noordeinde, dem Arbeitpalast von Königin Beatrix. Wenn auf dem Dach die rot-weiss-blaue Flagge weht, sitzt die Monarchin hinter ihrem Schreibtisch.

 Für die Bürger von Den Haag ist Martijns Eiswagen zu einer festen Institution geworden. Sein Vater hat hier schon vor 20 Jahren Eis verkauft. In den letzten Wochen allerdings erkundigen sich viele Kunden beim Eiskaufen nicht nur über das Angebot sondern auch den letzten Stand der Koalitionsverhandlungen. Denn der fröhliche junge Holländer behält alles gut im Auge, er weiss genau,wer die Treppen zum Palast raufläuft und wer wieder rauskommt.

 „Das ist hier momentan ein Kommen und Gehen“, erzählt er. Da haben sich nicht nur die Fraktionsvorsitzenden der wichtigsten Parteien die Klinke in die Hand gegeben, sondern auch die so genannten Informateure. Die untersuchen im Auftrag der Königin, welche Koalitionspartner sich am ehesten zusammenraufen könnten.

 Bei Martijn hinter der Scheibe hängen Fotos der ehemaligen Ministerpräsidenten und Eiskunden Wim Kok und Jan Peter Balkenende. Ganz links, über dem Schokoladeneis, prangt bereits ein Schnappschuss von Mark Rutte – für den Eisverkäufer der nächste Premierminister der Niederlande. 

 Noch allerdings ist es nicht soweit: Zwar hat Rutte mit seiner rechtsliberalen VVD-Partei die Wahlen gewonnen – aber nur ganz knapp vor den Sozialdemokraten. Eigentlicher Wahlsieger ist Geert Wilders: Seine islamfeindliche „Partei für die Freiheit“ PVV konnte die Zahl ihrer Sitze fast verdreifachen und ist nun drittstärkste Kraft im niederländischen Abgeordnetenhaus – noch vor den Christdemokraten, die erdrutschartige Verluste hinnehmen mussten. Diese vier Parteien haben alle zwischen 20 und 30 der insgesamt 150 Parlamentssitze ergattert.

 Folge: Die Koalitonsverhandlungen gestalten sich enorm schwierig, fast sieben Wochen nach den Wahlen ist immer noch kein neues Kabinett in Sicht.

Doch die Niederländer sind einiges gewöhnt: Für eine stabile Mehrheit sind immer mindestens drei Parteien nötig, dieses Mal vielleicht sogar vier. Deshalb üben sich alle in Geduld – und stehen für alles offen: Denn was auf das Land zukommt, weiss keiner. Wobei sich die Informateure wie Fussballtrainer vorkommen müssen: Mal versuchen sie es über die rechte Flanke, dann über die Linke. Auch in der Mitte war kein Durchkommen. Mal ist Wilders mit dabei, mal ist er im Abseits. Wobei sich die Niederländer nicht sicher sind, ob er nun wirklich mitspielen will oder doch lieber auf der Oppositionsbank sitzen bleibt.

Inzwischen allerdings ist Ruud Lubbers als Informateur auf dem Spielfeld erschienen, politisches Schwergewicht und Vertrauter von Königin Beatrix. Er hat alle zur Ordnung gepfiffen und an den Teamgeist appelliert – vor allem an den der Christdemokraten, die sich bislang zierten und nicht so richtig mitspielen wollten. Die Berührungsängste mit Wilders waren zu gross: Mit einer Partei, die an der Religionsfreiheit rüttelt, Kopfttücher verbieten und die ethnische Herkunft eines jeden Niederländers registrieren lassen will, so betonte der christdemokratische Fraktionsvorsitzende Maxime Verhagen, mit so einer Partei setze er sich nicht in ein Boot.

Doch nun hat Lubbers ein Machtwort gesprochen, seit Montagnachmittag finden an einem geheimen Ort erste informelle Gespräche zwischen Christdemokraten, Wilders und den Rechtsliberalen statt. Mehr weiss keiner, selbst Eisverkäufer Martijn nicht.

 Der bleibt trotz allem zuversichtlich: „Wir liegen ja noch gut im Rennen.“ Denn durchschnittlich dauern Koalitionsverhandlungen in den Niederlanden immer gut zwei Monate. Der Rekord war 1977, da vergingen fast sieben Monate, bis das Land eine neue Regierung hatte. „Aber“, so erinnert sich ein älterer Herr lachend, bevor er mit einer grossen Kugel Erdbeereis weiterläuft:  „Das haben wir damals ja auch überlebt. Das Leben ging einfach weiter.“

 

 

 

 

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Neuer Job für Paul

Die meisten Indonesier sind abergläubisch und fast alle sind fußballverrückt. Der wahrsagende Tintenfisch Paul aus Oberhausen wurde daher im Inselstaat auf der anderen Seite der Welt zur willkommenen Sensation: Am Ende der Fußball-WM verging keine indonesische Nachrichtensendung ohne eine Meldung über „Gurita Paul“.

