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Nek Minnit passiert was

Jahresendzeitstimmung. Zeit für die große Bilanz. Was hat die Menschen in meinem Land bewegt? Wo offenbarten sich ihre wahren Interessen, ihre Leidenschaften, ihre Themen? Zum Glück gibt es den Informationskanal YouTube, der uns das Psychogramm der Nation präzise aufzeigt. Vielleicht sollte ich, um es spannender zu machen, an dieser Stelle die Quizfrage stellen: Wer oder was befand sich auf dem im Jahre 2011 in Neuseeland am häufigsten gesehenen Video?

Richtig: Rebecca Black. Das ist die kleine schwarzhaarige Dame im Cabrio und mit dürftig überschminktem Pickel, deren selbstproduzierter Song ‚Friday‘ als so grottenschlecht empfunden wurde, dass er weltweit über eine Billion mal anklickt wurde. Eine Art Hass-Reflex – 167 Millionen mal davon allein in Neuseeland. Eine ordentliche Trefferquote für ein Vier-Millionen-Volk. Immerhin sind wir weltweit nicht allein mit unserem schlechten Geschmack.

Schaut man sich an, was es in Aotearoa auf den zweiten Platz der YouTube-Hitliste geschafft hat, blickt man in einen noch tieferen kulturellen Abgrund. Hier tut sich eindeutig ein Nordhalbkugel-Südhalbkugel-Gefälle mit antipodischer Note auf. Denn weit vor den erschreckenden Erdbebenszenen aus Christchurch oder den Heldenmomenten der Rugby-Weltmeisterschaft wollten die Kiwis ein Machwerk namens ‚Nek Minute‘ sehen.

In wenigen verwackelten Sekunden erblickt man da einen jungen Mann mit weißer Stirnbinde, nacktem Oberkörper und unleserlichen Tätowierungen, der nicht nur das obere Drittel seiner Unterhose hervorblitzen lässt, sondern auch ein Gebiss frankensteinschen Ausmaßes. Der Zuschauer fragt sich, ob das vielleicht aus einem Scherzartikelladen stammt. Ebenso erheiternd ist, dass der Scooter des Protagonisten offensichtlich gerade zu Klump gefahren wurde. Der absolute Schenkelklopfer ist jedoch, dass der Roller-Besitzer sich nur sehr rudimentär zu artikulieren weiß. Was man mit „und dann passierte im nächsten Augenblick Folgendes“ übersetzen müsste, reduziert sich bei ihm auf das verzerrte Raunzen zweier Worte: ‚Nek minute‘. Ein Brüller!

Der YouTube-Clip entstammt einem Skater-Film, hieß erst ‚Negg Minute‘, dann ‚Nek Minute‘ und schließlich ‚Nek Minnit‘, um der Stammel-Orthographie konsequent treu zu bleiben. Bei dem gefährlich bis grenzdebil wirkenden Mann handelt es sich um den wahrscheinlich blitzgescheiten Levi Hawken aus Dunedin. Der hat sich als furchloser Skateboarder einen Namen gemacht, weil er die steilsten Straßen herunternagelt, ‚hill bombing‘ genannt. Jetzt hat er auch noch ein Stück kiwianischer Kulturgeschichte geschrieben.

Nek Minnit ist seit Monaten ein geflügelter Begriff. Moderatoren und Teenager streuen ihn gerne ein und warten auf Lacher. Neben etlichen Parodien gibt es auch den gleichnamigen Song von ‚Youth Empire‘, in dem diese Textzeile hervorsticht: “Sitze auf dem Klo, lass gleich die Bombe fallen, Nek Minnit, kein Klopapier da”. Besser kann man das Vorher und Nachher, das uns an Silvester bevorsteht, nicht zusammenfassen.

 

 

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Der Schlüssel zur verlorenen Zeit

Immer wieder frage ich mich, welche Geschichte wohl hinter der angebrochenen Räute, dem Griff unseres alten, eisernen Hausschlüssels steckt. Wer ihn wohl schon alles in der Hand hatte? Vielleicht sogar die letzte pensionierte Nonne, die hier alleine lebte. Sie war behindert, wurde von den Großeltern unserer Nachbarn gepflegt. Als Dank erhielten die nach ihrem Tod dieses Haus und so kam „l’ancien couvent“, das „ehemalige Kloster“ in Belloc, in weltlichen Besitz.

 

Der Schlüssel hat ebenso wie die Holztüre mit ihrem Türklopfer in Form eines metallenen Löwenkopfes

schon vieles überstanden. Drum sollte man sich nicht allzu große Sorgen machen. Aber nicht nur sein Zerbrechen könnte drohen, wahrscheinlicher ist vermutlich sogar sein Verlust. Und dann stehen wir da, ohne Ersatz. Also muss ein Doppel her.

 

Als ich mich endlich aufraffe, den Hausschlüssel sowie seinen etwa gleichaltrigen Bruder, den Garagenschlüssel (ebenfalls ein Unikat mit etwas Grünspan verziert) zu kopieren, ahne ich nicht, dass ich mich auf eine Zeitreise begebe. Beim Schlüsseldienst in Toulouse, einer dieser modernen Kopierklitschen mit ihren ohrenzersägenden Fräsemaschinen, habe ich keine Chance. Vielleicht in einer altmodischen Eisenwarenhandlung, einer Quincaillerie, sagt der Schlüsselmacher vom Dienst. In der Kleinstadt Saint Girons werde ich fündig.

Die schwere Glastüre löst ein kurzes Bimmeln aus, als ich sie öffne. Die Quincaillerie Lapeyre ist ein unübersichtlicher, düsterer Laden, der eher an eine Rumpelkammer erinnert. Vermutlich gibt es hier eine Ordnung, sie erschließt sich dem ahnungslosen Besucher nur nicht. In der linken hinteren Ecke höre ich es rumoren. Es riecht nach Zigarettenqualm. Ich gehe vorbei an Eisenstangen, Schweißerutensilien, Stellwänden mit aufmontierten Türgriffen und Schlössern, bis ich plötzlich vor einem Mann im blauen Arbeitsanzug stehe. Der Mittvierziger hockt auf dem Boden, im Halbdunkel, umgeben von hunderten Schlüsselrohlingen, die teils auf kleinen Metallständern hängen, teils auf dem Boden zerstreut liegen. In seinem Mundwinkel hängt eine Zigarette, die langsam verglimmt, während der Mann Unverständliches vor sich hin murmelt.

Durch ein kurzes Räuspern mache ich auf mich aufmerksam. Der Verkäufer mustert mich von unten nach oben mit fragendem Blick. „Ich würde gerne zwei sehr alte Schlüssel nachmachen lassen“, sage ich zögernd. „Bin mir aber nicht sicher, ob Sie das tun können.“ „Wir machen keine Schlüssel“, lautet die trockene Antwort. Aha. „Aber wir haben welche.“ Ich krame meine beiden alten Schätzchen aus der Jackentasche und zeige sie ihm. „Hmm, dann wollen wir mal sehen.“ Die Zigarette zittert bei jedem Wort zwischen seinen Lippen, bleibt aber gerade noch hängen. Von nun an heißt es: Geduld!

Seelenruhig kramt mein neuer Freund – nennen wir ihn mal Jacques, er sieht aus als könnte er Jacques heißen – in seinen Schlüsselvorräten. Ab und zu zieht er voller Hoffnung einen Rohling hervor, studiert ihn minutenlang im Vergleich zum Original, rümpft die Nase, was dazu führt, dass wieder ein wenig Asche von der Zigarettenspitze fällt, und hängt ihn wieder an seinen Platz. Oder an einen anderen. Das Konzept von „jeder Schlüssel hat seinen Platz“ scheint hier ohnehin nicht zu greifen.

Als die Glut der Zigarette sich bedrohlich seinen Lippen nähert, drückt Jacques sie rasch an einem Metallteil auf dem Tisch zu seiner Linken aus und legt den Stummel daneben.Weiter geht die Schlüsselsuche. „Ah, le voilà!“, sagt er plötzlich nach etwa 20 Minuten mit einem Anflug von Begeisterung. Der Hausschlüssel ist gefunden. Aber wir sind noch lange nicht fertig. Nun ist der Garagenschlüssel dran. Das gleiche Prozedere. Jacques hat alle Zeit der Welt. Dann erneutes Aufblitzen in seinen Augen. Auch dieser Schlüssel soll seinen Meister finden.

