Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

“Mit fremden Augen”

 

Ausländische Reporter genießen in Israel kein hohes Ansehen. Zu unabhängig ist ihre Berichterstattung. Sie fahren nach Gaza und in die Westbank und berichten von der anderen Seite der Mauer. Das ist nicht im Interesse der israelischen Regierung, die alles in ihrer Macht stehende tut, damit Israelis und Palästinenser einander nicht wahrnehmen, einander nicht begegnen: Israelis dürfen die Städte des Westjordanlands nicht betreten, nach Gaza dürfen ohnehin nur noch Diplomaten, Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen und bei der israelischen Regierung akkreditierte Journalisten. So fällt das „othering“ leichter, das Kreieren eines Bildes vom Anderen als „Feind“, „Terrorist“ oder „Rassist“. Und umgekehrt dürfen nur handverlesene Bewohner des Westjordanlandes und des Gazastreifens nach langwierigen und unübersichtlichen Genehmigungsverfahren für kurze Zeit auf die israelische Seite. Solche zum Beispiel, die dringend eine medizinische Behandlung brauchen, die es nur in Israel gibt.

 

Ausländische Journalisten aber, die offiziell bei der israelischen Regierung akkreditiert sind, dürfen mit ihrem Pass und dem Ausweis des israelischen Presseamtes zwischen den Seiten hin- und herpendeln. Die Geschichten, die sie von der anderen, der auch für die israelischen Journalisten-Kollegen nicht zugänglichen Seite mitbringen, fließen in den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung über Israel in ihren Herkunftsländern ein. Und diesem Bild von Israel begegnen die reisefreudigen Israelis, wenn sie ihr Land verlassen. Die Leser, Hörer und Zuschauer in Frankreich, Italien und Deutschland konfrontieren die Israelis dann gerne unaufgefordert mit schlichten Theorien zur Lösung des Nahost-Konflikts. Und das geht vielen Israelis auf den Wecker.

Deshalb hat die israelische Regierung vor ein paar Wochen kurzerhand eine Kampagne zur Diskreditierung der ausländischen Presse gestartet. Sie hat die Bevölkerung aufgerufen, selbst aktiv dazu beizutragen, das Image Israels im Ausland zu verbessern. Auf der von der Regierung betriebenen Internetseite http://www.masbirim.gov.il/ ist zum Beispiel ein Video zu sehen, das eine französische Korrespondentin zeigt, die über schwere Gefechte in Israel berichtet, während im Hintergrund die prächtigsten Feuerwerke zu sehen sind. Ein anderes Filmchen zeigt einen britischen Reporter, der an der Seite eines Kamels durch den heißen Wüstensand stapft und mit Kennermiene erläutert, dass Kamele in Israel nach wie vor ein Haupt-Fortbewegungsmittel sind. Im Abspann heißt es dann jeweils: „Haben auch Sie genug davon, wie man uns im Ausland darstellt? Sie können dazu beitragen, das zu verändern!“

Die auflagenstärkste hebräische Tageszeitung, „Jedioth Achronoth“, hat inzwischen dagegen gehalten und eine umfangreiche Wochenend-Beilage herausgegeben. Auf 26 aufwändig gestalteten Seiten berichten neun Korrespondenten unter anderem aus Großbritannien, Italien, den USA, Frankreich und Deutschland vielseitig und kenntnisreich über ihre Arbeit in Israel und den Palästinensergebieten. „Mit fremden Augen“ lautet der Titel der Beilage. Es scheint, als traute die Redaktion des Massenblattes „Jedioth Achronoth“ ihren Lesern mehr kritisches Bewusstsein zu als den gewählten Volksvertretern lieb ist.

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Trinken, TV und ein Traktorschlauch

Vang Vieng ist eine südostasiatische Schönheit: Steile Karstberge ragen aus grünen Reisfeldern, es mäandert der Nam Song, Kinder fischen im Fluss, Reisfelder, Bambushütten, Wasserfälle. Schwer zu übertreffen der laotische Ort (Traum eines jeden Reisejournalisten) Wären da nicht die Besucher. Vor ein paar Jahren haben die 18- bis 28jährige “Traveller” aus aller Welt Vang Vieng entdeckt und zu ihrer Nr 1 Trink- und Partyzentrale gemacht.
Attraktionen: a) drinking b) tubing c) TVing.

Seither geht Vang Vieng so: Ein Veranstalter im Ort gibt Urlaubern in Badezeug gegen Mittag (bzw. nach dem Ausnüchtern) je einen aufgeblasenen Traktorreifenschlauch und bringt sie flussaufwärts. Dort werden sie in den Nam Song geworfen um im Reifen flussabwärts zu treiben. Das nennen sie tubing; tube: engl. = Schlauch, tubing = sich im Schlauch treibend die Kante geben. Denn weil im Fluss treiben durstig macht und weil Alkohol in Laos sehr billig ist, können sich die jungen Abenteurer unterwegs in Bucket-Bars erfrischen. Dort bekommen sie für 30 000 Kip (2,60 Euro) einen Eimer Hochprozentiges. Den trinken sie per Strohhalm. Wer 2 Eimer kauft, bekommt 1 umsonst, Whisky, bei 38 Grad im Schatten, nur dass es kaum Schatten gibt.

Wenn sie im Ort ankommen sind sie folglich nicht mehr so frisch. Daher lassen sie sich auf Party Island nieder, wo die Lautsprecheranlagen von fünf Bars einander open air beschallen und erholen sich bei ein paar Drinks. Dann geht es in die TV-Bars. Von denen gibt es an den 3 Haupt- und 2 Nebenstraßen etwa 50 bis 60 (nicht übertrieben): luftige Kneipen, in denen in Meditationspolster gelehnt alle Besucher tagein tagaus in die gleiche Richtung starren: auf einen der Fernseher (4 bis 5 pro Bar). Die zeigen in Endlosschleife Friends (Folgen einer amerikanische Vorabendserie mit Lachern aus der Dose). Besonders kecke Bars zeigen Zeichentrickserien, aber meist läuft Friends. Dazu trinken die verwegenen Weltentdecker Beerlao (0,65 Liter für 1 Euro), teilen noch ein paar buckets Whiskey und essen “happy” Pizzen.

Dann gehen sie ins Hostel. Und am nächsten Tag gleich in die TV-Bar, weil tubing waren sie ja nun schon. Nein, stopp, zwischendurch springen sie noch kurz ins Internetcafe und teilen ihren Facebookfriends mit, was sie so ‘erleben’, wichtig, dass alle Bescheid wissen. Oder sie skypen, weil sie leider (Beerlao) keine Fotos mehr hochladen können.

Dieses Gespräch einer jungen Irin durfte ich mitverfolgen (sie schrie so laut in den Schirm, dass schwer war diskret wegzuhören):

– “yea, so cool, so cheap – been tubing too”

– (Frage am anderen Ende)

– Not sure, called Vaengving or something like that.

– (Frage aus Dublin)

– Not sure, Asia somewhere. (Frage an den Computernachbarn): Hey, Sean, what’s this place called?

– (wieder in den Skype Schirm) Right, it’s called Laos, cool place, really, near Thailand, you better come over.

Am nächsten Tag bin ich weiter nach Norden gefahren. Der Rest von Laos ist nämlich weitgehend tubingfrei (schon dank der Dürre und der chinesischen Staudämme), und wirklich interressant, auch schön. Die Einheimischen in Vang Vieng allerdings taten mir noch länger leid. Sicher machen sie Geld, aber um welchen Preis? Und Tourismus war mir mal wieder peinlich. Aber wahrscheinlich werde ich nur alt und humorlos. Obwohl: Ich bin auch mit 21 nicht 9000 Kilometer geflogen und sehr lange Bus gefahren, nur um mich dann am Ziel vor einer amerikanischen Fersehserie mit billigem Bier zu betrinken. Glaube ich jedenfalls.

 

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Heute in Istanbul

Heute vor 806 Jahren wurde die Hagia Sophia von den Rittern des vierten Kreuzzuges geplündert.

 

Und heute morgen hat eine Nachhut von Störchen auf dem Weg nach Europa hier Rast gemacht.

 

 

 

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Der DJ auf Streife

 

 

 

 

 

 

 

Über vier Millionen Überwachungskameras haben Großbritannien rund um die Uhr im Blick. Das sind rund vierzehn Briten pro Kamera, und es ist reichlich Stoff für einen deftigen Psychothriller. Dabei wollen die Briten unser Mitleid gar nicht, sie sind stolz darauf, in einem Land zu leben, in dem weltweit die meisten Kameras installiert sind. Warum sollte sich also jemand aufregen über eine Kampagne, mit der momentan die gesamte Londoner U-Bahn tapeziert ist? ‘Last Night a DJ Saved My Life’ steht auf den Plakaten, eine offensichtliche Referenz an die Disco-Hymne, in sexy Layout, viel Schwarz, Pink, Neonröhrenschrift. Allerdings steckt hinter der Kampagne kein flotter MP3-Downloadanbieter, sondern die Londoner Polizei. Sie sucht freiwillige Helfer aus dem Volk.

Diese Kampagne spielt mit britischer Sicherheitsfanatik, mit Panik vor Terror und dem Wunsch des entfremdeten Londoners nach ein bisschen Macht. Aber vor allem ist diese Anzeige clever: Britische Behörden haben längst gelernt, dass man sich genauso raffiniert und effizient verkaufen muss wie die Gesellschaft, an die man heranwill: ‘Egal ob du in deinem Job Platten, Drinks oder Zement mischst: Hilfspolizist bei der Metropolitan Police ist das Sinnvollste, was man in seiner Freizeit machen kann.’ Mit blutleeren Beamtenfloskeln und schlechtem Layout wird man keinen Londoner aus seinem morgendlichen Stechschritt zur U-Bahn reißen.

Mindestens 25 Stunden im Monat können Augenärztin oder Wurstfachverkäufer nun nach Feierabend für ein bisschen weniger Kleinkriminalität in den Straßen sorgen. Zwar dürfen sie nicht verhaften, schießen oder schlagen, doch kontrollieren, informieren und als Dankeschön eine richtige Uniform tragen! Das Perfide dieses Aufrufes zur Komplizenschaft scheint zumindest die Briten nicht zu stören. Nicht einmal im Netz regt sich jemand über die Kampagne auf. Einen nicht minder schlauen Schachzug vollzieht die Steuerbehörde derzeit auf den Startseiten einiger Billigfluglinien. Ahnungslos öffnet man die Seite und entdeckt zwischen nervös zuckenden Preissturz-Anzeigen eine Werbung mit einer braungebrannten Blonden. Dazu die Info, wie viele Briten heimlich im Ausland in der Sonne leben, doch Sozialbezüge aus Britain einsacken. Feinste Hetze in Bild-Manier: Sie arbeiten hart und haben sich Ihren Urlaub verdient! Und diese Schmarotzer leben auf Staatskosten in der Sonne! Los! Verpetzen!

//

Die offizielle Seite, auf der man dann ganz legal Verpfeifen kann, ist an Spitzelkunst kaum zu übertreffen. Ein langes Onlineformular geht mit einer solchen Dreistigkeit ins Detail – Geburtsdatum, Adresse des Arbeitgebers, Autokennzeichen, Versichertennummer -, als sei man gerade im Begriff, seinen eigenen Schwager auszuliefern. Warum sich ausgerechnet eine Billigairline als perfekte Werbefläche für dieses Steuerproblem anbietet? Weil die Briten ihren Wohnsitz seit Jahren mit Vorliebe an französische und spanische Küsten verlegen und die Billiganbieter Ryanair, Easyjet und Co. wie ihre Lufttaxis nutzen, um bequem und schnell zwischen der alten und neuen Heimat hin- und herzufliegen. Werden auf der Behördenseite demnächst allerdings fleißig die Petzformulare ausgefüllt, dürften es bald einige Pendler weniger sein.