Doch während sich der Fußballrausch in Indonesien allmählich wieder gelegt hat, saugt sich der achtarmige Wahrsager weiterhin hartnäckig in den hiesigen Medien fest. Auf diversen Websites wird diskutiert, ob Paulchens Vorhersagen ausreichten, um auch politische oder religiöse Führer zu ersetzen.

Am vergangenen Samstag zeichnete der Karikaturist der englischsprachigen Tageszeitung „The Jakarta Post“ Paul zum Beispiel als Schiedsrichter in einem aktuellen Steuerhinterziehungsfall: Auf der Zeichnung verschwinden der korrupte Finanzbeamte Gayus sowie ein der Unterschlagung beschuldigter Polizeibeamter als gierige Kraken hinter Gittern, während die International Corruption Watch verwundert zusieht.

Beliebt ist auch der Vergleich mit „Gurita Cikeas“ – also dem Kraken von Cikeas: Dieser Ausdruck stammt aus einem populären Buch über die angebliche Vetternwirtschaft unter dem indonesischen Präsidenten Susilo Bambang Yudhoyono, der in Jakartas Vorort Cikeas residiert.

Die Botschaft an den Tintenfisch: Wenn die Deutschen Paulchen tatsächlich schon in Rente schicken wollen – in Indonesien gibt es noch viel für ihn zu tun!

 

 

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Kaltenbrunner – Schellenberg – Kaltenberg

Manchmal frage ich mich, ob es nach 12 Jahren Russland nicht dringend Zeit ist, wieder heimzukehren. Etwa vergangenen Dienstag in Minsk. Das liegt zwar in Weißrussland. Aber als mir in einer dortigen Kneipe die Marke „Kaltenberg“ als „vaterländisches“, also einheimisches Fassbier angeboten wurde, brach ich in höhnisches Gelächter aus: „Kaltenberg“, das haben sich die Weißrussen ja schön ausgedacht, die haben wohl wie die Russen zuviel schlechte Nazi-Literatur konsumiert. Und dann aus „Kaltenbrunner“, „Stauffenberg“ oder schlimmer noch „Schellenberg“ einen ihrer Ansicht nach erzgermanischen Namen gepanscht und einen Pilsverschnitt mit leichtem Nachgeschmack nach Kernseife dazu.

 Aber es stellte sich heraus, dass „Kaltenberg“ gut schmeckt. Ich riskierte eine google.ru-Minimalrecherche. Ergebnis: Die Weißrussen haben tatsächlich geflunkert, „Kaltenberg“ wird nicht in Minsk, sondern in Otschakowo bei Moskau produziert. Aber in Weißrussland betrachtet man ja außer Bier aus Russland ja auch Öl und Gas als „vaterländisch“. Die Russen wiederum brauen „Kaltenberg“ mit einer deutschen Lizenz der König Ludwig Schlossbrauerei Kaltenberg, den Vertrag unterzeichnete Luitpold Prinz von Bayern persönlich. Kurz, „Kaltenberg“ ist echt, wird angeblich auch in Russland nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut, ich aber habe zuviel schlechte russische Nazi-Literatur gelesen. Dringend Zeit für einen Regermanisierungstrip in die Heimat, am besten nach Bayern!  

 

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Ode an die Flugzeugkost

Das Leben in den Antipoden bringt viel Schönes mit sich, zum Beispiel Hokey-Pokey-Eis mit Karamellstücken und staatlich sanktioniertes wildes Zelten am Strand, aber auch einiges Schreckliches: Flugreisen zum Beispiel. Wann immer man die Grenzen Aotearoas verlässt und keine Bootsfahrt plant, sitzt man unweigerlich in der Luft. Und das nicht zu knapp. 25 Stunden sind es gut und gerne bis Europa, aber gefühlte 50. Das sind, auch für jemanden ohne jede Flugangst, zwanzig Stunden zu viel.

Meine Kinder klingen wie verzogene Jetset-Gören, wenn sie mit ihren Freunden darüber fachsimpeln, ob man auf dem Weg nach Frankfurt besser in Singapur umsteigt, weil man da kurz im Terminal C schwimmen gehen kann, oder in Hongkong, wo es drei Stunden lang Playstation satt gibt. Dubai? Geschenkt. Los Angeles geht gar nicht, da sind wir uns alle einig. Die Sicherheitskontrollen dort kommen einer gynäkologischen Vorsorgeuntersuchung immer näher. Mir reicht die Mammographie einmal im Jahr.