Nun geht es an die kleine Fräsemaschine, anschließend zieht Jacques ein paar Handfeilen aus einer hölzernen Schublade. Hingebungsvoll macht er sich an die Feinarbeit. Ein wunderbares Erlebnis, von Menschen bedient zu werden, die ihre Arbeit mögen! Wieder vergehen mindestens 15 Minuten, bis Jacques zufrieden ist. Stolz reicht er mir die neuen, glänzenden Schlüssel. Sie sind genauso klobig wie die alten, aber aus einer gelblichen Metalllegierung. Haben deutlich weniger Charme. Egal, sie tun ihren Dienst (ich hab’s probiert).

Und Jacques, den Meister der Langsamkeit und Hingabe, den habe ich ins Herz geschlossen. Ich möchte eigentlich nie mehr woanders meine Schlüssel duplizieren lassen als in der Quincaillerie Lapeyre. Dort, wo die Zeit stehen zu bleiben scheint. „Bon“, sagt Jacques lächelnd, „kann ich noch irgendetwas anderes für Sie tun?“ „Nein,“ antworte ich grinsend und gehe gedankenverloren, ja fast bezaubert zur Kasse.

 

 

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Billy und die Fleischbällchen

Ich halte mich für kulturell anpassungsfähig, aber ein paar Sachen vermisse ich dann doch in Aotearoa. Da ich die einheimische Altöl-Schmiere namens Vegemite verschmähe, lasse ich mir immer meine Hefepaste aus dem Reformhaus mitbringen. Das hat am Flughafen schon zu unschönen Szenen geführt, als eine Ein-Kilo-Dose mit hellbraunem, undefinierbarem Inhalt auf dem Kontroll-Bildschirm auftauchte.

Lakritze trudelt manchmal einfach so bei mir ein. Letztens stand ein junger Mann vor meinem Haus, wedelte mit einer Tüte und rief auf Deutsch meinen Namen. Der Süßkram stammte zwar nicht von Haribo, sondern vom Zwischenstopp aus Singapur, aber nett war’s dennoch. Und ich seit Wochen auf Entzug. Für alle Nachahmer: Gummibärchen werden auch gerne genommen.

Was mir sonst noch fehlt, habe ich über die Jahre verdrängt. Demonstrationen, Nacktbaden, Kerzen am Tannenbaum – geht auch ohne. Aber es gibt Rituale, die ein Loch ins Leben reißen, wenn sie plötzlich fehlen. Die man für selbstverständlich hielt, gar lästig. Wie der Samstagseinkauf bei IKEA.

Dass man spätestens an der Kasse komplett erledigt war, dass man stets mehr davonschleppte als geplant, dass all die vielen Kartons und der volle Parkplatz nur nervten – ja, vergessen. Zurück bleiben sentimentale Erinnerungen an kreischende Kinder im Plastikballbecken und pinke Hotdogs. Spottbillige Zimmerpflanzen, die sofort eingingen. Der Sechskantschlüssel, der immer fehlte. Ach, und all dieses clevere, praktische Design, das man im deutschen Wunderland des guten Geschmacks irgendwann gar nicht mehr zu schätzen wusste. Dann leistete man sich lieber das Ledersofa aus Italien anstatt des Modells Bjölle vom China-Fließband.

Was würde ich jetzt für ein olles Billy-Regal und bunte Plastikbecher namens Sigurt geben! Aber dafür müsste ich erst nach Australien fliegen – dort ist der nächste IKEA-Laden. Neuseeland ist als Standort für die Schweden wohl zu zu unwichtig. Dabei hat Norwegen mit fast der gleichen Einwohnerzahl ganze vier IKEA. Und komme mir jetzt niemand mit dem Argument, dass Norwegen ja auch direkt neben Schweden liegt – der ganze Kram wird eh aus Asien verschifft. Es ist eine einzige, eurozentristische Ungerechtigkeit.

Aber zum Glück gibt es ja Facebook, um den Schrei der Unterdrückten in die Welt zu tragen. „I want IKEA stores to open in New Zealand“ heißt eine Seite, die in diesem Jahr über 10.000 Fans gewann. Ausgelöst durch das Gerücht, dass in Auckland bald ein total verrücktes Möbelhaus entstünde. Was wurde da im Netz diskutiert und rumfantasiert, bis hin zu den berühmten Fleischbällchen.

Die Ernüchterung kam vor ein paar Wochen. Bei dem neuen Laden namens „Myflatpack“ handelt es sich lediglich um den überteuerten Weiterverkauf von wenigen IKEA-Produkten. Nicht mal ein Abklatsch der echten Knäckebrot- und Billy-Welt. Die Fans sind wütend. Das ganze war ein raffinierter PR-Coup. Eine Exil-Schwedin will jetzt intervenieren. Sie kennt den IKEA-Boss Ingvar Kamprad über zwei Ecken. Kämpfen, bis der Elch kommt!

 

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Nieder mit dem Sprachgeiz

Manche Besonderheiten im Land meiner Wahl mag ich lieber als andere. Weniger diplomatisch ausgedrückt finde ich ein paar Dinge in Australien so richtig affig. Dazu gehört das Verstümmeln der englischen Sprache. Fingernagel-über-Schiefertafel-kratzend unangenehm ist mir zum Beispiel: ‘Tis the season… “ Ausgeschrieben soll das heißen: “It is the season to… – und für die Pünktchen muss man sich dann wahlweise denken: drink too much to often, buy things you never wanted to buy, eat lots, dekorate a tree with glitter” Okay das ist lang, zugegeben, aber ‘Tis the season… ? Ahrg. Dazu ’tist es überall und unvermeidbar: das Apostroph-Tis mit den Pünktchen kitscht mich in Sydney dieser Tage bedrohlich von jeder zweiten Plakatwand an.

Und weil es ja heißt, manches schmerze weniger, wenn man mal drüber geredet hat, psychische Hygiene, etc, teile ich jetzt noch zwei Stümmeleien:

SupaCenta für Super Center – zumal es da wirklich nichts gibt, dass so richtig super/supa ist.

mart für market, was inzwischen über fast jedem neonbeleuchteten Eckladen steht.

Ich weiß ja nicht, wie’s Ihnen geht, aber das ewige x-mas für Christmas finde ich auch unelegant. Trotzdem: schöne Feiertage und danke für’s Zuhören!

 

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Mit Schweinen zahlen

Der Euro wackelt, die Krise droht: Hilfe! Räum ich jetzt noch schnell mein deutsches Konto leer und lass mir die paar Kröten nach Übersee – was für ein wunderbares, vom Aussterben bedrohtes Wort – überweisen?  Ach was. Besser umdenken als Panik schieben. Liebe Europäer, ich gebe euch jetzt einen Finanztipp, gegen den auch ‚Occupy Wallstreet‘ sicher nichts einzuwenden hat: Macht es wie die Südseeinsulaner. Zahlt mit Schweinen statt Scheinen.

Dass die Währung mit Speckschwarte noch oder wieder im Umlauf ist, hat die vor kurzem in Neuseeland glorreich beendete Rugby-Weltmeisterschaft ans Tageslicht gebracht. Mathew Vaea, Manager der samoanischen Nationalmannschaft, wurde nämlich vorige Woche in seinem Heimatdorf Leauva’a zu einer Strafe von hundert Schweinen verdonnert.

Sein Vergehen: Während der WM habe er sich nicht um seine Mannen gekümmert, sondern ging lieber Golfspielen und trinken. Tagelang war Vaea verschwunden, so beklagte sich der Mannschaftskapitän über den Manager, und nicht mal die Trikots fürs Team habe der Schluckspecht dabei gehabt. „Er hat das, was wir im Volksmund als ‚geknickten Ellbogen‘ bezeichnen.“ Ein einziger feuchtfröhlicher Urlaub, der Samoa nicht nur schlechte Presse bescherte, sondern auch ein miserables Ergebnis auf dem Spielfeld: Die Insulaner flogen schon im Viertelfinale raus.

Als der Rugby-Manager nun von den Ältesten seines Dorfes zu der Schweinestrafe verdonnert wurde, versuchte er die Schande auf westliche Art wettzumachen: Er zahlte statt der Borstenviecher lieber 2000 samoanische Tala – damals umgerechnet 617 Euro – und entschuldigte sich. Ein Nachfolger für ihn wird gerade gesucht.

Ein paar tausend Kilometer weiter, im etwas zivilisierteren Neuseeland, wird zwar noch mit Dollar bezahlt. Aber seltsame Strafen sind auch hier an der Tagesordnung. Okay, nicht täglich, aber immerhin alle drei Jahre. Am letzten Samstag haben wir Kiwis gewählt, was ja für viele Länder eigentlich ganz normal ist. Auch, dass der konservative Premierminister weiterregieren darf – dafür haben das Katastrophenjahr und der Sieg bei der Rugby-WM gesorgt. Etwas seltsam ist nur, dass bei uns am Wahltag zwischen neun Uhr morgens und sieben Uhr abends nicht übers Wetter berichtet werden darf, wenn im gleichen Atemzug das Wort ‚Wahllokal‘ fällt.