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Ohne Papiere, ohne Job – Tagelöhner in Los Angeles träumen vom besseren Leben

 

 

 

 

Ich war kurz vorm Nervenzusammenbruch – hatte viel zu tun bei der Arbeit, dazu Besuch der herumgefahren werden wollte und ich plante eine Reise nach Deutschland, die wegen der weit verstreuten Familie und Freunde eine logistische Höchstleistung erforderte. Weil ich mal wieder mehrere Sachen gleichzeitig erledigen wollte, schüttete ich mir dann auch noch Milchkaffee über den Laptop, der sofort seltsame Geräusche machte und sich bald weigerte, bestimmte Befehle auszuführen. Bevor ich komplett in Verzweiflung und Selbstmitleid versinken konnte, kam genau die richtige Geschichte, um mein Leid zu relativieren…

Für einen Bericht über illegale Einwanderer in den USA stellte ich mich morgens um sechs mit Tagelöhnern an eine Straßenecke in Los Angeles und fragte sie nach ihren Geschichten. Heraclio aus Mexiko berichtete von der Razzia, bei der er vor zwei Jahren verhaftet wurde. Seither kämpft er gegen seine Abschiebung. Seine Anwältin hat ihm geraten, nicht  zu arbeiten solange der Prozeß läuft, aber er weiß nicht, wie er ohne Arbeit seine Frau und zwei Töchter ernähren und das Zimmer bezahlen soll, dass sie sich mit einem Bruder teilen. Seine Kinder sind in den USA geboren und haben deshalb die US-Staatsbürgerschaft. Heraclio und seine Frau hoffen, dass sie eine gute Ausbildung und gut bezahlte Arbeit bekommen. Sie haben Angst, zurück in ihr Dorf in Mexiko geschickt zu werden. Candido aus Honduras erzählte mir, dass er vor drei Jahren seine Frau und drei Kinder zu Hause zurück gelassen hat und einem Schmuggler 6000 Dollar zahlte, um die Grenze zu überqueren. Auch er träumte von einem besseren Leben in Kalifornien. Doch statt wie gehofft, regelmässig Geld nach Hause zu schicken, kann der 31jährige selbst kaum überleben. Jeden Morgen steht er ab sechs Uhr in Malermontur an der selben Straßenecke, seit drei Wochen hat er keine Arbeit bekommen. Für einen Job, an dem er vier Tage arbeitete, hat er nie Geld gesehen. Der Auftraggeber versprach, den Lohn vorbeizubringen, ist aber nie wieder aufgetaucht. Candido hat Sehnsucht nach seiner Familie, sieht aber keine Möglichkeit, sie bald zu sehen. In seiner Heimat gibt es noch weniger und schlechter bezahlte Arbeit als in den USA und wenn er nur zu Besuch fahren wollte, müsste er wieder einem Schmuggler viel Geld bezahlen, um zurück nach Kalifornien zu kommen. 

Während wir redeten, hielt ein Auto am Straßenrand. Der Mann am Steuer wurde mit großen Jubelrufen empfangen, obwohl er keine Arbeit zu vergeben hatte. Wie jeden Tag brachte er um 9 Uhr 30 einen grossen Karton voller Donuts zu den Tagelöhnern. Die bestanden darauf, dass ich mir auch einen frischen zuckerbestreuten Teigkringel nehme, obwohl viele von ihnen nicht wussten, wovon sie sich und ihren Familien das nächste Essen bezahlen würden.

Die Tagelöhner hoffen auf eine Reform der Immigrationspolitik, auf Arbeitsgenehmigungen, die ihnen ermöglichen zwischen den USA und ihrer Heimat zu reisen. Von Präsident Obama sind sie enttäuscht, weil er im Wahlkampf versprach, sich für die Rechte der Einwanderer ohne Papiere einzusetzen und ihnen einen Weg zur Staatsbürgerschaft zu ermöglichen. Bisher gab es aber keine Entscheidung der US-Regierungen, die diese Versprechungen in die Realität umsetzen würde.

Zurück am Schreibtisch war ich ziemlich dankbar, dass ich Arbeit habe, Freunde aus Deutschland mich jederzeit besuchen können, ich die Reparatur meines Laptops bezahlen und – auch wenn es logistische Höchstleistungen erfordert – wann immer ich will zu meiner Familie nach Hause fliegen kann. 

 

 

 

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Elche, Träumer, Königskinder

Für die einen sind sie ein Symbol trauter Eintracht, für die anderen nur ein ärgerliches Hindernis: Kronprinzessin Victoria und ihr auserkorener Prinzgemahl Daniel Westling, die sich im königlichen Park Haga im Norden Stockholms das Nest für künftige  Familienfreuden bereiten. Der Park wurde von 1771 bis 1780 auf drei Inseln in Brunsviken nach eigenhändigen Skizzen des Künstlerkönigs Gustav III. zu einer idealen Naturlandschaft geformt und darauf kleine Brücken, Tempel, Pavillons und Kanäle verteilt. Doch bevor er die Pläne zu einem monumentalen Palast realisieren konnte, begegnete Gustav auf einem Maskenball 1792 seinem Mörder. Immerhin das bescheidene Schloss Haga wurde fertig. Hier wuchs König Carl XVI. Gustaf in den 40er Jahren vaterlos unter seinen Schwestern Margaretha, Birgitta,  Desirée und Christina auf. Fortan wurde das Gemäuer als Gästehaus der Regierung genutzt. Wo einst allerhand illustre Würdenträgern ihre müden Häupter betteten, sollen nach der Traumhochzeit im Juni die Thronfolgerin und ihr Gemahl einziehen. Hundehalter und Flaneure ärgern sich schon jetzt über den pompösen Eisenzaun, der im Park emporwächst.

Unterdessen polieren sie im Stockholmer Dom die Wappen der Edlen und das hölzerne Standbild des tapferen Georg, zu dessen Füßen sich der dänische Drache windet. Das mediale Großereignis beschert Storkyrkan eine Generalüberholung für umgerechnet 1,4 Millionen Euro. Mit immer neuen Alarmmeldungen aus der Welt der Schneider, Juweliere und Kuchenbäcker fiebert Svensk Damtidning dem Mittsommer entgegen. Und auch Johan Lindwall, Hofberichterstatter des Boulevardblatts Expressen müht sich verzweifelt, dem recht drögen Fitnesstrainer Daniel skandalöse Seiten abzuringen. Derweil setzt das öffentlich-rechtliche SVT auf Dauerberieselung: Die recht blonde Ebba von Sydow konfrontiert das ermüdende Publikum an jedem Montag mit allerhand Kuriositäten nordischer Blaublüter.  

Nur im schönen Ockelbo können sie ganz gelassen sein. Dort hat Viktoria im Juni letzten Jahres die Kälber „Embla“ und „Ask“ zur Welt gebracht. „Daniel weiß wirklich wie er die Damen zu nehmen hat“, schwärmt Lars Akesjö von seinem kapitalen Sechsender. In der nordschwedischen Heimat des Prinzgemahls betreibt der findige Schwede eine Elchfarm. Schon vor Jahren hat er den Rummel um die Hochzeit vorausgesehen und seine Jungelche nach dem Bernadotte-Spross und ihrem bürgerlichen Lover benannt.

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

BLOGGEN ODER NICHT BLOGGEN?

Es geschieht schnell. Ich meine, das mit dem Blogschreiben. Oder mit dem Nicht-Schreiben des Blogs. Den ganzen Monat tickt es im Hinterkopf „Am 1. des Monats bist du dran“ und „mach was Witziges“ und „Achtung! Bald ist es so weit“. Und dann ist, oh Wunder, wieder das Ende des Monats da und die ultimative Meldung im Hirn heißt: „Scheiße, du hast es vergessen“. Dann bricht Panik aus, die Finger fliegen auf der Tastatur und es ist gerade noch geschafft. Und warum das menschliche Wesen (in diesem Falle ich) alles in letzter Sekunde erledigen muss, das wird mir in diesem Leben ein Rätsel bleiben.

In diesem Monat haben alle Warnsysteme versagt. Blogschreiben? Schlicht vergessen. Und wenn nicht Ruth aus Tel Aviv per E-Mail gemahnt hätte („Wo bleiben die Blogschreiber?“)  hätte ich weiterhin sorglos die Ostertage mit meinen Freunden verlebt. Die aus allen Himmelsrichtungen nach Belgrad eingeschwebt sind.

Da war zuerst Bora Sajtinac aus Paris. Der geniale Zeichner, der jahrelang für DIE ZEIT und den STERN die deutsche Gegenwart beobachtet hat, bekam in Belgrad den Preis für sein Lebenswerk. Als wir über gestern und heute in einem Stadtcafé redeten, knipste ein Pressefotograf Boras verkehrte Welt: wir zwei Hübschen sind im Deckenspiegel zu sehen.

Dann kamen Emilija, Mirjana und Aaron und all die Tage haben wir viel gegessen, viel geredet, nett getrunken und Fotos vor der Kathedrale gemacht.

Meine Gäste waren genau das, was Belgrad suchte: Kurzreisende, die schön Geld in der Stadt lassen. Nur: als sie Belgrad von der Donau aus begucken wollten, immerhin 20 Euro pro Person hätten sie bezahlt, hieß es: Sorry, die Saison beginnt erst in einer Woche.

Wie clever. Dann sind alle Touristen weg.

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Lowtech aus dem Osternest

Während der Rest der Welt über den Launch des neuen iPad gestaunt hat, habe ich mir in Nairobi ein Stück vermeintliches Low Tech ins Osternest gelegt: einen Blackberry. Old school, höre ich die Leute schon sagen, zumindest ein iPhone hätte es an diesem denkwürdigen Wochenende doch sein müssen. Aber: in Afrika gehen die Uhren anders – und der Blackberry ist immer noch State of the Art. Zeit, ihn einzurichten, hatte ich freilich noch nicht, weil ein anderes Stück Low Tech meinen Ostersonntag ins Wanken brachte: Kenias antiquiertes Stromnetz. Das brach – wieder einmal ohne ersichtlichen Grund – zusammen, als ich gerade mit Stolz den Osterbraten in die Röhre geschoben hatte. Wer schon einmal versucht hat, einen Zwei-Kilo-Rinderbraten auf einer kleinen Gasflamme zu garen, weiß, was ich danach durchgemacht habe – und die Gäste, die am Abend bei Kerzenschein gute Miene zum gekochten Braten machten. Vorteil: ich musste nicht neidisch im Internet verfolgen, wie die Welt über den iPad schwärmte, der Kenia vermutlich erst in wenigen Jahren erreichen wird. Nachteil: mein Blackberry wartet noch auf seine Einrichtung. Sobald er läuft, werde ich versuchen, Abenteuerliches zu unternehmen: twitter-Feeds vom Handy (check it out: http://twitter.com/marcengelhardt). Höre ich jemanden ‘Low Tech’ stöhnen? See you in Africa.

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Pfannkuchen versüßen die Krise

Sich schnell auf geänderte Situationen einstellen zu können, ist eine der großen Qualitäten der Menschen auf Island. Früher, als noch fast jeder Fischer war (und das ist gar nicht so lange her), galt es schnell zu handeln, wenn das Wetter gerade richtig war, um auf Fang zu fahren. Daher rühre die Flexibilität, heißt es.

Etliche Isländer haben aufgrund der Krise ihr Konsumverhalten anpassen müssen. Die weiterhin stets gut gefüllten Bars erwecken nicht den Eindruck, als habe das beim Verzehr von Alkohol wirklich geklappt. Bei etlichen Dingen sieht es aber anders aus. Wegen des Verfalls der Krone werden Importe wo möglich durch auf Island produziertes ersetzt – Islandpullover kommen plötzlich auch außerhalb linksalternativ angehauchter deutscher Pädagogenkreise wieder in Mode und statt Basmatireis gibt es nicht nur auf Bauernhöfen Kartoffeln. Sparen muss ja nicht heißen, dass es sich wirklich schlecht lebt.

In den Cafés ist derzeit der Pfannkuchen wieder hoch im Kurs – ein Gebäck, dass es außerhalb des Kindergeburtstages in der jüngeren Vergangenheit nur selten zu sehen gab. Doch der Pfannkuchen ist leicht produziert und entsprechend preiswert: nur 100 Isländische Kronen pro Stück – keine 60 Cent! So lässt sich mit einfachen Mitteln die Krise versüßen. Warum auf Cantuccini zurück greifen? Weniger ausgeben, muss eben nicht immer heißen, wirklich verzichten zu müssen.

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Italien in Zeiten von Berlusconi, Teil 2

Ich blicke es einfach nicht! So meine  Reaktion auf die neusten Regionalwahlen in Italien, bei denen die Koalition um Berlusconi weitere Erfolge verbuchen konnte. Zwar musste auch seine „Partei der Freiheit“ Verluste hinnehmen, doch im großen und ganzen konnten der Kaiman – wie der Regisseur Nanni Moretti ihn nennt –  und vor allen Dingen seine Verbündete, die Lega Nord, sich als Gewinner präsentieren, weil sie in gleich in vier Regionen die bisher linken Regierungen ablösen konnten.

Dabei hätte ich schwören mögen, dass die neusten Skandale und die kaum camouflierten Lügen, mit denen sich Berlusconi schamlos immer wieder aus der Schlinge zieht, dieses Mal die Italiener eines Besseren belehren würden. Fernsehmonopol hin und her, es kann nicht sein, dass sie das Lügengespinst der Politiker nicht irgendwann durchschauen, hatte ich gedacht. Falsch. Natürlich. Wieder einmal. (Auch wenn ich mit erhobenem Haupt verkünden kann, dass ich in der Toskana lebe, in diesem  – immer noch – anderen Italien.)