Wie tief das Rund-um-die-Uhr-Eingesperrtsein in Körper und Seele eingreift, zeigt sich am deutlichsten an der Reaktion des Passagiers auf Flugzeugkost. Unter normalen Umständen würde er die in der Economy Class kredenzte Nahrung amüsiert bis misstrauisch betrachten, wenn nicht gar verweigern. Ein Häufchen pseudoethnischer Pamp aus der Mikrowelle, ein viel zu kalter Mini-Salat, das obligatorische Pappbrötchen, abgepackter Gummikäse und ein wabbeliges Törtchen für den kariösen Zahn – welch ein kulinarisches Sammelsurium!

Seltsamerweise ist es aber auf diesen Langstreckenflügen so, dass die Mahlzeiten das einzige Highlight in all der sauerstoffarmen, zähen Trostlosigkeit sind. Das sagt doch alles über die Foltermethoden der Fluggesellschaften. Schreckliches wird erträglich, Halbsoschreckliches wunderbar – verzerrte Wahrnehmung durch rasante Abstumpfung. Nach zwei Bordfilmen und einer Nacht im Sitzen, wenn sich die erste Thrombose anbahnt, klingt nichts so herrlich wie das leise Scheppern des Essen- und Getränkewagens, der im Gang immer näher rollt Und dieser Duft! Neidisch schaue ich auf die zwei Rucksacktouristinnen, die vorab „vegetarisch“ bestellt haben und jetzt vor allen anderen bedient werden. Und immer, immer bin ich mir sicher, das Falsche gewählt zu haben. Rind mit Gemüse oder Huhn asiatisch – es ist und bleibt die einzig wichtige Entscheidung der nächsten 24 Stunden. Wann habe ich jemals mit so viel Wonne ein Päckchen Butter aufgepult? Die gute Neuseeland-Butter, ach! Im Gefängnis muss es ähnlich sein. Man erfreut sich an den kleinen, vertrauten Dingen.

Wenn der Schmerz nachlässt, wird das Trauma mit Hilfe von www.airlinemeals.net verarbeitet. Betroffenen rate ich, sich auf der Webseite die Plastiktablett-Variationen osteuropäischer Fluglinien anzuschauen.  Ein Passagier auf dem Air-Via-Flug von Bulgarien stellte fest, dass seine Henkersmahlzeit deutlich besser aussah als der Zustand der Tupelew, in der er saß. Über den Wolken, da muss der Hunger wohl grenzenlos sein.

 

 

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In Klausur

In periodischen Abständen überkommt mich plötzlich das Gefühl, mein Mandarin verbessern zu müssen. Das sind die Momente, in denen ich einen Flug nach Shijiazhuang (Genau! Eine von diesen chinesischen Millionenstädten, von denen man noch nicht mal den Namen kennt) buche. In Shijiazhuang gibt es eine kleine Sprachschule, die ausschließlich im Einzelunterricht Ausländern Chinesisch beibringt. Sie ist so etwas wie ein Geheimtipp, weil die meisten Ausländer nicht über Peking und Shanghai hinausdenken, wo es eine große Sprachschulindustrie gibt.

 

 

 

Das Beste an der Schule ist natürlich, dass ich dort immer viel lerne. Das Zweitbeste sind die anderen Sprachschüler. Wer in Shijiazhuang lernt, der will es wirklich wissen, der will leiden. Hier ein paar Beispiele von meinem jüngsten Aufenthalt.

Der Doktor: Schräger, in sich gekehrter Arzt aus den USA. Er bleibt ein ganzes Jahr in Shijiazhuang, also ein Jahr Einzelunterricht, und wiederholt 400 Schriftzeichen pro Tag. Alle im Aufenthaltsraum raunen bewundernd. Sein gesprochenes Mandarin ist dafür eigentümlich holperig. Nach dem Jahr will er zurück in seinen Job nach Amerika. Wozu er Chinesisch lernt, weiß niemand, auch er nicht.

Der Chilene: Ein 27-jähriger im Hongkonger Büro einer US-Kanzlei arbeitender Junganwalt (Finanzbranche) mit 250.000 US-Dollar Monatsgehalt. Temporär freigestellt. Auch er will ein Jahr in Shijiazhuang bleiben. Ein netter Kerl, der allerdings mit seiner Entscheidung hadert. Er findet die Frauen dort so furchtbar hässlich. Ohne Frauen geht es aber auch nicht. Also fliegt er regelmäßig übers Wochenende nach Hongkong. Chinesisch wird ihm bei der Karriere helfen, hofft er.

Der Krisengeschüttelte: Ein Mittfünfziger aus Miami, der alles verloren hat: Job, Frau, Vermögen, Lebensmut. Erst wurde er Alkoholiker, dann beschloss er, lieber schnell Mandarin zu lernen, um sich was Neues als Einkäufer in China aufzubauen. Er bleibt drei Wochen und hat es gern sauber. Bei seiner Gastfamilie putzt er nachts heimlich die Toilette.