„Sturmtief im Anmarsch – hoffentlich werden Sie nicht vor der Wahlurne weggepustet“ oder „den ganzen Tag Sonnenschein – da bleibt man wohl lieber am Strand“: Nachrichtensprecher oder Radiomoderatoren, die so etwas in aller Unschuld verkünden, machen sich strafbar. Ja, so steht es in der Verfassung, Paragraph 197: Öffentliche Meldungen, die am Wahltag das Wetter ins Zusammenhang mit der Wahlbeteiligung bringen, sind verboten und können mit bis zu 20.000 Neuseeland-Dollar bestraft werden.

Keine Ahnung, wieviel das jetzt genau in Euro ist – kann sich ja stündlich ändern. In Samoa wären es auf jeden Fall 1823 Schweine.

 

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New York, die Promi-Stadt

Als Wirtschaftsjournalistin komme ich eher selten mit der Kunstszene in Berührung. Gestern abend jedoch war ich zu einer Party eingeladen, auf der Christo erscheinen sollte. Der Christo? Genau der.

Angeblich passiert es einem in New York ja alle naselang, dass man Prominenten begegnet. Vor einigen Monaten saß ich in Berlin in einem Taxi zum Flughafen, und der Taxifahrer war sehr beeindruckt, als er mitbekam, dass ich in New York lebe. „Und – wie viele Stars haben Sie schon gesehen?“ fragte er gespannt. Ich war verdutzt. „Also – eigentlich keinen“, sagte ich. Er konnte es nicht fassen. „Keinen? Keinen?“ Seine Enttäuschung tat mir weh. Es war so schön gewesen, ein wenig bewundert zu werden. Fieberhaft dachte ich nach. Und tatsächlich, es fiel mir jemand ein, der in Deutschland zumindest als Halbpromi durchgeht. Glaubte ich. „Herrn Ackermann und seiner Frau bin ich mal in der Vorweihnachtszeit beim Einkaufsbummel begegnet“, sagte ich triumphierend. Im Rückspiegel sah ich die ratlosen Augen des Fahrers. „Ackermann? Wer ist das?“ Geknickt murmelte ich etwas von der Deutschen Bank. Der Fahrer sagte nichts mehr.

Seit dieser Episode denke ich manchmal darüber nach, was ich anders machen müsste, um gelegentlich Woody Allen oder Robert de Niro zu treffen. Das erste wäre wohl, häufiger nach Manhattan zu fahren, „in die Stadt“, wie wir Brooklyner sagen. Ich müsste in Lokale gehen, die ich mir nicht leisten kann, gekleidet in teure Designerklamotten, die ich nicht besitze. Das wichtigste aber wäre, die Stars überhaupt zu erkennen. Und da würde ich wahrscheinlich kläglich versagen, da ich wenig fernsehe und„People“ höchstens mal beim Friseur zur Hand nehme.

Auch an Christo würde ich in einem Lokal möglicherweise vorbei laufen. Gestern abend aber war ich vorgewarnt, außerdem war der Künstler ständig von einer Traube Bewunderer umgeben, die sich gegenseitig zusammen mit dem Promi fotografierten. Christo, unauffällig gekleidet in dunkelblauer Jeans und schwarzem Blazer, ließ sich geduldig ablichten. Ich fand das peinlich und ging nicht in die Nähe. Obwohl eine ganz kleine Stimme in mir quengelte, dass sie auch gern so ein Foto haben würde.

„Silencium!“, rief der Gastgeber. Christo müsse gleich wieder fort, wolle aber zuvor noch sein neues Projekt vorstellen. Christo sagte als erstes, wie schade es sei, dass seine vor zwei Jahren gestorbene Frau Jeanne Claude diesen Augenblick nicht erleben könne. Sie habe maßgeblichen Anteil an der Idee, den Arkansas River in Colorado auf einer Strecke von 42 Meilen mit Stoffbahnen zu überspannen. Seit 1992 hatten die beiden für das Projekt gekämpft – in diesem November wurde es von den Behörden genehmigt. Mehr als 9000 Haken zur Befestigung der Stoffbahnen müssen eingeschlagen werden, bevor das 50-Millionen-Projekt 2014 eröffnet wird. Lange Wartezeiten und Widerstand ist der 76jährige freilich gewohnt. Er erzählte, dass er den Reichstag nur habe verpacken dürfen, weil sich die seinerzeit populäre Rita Süssmuth in einem Machtpoker mit Helmut Kohl durchgesetzt habe. Und die Installation von 7500 orangefarbenen Toren im New Yorker Central Park hätten nacheinander drei Bürgermeister abgelehnt, bevor Michael Bloomberg sie 2005 endlich erlaubte.

Dann wollte sich der Künstler verabschieden, was aber nicht ging, da er bereits wieder umlagert war. Blitzlichtgewitter. Ich stand da gerade neben einem Börsenkorrespondenten vom Deutschen Anleger Fernsehen, der wie ich den Trubel beobachtete. Ich erzählte ihm, dass ich noch nicht einmal daran gedacht hatte, eine Kamera mitzunehmen. Er hatte natürlich eine dabei – Fernsehleute wissen, wie wichtig Bilder sind. „Geh hin zu Christo, ich mach ein Foto von euch“, sagte er. Ich wollte erst nicht – da löste sich Christo aus der Umklammerung seiner Fans und ging einen Schritt in meine Richtung. Das Ergebnis haben Sie bereits gesehen.

Und so kann ich nächstes Mal, wenn sich ein deutscher Taxifahrer für meine Prominentenbekanntschaften interessiert, damit angeben, dass ich Christo die Hand geschüttelt habe. „Der Künstler, der mal den Reichstag verpackt hat, Sie wissen schon.“ Und wenn er es nicht glaubt, dann sage ich: „Bitte lesen Sie meinen Weltreporter-Blog vom 30. November 2011!“

Foto: Manuel Koch

 

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Ein ganz normaler Tag…

An einem ganz normalen Samstagmorgen strahlte die Sonne, mein Sohn quietschte gut gelaunt durch die Gegend und ich hatte seit Wochen einmal nichts ganz Dringendes zu erledigen. Ein entspannter fröhlicher Tag – bis es anfing zu regnen. Eigentlich nichts Besonderes in der Regenzeit, nur dieser Platzregen donnerte waagrecht in unseren Garten und direkt in unser halboffenes Haus. Während wir damit beschäftigt waren, Sofa und Essecke notdürftig abzudichten, rumpelte es laut: Der Wind hatte den Bambus so heftig gegen die Gartenmauer gedrückt, dass er sie per Hebelwirkung zum Einsturz gebracht hatte. Kein Minute später fiel der Strom aus und ich hatte im Halbdunkel außer einem ängstlichen Kind auch noch zwei panische Hunde an mir kleben, als mein Mann tapfer in den Sturm hinauszog, um irgendwo Bambusmatten als groben Schutz für die Nacht zu besorgen.

In solchen Situationen hasse und zugleich liebe ich Indonesien: Denn es dauerte keine Viertelstunde, schon standen zwei Freunde triefendnass vor der Tür, um zu helfen. Und der Handwerker unseres Vertrauens zog am Samstag Nachmittag kurz vor der Dämmerung noch los, um Stahl, Zement und Backsteine zu bestellen, damit er am Montag Morgen gleich loslegen konnte mit dem Wiederaufbau der Mauer. Einigermaßen versöhnt mit der Situation brachte es uns auch nicht mehr allzu sehr aus der Fassung, dass auf einmal über Nacht das Wasser versiegte. Als allerdings am nächsten Morgen dann braune Brühe aus dem Hahn schoss und die Straße vor unserer Haustür – am Sonntag um sieben Uhr! – aufgegraben wurde, weil die Rohre repariert werden sollten, bekam ich doch mal kurz Sehnsucht nach dem ach so geregelten Deutschland…

 

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Occupy Wall Street 2.0

„99% Clean“, titelte die New York Post triumphierend, nachdem die New Yorker Polizei das Zeltlager von Occupy Wall Street diese Woche geräumt hatte. Das rechtslastige Boulevardblatt (Eigentümer: Rupert Murdoch) hatte zuvor eine regelrechte Kampagne gegen die Besetzer im Zuccotti-Park gefahren und Bürgermeister Michael Bloomberg in starken Worten aufgefordert, die „Hippies“ und „Gammler“ zu entfernen. Volkes Stimme? Eher nicht. Nach einer Umfrage des Fernsehsenders NY1 sympathisieren 57 Prozent der New Yorker Wähler mit den Demonstranten, vor allem junge Leute.