Gestern dann, in einem Fernsehbericht über die Wahlen, habe ich verstanden, was zwischen mir und der Erkenntnis stand: der erhobene Zeigefinger meiner Eltern und meine Erziehung, die sich beide auf den Satz reduzieren lassen: sei redlich.

Der Grund für die späte Einsicht: Ein einfacher kleiner Nachsatz einer älteren Dame, Typ Mutter Beimer von der Lindenstraße. Gut gekleidet und gepflegt verteilte sie vor einem Wahllokal eifrig Flugblätter mit der Aufforderung, ihren strahlenden „Partei der Freiheit“-Helden Berlusconi zu wählen. Als ein Fernsehjournalist sie befragte, ob sie denn nicht wisse, dass so etwas am Wahltag verboten sei, schaute sie ihn spitzbübisch lächelnd an und sagte: „ Ja, natürlich“ und etwas später: „E chi se ne frega! Ich schere mich einen Teufel darum!“

Da, endlich  hatte ich es begriffen. Berlusconi sei Dank, kann auch die italienische Mutter Beimer endlich tun und lassen was sie will. Und mit ihr ein großer Teil der Italiener.

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Bagdads neue Freiheit

Die Maschine setzt in gleichmäßigem Flug zur Landung in Bagdad an. Vorbei sind die Zeiten, wo die Flughöhe bis über dem Flughafengelände beibehalten wurde und der Pilot dann spiralenförmig nach unten drehte. Dies war notwendig geworden, weil immer wieder Flugzeuge von den Aufständischen-Hochburgen Ramadi und Falludscha aus beschossen wurden. Flugzeuge, die aus dem Norden oder aus Jordanien die irakische Hauptstadt ansteuerten, waren besonders gefährdet. Für die Piloten war dies eine enorme Herausforderung. Aber auch für die Passagiere. Hatte man etwas gegessen, kam die Brechtüte zum Einsatz. Die weiche Landung lässt eine Verbesserung der Sicherheitslage erahnen. Und tatsächlich: Die Flughafenstraße sei jetzt eine der sichersten Straßen Bagdads, behauptet der Taxifahrer stolz. Nachdem in den schlimmsten Jahren des Terrors täglich bis zu zehn Sprengsätze am Straßenrand explodierten, herrscht derzeit fast Friedhofsruhe. Auch die Schilder an den amerikanischen Militärfahrzeugen, die die nachfolgenden Autos zum Abstandhalten aufforderten, sind verschwunden. Die Anschläge am Wahltag vor drei Wochen sind schon fast vergessen. Allerdings befürchten viele ein Wiederaufkeimen der Gewalt, sollte es nicht gelingen, die Fehden zwischen den Politikern beizulegen. Der noch amtierende Premierminister Nuri al-Maliki will das Wahlergebnis nicht anerkennen, das ihn knapp hinter seinem Rivalen, Ex-Premier Ijad Allawi ausweist.

 Bagdads Flughafen ist zweigeteilt, in einen zivilen und einen militärischen Teil. Während ich im Herbst 2004 mit einer der ersten kleinen Propellermaschinen auf dem damals noch komplett militärisch belagerten Airport landete und nur zwei Zivilmaschinen pro Tag abgefertigt wurden, sind es heute schon zehn Mal so viele. Mittlerweile fliegt Iraqi Airways in fast alle arabischen Nachbarstaaten. Die türkische Fluggesellschaft hat ein Stadtbüro in Bagdad eröffnet und bedient die Kunden in der schwer zerbombten Sadun-Straße. Auch Lufthansa plant, ab Herbst von Frankfurt nach Bagdad zu fliegen.

 Die Sadun-Straße führt am Ostufer des Tigris vom Firdous-Platz, wo am 9. April 2003 Saddams Bronzestatue vom Sockel gerissen wurde, zum Tahrir-Platz, dem Platz der Befreiung. Unzählige Anschläge haben die Straße zu einem Schlachtfeld verkommen lassen. Vor fast zwei Jahren, als der Terror seinen Höhepunkt erreichte, wurde das Viertel zur Geisterstadt. Alle Geschäfte waren geschlossen. Jetzt wird nahezu täglich ein Laden wieder eröffnet. Die Alkoholhändler sind als erste zurückgekommen. Auch nach Einbruch der Dunkelheit sind ihre kleinen Buden noch hell erleuchtet. Demonstrativ gehen die Menschen hinein und suchen sich die Flaschen aus. Befreiung hat viele Gesichter.

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Badische Backstub im Bom Bom Gym

Der lieben Bewegung wegen gehe ich seit kurzem manchmal in ein Sportstudio mit dem schrägen Namen Bom Bom Gym. Ich verlasse mein Bürogebäude durch den Hinterausgang und laufe zehn Minuten durch ein Armenviertel. An der Stelle, wo das Viertel langsam ins alte Kairoer Arbeiterviertel Boulaq Abul-Eila übergeht, befindet sich das Bom Bom Gym, nicht größer als zwei Wohnzimmer, mit ein paar einfachen Sportgeräten, die vielleicht in den dunklen Werkstätten des Armenviertels hergestellt wurden.

Natürlich gibt es keine Klimaanlage. Die Dusche ist auch nicht gerade ein Spa, und in der Toilette brennt kein Licht. Durch die Fenster zieht von der Straße der Dunst einer nahen Falafelbraterei. Alles sieht ein bisschen so aus, als würden im Bom Bom Gym die Kleinkriminellen der Nachbarschaft trainieren, für einen unschlagbaren Monatsbeitrag von umgerechnet acht Euro. Neulich hatte einer von ihnen ein gelbes T-Shirt mit dem deutschsprachigen Aufdruck »Badische Backstub – einfach besser…« an.

Er hatte es auf der Straße um die Ecke gekauft. In Boulaq gibt es Hunderte Straßenstände mit Billigklamotten á la Adidos und Wrengler und offensichtlich auch mit günstigen Werbe-T-Shirts. Vielleicht werden sie ja hier hergestellt. In dem Armenviertel gibt es Werkstätten aller Art, Druckereien, Bäckereien, Manufakturen für Plastikramsch etc. Neulich sah ich in solch einem Viertel, wie Halbwüchsige im Hinterhof eine selbstgebrühte braune Flüssigkeit in kleine Coca-Cola-Flaschen aus Glas abfüllten, die sie dann fachmännisch mit einem Kronkorken verschlossen. Seitdem bin ich vorsichtig, wenn ich beim Straßenhändler rasch eine Markenerfrischung kaufen möchte.

Diese Viertel sind ein Kosmos der Imitate und Täuschungen, in dem die Leute erfinderisch versuchen, ihre Welt mit jener in Übereinstimmung zu bringen, die ihnen das Satellitenfernsehen zeigt. Sie kriegen das ganz gut hin, wer will es ihnen verübeln.  Auf meinem Weg zurück vom Bom Bom Gym sehe ich, wie scharfkantig die Welten aufeinandertreffen. In der letzten langen Gasse des Armenviertels laufe ich auf mein Bürogebäude zu. Es ist Teil einer Hochhauszeile, hinter bzw. vor der das funkelnde Kairo beginnt. Auf der Vorderseite an der Nil-Promenade gibt es einen Radio-Shack-Laden mit modernster Heimelektronik, gleich südlich daneben das Hilton Ramses Cairo, 36 Stockwerke Luxus. In einem Kino kann man »Avatar« in 3D gucken. Das Ticket kostet so viel, wie ein Arbeiter in drei Tagen nicht verdient.

Ich laufe also – meistens nach Einbruch der Dunkelheit – direkt auf diese Hochhauszeile zu, zwischen den geduckten Katen des Armenviertels hindurch. Die Bürofenster in den Hochhäusern sind um diese Zeit alle dunkel. Die Gebäudezeile sieht aus wie eine riesige, trennende Kulissenwand. Nur am Lichtschein rund um die Rückseite der Neonreklametafeln auf den Dächern kann man erkennen, dass da vorn eine andere Welt existiert. Von hier hinten aus betrachtet erscheint einem die funkelnde Welt vorn wie eine künstliche Theaterdekoration, wie eine Täuschung, auch wenn es dort echte Produktoriginale gibt und keine Markenimitate, auch wenn die Welt dort einem vertraut vorkommt und nicht fremd, wie das Armenviertel hinter der Hochhauskulisse.

Denn drei von vier der 18 Millionen Kairoer, also die meisten, leben in einem jener ärmlichen Viertel – und nicht in dieser funkelnden Täuschung, die Kairo ja auch ist. Es kommt – wie immer – nur drauf an, von wo man guckt.

  VORN

 

HINTEN

 

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Sündenbock an der Gracht

Neulich hatte ich das Vergnügen, den Sündenbock kennenzulernen. Den echten, ursprünglichen Sündenbock. In einem denkmalgeschützten Grachtenhaus, malerisch an der Prinsengracht gelegen. Mit marmorverkleideten Wänden, hohen Kaminsimsen und knarzenden Böden. Mit wertvollen alten Stichen, Heiligenfiguren und religiösen Schriften. Das Prunkstück des Amsterdamer Bibelmuseums allerdings befindet sich ganz oben unterm Dach, im dritten Stock: Der Tabernakel von Leendert Schouten.

Dieser 1828 geborene Pfarrer aus Utrecht gilt als Gründer des Bibelmuseums. Sein ganzes Leben lang hat er begeistert religiöse Dokumente und Objekte gesammelt, um seine Gemeinde mit möglichst viel Hintergrundinformationen über die Bibel zu versorgen. Das ist bis heute so geblieben: In diesem Museum dreht sich alles um die Bibel. Der Tabernakel ist das kostbarste Ausstellungsstück: ein Modell des tragbaren Tempels, mit dem das Volk Israel 40 Jahre lang durch die Wüste zog. Eine Art von Zelt, in dem die zehn Gebotstafeln aufbewahrt wurden. Gott hatte Moses den Auftrag dazu gegeben, im Buch Exodus im Alten Testament wird das ganz genau beschrieben. 

Pfarrer Schouten hat sich beim Nachbauen des Tabernakels genau an die biblischen Beschreibungen gehalten: Auch sein gut 150 mal 50 Zentimeter grosses Modell ist ganz in Gold, Bronze, Silber und Akazienholz gehalten. Für den Brandopfer-Altar neben dem Tempel liess Schouten sogar Steine aus Jerusalem holen, vom Berg Moría. Und rundum den umzäunten Tempel herum lag einst Originalsand aus der Wüste Sinai.  Der wurde allerdings entfernt, dazu zieht es in diesem Museum zu sehr. Auch lässt sich der Tabernakel mit Sand schlecht abstauben. Schouten stellte ihn in seinem Pfarrhaus auf, sogar die königliche Familie kam und staunte. Er gilt als weltweit einzigartig. Was Rembrandts Nachtwache für die Malkunst ist, so die Museumsleitung voller Stolz, sei dieser Tabernakel für religiöse Kunst.

Rund um das Tempelzelt sind bunte Figuren aufgebaut, rund 25 Zentimeter gross. Während eines Klang- und Lichtspiels, das zehn Minuten dauert, erfährt der Museumsbesucher, dass es sich dabei um Gläubige und um eine Schar von Priestern mit dem Hohepriester handelt. Sie bereiten sich auf das jährliche Sühnefest vor, den Versöhnungstag. Die Priester stehen vor dem Brandaltar, auf dem gleich ein Tier geopfert werden soll. Rund um den Tabernakel sind Tierfiguren aufgebaut, Kühe, Schafe und Ziegen. Der ganz in Weiss gekleidete Hohepriester hat sich bereits zwei Tiere herausgesucht: Sie stehen rechts und links neben ihm: zwei kleine Ziegenböcke. Einer von ihnen trägt ein rotes Band um den Hals.

Der eine Ziegenbock soll auf dem Brandaltar geopfert werden, den anderen mit dem roten Band wird der Hohepriester in die Wüste schicken – allerdings nicht ohne ihm zuvor die Hand auf den Kopf gelegt zu haben. Auch das steht genau in der Bibel beschrieben. Mit dieser Geste lädt der Priester alle Sünden des Volkes Israel auf den kleinen Ziegenbock, sodass die Menschen einen Neuanfang machen können – unbeschwert, frei von Spannungen, Hassgefühlen und Sünden. Eine Gemeinschaft versucht, alle bösen Absichten, Sünden und schlechten Gedanken aus ihrer Mitte zu eliminieren, indem sie ein Tier damit belädt und wegschickt – und zwar in die Wüste, in ein Gebiet ohne Leben und voller Dämonen. Deshalb heisst dieses Ritual auf hebräisch auch ‚Azazel’, das bedeutet ‚wegschicken’ oder ‚weggehen lassen’. Auch ist ‚Azazel’ der Name eines Wüstendämons: Zu ihm wird der Ziegenbock anderen Gelehrten zufolge geschickt – um so die Sünde zu ihrem Ursprung zurück zu bringen: dem Teufel.