Der Grönländer: Ein 24-jähriger Wonneproppen. Kräftig, gut genährt, lacht viel. Für ihn musste in der Schulküche der „Nachschlag“ eingeführt werden. Der erste Grönländer in meinem Leben. Mandarin-Anfänger. Er bleibt auch ein Jahr, einfach um mal was anderes zu sehen als Grönland. Danach will er zurückgehen und wieder im Fisch-Export arbeiten. Trägt einen Eisbärzahn um den Hals.

Und natürlich Shijiazhuang: Die Stadt, die man nicht kennen muss, die mich nie vom Chinesischlernen ablenkt, weil es nichts Ablenkendes gibt. Perfekte Lernnachmittage unterm Smoghimmel im Park. Vergesst Shanghai. China ist hier.

 

 

 

 

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“the Stuff of real life” – Politiker oder Pürrierstäbe?

Manch Kurioses passiert, glaube ich, so nur in Australien, im Land der Eier legenden Schnabeltiere. In Australien zum Beispiel steht auf Nicht-Wählen 100 Dollar Strafe, man hat aber nur 3 Tage nach Ankündigung einer Wahl, sich ins Wählerverzeichnis eintragen zu lassen. Zackzack. Noch schneller fliegen Premierminister raus, wie Kevin Rudd erlebte, als ihn Ende Juni seine Labor-Parteikollegen über Nacht entmachteten.

Seither ist seine Ex-Vize Julia Gillard (Foto links) am Ruder und die will nun, auch ruckzuck logisch, neu wählen lassen, und zwar am 21. August. Und damit leiten wir elegant zum Konflikt zwischen Küche und Kabinett über.

Denn vor der Wahl muss Gillard natürlich mit Gegner Tony-‘Klimawandel-ist-Blödsinn’-Abbott im Fernsehen über die ein oder andere politische Priorität diskutieren. Dieser Top-2-Talk wird traditionell vom National Press Club organisiert und gern gesehen. Und selbst im Land der Schnabeltiere finden solche TV-Debatten sonntagabends zur so genannten ‘Prime Time’ statt. Und hier ist das Problem.

Denn um 7.30  läuft gleichzeitig eine Kochschau. So eine Art ‘Australien sucht den Superkoch’, mit fiesem um die Wette dünsten, Garnelen an Limonengrass und fliegenden Pürrierstäben. Glaube ich. Ich geb zu, ich hab Masterchef noch nie gesehen, bin damit aber offenbar fast allein im Land, denn mehrere Millionen Australier machen genau das jeden Sonntag um 7.30 Uhr

Zum Glück werden sie auch am 25. Juli diesem friedlichen Hobby frönen können, ohne zur Unzeit von Hässlichkeiten wie Verschuldung, Klimawandel oder Flüchtlingsfragen abgelenkt zu werden. Denn die TV-Debatte der potentiellen Regierungschefs wurde zuliebe der populären Küchenchefs verschoben. Dank Meisterkoch heißt es diesmal auf Channel 7 schon um 6.30 Uhr: ‘Election 2010: The Great Debate’, die Nachrichten fallen aus. Gekocht wird wann immer gekocht wird, um 7.30 Uhr.

Die Premierministerin war offenbar glücklich mit der Lösung:   

“It says something about the stuff of real life,” sagte Gillard einem Radiosender in Sydney zum Konflikt zwischen Küchen- und Politikerlatein. “Leute interessieren sich dafür, wer Premierminister ist und wer regiert, aber Leuten ist auch ziemlich wichtig, was abends auf den Tisch kommt.’ Einsichten von ähnlich ergreifender Tiefe gab Frau Gillard auch im ABC zum Besten: ‘Australien ist ein großartiges Land‘ so die derzeitige und eventuell künftige Regierungschefin, ‘und eines der Dinge, die hier möglich sind, ist, dass man wählen kann, was man im Fernsehen ansieht.’ (Und das ist noch nicht mal sehr frei übersetzt.) Guten Appetit. 

 

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Japan in der Sinnkrise

Was ist nur mit Japan los? Nicht genug damit, dass es in der Politik drunter und drüber geht und ein Premierminister nach dem anderen zurücktritt. Die wirtschaftliche Entwicklung ist auch nur noch eine lahme Ente. Und nun erschüttern auch noch Skandale ohne Ende die Sumo-Szene.