 

Mit der Räumung sind die Proteste freilich keineswegs vorbei. Zwar hat die Bewegung keine einheitliche ideologische Führung, aber sie ist schlagkräftig, flexibel und professionell organisiert. Gestern abend um 18.30 Uhr wurden Emails versandt, die den 17. November zum „Day of Strenght and Solidarity“ erklärten, mit der Absicht, die Wall Street zum Börsenauftakt lahmzulegen.

Tatsächlich versammelten sich heute morgen hunderte in Downtown Manhattan, woraufhin die Polizei die Zugänge zur Wall Street blockierte – und, insofern, das Anliegen der Besetzer umsetzte. Wer sich als Mitarbeiter der NYSE ausweisen konnte oder sonst wie einen seriösen Eindruck machte, kam freilich trotzdem durch. Das sorgte, wie die New York Times berichtet, neben ernsthafter Konfrontation auch schon mal für Heiterkeit. Als die Polizei an einer Straßenecke mal wieder zwei Männer in Anzügen passieren ließ, rief ein Demonstrant: „Hey, gibt’s einen Dress-Code für diese Kreuzung?“

Persönlich sind mir die Proteste, nicht zuletzt in Erinnerung an eigene Jungendaktionen, einerseits sympathisch, und das drastische Wohlstandsgefälle der US-Gesellschaft lädt wirklich ein zu Widerspruch. Andererseits hat die Frontenbildung etwas Bizarres. Mag die NYSE für die Besetzer ein Symbol für die globalen Finanzmärkte sein – in Wahrheit ist deren Bedeutung im Zuge der Computerisierung der vergangenen Jahre erheblich geschrumpft. Die elektronischen Plattformen, die das Geschäft inzwischen zu großen Teilen besorgen, sitzen in New Jersey oder in Kansas, wo die Mieten billig sind, und an der Wall Street bangen die wenigen verbliebenen Parketthändler um ihre Arbeitsplätze. Nicht dass sie sich deshalb mit den Demonstranten solidarisieren würden – das ist eine andere Welt.

Am meisten unter den durch OWS ausgelösten Blockaden leiden die kleinen Geschäftsleute in Downtown, genau jene Mittelschicht also, deren Verschwinden die Demonstranten wortreich beklagen. Das Problem: Die Kunden kommen nicht mehr durch. Schon als die Besetzer noch im Zuccotti Park kampierten, soll in einem benachbarten Cafe das Geschäft derartig zurückgegangen sein, dass der Inhaber 20 Leute entließ.

Als ich diese Meldung las, war ich allerdings verwundert, denn als ich an einem Sonntag vor zwei Wochen den Zuccotti Park besuchte, hatte ich den Eindruck, dass das Zeltlager wie ein Magnet auf Touristen wirkte. Hunderte bestaunten und fotografierten Zelte und Bewohner. Ich dachte zuerst, dass die Besetzer davon ziemlich genervt sein müssten, aber sehr schnell realisierte ich, dass das Gegenteil der Fall war. Denn der Besucherstrom führte zu Einnahmen: Es gab Solidaritätsbuttons für zwei Dollar das Stück, eine OWS-Zeitung für einen Dollar. Die einmalige Chance nutzen auch Andere, darunter diverse Straßenkünstler und eine trotzkistische Splittergruppe, die Zeitungen verkaufte, in denen das Engagement der USA gegen den libyschen Diktator Gaddafi angegriffen wurde. So wie der Zuccotti-Park überhaupt zur Sammlungsstätte der wunderlichsten Aktivisten mutierte, die gegen den thailändischen König ebenso protestierten wie gegen die Kommerzialisierung von Hip Hop und die Notenbank Fed.

Unter Finanznot leidet OWS jedenfalls nicht: Zwischen Mitte September und Ende Oktober hatten die Demonstranten fast eine halbe Million Dollar Spenden gesammelt und nur einen kleinen Teil davon ausgegeben, 55 000 Dollar. Da bleibt genug, um Winterquartiere und noch viele Aktionen zu organisieren. Einen Überblick über Ein- und Ausgaben veröffentlichte die zuständige OWS-Arbeitsgruppe übrigens in einem ordentlichen Finanzbericht. Spontanität hin oder her – die Kasse muss stimmen. Vielleicht sind die Welten diesseits und jenseits der Blockaden ja doch gar nicht so verschieden. 

Fotos: Christine Mattauch

 

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Faszinierende Faszinatoren

 

Alle paar Monate lerne ich durch Zufall ein neues Wort. Erst nach acht Jahren in Aotearoa kam mir der „fascinator“ zu Ohren. Was daran liegt, dass ich letzte Woche zum ersten Mal zum Cup Day gegangen bin. Das ist das jährliche Pferderennen und in Christchurch das, was in München das Oktoberfest ist und in Köln der Karneval. Also hasst man’s – oder muss unbedingt hin.

Keine zehn Pferde, haha, hätten mich dort hingelockt. Doch eine Tierärztin kannte einen der Trainer und hatte Freikarten. Meine Initiation stand bevor. Wandert man aus, erlebt man vieles zum ersten Mal: Dosenspaghetti auf Toast, Weihnachten am Strand, Zwillingswasserhähne mit kaltem und heißem Wasser. Jetzt also der Cup Day. Eine ethnologische Expedition. Die wichtigste Frage: Was anziehen?

Modisch gibt es da nur zwei Richtungen: Kleid von der Sorte, wie man es zu einer Sommerhochzeit trägt, aber bitte kein schwarz. Styling drumherum entweder in Richtung Schwiegermutter bei besagter Hochzeit, also damenhaft mit schweren Klunkern, oder diametral entgegengesetzt, also nuttig mit falscher Sprüh-Bräune. Und unbedingt, in jedem Fall, ohne Ausnahme: ein Hut.

Ich habe nur verbeulte Cowboyhüte aus Stroh. Keine Stoffrosen, kein Greta-Garbo-Grandeur. Also fragte ich herum. Und so kam mir zum ersten Mal ein Accessoire unter, das ich bisher nur von Hochzeitsfotos der britischen Royals kannte. Der „fascinator“ ist ein Minihut, keck über der Schläfe sitzend, aus dem sich Federn, Tüllschleifen und ähnliches Fleurop-Gesteck gen Himmel recken. Vielleicht hat der faszinierende Kopfschmuck auch einen deutschen Namen, aber der ist mir durch den Kulturschock jener Stunden auf der Rennbahn entfallen.

Schon auf dem Weg dorthin traf ich auf all das weibliche Jungvolk der Stadt, das sich für die zweite Styling-Variante entschieden hatte: Oben alles raushängen lassen, unten so kurz wie möglich, hoffentlich was drunter. Haut zu Textil im Verhältnis 70 : 30, Absätze höher als Handtasche breit. Passend die Männer, viele noch picklig, mit schiefer Krawatte und der Haarfarbe „Cheese on Mince“. Kurze blonde Strähnchen namens „Käse auf Hackfleisch“ kenne ich auch erst seit kurzem.

Ich hatte mir angesichts dieser Ästhetik das Schlimmste vorgestellt, aber wurde enttäuscht. Während ich auf der Zuschauertribüne Sekt trank, mit dem Wett-Programm wedelte und darauf wartete, dass jemand in der Mittagssonne auf manikürte Füße kotzt, in ein Dekolletee grabscht oder den Jockey verprügelt, passierte leider nichts Skandalöses. Jahrelang all die Schreckensbilder im Kopf, und dann nichts als Massen verkleideter, gut gelaunter bis angeschickerter Menschen: Ja, habe ich etwa dafür den Rosenmontagszug für immer hinter mir gelassen?

Immerhin humpelten und staksten auf dem Rückweg Damen vor mir her, deren Knöcheln zu hohe Hacken und Promille nicht bekamen. Die Frau, die zuvor halbnackt auf die Rennbahn gerannt war, hatte ich leider verpasst. In der Zeitung sah ich, dass sie einen Hut trug. Natürlich ein fascinator.