Es ist übrigens das einzige Mal, dass der Sündenbock in der Bibel auftaucht. Von einem roten Band ist dort allerdings nicht die Rede. Das wurde ihm erst später verpasst, um die beiden Ziegenböcke leichter auseinanderzuhalten.

Der wichtigste jährliche Festtag der Juden, Jom Kippur, erinnert noch heute an dieses Ritual, denn auch hier geht es um ein Versöhnungsfest – jedoch ohne Sündenbock. Auch mit der Beichte der Katholiken lässt es sich das Sündenbockritual nicht vergleichen, denn bei der Beichte geht es um ein individuelles Ritual, nicht um ein kollektives.

Doch auch wenn das Sündenbock-Ritual in seiner ursprünglichen Form nicht überlebt hat: Der Sündenbock selbst hat Karriere gemacht – allerdings im negativen Sinne. Denn heute verstehen wir unter einem „Sündenbock “ etwas ganz anderes als damals das Volk Israel. Das stellen auch die Schulklassen immer wieder verblüfft fest, die dem Bibelmuseum regelmässig einen Besuch abstatten und dabei auch beim Tabernakel Halt machen. Anfangs weiss keiner, was es mit dem kleinen Bock mit dem roten Band auf sich hat. Hinterher sind alle erstaunt: „Ein Sündenbock, das ist doch einer, der dauernd der lul ist“, wundert sich ein Schüler. Was sich vielleicht noch am höflichsten mit „Depp“ übersetzen lässt.

Recht hat er: Als Sündenbock gilt heutzutage ein Mensch, dem man die Schuld für sämtliche Fehler, Misserfolge oder sonstiges Konfliktpotential zuschiebt. Tatsächliche Schuld spielt dabei keine Rolle. Dieser Mensch bekommt alles ab, wird ausgestossen und geächtet und so beschädigt, dass er kein lebenswertes Leben mehr führen kann. Auch für eine Gesellschaft kann das desaströse Folgen haben.

Das ursprüngliche Sündenbockritual hingegen verhindert ja gerade, dass es so weit kommt. So manche Gesellschaft könnte es gut gebrauchen –  auch die niederländische: Ist sie doch gespaltener als je zuvor. Das hat der Erfolg des umstrittenen islamfeindlichen Politikers Geert Wilders bei den Kommunalwahlen Anfang März nur allzu deutlich gemacht. Wilders und seine Anhänger müssen sich vorwerfen lassen, ihre muslimischen Mitbürger zu stigmatisieren und kollektiv zum Sündenbock abzustempeln.

Im Bibelmuseum allerdings ist man sich sicher, dass es so weit nicht kommen wird: „Die niederländische Gesellschaft ist trotz allem noch stark genug, um sich davon nicht anstecken zu lassen“, meint eine Kustodin voller Zuversicht und drückt auf den Knopf, um das Klang- und Lichtspiel rund um den Sündenbock erneut zu starten. Die nächste Schulklasse rückt an. Man hört bereits unzählige schnelle Schritte auf der knarzenden Holztreppe.

 

 

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Pot bei Reverend Ike

Washington Heights hieß mal „Frankfurt on the Hudson“, weil dort so viele Einwanderer wohnten, die aus Deutschland kamen. Heute leben in dem Stadtteil im äußersten Norden Manhattans zu 85 Prozent Latinos, Immigranten aus Südamerika, vor allem aus der Dominikanischen Republik. Eine Attraktion dort ist das United Palace Theatre, eine Kirche, die mal ein Kino war. Dort wollten wir kürzlich ein Konzert der Allman Brothers besuchen, Kultband der 70er Jahre.

 

 

Vorher kehrten wir im Steakhouse „El Conde“ ein, das der Gegend alle Ehre macht: Die Speisekarte ist auf spanisch, große Fleischlappen werden auf einem Mus aus Kochbananen serviert, und die rund hundert Gäste machen so viel Krach, dass man die Hände zur Flüstertüte formen und seinen Gegenüber anbrüllen muss, um verstanden zu werden. Trotzdem gelang es uns, ein paar Worte mit unserem Tischnachbarn zu wechseln, dem blonden Ken aus New Jersey. Auch er wollte zum Konzert und fand den Auftakt schon mal sehr gelungen. „Great“, sagte er und deutete auf seine Grillplatte.

Das United Palace Theatre ist gleich auf der anderen Straßenseite, ein kurioser Prachtbau von 1928. Architekt Thomas Lamb hat sich von der spanischen Alhambra, indischen Schreinen und thailändischen Tempeln inspirieren lassen. Die New York Times nannte es einmal ein „delirious masterpiece“, ein verrücktes Meisterwerk. Innen sind die Wände überladen mit geschnitzten Löwen, Buddhas und Elefanten.

Ursprünglich ein Kino mit 3600 Sitzen, wird der skurrile Bau seit 1969 als Kirche genutzt. Jahrzehntelang predigte hier Reverend Frederick Eikerenkoetter, kurz Ike, und er erklärte seiner Gemeinde vor allem, wie man reich wird. So was ist in den USA relativ verbreitet und mehrt nicht zuletzt das Vermögen der Prediger. Doch vergangenen Sommer starb Reverend Ike. Seitdem fließen die Einnahmen wohl nicht mehr so reichlich, jedenfalls vermietet die Kirche das Gebäude jetzt als Konzertsaal.

Im Foyer versammelten sich hunderte von Althippies mit langen Haaren und Bikern in schwarzen Lederjacken. Sie kauten Popcorn, das sie von den „United Church Fundraisers“ erstanden hatten, und lasen die Lebensweisheiten von Reverend Ike, die zwischen den Buddhas und Elefanten an den Wänden stehen: „Es ist nett, wichtig zu sein, aber wichtiger ist es, nett zu sein.“ Oder: „Nichts ist so schlecht wie eine gute Entschuldigung.“ Zwischendurch holten sie Bier, das in kleinen Plastikbechern ausgeschenkt wurde, für stolze sieben Dollar. Eine Ausweiskontrolle, bei Konzerten in New York sonst äußerst streng gehandhabt, gab es nicht. Entweder waren die Gemeindemitglieder im Bierausschank unerfahren, oder sie wollten getreu der Lehren von Reverend Ike den Umsatz steigern.

Unsere Eintrittskarten hatten stattliche 60,99 Dollar pro Stück gekostet, doch die Plätze lagen ganz hinten im obersten Rang, vorletzte Reihe. Von dort aus sahen die Leute im Parkett aus wie Däumlinge. Immerhin war das Motiv des Bühnenvorhangs gut zu erkennen – riesige psychedelische Pilze. Um uns herum herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, weil die Leute ihren Biervorrat auffüllten. Außerdem hing ein verdächtig süßlicher Geruch in der Luft, wie bei Popkonzerten der 70er Jahre. Hatte die Hallendirektion der Klimaanlage ein Pot-Aroma beigefügt, der Nostalgie halber? Wenn es so war, wussten die Platzanweiser nichts davon. Sie brüllten mehrfach „No Smoking“ – vergebens.

Endlich hoben sich die psychedelischen Pilze und eine Gottesdienst-Bühne wurde sichtbar. Im Chorgestühl lümmelten sich Groupies und andere Ehrengäste. Als Gregg Allman endlich in die Gitarre griff, wurde klar, dass die Palast-PA möglicherweise für Gottesdienste geeignet ist, nicht jedoch für eine Rockband. Plötzlich waren wir froh, so weit hinten zu sitzen. Es war ein unglaublicher Klangbrei. Wir konnten nicht einmal erkennen, um was für Lieder es sich handelt. Dafür war es umso lauter. Um uns herum leerten sich die Sitze. Nach dem fünften Song gingen auch wir.

Unten im Foyer machte der Bierausschank Rekordumsätze. Falls Reverend Ike von seiner Wolke aus zusah, hat ihn das bestimmt gefreut. Wir holten uns auch eins und gesellten uns zu Ken, den Fan aus New Jersey. Er pulte sich erstmal Kleenex aus den Ohren, das er als Schallschutz benutzt hatte. Dann grinste er und sagte: „Was soll’s, immerhin kennen wir jetzt ein gutes dominikanisches Steakhouse“.

Foto: (c) wikimedia

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Kitkat und die Orang Utans

Ein Video auf youtube machte vergangene Woche die Runde unter Indonesiens Umweltschützern: Ein Büroangestellter der gelangweilt Papier vernichtet, gönnt sich eine Pause (Have a break?) mit Kitkat. Genüsslich beißt er in einen schokoladenbraunen Orang-Utan-Finger und besudelt sich dabei mit Blut. Das Video entstand im Zuge einer neuen Greenpeace-Kampagne gegen den Kitkat-Hersteller Nestle – neben Unilever, Cargill und ADM einer der größten Palmölverbraucher der Welt. Wie viele andere Produkte enthält Kitkat Palmöl, dessen Anbau wiederum als Hauptursache für die Abholzung der Regenwälder in Indonesien und Malaysia gilt. Nestle reagierte und trennte sich von seinem anrüchigen Lieferanten Sinar Mas, der in Indonesien riesige Waldflächen abholzen lässt, um Palmöl anzubauen. Nebenbei verschwand das anrüchige Video vorübergehend von youtube und war nur noch auf der Greenpeace-Website zu sehen.

Die Hoffnung, dass mit solchen Aktionen Indonesiens Regenwälder, immerhin die drittgrößten der Welt, gerettet werden, sind gering. Selbst wenn alle Nestle-Konsumenten in der westlichen Hemisphäre nur noch Produkte mit zertifiziertem Palmöl kaufen, bleiben immer noch die riesigen Märkte in China und Indien. Mit dem zunehmenden Bedarf an Biodiesel hoffen die Palmölproduzenten zudem auf eine stark ansteigende Nachfrage – und dehnen ihre Plantagen mit Zustimmung der indonesischen Regierung immer weiter aus. Kein Wunder: Die meisten Firmenbosse sitzen selbst auf hohen Regierungsposten.

Infolgedessen geht in keinem anderen Land der Welt die Abholzung des Urwaldes so schnell voran. Seit 2007 ist Indonesien der größte Palmölproduzent der Welt. Die Orang Utans sind nur eine Spezies, die dabei ihren Lebensraum verliert – tausende andere Arten, die Borneo, Sumatra und Papua bevölkern, sind dabei genauso bedroht. Dazu gehören auch die Bewohner dieser Inseln, die häufig mit Gewalt vertrieben werden und so nicht nur ihre Lebensgrundlage, sondern auch ihre traditionelle Kultur verlieren.

Ein Kitkat-Boykott allein reicht also kaum aus. Kaum ein Fertiggericht oder Kosmetikprodukt in unseren Supermärkten kommt heute noch ohne Palmöl aus. Mit den steigenden Biodieselquoten, steigt zusätzlich der Bedarf an dem billigen Rohmaterial. Trotz aller Bemühungen gibt es bislang so etwas wie nachhaltiges Palmöl nicht. Wenn eine Vorzeigeplantage in Sumatra etwa die europäischen Zertifikatsansprüche erfüllt, holzt eine Tochterfirma desselben Konzern garantiert mit dem erzielten Gewinn eine Waldfläche in Borneo oder Papua für neue – unzertifizierte – Plantagen ab. 

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Stewardess ohne Nasenhaare

Jeden Montag fliege ich nach Wellington. 45 Minuten, die manchmal so turbulent sind, dass nicht mal Getränke ausgeschenkt werden. Seit der letzten Enthüllung der „Sunday Star Times“ sehe ich das Leben an Bord mit völlig neuen Augen. Denn die Zeitung hat Einblick in das neueste Handbuch der Flugbegleiter von Air New Zealand bekommen. Und daher weiß ich, dass nichts, aber auch gar nichts in der Luft dem Zufall überlassen wird. Nicht mal der Name eines Brötchens. Oder die Beleidigung von Tonganern.

Die ‚Do‘ und ‚Don’t’-Liste für das Bordpersonal beginnt beim Gesicht: Kein „glitzernder, schimmernder Lidschatten im Disco-Stil“ ist erwünscht, auch blau und pink geht gar nicht. Haare zwischen den Augenbrauen sind gefälligst zu zupfen, der Körper täglich in der Dusche zu reinigen, und falls der Schweiß unter den Achseln gar nicht versiegen will, trage man dort bitte Einlagen. Mundspray hilft bei Knoblauchatem.

Tabu sind auffällige Strähnchen, lange Ponyfransen, Haarverlängerungen, Haargummis aus Frottee und Bärte (nur bei Piloten). Goatees müssen 1,5 Zentimeter neben dem Mund enden. Nasen- und Ohrenhaar sind zu stutzen. Stewards dürfen einen einzigen Armreif tragen, aber keinen einzigen Ohrring.