Diese ur-japanische Sportart, eigentlich eine Bastion nationaler Traditionen, scheint kurz vor dem Ableben zu stehen. Seit geraumer Zeit macht Sumo nur noch negative Schlagzeilen. Vor wenigen Monaten musste der Großmeister Asashoryu nach einer Schlägerei im Suff seinen unehrenhaften Abschied nehmen. Ein Vorbild als besoffener Haudrauf, das ziemt sich nicht. Aber jetzt kommt’s richtig dicke. Die schwergewichtigen Ringer haben sich mit den schwerkriminellen Yakuza eingelassen, so wurde bekannt. Das japanische Pendant der italienischen Mafia hat den dicken Männern geholfen, fette Gewinne bei illegalen Wetten zu machen. Das stürzt so manchen Japaner in eine Sinnkrise. Nichts scheint mehr heilig zu sein im Land der aufgehenden Sonne. Die Idole im Ring sind in Wahrheit Halunken, die sich in der Halbwelt herumtreiben. Nippon liegt im Staub, Rettung ist nicht in Sicht. Fehlte nur noch, dass sich im Kaiserpalast Unerhörtes zutragen würde. Aber das wollen wir den Japanern nicht wünschen. Sie haben es derzeit schon schwer genug. 

 

 

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Israels illegale „Aliens“

 

Im liberalen Tel Aviv machen Rabbiner in diesen Tagen gegen illegale Einwanderer mobil. Sie warnen israelische Bürger in Zeitungsannoncen davor, Wohnungen an Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung zu vermieten. Nach jüdischem Recht sei es verboten, Wohnraum an derlei „aliens“ zu vergeben. Wer gegen dieses Recht verstoße, bringe sich in Gefahr, dräuen die Autoren des Anzeigentexts. Sie setzen sich aus einer Nachbarschaftsinitiative und 25 orthodoxen Rabbinern zusammen, die sich hinter dem Stadtrat Binyamin Babayof sammeln. Der gehört der religiös-sephardischen Shas-Partei an.

In ihrem Aufruf ermutigen die Rabbiner die israelischen Bürger Tel Avivs, dazu beizutragen, den „jüdischen Charakter“ der Stadt zu bewahren. Die illegalen Einwanderer trieben die Kriminalitätsrate in die Höhe, heißt es weiter. Außerdem belästigten die „Eindringlinge unsere Mädchen“, sagte einer der unterzeichnenden Rabbiner der Internetzeitung Ynet. Und betonte, es müsse der Gefahr von „Mischehen“ vorgebeugt werden. 

Widerspruch kam bislang nur von der Stadträtin Yael Dayan, der Tochter des früheren Verteidigungs- und Außenministers Moshe Dayan. Sie bezeichnete die Kampagne von Babayof als „rassistisch und illegal“.

Babayof aber hat starke Verbündete. Unter anderem Eli Yishai höchstpersönlich. Dem Ressort des Innenministers der Shas-Partei obliegt die Gestaltung der Einwanderungspolitik. Eines der zentralen politischen Projekte des Ministers sieht vor, zwei Drittel der in Israel geborenen Kinder so genannter Fremdarbeiter in ihre „Herkunftsländer“ zu deportieren. Für nicht-jüdische Arbeitsmigranten weht zurzeit ein scharfer Wind in Israel. 

 

 

 

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Von wegen Meinungsfreiheit

Der Anfang Juli in Beirut verstorbene schiitische Großajatollah Mohammed Hussein Fadlallah hat uns über seinen Tod hinaus noch einige Lehren mit auf den Weg gegeben. Nicht zuletzt, dass es mit der Meinungsfreiheit auch im Westen nicht sehr weit her ist, wenn es um eine berühmte und umstrittene Figur wie Fadlallah geht. Zudem eine, welche die israelische, die amerikanische und die britische Regierung als „Erz-Terroristen“ gebrandmarkt haben.

Die amerikanisch-libanesische CNN-Nahost-Spezialistin Octavia Nasr hat ihr Tweet zu Fadlallahs Tod ihren Job gekostet. Die britische Botschafterin Francis Guy, die den Großajatollah in ihrem diplomatischen Blog aus Beirut würdigte, erhielt eine schroffe Rüge aus London. Ihr Blogeintrag wurde aus dem Netz verbannt. 

Nun kann man den beiden ausgezeichneten Nahostkennern keine Naivität vorwerfen. Vielleicht hätte Nasr nicht gerade einen Tweet mit 140 Zeichen-Begrenzung wählen sollen, um ihren Gefühlen über den Tod einer so komplexen Person wie Fadlallah Ausdruck zu verleihen. Dächte man auch nur einen kurzen Moment nach, könnte man darauf kommen, dass das nicht gut gehen kann. Andererseits wissen wir auch, wie hoch der Druck einiger großer Medienunternehmen auf ihre Mitarbeiter ist, vor allem im TV-Bereich, zu tweeten und zu bloggen. Bei manchen ist es schon Einstellungsvoraussetzung, hört man. Der Wahnsinn in dieser Welt hat viele Gesichter!

Beiden Äußerung zu Fadlallahs Tod ist eines gemein: Sie drückten Respekt für den verstorbenen schiitischen Großajatollah aus, der in vielen Medien weiterhin fälschlich als geistlicher Führer oder ehemaliger geistlicher Führer der Hisbollah beschrieben wird.  Das kann man sicher so nicht sagen, obwohl Fadlallah Sympathien und teilweise offene Unterstützung für einige politische Sichtweisen und Taten der Hisbollah geäußert hat und beide sicherlich den Kampf gegen Israel und eine feindliche Gesinnung gegenüber den USA teilten. Die einzig wirklich gut recherchierte Würdigung Fadlallahs, die ich gelesen habe, stand übrigens im US-Magazin Foreign Policy.