 

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Wir sind jetzt Freunde

Es herrscht eine warme Atmosphäre vor dem „Monument des Morts“ in der südfranzösischen 35-Seelen-Gemeinde Belloc an diesem Freitagmorgen. Küsschen zur Begrüßung. Jeder kennt jeden. Nur die Deutsche und den Schotten, die kennen noch nicht alle. Umso freundlicher werden sie Willkommen geheißen. So etwas hat es in Belloc noch nicht gegeben: Eine Deutsche, die am Gedenktag für die Kriegstoten im 1. Weltkrieg dabei ist. „Eine starke Geste“, meint mein Nachbar Bernard. Er sei stolz, mit mir befreundet zu sein. Das fröhliche Geplänkel und der Austausch des jüngsten Klatsches kommen zu einem jähen Ende, als der Bürgermeister das Mikrofon ergreift.

 

André Courset trägt einen dunklen Anzug und dunkelblaue Krawatte. „Es ist unsere Pflicht, an die zu erinnern, die Frankreich und die Demokratie verteidigten und dafür den höchsten Preis zahlten“, verkündet er feierlich. Nicht nur 1914 -18 sondern zu allen Zeiten. Er persönlich nehme den Gedenktag an den Waffenstillstand des 1. Weltkrieges am 11. November 1918 sehr ernst. Courset dankt den rund 20 Belloquois besonders herzlich, dass sie diese Tradition aufrecht erhalten. Denn in einigen Kommunen werde der 11. November mangels Interesse schon nicht mehr zelebriert. In seiner Ansprache ist für jeden etwas dabei: Für die Nationalisten, für die Verwandten von Gefallenen – und das sind hier auf dem Lande viele – aber auch einfach nur für Pazifisten.

 

Mit weißen Handschuhen hält der Fähnrich die blau-weiss-rote Nationalflagge mit der silbernen Aufschrift „Commune de Betchat“ in den lauen Herbstwind. Nun tritt ein Kommunalbeamter etwas linkisch ans Mikrofon. Er verliest – mit getragener Stimmer – eine Kurzform der offiziellen Ansprache des Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy am Arc de Triomphe in Paris! Die Langfassung gibt es übrigens zeitgleich im Fernsehen. Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie viel Bedeutung und Respekt die Franzosen dem Amt des Präsidenten beimessen. Selbst diejenigen, die seinen derzeitigen Amtsinhaber gar nicht schätzen.

Die beiden jüngsten Teilnehmer – zwei Teenager – legen das Blumengesteck der Kommune am kleinen Kriegerdenkmal nieder. Jetzt stehen alle stramm und konzentriert da. Zwei andächtige Schweigeminuten. Nur die Vögel zwitschern. Und Crapule, die freundliche Promenadenmischung, die immer durch Belloc streift, versteht wieder den Ernst des Augenblicks nicht. Fröhlich wedelt der Hund mit dem Schwanz und fordert einen nach dem anderen zum Spielen auf. Nicht doch! Denn schon ertönen Trompeten und Trommelwirbel aus dem kleinen schwarzen Lautsprecher unter dem Monuments des Morts. Kurz darauf die Marsaillaise – die übrigens von niemandem mitgesungen wird.

 

So ist es also am Feiertag für den Waffenstillstand von 1918 in „la France profonde“ – also dort, wo sich normalerweise Fuchs und Hase „Gute Nacht“ sagen, denke ich mir. Weit gefehlt. Jetzt würde es doch erst richtig nett, betonen die Nachbarn. Und schleppen uns ab zu einem „vin d’honneur“, einem fröhlichen Umtrunk im Gemeindesaal. Da sind sie einfach unschlagbar, die Franzosen: Champagner wird gereicht, wenn auch in Plastikbechern. Mit oder ohne Cassis (das ist Johannisbeerlikör, der den Schampus dann in einen „Kir Royal“ verwandelt). Dazu gibt es kleine Häppchen. Aber nicht etwa mit Schnittkäse oder Thunfisch. Na, zu Foie Gras (Gänsestopfleber) sollte es doch noch reichen im krisengebeutelten Frankreich, zumal wir uns hier in einer Hochburg seiner Produktion befinden.

Die Stimmung hebt sich, alte Freundschaften werden gepflegt, neue geschlossen. Jedenfalls erklärt so Chantal ihrer 8jährigen Tochter Melissa, warum wir heute hier sind: „Vor vielen, vielen Jahren haben Deutsche und Franzosen sich gegenseitig im Krieg erschossen. Das war furchtbar“, sagt sie ernst. „Aber heute gedenkt Birgit aus Deutschland gemeinsam mit uns dieser Toten, denn heute sind wir Freunde.“ Chantal lacht, drückt mir einen Kuss auf die Wange, und wir stoßen auf diese neue Freundschaft an. Melissa will natürlich nun auch von mir in den Arm genommen werden – und plötzlich bekommt dieser Besuch aus reiner Neugierde bei den Feierlichkeiten zum 11. November in meiner neuen Wahlheimat eine ganz tiefe Bedeutung. Vive l’amitié. Vive la République. Vive la France. Und vor allem die südfranzösische Wärme und Lebenslust.

 

 

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„Scusate! Entschuldigung!“

„Scusate! Entschuldigung!“

Das italienische Staatsfernsehen ist furchtbar – aber diesmal habe ich ihm unrecht getan.

 

Ich muss mich entschuldigen, dass ich so schlecht gedacht habe vom italienischen Staatsfernsehen, der “RAI”. Ich schwöre, ich hatte “RAI” verstanden, die Abkürzung für “Radiotelevisione Italiana”. Ich habe es falsch verstanden. Es tut mir leid. 

Zunächst war alles normal: Kürzlich war ich mit deutschen Kollegen in Rom zu Abend essen, dann fragten wir nach der Rechnung. Der Kellner holte einen Notizblock und machte es wie so viele andere: Er notierte nuschelnd  Zahlen auf den Block und addierte sie zu einer Summe, schüttelte dann den Kopf, strich die Zahl dann theatralisch durch und sagte feierlich: “Ich mache euch einen Sconto, einen Preisnachlass”. Die Antwort: “Danke”, “Grazie”-Rufe in der Runde, der Kellner setzte eine Miene auf, die irgendwie zeigen sollte: “Für euch mach ich alles, auch wenn meine Kinder jetzt ohne Essen ins Bett müssen.” Großes Theater, aus meiner Sicht: Denn natürlich ist der Preisnachlass nur ein geschicktes Ablenkungsmanöver – wer kontrolliert jetzt noch die Rechnung, wo man doch “dankbar” sein muss? 

Soweit war alles normal. Das Neue an der Sache passierte, nachdem der Kollege nach einer steuerlich gültigen Rechnung gefragt hatte, einer “Fattura”. (Nebenbei bemerkt: Die Frage nach einer “Fattura” wird in vielen Restaurants und Geschäften als unfreundlicher Akt gewertet). Auf den Wunsch nach der “Fattura” hin schaute auch dieser Kellner zunächst empört, dann aber hellte sich seine Miene wieder auf, besser noch: Er schaute, wie ich fand, verschlagen. “Reicht Dir eine Fattura RAI?”, sagte er. (Ich schwöre, ich habe “RAI” verstanden). Wir nickten, ohne zu wissen, was das wohl wäre und fragten auch nicht weiter nach, als die Rechnung kam. Denn war nicht klar, was gemeint war? Eine “Fattura RAI”, eine “Rechnung RAI” musste irgendeine Mogelei sein, etwas wie: “Ich schreibe die Rechnung auf einem extra Quittungsblock: Du kannst die beim Finanzamt einreichen, aber ich muss es nicht.” Oder so.  Schnell waren wir uns einig: Die Rechnung wird “RAI” genannt, weil das italienische Fernsehen so unverschämt, nämlich unverschämt schlecht, ist. Oder: Die Rechnung wird wahrscheinlich “RAI” genannt, weil die Italiener die RAI wohl für derart korrupt halten, dass der Name “RAI ” stellvertretend für Betrug und Steuerhinterziehung steht, so wie “Tempo” für “Taschentücher”. Wir waren uns jedenfalls einig: Das ist eine großartige Geschichte!

Die Ernüchterung kam nun am gestrigen Vormittag, als ich bei meinem Nachbarn, Herrn Memé klingelte. Er ist Steuerberater. Ich konnte das Grinsen kaum unterdrücken und freute mich auf Lästereien über die “RAI”. Doch als ich “fattura RAI” sagte, sagte Herr Memé: “Ah, fattura R.A.”. “Nein, RAI”, sagte ich und zog das “i” meterlang zu “RAIIIIIIIII”. “Gibt es nicht”, beharrte Herr Memé. “Es gibt nur die fattura R.A.” Mein Grinsen verschwand: Nix war es mit der lustigen Geschichte. Herr Memé munterte mich auf: “Willlst Du wissen, was die fattura R.A. ist”, fragte er. Ich nickte langsam. Und so erklärte mir Herr Memé eine halbe Stunde lang das italienische Umsatzsteuerrecht.  So richtig verstanden habe ich nicht, was die “fattura R.A.” sein soll. Aber mit dem Staatsfernsehen, der “RAI”, hat es nichts zu tun.  Also: Scusami, entschuldige bitte, liebe RAI! Aber nur in diesem Fall: Denn schlechtes Programm machst Du trotzdem. 