Beim Servieren gerade stehen und niemals ein Brötchen servieren und es dabei „bun“ nennen. Das könnte nämlich wie „bum“ (Hintern) klingen. Überhaupt ist auf kulturelle Empfindlichkeiten der Passagiere besondere Rücksicht zu nehmen. Koreaner erwarten gute Manieren und Geduld. Japaner wollen was zum Lesen haben und Wasser zum Essen. „Seien Sie nicht überrascht, wenn Sie eine Japanerin etwas fragen und der männliche Passagier antwortet“, erklärt das Handbuch. Fast so kompliziert ist es mit den Chinesen. Die vom Festland stellen sich nicht an, aber die aus Honkong können extrem zickig sein.

Besonders detailliert wird die Crew an die Bedienung der benachbarten Südseeinsulaner herangeführt. Samoaner sind froh, wenn man ihnen Wolldecken reicht, da sie aus einem warmen Klima kommen. Es ist nicht nötig, Bewohner des Inselstaates Tonga laut anzugehen, denn sie sind „ein sanft sprechendes, reserviertes Volk“. Vorsicht ist dennoch geboten. „Weil Alkohol an Bord umsonst ist, werden viele versuchen, die Bar leer zu trinken.“ Da viele junge Tonganer älter aussehen, als sie es sind, kann man beim Ausschank ruhig den Personalausweis verlangen – „sie fühlen sich nicht beleidigt“.

Von wegen. Tongas Reisende fühlen sich durch die detaillierte Gebrauchsanleitung sehr wohl beleidigt. Der Vorsitzende des Beratungsstabs von Tonga hat sich offiziell beschwert, dass Neuseelands größte Fluglinie seine Landsleute als „unkontrollierbare Alkoholiker“ darstelle. Alles ein Versehen, alles nicht so gemeint, entschuldigte sich Air New Zealand. Das Handbuch sei längst überarbeitet und entschärft worden. Wenn ich demnächst auf dem Flug nach Wellington von einem Steward bedient werde, der Disco-Lidschatten und Nasenhaar trägt, dann weiß ich, dass der Tonganer neben mir in Ruhe saufen darf.

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Pimp my Cappuccino – über die römische Kunst, Kaffee zu einem Kunstwerk zu machen

Früher konnte man in Deutschland Cappuccino trinken und sich dabei richtig italienisch fühlen: Man gehörte zur aufgeklärten Minderheit während der Rest des Landes, vor allem die Nachbarn und Kollegen, noch in der Höhle saßen und die Kaffeesahnefettaugen aus dem Filterkaffee fischten. Selbst als das Volk nachziehen wollte, war man noch meilenweit voraus: Gut, da stand dann mittlerweile vielleicht „Cappuccino“ auf der Speisekarte, aber was dann am Nachbartisch serviert wurde, war braune Brühe mit Schlagsahne. Man wusste nicht, ob man höhnisch lachen oder weinen sollte.

Jetzt ist alles anders! Vorbei! Längst schlürft man Cappuccino in jeder Finanzamtkantine und in jeder Kneipe nach dem „Strammen Max”. Das Italien-Gefühl ist dabei so groß wie beim Urlaub im Harz. Jeder der einen Pappbecher unter eine tosende Maschine halten kann, geriert sich als echt italienischer „Barista“, jeder der eine Tasse halten kann als Italiano. Es gibt keine Elite mehr, alle saufen becherweise so einwandfreien wie langweiligen Cappuccino. Doch Rettung kommt aus Rom.

Denn man muss einfach neue Tricks lernen, um sich zu unterscheiden von den anderen, und man findet sie hier: In jeder römischen Kaffeebar. Denn hier stehen keine Legehennen, die stumm ihren konformen Cappuccino erwarten, hier stehen mündige, phantasievolle Genießer. Die Römer rufen nicht einfach  „un Cappuccino, per favore!“ Nein, sie machen ihren Kaffee zum „ganz persönlichen Cappuccino“. Jetzt zum Beispiel, in der schönen Bar „Latteria“ im Borgo beim Petersdom: „Einen Cappuccino ohne Schaum” ruft da eine Dame,  „einen Cappuccino mit lauwarmer Milch” eine andere, ein Sonderwunsch jagt den anderen. Neudeutsch würde man sagen, die Leute „pimpen“ ihren Cappuccino, sie frisieren ihn wie einen Opel Manta: Das Auto macht man zum Unikat mit Fuchsschwanz, Sportlenkrad und aufgeklebten Feuerzungen, den Kaffee macht man einmalig, indem man ihn sich besonders heiß, kalt, lauwarm, stark, schwach, geschäumt oder flach bestellt. Natürlich machen das die Römer, weil ihnen eben genau so ihr Kaffee am besten schmeckt; aber sie haben diese Unterkategorien vor allem erfunden, um sich von uns Barbaren zu unterscheiden, die wir noch kürzlich Filtertüten auf den Kompost trugen und jetzt so tun, als hätte schon Bismarck beim Milchschäumen brilliert.

Natürlich habe ich diesen Tick der Römer, ihren Cappuccino von einem Getränk in ein Schmuckstück zu verwandeln, in völlig übertriebener Weise übernommen. Denn ich möchte hier wahnsinnig römisch wirken, um mich von all den verplanten Familien, verliebten Pärchen und verzückten Pilgern aus der Heimat zu unterscheiden, die meine Stadt besuchen. Gerade wenn Deutsche neben mir stehen, mach ichs besonders kompliziert. Die sagen schüchtern: „Un cappuccino per favore“. Und ich sag ganz locker:  „Un Cappuccino lungo senza schiuma con latte tiepida in tazza bollente”. Einen „verlängerten Cappuccino mit lauwarmer Milch aber ohne Schaum in heißer Tasse“. Das ist vielleicht übertrieben. Aber nur so kann man heute noch zeigen, dass man Profi ist.

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Abschied von AC/DC

Mal ehrlich, wann verlassen Sie für gewöhnlich einen Kinosaal? Gehören Sie zu jenen, die ihn fluchtartig vor den Massen verlassen, sobald James Bond zum letzten Kuss angesetzt hat? Oder halten Sie es auch mal etwas länger aus, vielleicht weil die Musik so klasse ist, während der Abspann läuft? Aber die Endlos-Namensliste, die nach jedem Film über die Leinwand flimmert, lesen Sie garantiert nicht. Wen interessiert schon, wer Meg Ryans Garderobe in Ordnung hält? Oder wer George Clooney die grauen Haare fönt? Eben, das interessiert gemeinhin keinen Mensch.

In Japan ist das anders. Da wird jede Minute im Filmtheater ausgekostet. Von den ersten Warnungen “Do not eat or drink!”, “Do not talk!” und “No trouble!” bis hin zum letzten Eintrag im Abspann. Und ich mein’ den letzten, den allerletzten Eintrag. Neulich, bei “New York, I love you”, saß das Publikum knapp fünf Minuten und ertrug die nicht enden wollende Namensliste mit totaler Ruhe (“Do not talk”) und ohne Fluchtversuch. Famos, diese Japaner.

Disziplin ist eben alles im Land der aufgehenden Sonne.  Das gilt auch für Rockkonzerte. Jüngst heizten AC/DC (ja, es gibt sie noch) in Tokio einigen Tausend Fans ein. Und was für paradiesische Zustände fanden die in die Jahre gekommenen Pioniere des Heavy-Metal vor: Ihre Kernarbeitszeit ging von 19 Uhr bis 21 Uhr! Danach wurde die Bühne schwarz, gingen die Zuschauer brav nach Hause und die Hardrocker vermutlich zum Entspannen ins heiße Onsenbad. Einen besseren Stundenlohn bekommen sie wohl nirgends auf der Welt. Klingt wie ein Aprilscherz, ist aber keiner. Selbst die wildeste Show muss ihre Grenzen haben. Und zwei Stunden ausgeflippt sein, das ist ja auch schon was.

Da lob ich mir doch das altehrwürdige Kabuki-Schauspiel. Auch wenn ich kein eingefleischter Fan dieses japanischen Kostümspektakels aus der Edo-Zeit bin, so bekomm’ ich doch wenigstens was für mein Geld. Vier Stunden dauert die Show und reden und essen darf man auch, denn jede Stunde gibt’s extra dafür eine Pause. Ein Fest für alle Sinne ist dieses Kabuki also. Sorry AC/DC, aber in Zukunft halt’ ich’s eher mit den dick geschminkten und prächtig kostümierten Herren der japanischen Schauspielzunft.

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Schadenfreude über die Krise

Die Statistik spricht eine eindeutige Sprache: Um etwa zehn Prozent sind die Besucherzahlen in Prag während eines Jahres zurückgegangen – brutal für eine Stadt, die in hohem Maße abhängig ist vom Tourismus und die bislang mit permanenten Wachstumsraten verwöhnt war. Seit den 90er Jahren sind jedes Jahr etliche neue Hotels eröffnet worden, allein im Luxus-Segment drängten innerhalb der vergangenen paar Jahre mehrere große Ketten nach Prag, von Kempinski über Rocco Forte bis zu Mandarin Oriental; zusätzlich zu den bestehenden Nobelhotels, versteht sich.

Der Zauber der Stadt erschien wie ein unerschöpfliches Kapital.

Wenn ich mit tschechischen Freunden spreche, können sich einige einer gewissen Schadenfreude über den momentanen Rückgang nicht erwehren. „Das kommt davon“, sagen sie dann – und erzählen von Vorfällen, in denen sie sich für ihre Stadt schämen. Dabei geht es nicht nur um die berüchtigten Taxifahrer, die für eine Kurzstrecke schon einmal 50 Euro abzocken. Es geht nicht nur um die Restaurants, die mit unsäglichem Service und schlechtem Essen nur auf eine völlig überzogene Rechnung hinarbeiten. Es geht auch um die immer neuen Tricks.

Mir erzählte ein Freund von den Ticket-Kontrolleuren am Flughafen. Kaum sei ein Bus mit neu gelandeten Passagieren ein paar Meter in Richtung Innenstadt angerollt, schon sprängen die Kontrolleure auf die vorzugsweise asiatischen Gäste, die übermüdet vom stundenlangen Flug noch nach dem Ticket-Entwerter suchen. Auf unflätigste Weise hätten die Kontrolleure die Touristen angeschrien, von jedem horrende Strafen verlangt, weil sie ohne gültigen Fahrschein unterwegs seien – und sich nicht einmal vom Protest einiger einheimischer Fahrgäste mäßigen lassen.

Prag, so schien es lange Zeit, könne sich alles erlauben. Gerade muss die Tourismusindustrie lernen, dass das nicht ganz stimmt. Manchmal kann ich die Schadenfreude meiner tschechischen Freunde gut verstehen – schließlich ist sie getragen von der Hoffnung, dass sich zumindest unter Druck endlich etwas bessert.

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Nahkampfzone H&M

 

Um sechs Uhr morgens brachten sich die Ersten in Stellung. Sie wollten ganz vorne dabei sein, wenn sich fünf Stunden später, an diesem historischen 11. März 2010, die Tore zum Tempel des schwedischen Billig-Chics öffnen würden, die Tore zum ersten H&M Flagship Store Israels. 2.000 Quadratmeter Europa, mitten in Tel Aviv, im dritten Stock des Azrieli Centers. 

Es ging nicht gerade vornehm zu an diesem 11. März im Azrieli Center. Die mitteleuropäischen Umgangsformen, die in Israel ohnehin eine prekäre Existenz fristen, wurden endgültig verabschiedet. Vor den Kleiderständern wurde geschubst, gestoßen, geboxt. An der Hauptkasse gab es mehrmals Tumult, es gab Wortgefechte und Handgemenge, Ohnmachten und Anfälle von Schwäche. Die israelischen Reporter beschrieben die H&M-Eröffnung als ein kriegerisches Ereignis, sie schrieben und sprachen von „Bombardement“, „Schlachtfeld“ und „Front“. Ihre Berichte über das kommerzielle Großereignis füllten am darauf folgenden Tag die Titelseiten der Zeitungen. Sogar Karl-Johan Persson, der CEO von H&M, der sich eigentlich hätte freuen müssen über die Kundenmassen am Eröffnungstag, war geschockt von dem Bild, das sich ihm bot. Er rief die israelischen Manager des Flagship Stores zu einer Dringlichkeits-Sitzung zusammen und fragte selbstkritisch, ob die PR-Kampagne im Vorfeld der Eröffnung vielleicht zu aggressiv gewesen sei. Über Wochen hatte H&M mit großflächigen Plakaten den Countdown bis zur Eröffnung zelebriert.