Octovia Nasr musste ihre 20jährige Karriere bei CNN beenden wegen des Satzes: Fadlallah ist einer der Hisbollah-Giganten, die ich sehr respektiere. Darauf erhielt sie sofort wütende Reaktionen, unter anderem vom Simon Wiesenthal Center in den USA, das sie aufforderte, sich sofort bei all jenen Hisbollah-Opfern zu entschuldigen, deren Angehörige ihre Trauer über den Tod des Hisbollah-Giganten nicht teilen könnten. Kurz darauf entschied CNN, dass Nasrs Glaubwürdigkeit kompromittiert war, obwohl sie sich entschuldigt hatte und ihren eigenen Tweet als Fehleinschätzung zurückgezogen hatte. So schnell kann eine Karriere zu Ende gehen. Das besorgniserregende daran ist – ganz egal ob man Octavia Nasrs Einschätzungen zum Nahen Osten teil oder nicht – dass sie für CNN unhaltbar wurde, obwohl ihre Vorgesetzten wussten, dass sie eine durchaus differenzierte Einstellung zu Fadlallah und zur Hisbollah hatte, die sie immerhin 20 Jahre lang über den Sender gebracht hatte.

Der Fall der britischen Botschafterin Francis Guy liegt ganz ähnlich – obwohl sie glücklicherweise nicht gleich aus Beirut abgezogen wurde und ich hoffe, das wird auch so bleiben. Denn sie gehört zu den großen Kennern der Region in der westlichen Botschafterclique hier, sie wohltuend ist ehrlich, aufrichtig und nicht immer so entsetzlich diplomatisch. Guy hatte in ihrem Blog geschrieben, der Tod des Ajatollahs habe den Libanon ärmer gemacht. „Wenn man ihn besuchte, konnte man sicher sein, eine ernsthafte und respektvolle Auseinandersetzung zu erleben und man wusste, dass man sich als bessere Person fühlen würde, wenn man ihn verließ. Das ist für mich der Effekt eines wirklichen religiösen Mannes, dass er einen tiefen Eindruck bei jedem hinterlässt, der ihn trifft, ganz egal welchen Glaubens diese Person ist.“ Ein Sprecher der israelischen Regierung schrie „Skandal“ und das britische Außenministerium wand sich in Schmerzen. Es sei eine persönliche Meinung gewesen, hieß es aus London, die nicht der Regierungseinschätzung entspreche. Während das Foreign Office Fadlallahs progressive Ansichten zu Frauenrechten und dem inter-religiösen Dialog begrüße, gebe es auch tiefe Meinungsverschiedenheiten, vor allem wegen seiner Befürwortung von Attacken gegen Israel. Guy schrieb einen Entschuldigungsblog, in dem sie ihre Äußerungen zu Fadlallah mutiger Weise nicht zurücknahm. Aber, in dem sie sich klar von jeder Form (sic!) des Terrorismus distanzierte und in dem sie bedauerte, dass sie möglicherweise die Gefühle einiger ihrer Leser verletzt habe. Das sei nicht ihre Absicht gewesen.

Was lernen wir daraus? Dass Meinungsfreiheit in unserer westlichen Welt bei manchen Themen ganz engen Grenzen unterworfen ist, selbst, wenn man sehr differenziert ist. Sympathie für einen umstrittenen Menschen, vor allem islamischen Glaubens, den Israel und die USA als Erz-Feind ausgemacht haben – sei das nun berechtigt oder unberechtigt – kann und darf man nicht ungestraft äußern. Solche Einschätzungen werden im Zweifelsfalle nicht einmal diskutiert. Wie im Falle Octavia Nasrs heißt es lieber gleich „Kopf ab“. Ob das der Kultur einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft, von der ich weiterhin träume, dient, wage ich zu bezweifeln.  

 

 

 

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Wetten, dass …

Sie wetten, wie schnell Krabben linksseitig in einen Kreis laufen, sie wetten auf Pferde, Hunde, Boxer, Würfel und zur Not die Flugrichtung der Fliege im Outbackpub  – Australier sind Weltmeister im Wetten. Im 21. Jahrhundert läuft das meiste Gewette natürlich online. Nicht ganz so romantisch wie einst Scheine wedelnd und mit Wettschein, but well. Aber wetten, dass Sie nicht wissen, worauf derzeit online und in anderen Wettbüros ebenfalls spekuliert wird? Ok. Hier kommt’s: Man setzt Geld auf den Termin der nächsten Wahl.