 

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STORM WATCH – zwei Zentimeter Regen in Los Angeles

 

Es ist November und das bedeutet für Los Angeles Regenfälle. Eigentlich ein Ereignis, das man angesichts vertrockneter Vorgärten, sonnenverbrannter Hügel und erhöhter Brandgefahr mit Freudenstänzen begrüßen sollte. Schließlich handelt es sich bisher ausschließlich um Regen in Ausmaßen, über die meine Verwandtschaft aus Wuppertal nur milde lächeln kann – zwei Zentimeter höchstens pro Tag. Und die Schauer dauern höchstens ein paar Stunden. Danach kommt die Sonne raus und es gibt traumhafte Regenbögen. 

Doch so sicher wie Lindsay Lohan wieder vor Gericht landet, rufen die lokalen Fernsehstationen in Los Angeles beim ersten November-Regen den Ausnahmezustand aus. STORM WATCH! Moderatoren kündigen mit hysterisch geweiteten Augen umfassende Berichterstattung aus allen gefährdeten Regionen an als würde es sich um ein Kriegsgebiet handeln. Reporter haben die Wahl, sich für die Abendnachrichten entweder LIVE vor einer Riesenpfütze im Berufsverkehr von vorbeifahrenden Autos nassspritzen zu lassen oder in die Berge zu fahren, um dort LIVE schwitzend unter Pudelmütze, mit Wollhandschuhen und Superdaunenjacke von den ersten mutigen Snowboardern zu berichten. Damit die Unterlage für deren Eskapaden taugt, muss sie natürlich mit künstlichem Schnee angereichert werden. Genauso wie die Riesenpfütze in der Stadt weniger durch starke Regenfälle als durch ein komplett veraltetes Abflusssystem zu erklären ist.

Ich muss zugeben, dass auch mein Körper nach acht Jahren Kalifornien verweichlicht ist, ich bei Temperaturen unter 15 Grad dicke Socken und Plüschpullis aus dem Schrank hole und überlege, ob wir den Kamin anfeuern sollten.

In meinem ersten November 2003 in Los Angeles hatte ich mich noch im T-Shirt höhnisch über lokale Weicheier lustig gemacht. Schließlich habe ich fünfzehn Berliner Winter überlebt!

Die STORM WATCH-Hysterie über anhaltende Regenschauer und den ersten Bergschnee zieht mir aber immernoch alle Jahre wieder die Plüsch-Pantoffeln aus. 

 

 

 

 

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“Charia hebdo”, Pressefreiheit und anti-islamischer Populismus

Plötzlich kämpfen alle für die Pressefreiheit – französische Politiker jeder Couleur preisen sie als „heiliges Recht“ der Franzosen. Richtig so. Ich meine, dieselben Politiker sollten ebenso auf die Barrikaden gehen, wenn staatliche Abhörskandale gegen französische Journalisten bekannt werden. Oder welche Pressefreiheit darf es bitteschön sein?

Der Aufschrei des Entsetzens gestern, nach dem abscheulichen Brandanschlag gegen den Redaktionssitz der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ in Paris, war ebenso absehbar wie ein Akt der Gewalt als Antwort auf das satirische Porträt des Propheten Mohammed auf der Titelseite der neusten Ausgabe. Als der Titel am Vortag publik wurde, war denen, die ein wenig Sensibilität gegenüber den Befindlichkeiten der islamistischen Szene und Kenntnis von der Engstirnigkeit ihrer extremen Anhänger haben, klar: Es wird Reaktionen geben. Und sie werden vermutlich mit Gewalt einhergehen.

Ob die Form der Auseinandersetzung von „Charlie Hebdo“ mit dem Wahlsieg der Islamisten-Partei Nahda in Tunesien und der Absichtserklärung des libyschen Übergangspremiers Mustafa Abdel Jalil, mehr Scharia-Elemente in der künftigen libyschen Rechtsprechung zu berücksichtigen, eine besonders intelligente war, sei dahingestellt. Unsere Pressefreiheit besagt schließlich nicht, dass nur kluge Meinungsäußerungen erlaubt sind. Und Satire umfasst erfahrungsgemäß ein sehr breites Spektrum zwischen „Dumm wie Bohnenstroh“ und intelligentem Witz. Egal für wie dumm man die Idee der Ausgabe „Charia hebdo“ hält, einen Brandanschlag auf die Redaktion rechtfertigt sie nicht. In einer aufgeklärten Gesellschaft sollte erlaubt sein, auch Religion und religiöse Figuren zu persiflieren. Und zwar die aller Religionen.

Das wird allerdings umso heikler, je aufgeheizter das Klima in einer Gesellschaft gegenüber dieser Religion ist. Leider herrscht in diesen Tagen nicht nur in Frankreich, auch in Deutschland, Islamophobie. Die Reaktionen in der französischen Presse aber auch unter einigen Politikern nach dem Wahlsieg der tunesischen Islamisten muss man teilweise als hysterisch bezeichnen. Da war sofort die Rede vom Ende der Frauenrechte, ja gar vom Ende der Demokratie! Dabei hatte die Nahda-Partei gerade bei als sehr demokratisch-korrekt bewerteten Wahlen eine Mehrheit errungen.

Warum diese unbesonnenen Reaktionen? Politische Verbohrtheit? Dummheit? Oder nur Unkenntnis der politischen und gesellschaftlichen Realitäten eines Landes wie Tunesien? Die Gesellschaften in Tunesien, Ägypten und Libyen haben jahrzehntelang unter korrupten, selbstherrlichen und gesetzlosen Regimen gelitten. Die Menschen sehnen sich nach Recht und Ordnung. In diesem Kontext haben die so genannten „gemäßigten Islamisten“ die Aura konservativer Saubermänner, denen man am ehesten zutraut, nicht persönlichen Profit zu suchen und das Land zumindest einem Rechtsstaat nahe zu bringen. Die Tunesier haben sich mehrheitlich entschieden, Nahda eine Chance zu geben. Soll die Partei nun Flagge zeigen und man wird sehen, ob die Erwartungen der Wähler erfüllt werden oder ob die Islamisten sich abwirtschaften und dann hoffentlich abgewählt werden. Natürlich kann das schief gehen. Aber es ist vielleicht auch die einzige Chance, islamischem Extremismus das Wasser abzugraben.

Ähnliches gilt für den Fall Libyen. Dort wurde schließlich nicht das Scharia-Recht als einzig geltendes eingeführt. Mustafa Abdel Jalil erklärte Berichten zufolge lediglich in Benghazi: „Wir sind ein islamischer Staat“ und versprach die Gesetze zu ändern, die dem islamischen Recht widersprächen. So hat man sich das im Westen vielleicht nicht vorgestellt, als man die Nato-Flugzeuge de facto zum Sturz Gaddafis in den Einsatz schickte. Tatsache ist aber, dass die meisten Staaten mit muslimischer Mehrheit zumindest Elemente der Scharia in ihrer Rechtsprechung berücksichtigen. In manchen betrifft das nur persönliche Rechte, in anderen ist die Scharia eine Quelle der Gesetzgebung neben anderen. Oder sie ist die wichtigste Quelle der Gesetzgebung. Oder wir haben es gar mit Scharia-Recht zu tun, wie in Saudi-Arabien oder Iran.

Aber dass das Rechtssystem, das sich ein Staat gibt, von den religiösen Werten der Mehrheit der Bürger inspiriert ist, ist doch nicht ungewöhnlich. Das ist auch bei uns so, obwohl wir uns auf eine strikte Trennung von Kirche und Staat berufen. Denken wir zum Beispiel daran, wie schwer wir uns mit der Gleichberechtigung schwuler oder lesbischer Paare tun. Wichtig ist, dass die Rechte von Minderheiten geschützt werden. Und dass das Prinzip der Gleichberechtigung – auch der von Männern und Frauen – respektiert wird. Das Selbstbestimmungsrecht gehört ebenfalls in diesen Katalog. In diesem Sinne täten wir gut daran, den Ausgang freier, demokratischer Wahlen zu respektieren und abzuwarten, welche neue Lebensrealität die Tunesier, Ägypter und Libyer für sich gestalten möchten. Steigen wir von unserem hohen Ross herunter, hören wir auf uns als neue „Besserwessis“ zu gebärden, die glauben, sie wüssten, was für diese Menschen gut ist.