Während das israelische Innenministerium den Bau von 1600 neuen Wohneinheiten im Osten Jerusalems ankündigt und die israelisch-amerikanischen Beziehungen deshalb in eine ernste Krise geraten, Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ständig neue Bäume in jüdischen Siedlungen pflanzt, die israelische Regierung die Gräber Rahels und der Erzväter in Bethlehem und Hebron zu israelischem Nationalerbe erklärt und damit Unruhen in den Palästinensergebieten und Ost-Jerusalem provoziert, während Israels Regierung also weiter auf Konfrontations- und Isolationskurs fährt, blühen in der Bevölkerung Hedonismus und Konsumfreude. Die ganz normalen Israelis wollen nicht abgeschnitten sein von Europa und der Welt. Sie wollen H&M, GAP und Ikea. Das hat dieser 11. März 2010 gezeigt. Das Ergebnis des ersten Verkaufstags von H&M in Israel in Zahlen: 15.000 Kunden und 3 Millionen Schekel Umsatz, das sind knapp 600.000 Euro. 

(Foto: Titelseite der meist verkauften Tageszeitung Israels, Jedioth Achronoth, vom 12.3.2010; der Bericht über die H&M-Eröffnung findet sich auf der linken Seite in dem Kasten mit blauer Umrandung.) 

 

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Eine verlockend reale Fantasie

Normalerweise hätte ich an den Gedanken keine Sekunde verschwendet. Zumal das Angebot wohl auch nicht so ganz ernst gemeint war. Oder auf jeden Fall nicht selbstlos. Doch wenn man nach fast einem Jahr des Neuanfangs immer noch nicht viel mehr als zwei Dutzend Absagen und nicht eingelöste Versprechen in den Händen hält, könnte man glatt schwach werden. An Schönheit würde der potentielle Arbeitsplatz Berlin jedenfalls an nichts nachstehen, im Gegenteil. Bainbridge ist eine ruhige, grüne Insel vor den Toren Seattles, die Fähre über den Pudget Sound braucht gerade einmal 30 Minuten. Und wer so wohnt wie meine Schwiegereltern, der hat des Abends eine atemraubende Aussicht auf die Skyline der größten Stadt in Washington State (siehe Video für einen Blick aus dem Wohnzimmerfenster bei Dämmerung).

Die Arbeit selbst klang auch nicht allzu abstoßend. „In Uniform siehst Du bestimmt hinreißend aus“, flötete meine Schwiegermutter, die gerade zu Besuch ist, um Baby No. 2 endlich in die Arme zu schließen. „Der Aufenthaltsraum hat Kabelfernsehen – und das wirst Du auch brauchen“, sagte ihr Mann Bob mit einem schrägen Grinsen. Nix los sei schließlich auf der Insel, die vorwiegend von gesitteten Mittelständlern und betuchten Pensionären bewohnt wird. Ihm, der über 30 Jahre lang Verbrecher in den übelsten Gegenden Los Angeles´ jagte, wäre das viel zu langweilig. Aber den Mann seiner Tochter und Vater seiner Enkelkinder würde er natürlich nie einer echten Gefahr aussetzen. Also schwärmte Bob weiter: Ich könnte mich als Hundeführer ausbilden lassen. Oder als Fahrradpolizisten. Außerdem habe die Station gerade ein niegelnagelneues Boot bekommen, mit dem die Polizisten munter durch den Sound düsten: „Die Motoren voll aufgedreht.“

Wirklich hellhörig aber wurde ich, als meine lieben Schwiegereltern mit den nackten Zahlen rausrückten. Mit 75.000 Dollar Gehalt dürfte ich rechnen während der ersten fünf Monate auf der Polizeiakademie. Danach stiege es auf 85.000 Dollar und wenig später auf 100.000. Für meine Sprachkenntnisse gäbe es 5 Prozent obendrauf – und Überstunden zählen eh extra, wer will schon länger als von 8 bis 17 Uhr arbeiten. Nach 20 Jahren hätte ich Anspruch auf 40 Prozent meines Gehaltes als Rente, nach 25 immerhin auf 70. Selbst meinen Einwand, so alte Knacker wie mich (43) würden sie kaum noch nehmen, wiegelten beide im Chor ab: Vor nicht allzu langer Zeit sei jemand eingestellt worden, der genauso alt gewesen sei. No problem. Außerdem würden sie eh die richtigen Leute kennen. Connections, you know…

Meine Frau hörte sich unsere Konversation schweigend an und lächelte gequält. Sie kennt mich zu gut, um nicht zu merken, dass ich echtes Interesse an den Tag legte. Doch weder die Vorstellung, dass ich künftig als Polizist eine Zielscheibe für durchgeknallte amerikanische Waffenträger abgeben könnte behagte ihr, noch die langsam wachsende Hoffnung ihrer Eltern, die Familie bald ganz nahe bei sich zu haben. Also setzte ich dem Spuk mit einem übertriebenen Lachen ob der absurd paradiesischen Aussichten ein Ende und ging zurück an die Arbeit. Die dritte Fassung eines Interviews redigieren, an dem ich schon zwei Tage saß und das am Ende satte 100 Euro einbringen sollte. Vor Steuern und Rentenversicherung, versteht sich.

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Einbürgerung mit Schokolade

Letzte Woche wurden wir neuseeländische Staatsbürger. Dass mir das so nahe gehen würde, nach all dem elenden Papierkram – wer hätte das gedacht. Es war bewegend. Es war rührend. Es war ein Erlebnis, das sich nahtlos bei Einschulung, Führerschein, Trauung und Lottogewinn einreihen darf. Wo auf der Welt wird es einem so nett gemacht, wenn man den Doppelpass will?

133 Menschen bekamen ihren Sitzplatz in einem großen Saal zugewiesen und eine Broschüre in die Hand gedrückt. Aus der Liste darin entnahmen wir, dass wir Nr. 118, 119 und 120 waren und die einzigen Deutschen. Der Rest kam aus Samoa, Bahrain, Irak, England, Fidschi, Korea, Südafrika, Zimbabwe, Kanada, China, Indien, Russland, Taiwan, Sri Lanka, Malaysia, Holland, Äthiopien, Schweden, Tonga, Singapur, Irland, Rumänien, Amerika und den Philippinen.

Gemeinsam sprachen wir den Eid auf das neue Vaterland und die englische Königin. Da der Spruch mit „So wahr mir Gott helfe“ endet, gab es für die Nichtgläubigen das Ganze noch mal auf atheistisch. Dann trat eine Maori-Tanztruppe auf. Die sang sehr schön, auch wenn zwei Drittel der Darsteller schwer fettleibig waren. Nett, dass sie vor uns neuen Staatsbürgern auftraten und nicht vor Menschen, die noch um ihre Aufenthaltsgenehmigung kämpfen. Ein Bleibe-Visum bekommt man in Neuseeland nämlich nur, wenn man bei der Einwanderung einen Heidi-Klum-verdächtigen BMI hat. Dicke gibt’s offensichtlich schon genug im Land.

Wir wurden wie damals bei der Abifeier einzeln mit Namen aufgerufen, und zwar fehlerfrei. Nr. 11 war Mr. Koneferenisioletasiivafituono Falemoe aus Samoa. Nr. 126 Mrs. Samaraweera Gamaralalage Anuja Thusari Samaraweera. Für diese Zungenbrecher bekam der Ansager Zwischenapplaus. Der Bürgermeister überreichte jedem von uns seine Urkunde, ein Foto wurde geknipst, und als Gruß aus der neuen Heimat gab‘s ein Bäumchen zum Einpflanzen. Da unser jüngstes Kind ein geborener Kiwi ist, aber mit auf die Bühne durfte, machte der Bürgermeister einen kleinen Scherz. „Made in New Zealand“ sei der Junge, und dafür gab’s zwei Täfelchen Schokolade mit dem Schriftzug „Christchurch“. Wie reizend!

Immer und immer wieder betonte der Bürgermeister, wie glücklich er sei, dass wir Menschen aus den fernen Ländern jetzt hier seien. Er strahlte uns an. „Wir wollen feiern, was Sie aus ihren Kulturen mitbringen! Sie bereichern unsere Stadt und unser Land mit Ihrer Herkunft.“ Da ging uns das Herz auf. Ich blieb meiner Herkunft treu und wies einen Mitarbeiter der Stadtverwaltung darauf hin, dass das Datum auf den Broschüren falsch gedruckt war – nicht März 2009, sondern 2010 müsste es heißen. Das hatte ihm außer mir noch niemand gesagt. Ich machte meiner deutschen Besserwisserkultur alle Ehre.

Zum Schluss sangen wir die Nationalhymne auf Maori. Der Bürgermeister lud uns zu Schnittchen und Gebäck in den Nebensaal ein. Freunde schenkten uns einen Gabenkorb mit Marmite, Speights-Bier, Nivea-Creme und Tchibo-Kaffee. Ach, ich könnte es glatt noch mal machen.

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Italien zu Zeiten von Berlusconi

 

                                                            

 

 

 

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Wo Eremiten in wohlbeheizten Höhlen hausen

Wir waren auf Abenteuer aus und wollten uns nach tagelanger Schreibtischarbeit noch mal so richtig austoben. Kein besserer Ort als das tief zerklüftete Kadisha-Tal im Norden des Libanon, wo einem die steilen Abstiege fast ebenso viel abverlangen wie die fast senkrechten Aufstiege. Dank sei dem Erfinder der Teleskopstöcke ohne die das – zumindest für mich – kaum zu

schaffen gewesen wäre. Im Talgrund rauschen kleine Gebirgsflüsse und an den teils felsigen, teils bewachsenen Steilhängen befinden sich so viele Höhlen und Klöster wie sonst nirgends in diesem Land.

„Kadisha“ kommt aus dem Aramäischen und heißt heilig. Heilig ist das Hochtal vor allem den Maroniten. Denn die haben hier, unterhalb der ehemaligen Zedernwälder, von denen jetzt nur noch eine Art Zedern-Disney-Park übrig ist, seit dem Ende des 7. Jahrhunderts Zuflucht gesucht. Noch heute bestehen hier wichtige Klöster: Das Kannubin-Kloster wurde im 15. Jahrhundert für 500 Jahre Sitz des maronitischen Patriarchen, der immer noch die Politik im Zedernstaat mitbestimmt. Das Sankt Antonius-Kloster schmückt sich unter anderem damit, die älteste Druckerpresse im Nahen Osten aus dem 16. Jahrhundert zu beherbergen.

Ausgestattet mit genügend Wasser und Proviant für ein ausgedehntes Picknick zogen wir frühmorgens zu unserer sechsstündigen Wanderung los. Georges, ein Sportlehrer und Wanderführer aus einem kleinen Bergdorf in der Nähe, zeigt uns den Weg, teils auf erkennbaren Pfaden, teils aber auch über Geröll oder quer durch die Büsche. Denn das ist eines der Charakteristika des Lebanon Mountain Trail, einem Höhenwanderweg vom äußersten Norden bis in den Süden des Libanon, dessen 7. Etappe wir vor uns hatten: Man muss die Wege schon kennen, sonst ist man verloren. Irgendwie wollen die lokalen Ortkundigen schließlich ihr Geld verdienen. Insofern hat man vom Ausbau der Wanderwege beziehungsweise ihrer genauen Markierung weitgehend Abstand genommen.

 

Die Bäche murmeln viel versprechend, ein leichter Wind rauscht durch die Bäume, Vögel zwitschern, auf dem Waldboden und in den Wiesen blühen wilde Annemonen, Veilchen und Kamillenblumen. Purer Genuss! Vor allem wenn man aus dem lauten und hektischen Beirut kommt. Die zahlreichen Mönche und Nonnen, die sich hier niedergelassen haben, haben eine gute Wahl getroffen. Daneben gibt es allerdings noch ein paar andere heilige Männer, die man in Europa eher selten antrifft: Eremiten.

Nach einem besonders steilen Anstieg treten wir durch ein eisernes Tor. Dahinter befinden sich auf dem Steilhang abgetrotzten Erdterrassen ein paar Obstbäume sowie Tomaten und Kartoffelpflanzen. Nur ein paar in den Fels gehauene Stufen trennen uns nun von der winzigen Wohnstätte des kolumbianischen Einsiedlers Paolo Escobar. An seiner Tür steht auf Arabisch: Bitte nicht stören, ich meditiere. Also treten wir durch ein knarrendes Tor in eine kleine Kapelle. Dass es hier nach Weihrauch riecht, hätte ich fast erwartet. Aber dass mir hier warme Heizungsluft entgegenschlägt, das hat mich dann doch überrascht.

Nun darf man natürlich fragen, warum sollte sich ein Eremit im Winter die Finger abfrieren, ist ja auch nur ein Mensch. Aber diese beiden elektrischen Heizkörper an jedem Ende der Kapelle haben mich doch verdutzt. In einer Ecke, nahe der Heizung versteht sich, steht Escobars Schreibtisch mit diversen Leselampen, zahlreichen Büchern und Notizblöcken. Hier studiert er also. Böse Zungen behaupten sogar, der 75jährige Kolumbianer habe in seiner Bleibe einen Laptop versteckt, von dem aus er ein kleines Drogenimperium leite. Aber das glaube ich nicht.