Nicht auf den Ausgang, das wär’ ja irgendwie noch sportlich. Gewettet wird, welchen TAG die neue Premierministerin Julia Gillard wohl für die Wahl festsetzen wird. Spannend was? Macht mir auch keinen echten Blutdruck, aber so isses. Irgendwo zwischen Cycling und Darts wird etwa bei sportingbet oder bei centrebet der Election date getippt. Theoretisch kann der übrigens an jedem möglichen Samstag bis 16. April 2011 sein. Nach der Entmachtung von Kevin Rudd im Juni wird aber gemunkelt, dass es eher früher als später an die Urnen geht. Nur $ 1,75 gibts daher pro Dollar, wenn man als Wahltag den letzten Augustsamstag vorhersagt. Für besonders unwahrscheinlich hält die Zockergemeinde den letzten Samstag im November (derzeit über 100 $ Gewinn pro Dollar). Ich wüsste ja zu gerne, ob die neue Staatschefin da auch ein paar Wetten laufen hat … 

 

 

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Kein Team kam aus China – aber Yingli, Kondome, Jabulani und Vuvuzelas

Die Weltmeisterschaft ist vorbei, wir werden das Vuvuzela-Getute aus dem Fernseher vermissen – aber noch gibt es aufregende Neuigkeiten im Nachklapp des Geschehens. Nicht nur, dass Thomas Müller bester Jungkicker des Turniers wurde. Auch aus China gibt es News: Das Land war zwar selbst nicht bei der WM dabei – jedenfalls nicht mit einem Team – aber irgendwie doch. Heute durften wir erfahren, dass das Land für die WM 100 Millionen Kondome nach Südafrika verschifft hat, wie die Beijing Evening News berichtet. Also hat China wenigstens ein bisschen dran verdient. Oder auch ein bisschen mehr.

Auch der WM-Ball Jabulani stammt, wen wunderts letztlich, aus einer Fabrik in China, die der Hongkonger Firma Longway gehört. Noch weniger überrascht es da, dass auch die allseits beliebten Vuvuzelas aus China stammen. Einfache Plastikwannen made in China finden sich in der ganzen Welt, und eine Vuvuzela ist ja irgendwie nichts anders als eine langgezogene Plastikwanne. 90 Prozent aller WM-Tröten kamen aus China, schreiben chinesiche Zeitungen, die meisten davon aus der Küstenprovinz Zhejiang, einer Hochburg privater Leichtindustriefabriken. Die Guangda Toy Factory – sonst ein harmloser Trillerpfeifenproduzent – etwa produzierte mehr als eine Million der Plastiktrompeten; und die Chefin glaubt fest an einen Post-WM-Boom. Ebenfalls über eine Million vertickte Jiying Plastic Products. Verdient haben daran aber vor allem Händler und Importeure, wenn man dem Chef, Wu Yijun, Glauben schenkt: Fabriken wie seine kriegten pro Tröte umgerechnet nur sieben bis 30 Cents. ‘Unsere Marge liegt bei unter 5 Prozent.’ Auch die Chinesen selbst rissen sich um die Vuvuzelas: Mehr als 400 Tröten-Shops gingen während der WM auf Chinas E-Bay-Pendant Taobao.com an den Start.

Sichtbar für alle war während der WM aber eine ganz andere Firma, und das bei jedem Match für volle acht Minuten: Yingli Solar – und das auch noch prominent platziert direkt neben ‘I’m loving it’ und dem großen gelben M. Der Solarzellenproduzent aus dem nordchinesischen Baoding ist die erste chinesische Firma, die jemals zum WM-Sponsor aufstieg. ‘Die WM ist eine sehr gute Plattform, die sofort unsere Marke in jedem potenziellen Markt weltweit bekannt macht’, freute sich Yingli-Vizepräsident Jason Liu. Womit er vielleicht sogar recht hat.

Wen stört es da schon, dass Chinas eigene Mannschaft da in der Qualifikation schmählich versagt hatte – sollte man denken. Doch weit gefehlt. In China möchte man kein männlicher Kicker sein. Die Fußball-Liga ist korrupt bis ins Mark, das Nationalteam nur selten beim Asien-Cup halbwegs erfolgreich. Chinesen betonen bei jeder Gelegenheit wie wenig das eigene Team tauge. Und das erst recht jetzt, wo sogar Nordkorea dabei war. Während der WM geisterten daher auch Vorschläge durchs Netz, die Mannschaft doch am besten gleich aufzulösen. Aber die nächste Chance kommt bestimmt: Nach der WM ist vor der WM.