Einen Anschlag auf unser hohes Gut der Pressefreiheit wie den auf „Charlie Hebdo“ dürfen wir nicht akzeptieren. Aber wir sollten auch nicht wortlos zusehen, wie einige Politiker und Journalisten aber auch ganz normale Bürger ihn als Anlass für einen neuen Kreuzzug gegen den Islam missbrauchen.

 

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Stricken für Container

Die Bilder der aufs Riff gelaufenen und halb geborstenen ‚Rena‘ haben nicht gerade dazu beigetragen, dass man Frachtcontainer ins Herz schließt. Dabei sind sie so praktisch, diese Stahlboxen, wenn sie nicht gerade im Meer treiben: In der Ödnis nach dem Erdbeben entstehen daraus jetzt bunte Einkaufszentren und Open-Air-Bars auf Abrissflächen. Und die Hügel in Christchurchs Vorort Sumner werden durch die Stahlwände vorm Abrutschen bewahrt. Da kann man doch mal zur Nadel greifen und zum ‚Knit In‘ gehen. Irgendwas muss man ja tun, damit unsere Stadt schöner wird.

Der historische Hintergrund: Als die Engländer im zweiten Weltkrieg „the Blitz“ trotzten, hieß der Leitspruch nach Bombenangriffen „Keep calm & carry on“ (ruhig bleiben und weiter machen). Die von einer eingewanderten Deutschen ins Leben gerufene Aktionsgruppe ‚Container Love‘ hat das Motto adaptiert: „Keep calm & cast on“ – ruhig bleiben und Maschen aufnehmen.

So ein ‚Knit In‘ ist ein ‚Sit In‘ von Guerilla-Strickerinnen, die sich dem ‚yarn bombing‘ verschrieben haben: Brücken, Kriegsdenkmäler, Bänke werden in liebevoller Handarbeit umhäkelt und umgarnt. Eine feine Sache. Die Garn-Bomberinnen Christchurchs fanden sich am Samstag am Strand auf Decken zusammen, knabberten Chips und bewiesen flinke Finger: Aus Hunderten von Wollquadraten soll ein Patchwork-Pelz für einen der Container entstehen. So was wie ein gigantischer Kaffeekannenwärmer oder Klorollenüberzug – absolut einmalig. Auf der ganzen Welt klappern dafür bereits die Nadeln. Und wir Damen in Sumner stellten fasziniert fest, wie unterschiedlich doch die nationalen Stricktechniken sind: Die Deutschen sehr effektiv, die Engländer etwas umständlich mit ihrer Methode. Und die Holländerin klemmt sich eine Nadel als Spieß unter die Achsel.

Falls es dank des internationalen Echos Abertausende von Quadraten werden, droht Christchurch hoffentlich nicht das gleiche Schicksal wie dem armen Tauranga. Ich meine nicht die Ölpest dort an der Küste, nachdem der Frachter auf Grund lief. Als etliche Pinguine zu verenden drohten, lief im Internet die Hilfskampagne an, für die Vögel doch bitte kleine Pullis zu stricken. Ein Muster wurde mitgeliefert. Denn sowas gab es schon mal im Jahr 2000, als bei Phillip Island in Australien Öl die Küste verpestete. Statt der benötigten 100 Stück wurden es dank virale Verbreitung damals jedoch 15.000, die jetzt im Souvenirladen vertickt werden.

Der Laden im neuseeländischen Napier, der im Oktober die Rettungsaktion startete, wird wohl auf ebenso vielen Pinguinwärmern sitzen bleiben. Denn leider hatte keiner der Gutstricker sich mit den Naturschützern in Tauranga abgesprochen. Kein einziges Tier wurde dort bisher in Strick gepackt – die Vögel werden lieber durch warmes Wasser und unter Heizlampen am Leben erhalten. Was natürlich nicht so putzig aussieht.

Zum Glück haben wir in Christchurch unendlich viele Container. Daher: Ruhig bleiben und keine fallen lassen.

 

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Ein Jahr nach dem großen Ausbruch

 

 

Vor einem Jahr brach der Vulkan Merapi in Zentraljava aus und die Welt sah zu. Internationale Medienvertreter traten sich auf die Füße und viele riskierten ihr Leben, als sie in die abgesperrten Zonen fuhren, um besonders sensationelle Bilder zu erhalten. Hunderte von Menschen starben in den heißen Gaswolken, die wochenlang den Berg hinunter rasten. Die Stadt Jogjakarta versank unter eine Ascheschicht und es herrschte Weltuntergangsstimmung.

 

 

Ein Jahr später nach dem schlimmsten Ausbruch des Feuerbergs seit mehr als hundert Jahren erinnert sich im Süden der Stadt kaum noch jemand an die dunkle Bedrohung. Ganze Bergdörfer im Norden sind jedoch dauerhaft zerstört und Tausende von Flüchtlingen leben immer noch in Behelfsunterkünften. Vor allem Bewohner der Flussufer kämpfen nach wie vor mit den Folgen, da jeder Regenschauer Teile der Millionen Tonnen von vulkanischem Material ins Tal spült, die immer noch auf dem Berg legen. Der Schutt zerstört die Ufer und die anliegenden Häuser gleich mit. Und dies voraussichtlich noch mehrere Jahre lang. Wie es heute am Ufer des Flusses Kaliputih aussieht, zeigen diese Bilder aus einem Dorf in der Nähe der Stadt Magelang.

 

 

 

 

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Ich lebe im Eruv

Religion ist schon eine kuriose Sache. Ich beispielsweise bin (trotz 9 Jahren auf einer Klosterschule) eher unreligiös, wohne aber in einer für gläubige Juden ausgesprochen wichtigen Gegend: Mitten in einem Eruv (eine Art Sabbath-Erlaubniszone, erkläre ich gleich).

Leser, die wissen, dass ich an dem Stück Sand wohne, das auch als “Australia’s most famous beach” vermarktet wird, mögen sich wundern: Das lasterhafte Strandparadies voller Bars, Cafés, unkosherer Tattoos und Bikinis – eine Glaubensoase? Ja, beides stimmt: Ich lebe am Bondi Beach und mitten in einem Eruv. Okay, okay, ich erklär’s:

Ein Eruv ist eine Zone, in der jüdische Mitbürger auch am Sabbath Dinge tun dürfen, die an dem Tag sonst nur in ihrem Heim erlaubt sind: Etwa Dinge (oder Babys) tragen, oder Dinge (oder Babys) bewegen, zb im Kinderwagen. Da der Sabbath unpraktischerweise meist auf den Samstag fällt, ist vor allem die Nichtbewegen-Regel lästig. Schon blöd: am freien Tag drinnen zu hocken weil man nicht mit Baby oder Rollstuhlfahrer in den Park darf. Clevere Rabbis haben daher weltweit überlegt: Wir machen die “Zuhause-Zone” einfach größer! Und sie haben herausgefunden, dass das talmud-technisch völlig in Ordnung ist, solange das “Zuhause” nur von genug festen Pfählen und Zäunen, Parkplatzmauern, Golfplatznetzen, Telegraphenmasten und -kabelsalat begrenzt wird. (Mal ehrlich: Gott muss sich da oben auf die Schenkel klopfen, oder…?).

Rund um Bondi (Foto oben, das Seil über dem Surfer) und Tamarama (Foto ganz oben) und Dover Heights sind daher all die ohnehin vorhandenen “baulichen Merkmale” eines Heims (wie Golfplatzzäune und Promenadengeländer) zu einer Erlaubnisgegend verbunden worden, viele Quadratkilometer groß, verknotet mit Kabeln und Drähten: Fertig ist der Eruv!

Den meisten Leuten fallen die kaum auf, aber für einige heißen sie: “Easy, alles wie Zuhause, Kinderwagen schieben erlaubt!”

Religion ist eine irre Sache, aber das erwähnte ich ja schon.

 

 

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Auf der Jagd nach einem Interview-Coup

 

Mein Herz machte im Garten des schweizerischen Generalkonsuls einen kleinen Freudensprung. Ein Kurator des LACMA-Museums hatte mir gerade erzählt, dass er für das ganz Südkalifornien umfassende Kunstprojekt Pacific Standard Time die Filminstallation einer deutschstämmigen Künstlerin betreut. Endlich hatte ich einen Ansatz für meinen Bericht gefunden, der ihn von den Geschichten der Kolleginnen und Kollegen über das Giga-Kunstereignis unterscheiden würde. Der Kurator versprach, am Tag der Pressevorschau den Kontakt mit Maria Nordman herzustellen. Seinen nächsten Satz hätte ich etwas ernster nehmen sollen: “Ich habe schon mit vielen komplizierten Künstlern gearbeitet. Maria schießt den Vogel ab!”