Der freundliche Mann in brauner Kutte, dessen langer Bart zittert, wenn er redet, schüttelt uns wenig später draußen die Hände und heißt uns willkommen. „Für mich ist dies das Paradies“, sagt er mit einem schelmischen Lächeln. Er sei hierher gekommen, um in Stille zu arbeiten und Gott nahe zu sein. „Normalerweise rede ich mit niemandem, aber heute mache ich eine Ausnahme.“ Wie oft er diese Ausnahme macht, möchte ich nicht wissen. Aber lieber ein freundlicher Eremit als ein verknöcherter. Angesichts der Tatsache, dass er da oben in den Bergen Strom und eine gut beheizte Höhle mit einer traumhaften Aussicht hat, könnte ich mir sogar einen (sehr) befristeten Wohnungstausch vorstellen. Bei den Büchern hätte ich wahrscheinlich andere Präferenzen. Aber ich habe mich nicht getraut, ihm das vorzuschlagen.  

 

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

In den Wartezimmern der Welt

Letzte Woche war es mal wieder soweit: Höchste Zeit, die Aufenthalterlaubnis verlängern zu lassen – ein alljährlicher Spießrutenlauf, den man gerne aufschiebt bis zum letzten Moment.

Immerhin vergibt die Ausländerpolizei neuerdings Termine, um die kilometerlangen Warteschlangen zu verkürzen. Genützt hat unser Termin um 14.45 Uhr dann aber nicht viel, denn die Kasse, an der die Verwaltungsgebühr zu entrichten ist, schließt um 14.30 Uhr, so dass man ohnehin am nächsten Morgen wiederkommen muss.

Egal, bisher hat sowieso noch nie jemand auf Anhieb alle erforderlichen Papiere beibringen können. Uns wäre es jetzt – bei der dreizehnten Verlängerung – zwar fast gelungen, doch seit dem Vorjahr hat man sich mal wieder etwas Neues einfallen lassen: Damit auch unsere zehnjährige Tochter weiter in dem Land bleiben darf, in dem sie geboren ist, müssen wir jetzt eine eidesstattliche Versicherung beifügen, dass wir für die Dauer ihres Aufenthalts in der Türkei für ihre „Speisung und Tränkung“ aufkommen werden.

Nun gut, was tut man nicht alles für eine Aufenthaltsgenehmigung – aber halt, so einfach ist das nicht: Der Schwur muss notariell beglaubigt werden, und jetzt wird es kompliziert. Denn der Notar will einen gültigen Ausweis sehen, bevor er uns den Schwur abnimmt, und ein deutscher Reisepass tut es da nicht. Auch der türkische Presseausweis reicht nicht, obwohl er vom Ministerpräsidentenamt ausgestellt und mit allerlei Siegeln verziert ist. Nein, nur eine gültige Aufenthaltserlaubnis der Türkischen Republik darf es sein, wenn einem Ausländer der Eid abgenommen werden soll. Aber unsere Aufenthaltserlaubnis ist leider abgelaufen, darum brauchen wir ja die eidesstattliche Versicherung…

Lästig, nervenaufreibend und zeitraubend ist das alles natürlich, zumal ich mir im multinationalen Gedränge auf den winterlichen Fluren der Ausländerpolizei auch mal wieder eine Grippe eingefangen habe. Aufregen kann ich mich über den bürokratischen Hürdenlauf aber nicht. Schließlich weiß ich, was türkische Staatsbürger schon für ein Gerenne haben, um nur ein Visum für Deutschland zu bekommen. Was für eine deutsche Aufenthaltsgenehmigung zu erdulden ist, kann ich nur dunkel ahnen. In einem deutschen Ratgeber für aufenthaltswillige Ausländer heißt es jedenfalls: „Bereiten Sie sich auf umfangreiche bürokratische Regelungen und lange Wartezeiten vor.“

 

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Die Kunst und der Hunger

Kate Moss spricht nicht gern. Doch ihre kürzliche Einsicht muss der Modewelt auf der Zunge zergangen sein wie Zero-Zucker-fat-free-Bonbons: “Kein Essen ist so gut wie das Gefühl, dünn zu sein.” Dabei hatte sich die britische Modepresse in den letzten Monaten so enthusiastisch darum bemüht, üppige Starlets zu den neuen Rollenmodellen des realen Lebens zu küren. Auf der ersten Ausgabe des Magazins Love, entwickelt von Englands legendärster Stylistin Katie Grand, erschien die sehr kurvige Gossip-Frontfrau Beth Ditto auf ihrem Cover, als Manifest wahrer Schönheit.

Ein Jahr später kehrt man auch bei Love nüchtern zurück zum wahren Kerngeschäft. Titelgeschichte: “Die schönsten Frauen der Erde ziehen sich aus und sagen uns, wie sich das anfühlt.” Zu sehen ist eine Armee aus fettfreien 1,80 Meter großen Wesen, die in brutalster Helmut-Newton-Manier mit rasierter Scham und auf Killerheels ihre grotesk perfekte Nacktheit präsentieren. Eigentlich ist es fast heilsam. Denn endlich schaut man wieder ungefiltert in den hungrigen Schlund der Modeindustrie. Niemand wollte jemals normale Frauen, sie passten der Industrie nur gerade gut ins Konzept von neuer Bescheidenheit während der saftlosen Krisenmonate. Doch Teenager mit Armen wie Trommelstöcke sind wieder da; und um die damit zu erwartenden Angriffe abzuwehren, hält das ein oder andere Magazin gern die Autonomie von Kunst wie ein Schutzschild vor sich.

//

So wurden für die aktuelle Ausgabe der Londoner Hochglanzfibel Pop, inzwischen geleitet von Roman Abramowitschs Model-Mode-Kunst-Freundin Dasha Zhukova, Künstlersenioren wie Allen Jones oder Richard Prince eingespannt, die sich in der Welt aus Model-Karteikarten scheinbar bedienen durften wie im Bonbonbladen. Für das Cover fotografierte Prince nun ein Mädchen, das laut ihrem Pass 22 ist. Sie steht breitbeinig auf einer Höllenmaschine, trägt einen winzigen Bikerfetzen und sieht aus wie zwölf. Neben das Bild hat Meister Prince sein Autogramm gesetzt, begleitet von den Worten “Bang Bang”. Sexualisierung? Das ist Kunst! Pop-Art-Comic-Versätze à la Rauschenberg!

Diese Kollaboration von Prince und Pop soll provozieren, doch sie ist nur peinlich. Im vergangenen Jahr wurde eine Arbeit von Richard Prince, die Abbildung der nackten, zehnjährigen Brooke Shields, aus einer Ausstellung in der Tate Modern entfernt. Daraufhin, so wirkt es, versucht sich Pop nun in der Rolle des aufgeschlossenen Kunstförderers. Richard, wenn der Whitecube zu feige ist, kannst du dich zumindest in der Modewelt austoben! Wir stellen dir sogar das Material!

//

Doch im Gegensatz zur Tate geht Pop nicht das geringste Risiko ein und schummelt sich mit Hilfe von Photoshop und anderen Spielereien an der möglichen Zensur relativ dreist vorbei: Das Coverfoto mit Motorrad ist noch einmal im Heft zu sehen, doch auf dieser Version blitzt plötzlich der kindliche Schambereich des Models hervor. Zumindest glaubt man das, richtig erkennbar ist es nicht, denn das Bild wurde bewusst auf die Größe von zwei Briefmarken geschrumpft. Auf dem Cover ist dieses winzige Detail scheinheilig und dank Photoshop auf einmal verschwunden. Was bleibt, ist der an sich schon irritierende Anblick eines 40-Kilogramm-Mädchens. Kein Essen ist so gut wie das Gefühl, dünn zu sein.

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Ich bin Brasilianerin, ich gebe nie auf

Am Sonntag kosten die Bustickets hier im Großraum Recife nur den halben Preis, deswegen ist Sonntag Volkswandertag. Die meisten fahren an den Strand, manche vergnügen sich auch in vollklimatisierten Shopping Malls. Es gibt noch eine dritte Gruppe, die jeden Sonntag unterwegs ist. Sie besteht vor allem aus Frauen. Mütter, Schwestern, Ehefrauen, die mit großen Picknicktaschen schon in aller Frühe aufbrechen: Sonntag ist Besuchstag in Pernambucos Gefängnissen.

Letztens bin ich mit gefahren. Weil mir eine Freundin so viele Geschichten erzählt hat. Von den Vier-Mann-Zellen, die mit 20 belegt sind, und den anderen, die auf den Fluren nächtigen müssen. Von den „Capos“, die Einzelzellen vermieten und anderen, die an Besuchstagen im Hof aus Bettlaken Zelte improvisieren, die ebenfalls vermietet werden. Wie einmal ein spielendes Kind ein solches Laken runtergezupft hat und dahinter ein splitterfasernacktes Paar gerade voll bei der Sache war – illegal, denn Intimbesuche sind nur mittwochs gestattet. Wie am Eingang die Besucherinnen sogar das Höschen runter lassen müssen, damit sie ja keine Drogen einschmuggeln, drinnen aber Crack-Steine offen über die Tische verschoben werden. Und dass auch nicht-verwandte Frauen besuchen dürfen.

Also bin ich am Vorabend schon in die Kreisstadt gefahren, um von dort den ersten Bus zu nehmen, bin um drei Uhr nachts aufgestanden und um halb vier mit den anderen zum Busbahnhof gewankt. Normale Busse sind sonntags um vier Uhr morgens leer. So können wir noch eine Weile dösen, bis wir in den ersten fahlen Lichtstrahlen in Recife ankommen. Am nächsten Umsteige-Busbahnhof ist dann gleich zu erkennen, wo es weiter geht: an der Haltestelle des Gefängnisbusses hat sich bereits eine lange Schlange gebildet. Wir drängen uns zwischen alten Mütterchen, tätowierten Minirockträgerinnen und allen nur denkbaren Varianten Frauen in den Bus, schwanken eine weitere halbe Stunde durch einsamer werdende Straßen und kommen an im Centro de Triagem Professor Everardo Luna.

Es ist sechs Uhr morgens, die Sonne deutet erst an, zu welcher Kraft sie sich in den nächsten Stunden steigern wird, und die Schlange vor dem Untersuchungsgefängnis ist bereits mehrere Hundert Personen lang. Tatsächlich sind es vier Schlangen: die längste ist unsere, in der Frauen mit Gepäck stehen. Auch ein Alupäckchen mit Essen ist Gepäck. Die anderen Schlangen sind kürzer und für Frauen ohne Gepäck, für solche mit kleinen Kindern, für über 65-Jährige sowie eine für Männer. Die warten auf gut Glück, denn selten dürfen an einem Sonntag alle wartenden Männer hinein, nach nur Verwaltungsangestelltem bekannten Regeln wird jeweils für den aktuellen Sonntag eine Höchstzahl festgelegt, die am nächsten Sonntag schon nicht mehr bindend ist. Auch sonst gibt es allerlei Regeln. Männer dürfen kein Schwarz tragen, Frauen weder kurze Röcke und Shorts, noch zu tief ausgeschnittene oder rückenfreie Oberteile. „Lächerlich“, sagt eine, „kaum sind sie drinnen, duschen die meisten und laufen dann in den Boxershorts ihres Mannes rum“. Für alle Fälle gibt es an mehreren Ständen, die neben der Warteschlange aufgebaut sind, dezente Hosen, Röcke, Blusen oder Jäckchen zu kaufen und zu mieten.

Überhaupt ist hier einiges geboten. Da weder Handys, noch Fotoapparate mit hineingenommen werden dürfen, ist eine Gepäckaufbewahrung organisiert, die umgerechnet 40 Cent kostet, komplett auf Vertrauen beruht und hervorragend funktioniert: die Habseligkeiten werden erst in eine Plastiktüte und dann in eine leere Kühlbox gestopft, bis die Besitzerin wieder nach Hause will. Da die Sonne schon um sieben empfindlich brennt, und sich in der Folge nur noch weiter steigert, sind auch Schirmmützen, Sonnenmilch und Sonnenschirme im Angebot. Und natürlich Snacks vom Wurstbrot bis zur frittierten Pastete, Zuckerrohrsaft, Kokoswasser oder Bier für die härteren Kandidatinnen. Auf die sicher hoch lukrative Idee, Klapphocker zu vermieten, ist noch niemand gekommen. Also hocken sich die Wartenden auf Ziegelsteine von einer nahen Baustelle, auf Kartonfetzen von einem nahen Müllhaufen, auf leere Plastiktüten oder Stücke Stoff, lehnen die Rücken aneinander und nehmen die Sonne ergeben hin.