 

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Multifunktionales Modestübchen

 

 

 

 

 

 

 

Vergangene Woche habe ich den neuen Londoner Laden, pardon, Palast von Louis Vuitton besichtigt. Habe mir bewusst die Zeit genommen und mich als Konsumentin aufsaugen und mitreißen lassen wie in einem Erlebnispark für exotische Luxus-Mutationen. Eine Geisterbahnfahrt mit gezückter Kreditkarte. Bis ich mir ein grobes Bild gemacht und alle Ecken und Winkel und VIP-Séparées gesehen hatte, war eine gute Stunde vergangen. Fazit: Bin ins letzte Fitzelchen der speziell gewebten Teppiche will man mich hier als Kundin vergessen lassen, dass ich mich im Grunde ja nur in einer Boutique befinde. Es ist eine “Maison für Kunst und Mode”! Und diese Inszenierung präsentiert sich dermaßen over the top, so agressiv und in den augen blendend, dass es einem die Luft nimmt. Wenn der Konsum der Teufel ist, ist dieses seine Stadtpalais. Und genau so wollte ich es schreiben!

Doch ich verließ den Tempel und war erleichtert. Mitnichten liegt hier der blutende Kopf der Kunst abgeschlagen auf dem Silbertablett. Ganz im Gegenteil wird Kunst endlich dort inszeniert, wo sie ohnehin längst zuhause ist: Mitten in der Statusphäre des internationalen Jet Set. Auf drei Etagen herrscht die Stimmung einer Kunstmesse, irgendwo zwischen Dubai und Düsseldorf, veranstaltet in der Prachtvilla eines Sammlers: Eine wandfüllende Arbeit von Gilbert and George hängt neben dem Eingang zu den Herrenumkleiden, zwei Murakamis in Millionenhöhe verzieren die Schmuckabteilung, wie Deko. Weiter oben warten Basquiat, Koons und Richard Prince. Selbst Kunstlaien, die Murakami für eine japanische Tagescrème halten, werden beim Verlassen der “Maison” denken: Das war ja aufregender als ein Museumsbesuch!

Und genau dieser Effekt ist dann doch etwas prekär, denn sollen die Konsumenten in Zukunft lieber Multifunktionsorte besuchen, in denen sie Kleider kaufen, Kinofilme sehen und Kunst gucken können? Das Luxusimperium Louis Vuitton hat zumindest die Kunstszene mit diversen Kollaborationen längst fest im Griff. Die Frage: Passt Ihnen die Größe? kann sich in der neuen “Maison” auf alles beziehen: Am Fuß, an der Hüfte, an der Wand. Und die fachliche Beratung bekommt man hier nicht mehr von charmanten Einzelhandelsprofis, sondern Spezialisten. Ehemaligen, erfolgreich abgeworbenen Mitarbeitern der Tate Gallery zum Beispiel, die einem neben Büchern im ersten Stock schicke Editionen von Anish Kapoor oder Chris Ofili in fünfstelligen Summen verkaufen. In den Regalen stehen schwere Künstlermonografien wie anregende Einrichtungskataloge, und plötzlich, ganz klein mittendrin, entdecke ich ein weißes Büchlein. Diederich Diederichsens Anwedung der Marxschen Theorie des Mehrwerts auf die zeitgenössische Kunst! Hat das da jemand vergessen? Guerilla-mäßig untergemischt? Leider nicht. Es steht natürlich ganz bewusst da. Und es ist defintiv das höchste Maß an inhaltlichem Sprengstoff, was man in diesem Luxus-Disneyland finden wird.

 

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Kriegsführung mit dem Rechenschieber

Seit sechs Wochen eskaliert der PKK-Krieg im Südosten der Türkei wieder dramatisch, mehr als hundert Menschen sind in dieser Zeitspanne getötet worden: türkische und kurdische Soldaten der türkischen Armee, kurdische Milizionäre der türkischen Republik, kurdische Guerrillakämpfer der PKK und auch einige Zivilisten – kurdische wie türkische.

In den Reihen der türkischen Armee sterben in diesem Krieg vor allem Wehrpflichtige von 19 oder 20 Jahren, die nach einem sechswöchigen Grundkurs an die gefährlichsten Außenposten im bergigen Konfliktgebiet geschickt werden. Der Generalstabschef sitzt sicher in Ankara und äußert sich in einem langatmigen Fernsehinterview so:

„Wir haben in den vergangenen 26 Jahren 30.000 Terroristen erledigt, 10.000 weitere wurden verletzt oder ergaben sich, das macht also 40.000. Die Truppenstärke der Organisation fluktuiert mit der Zeit, 6000 Mann sind es im Durchschnitt – der Höchsstand waren 10.000, derzeit sind es etwa 4000. Wenn wir den Durchschnitt von 6000 nehmen und die 30.000 dadurch teilen, dann ergibt das Fünf. Mathematisch gesehen haben wir die Terrororganisation PKK also in den letzten 26 Jahren schon fünfmal ausgelöscht. Das ist eine Tatsache.“

Noch während das Interview ausgestrahlt wurde, starben bei einem PKK-Angriff wieder drei junge Soldaten.

 

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