Aus einem Kombi dröhnt Musik der Evangelikalen und kündet davon, dass es auch heute Wunder gebe, wenn man nur daran glaubt. Vielleicht gilt es schon als Wunder, dass wir es um elf bis in den Vorhof des Centro geschafft haben. Der ist von weißen Mauern umgeben, die das Licht unbarmherzig bündeln und jeden Luftzug zuverlässig abhalten. So muss sich ein Hühnchen auf dem Grill fühlen. Hätte mir doch eine Schirmmütze kaufen sollen, aber wer jetzt wieder hinaus geht, muss sich anschließend ganz hinten an der Schlange wieder anstellen. So wie eine leichtgeschürzte Blondierte, die sich wohl jetzt schnell noch ein Jäckchen besorgt. Gelegentlich gibt es ein paar Zentimeter Schatten, aus dem man am liebsten nie mehr heraus treten will. Wir kaufen Mineralwasser, um es auf unsere kochenden Häupter zu tröpfeln. Vorher haben die Frauen noch erzählt, von dem Mörder, der sich frech vor die Leiche des soeben von ihm ermordeten Kindes setzt, bis die Polizei kommt und zynisch kommentiert: „Unmenschlich so etwas“. Alle Anwohner wissen Bescheid, alle schweigen, denn „lieber feige leben als ehrenhaft sterben“. Von dem ungerecht eingesperrten Ehemann. Oder davon, dass sie zum ersten Mal hier sind und noch nie mit der Polizei zu tun hatten. Jetzt spricht keine mehr. Es ist sogar für Worte zu heiß.

In kleinen Grüppchen werden die ersten ins Gebäude eingelassen. Dort werden die Taschen und Plastiktüten durchleuchtet, die Frauen müssen sich ausziehen, das Höschen herunter lassen und dann dürfen sie hinein, zur Sonntagsfrische mit dem Liebsten, Bruder oder Sohn. Manche beziehen erst mal Prügel vom Ehemann, weil sie sich nicht benommen haben, wie es ihm gefällt. Manche haben draußen ihre Spitzel. Manche leiten von drinnen einen lukrativen Drogenhandel und wollen gar nicht mehr raus. Jetzt lässt der Wachmann an der Tür einen Riesenschwung auf einmal hinein. Bis zwölf Uhr werden Besucherinnen eingelassen, dann ist Mittagspause bis halb zwei. Wenn es in diesem Tempo weiter geht, könnten wir es gerade so eben schaffen. Da knallt der Wachmann die schwere Glastür zu und legt das Gitter vor. Um 11 Uhr 45. Für uns bedeutet das: eineinhalb zusätzliche Stunden hier im Hof, auf dem Hühnergrill.

Schade, dass ich meine Kamera draußen zur Aufbewahrung lassen musste. Das wäre jetzt das Bild: Manche Frauen haben sich das Oberteil ausgezogen und stehen im BH in der prallen Sonne, eine Übergewichtige stopft sich gerade gierig das Huhn in den Schlund, das sie vermutlich eigentlich dem Inhaftierten mitbringen wollte. Auf den wenigen Zentimetern Schatten direkt an der Mauer drängen sich so viele Menschen, wie man es nicht für möglich halten sollte. Wer nicht schnell genug in den Schatten gestürmt ist, steht in der Sonne, ergeben wie ein Schaf vor der Schlachtbank. Bekommt hier nie jemand einen Sonnenstich? Und wenn, interessiert das jemanden?

Ein Mann verkauft Zweiliterflaschen mit selbstgepresstem Fruchtsaft. Als wir den ersten Plastikbecher an die Lippen setzen, bemerken wir ein leichtes Fäulnisaroma. Beim dritten Becher haben wir uns daran gewöhnt. In der Mitte des Hofes geht zuweilen so etwas wie ein winziger Hauch. Den Kopf auf den Arm zu stützen bringt ein winziges bisschen Schatten. Um halb zwei bleibt die Tür geschlossen. Sie öffnet sich erst um zwei. Um halb drei bin ich dran. Und werde abgewiesen: mein Ausweis entspreche nicht der Norm. Ich könne ja mein Glück beim Oberaufseher versuchen, wenn der es gestattet, dann ja. Der Oberaufseher sieht mich nicht einmal an. Also wanke ich zurück zur Bushaltestelle. Inzwischen sind alle Busse rappelvoll, weil all die Billigticketnutzer von den Stränden und aus den Einkaufszentren wieder nach Hause fahren. Abends um sechs stehe ich im letzten Bus nach Hause. Manche Frauen machen diese Sonntagsausflüge jede Woche. Jahre lang. Auf dem Hof hatte eine Frau eine Tätowierung quer über den Rücken die besagte: Ich bin Brasilianerin, ich gebe nie auf.

 

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Geheime Chefsache

Neulich rief ich in Deutschland an, bei einer namhaften Umweltorganisation an der Ostseeküste. Ins Vorzimmer kam ich – trotz kryptischer Beschilderung der Zuständigkeiten im Internet – noch durch. Doch dann geriet die Kontaktanbahnung arg ins Stocken. Eine resolute Dame klärte mich auf:

 „Bedaure, der Chef ist in der Sitzung.“

„Aha, verständlich. Wie lange sitzt er denn?“

„Das sag ich Ihnen doch nicht!“.

„Ach so? Na, da könnten Sie ihm doch eine Notiz rein…“

„Nix da, wo denken Sie hin?! Schicken Sie ein Fax, da guckt er dann mal drauf bei Gelegenheit“.

„Faxen kann ich nicht. Aber mit dem Pressesprecher könnt ich doch …?“

„Der ist aus dem Haus.“

„Ein Handy wird er wohl haben?“

„Hat er. Aber ich weiß nicht, ob ich befugt bin, Ihnen die Nummer herauszugeben…“

„Oh, betrüblich. Und wer weiß, ob Sie befugt sind …?“

Und immer so weiter. Böse Erinnerungen werden wach an, an mühsame Lehr- und Wanderjahre in der Nachrichtenbranche: Abwimmeln, Verkomplizieren, Wichtigmachen und stundenlanges Nachbohren gehörten damals zum Tagesgeschäft. Man stand sich selbst im Weg. Im Norden sind sie lockerer.

Gestern rief ich beim Abgeordneten einer schwedischen Regierungspartei auf dem Handy an (die Nummer stand auf der Website). Der nahm nach einer Weile ab, keuchte und prustete kurz und schnaufte dann:

„Hej, grüß dich! Nö, jetzt grade kommt es ungelegen, mein Lieber. Ich bin auf der Skipiste und will noch in die Sauna. Aber Montag bin ich zurück in Stockholm. Dann können wir einen Kaffee trinken.“

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Talk to me. Johanna!

REYKJAVÍK. Immer wieder gerne schaue ich mir Peaches Video ‘Talk to me’ an – vor allem der energiegeladenen Musik und des exzellenten Clips wegen, doch auch der Text hat etwas.

Nun musste ich mal wieder dran denken. Denn wie viele andere nicht-isländische Kollegen auch, würde ich allzugerne einmal die isländische Ministerpräsidentin Johanna Sigurdardottir interviewen. In der Situation, in der sich ihr Land befindet, dürfte die Regierungschefin dem Ausland eigentlich einiges zu sagen haben, z.B. zu Icesave oder dem EU-Beitrittsgesuch.

Ihr Bedürfnis danach aber geht gegen Null. Im vergangenen Jahr habe ich mehrfach um ein Interview gebeten und stets (wenn überhaupt) eine Absage als Antwort erhalten. Anderen Journalisten erging es ähnlich. Einmal begegnete ich Sigurdardottir (hier in der FTD ein Porträt von mir über sie) live auf einer Pressekonferenz. Die an sie auf Englisch gerichtete Frage leitete sie ohne ein Wort an die Presse an ihren Stellvertreter Finanzminister Steingrimur Sigfusson weiter, der in gutem Englisch antwortete.

Nun ist es ein offenes Geheimnis, das Fremdsprachen gelinde gesagt nicht gerade die Stärke der isländischen Regierungschefin sind. Aber muss sich Sigurdardottir in dieser Lage der ausländischen Presse verweigern? Wäre es nicht ihre Aufgabe, dem Ausland die Situation des Landes zu erklären und das nicht allein den sprachbegabten Mitgliedern der Regierung zu überlassen? Wozu gibt es Dolmetscher? Jeder ausländische Journalist hätte Verständnis, wenn sie sich dieser Hilfe bedienen würde, um ein Interview zu bestehen.

Gerade als deutscher Journalist könnte ich das verstehen, schließlich haben wir in Deutschland mit Helmut Kohl 16 Jahre einen Kanzler gehabt, der ein ähnliches Problem hatte und dass der deutsche EU-Kommissar (!) Günther Oettinger schlechter Englisch spricht als ein Sechstklässler ist hochnotpeinlich.

Auch verständlich, dass sie nicht mit jedem sprechen könnte, aber ein großes Medium je zentralem Land, das hätte wohl in den vergangenen zwölf Monaten machbar sein können.

Gestern kam vom isländischen Außenministerium nun eine Mail, in der u.a. folgendes stand:

‘The Prime Minister, Mrs. Johanna Sigurdardottir, will hold a press conference for foreign journalists in Iceland tomorrow, Friday, at 13:30.’

Eigentlich sollte ich um diese Zeit produzieren, will aber mein Bestes tun, dort zu sein.  Schließlich kommen auch Dolmetscher. Talk to me, Johanna!

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Ausgangssperre und Abaja zum Wahltag in Bagdad

An zwei Dinge kann ich mich nicht gewöhnen, obwohl ich schon seit fast sieben Jahren im Irak arbeite. Ausgangssperren und die schwarze islamische Kleidung sind mir nach wie vor ein Gräuel. Über vier Jahre lang herrschten in Bagdad permanente Sperrstunden, deren Anfang je nach Sicherheitslage nach hinten verschoben wurde. Sie begannen um 19 Uhr, 20 Uhr oder im besten Falle um 22 Uhr und galten immer bis morgens um sechs. Hinzu kamen monatelange Ausgangssperren am Freitag Vormittag. Man musste sich also immer informieren , wann man das Haus verlassen konnte, ob zu Fuß oder mit dem Auto. Irgendwann hatten die Bagdader entschieden, dass sie grundsätzlich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf die Straßen gingen. Die Stadt war am Abend ausgestorben. Totale Ausgangssperren jedoch waren das schlimmste. Sechs Millionen Menschen blieben dann tagelang vollkommen eingesperrt. Niemand durfte sich auf den Straßen blicken lassen, außer Soldaten, Panzern und Militärfahrzeugen. Bagdad wurde zum Gefängnis. Offiziell wurden die Ausgangssperren letztes Jahr aufgehoben, doch nach den schweren Terroranschlägen im November und Dezember gelten sie wieder ab Mitternacht. Fünf nach zwölf ist Bagdad tot. Zu den Wahlen am 7. März soll es nun auch tagsüber wieder ruhig sein. Die Regierung will ein Fahrverbot verhängen. Man diskutiert noch, ob diese Maßnahme nur einen oder gar zwei Tage vor dem Urnengang verhängt wird. Die Kinder freuen sich schon. Denn dann können sie Fußball spielen auf den sonst hemmungslos verstopften Straßen der Hauptstadt.

Ähnlich verhält es sich mit dem Outfit der Frauen. Aus Angst vor den radikalen Islamisten, die sich zum Ziel gesetzt hatten, aus Irak eine islamische Republik zu machen, hüllten sich die Irakerinnen in Abaja und Hijab, dem langen schwarzen Mantel und dem alle Haare verdeckenden, ebenfalls schwarzen Tuch. Flugblätter, die in den einzelnen Stadtvierteln Bagdads verteilt wurden, forderten die Frauen dazu auf, islamische Kleidung zu tragen. Bei Zuwiderhandlungen drohe ihnen eine harte Strafe. Einige Frauen wurden erschossen. Fortan verhüllten sich auch Christinnen, die traditionell keine Kopfbedeckungen tragen. Auch ich legte Mantel und Schleier an, wenn ich das Haus verließ – zum Selbstschutz. Bei den hohen Temperaturen, die fast das ganze Jahr im Irak herrschen, ist dies eine Tortur. Der Schweiß läuft in Bächen den Rücken hinunter, schwarz zieht die Hitze besonders an und niemand kann mir erzählen, dass es angenehm sei, sich so zu kleiden. In den letzten Monaten konnte man verstärkt Frauen ohne Kopfbedeckung auf den Straßen Bagdads erblicken. Doch wenn Ausgangssperre herrscht, werden die Schleier wieder aus dem Schrank geholt.

 

Newsletter

Es gibt Post!