Ein paar Tage vor dem Pressetermin bekam ich eine Email von der Künstlerin. Sie bat mich darum, ihr etwas von mir zu erzählen. Eigentlich gebe sie keine Interviews, könnte sich aber bereit erklären wenn wir uns etwas besser kennenlernen könnten. Ich schrieb ein wenig und schickte den link zu meiner webseite. Maria antwortete, sie freue sich darauf, mich bei der Pressevorschau näher kennenzulernen. 

Auf den ersten Blick schien sie eine sehr freundliche, in ihrem weiten weißen Mantel und der Spiegelbrille nur leicht extravagante Künstlerin zu sein. Maria schüttelte meine Hand zur Begrüßung überschwenglich und bat, zunächst etwas mit ihr zu essen damit wir uns dabei besser kennenlernen könnten. Sie bat mich, mein Aufnahmegerät vorerst wieder einzupacken. Beim Essen sprach Maria mit jedem, der in unsere Nähe kam, aber kaum mit mir. Nach einer Stunde bat ich darum, mit ihr zur Installation ihres Films gehen zu können. Ihre Antwort: “Wir müssen uns erst noch ein bißchen besser kennenlernen.” Ihr Vorschlag: ein kleiner Spaziergang, um sich dem Werk von der besten Seite, vom Boulevard vor dem Museum, anzunähern. 

An anderen Tagen hätte ich diese leichte Exzentrik sicher als wunderbaren Ausdruck eines Künstlercharakters empfunden, der sich nicht üblichen Konventionen beugt. An diesem Tag war ich unter Druck einer Deadline, schleppte eine schwere Tasche voller Papiermaterial über das Kunstprojekt mit mir herum und hatte noch nichts von den umfangreichen Ausstellungen gesehen, von denen Marias Werk nur ein minimaler Teil ist. Ich wurde nervös und packte mein Aufnahmegerät aus, um sie während des Gehens zu interviewen. Sie schaute mich leicht tadelnd an. “Aber wir müssen uns doch noch ein wenig besser kennenlernen.” 

Wiederum eine Stunde später hatte Maria viele interessante Dinge erzählt, von denen ich nichts aufnehmen durfte, und mit jedem an uns vorbei kommenden Passanten, Kuratoren und Journalisten gesprochen. Auf meine Frage, was sie denn gerne über mich wissen wolle, antwortete sie vage, dass sie mich einfach nur ein wenig besser kennen lernen wolle. Sie stellte keine einzige Frage. Endlich kamen wir vor der Tür des Raumes an, in dem ihr Film gezeigt wird, wo sie sofort wieder mit einer Besucherin zu reden begann. Ich packte mein Aufnahmegerät aus.

Gerade als ich anfangen wollte, ihr Fragen zu stellen, erklärte sie, dass sie wirklich keine Interviews gebe, nur Gespräche führe. “Fein!” sagte ich etwas schnippisch. “Dann führen wir ein Gespräch.” “Ich müsste sie aber noch ein wenig besser …” bevor Maria den Satz beendet hatte kam ein Kollege in den Vorraum der Filminstallation, nahm sein Aufnahmegerät und hielt Maria ein Mikrofon unter die Nase. “Kann ich Ihnen ein paar Fragen stellen zu Pacific Standard Time und Ihrer Arbeit?”

Sie kennen die Antwort. Doch der Kollege blieb hartnäckig. “Nein, ganz einfache Fragen, ganz schnell.” Maria sah zwischen mir und dem Kollegen hin und her. “Ich weiß nicht, ich mach das eigentlich nicht… Und eigentlich habe ich Kerstin hier …”

Auf dieses Stichwort stand ich auf. “Kein Problem. Macht was Ihr wollt. Ich geh!” Ohne mich noch einmal umzusehen verließ ich den Austellungsraum. In meinem Bericht kam Maria mit keinem Wort vor, obwohl ihr schwarz-weiß-Film aus dem Jahr 1967 wirklich sehenswert ist. 

Sie schrieb mir noch am selben Tag eine Email wie nett es gewesen sei, mich kennen zu lernen und welch gute Diskussionen wir geführt hätten. Jetzt könnte es auch mit einem Interview klappen. Sie habe mit dem netten Kollegen schonmal geübt.   

 

 

 

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Rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrums! – Martin Zöller über seine Angst vor den Balkonen der Nachbarn

Träumen darf man ja, nur bringt’s halt manchmal nichts. Zum Beispiel in Rom. Jeder der nach Rom geht, träumt von einer Dachterrassenwohnung. Nur sind diese Wohnungen so teuer, dass man sie sich eh nicht leisten kann. Deshalb wohne ich zum Beispiel im ersten Stock und schaue neidisch von meiner schattigen Terrasse hinauf zu den sonnigen Höhen der Nachbarn.

 

                       

Doch Vorsicht: Da meine Terrasse größer ist, als die Balkone darüber, sind schon zwei Mal Blumentöpfe von oben hinuntergekracht. Sie verfehlten mich knapp, anders übrigens als jener schwarze Socke, der mitten auf meinen Pasta-Teller segelte.

Doch jetzt geht’s den Oben-Wohnern an den Kragen. Die Polizei hat sich angekündigt und will alle Balkone des Hauses überprüfen. Der Grund: Kürzlich hatte ein Nachbar die Feuerwehr gerufen, weil es im ganzen Haus nach Gas stank – die Feuerwehr spürte das Gas-Leck auf: Auf dem Balkon des Nachbarn. Dieser hatte frecherweise seinen Balkon zur Küche ausgebaut und offenbar die Gas-Anschlüsse versemmelt. Hmm, dachte sich so die Baupolizei. Wie werden wohl die anderen Balkone genutzt? Zum Frische-Luft-Schnappen und Geranien-Gießen? Oder für was? 

 

Deshalb ist mein Freund und Nachbar Andrea jetzt in Panik.

                   

Denn auch Andrea hat kürzlich seinen Balkon ausgebaut und zwar zur Superküche: Man rührt in der Spaghettisoße und schaut auf die Kuppel des Petersdoms. Er hatte sogar wilden Wein und Jasmin angepflanzt, um den Schwarzbau zu tarnen. Und jetzt? “Eeeeeeeeeeh”, macht Andrea. Er weiß es nicht.Er tut mir leid. Er hat die Küche nicht aus Spaß auf den Balkon gebaut, sondern weil seine Frau ein drittes Kind erwartet. Und eine größere Wohnung können sie sich nicht leisten. Was für Andrea schlimm wäre, wäre für andere höchstens ärgerlich: Frau Lovello müsste ihr Esszimmer und den Fernseher wieder nach innen verlegen, und Frau Prosperi müsste anderswo Platz für Waschmaschine, Trockner und Gefriertruhe finden.

Doch vielleicht passiert auch gar nichts: Trotzig sagen im Haus nun alle, sie würden einfach in Zukunft nicht mehr aufmachen, wenn es an der Tür klingelt – könnte ja die Polizei sein. Aber was, wenn draußen an der Tür eine energische Stimme sagt “Polizia!” – und plötzlich fängt Andreas jüngster Sohn, der einjähige Alessandro, zu schreien an? “Dann wären wir verraten”, sagt Andrea mit ernstem Gesicht.

So leid es mir täte für Andrea: ich kann der Balkon-Prüfung auch etwas Gutes abgewinnen. Denn von Balkonen stürzende Socken und Topfpflanzen kann ich vielleicht noch schwerverletzt überleben. Wenn aber alle sechs Balkone über mir mitsamt Küchen, Kühlschränken., Waschmaschinen und Fernsehern auf meine Terrasse stürzen während ich dort Spaghetti esse, was dann? Dann hätte ich viel zu schnell doch noch meine Dachterrasse. Eine flauschige Wolke im Himmel mit Panoramablick.

 

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Nie wieder Golf, immer wieder Schafe

Heute mache ich etwas, was ich mein ganzes Leben standhaft vermieden habe: Ich gehe zur Uni. Nur eine Stunde lang. Ich werde vor Christchurchs Journalistikstudenten als leibhaftige Auslandskorrespondentin Rede und Antwort stehen. Hoffentlich hängen die Erwartungen da mal nicht zu hoch. Immerhin kann ich akute Verletzungen vorweisen. Keine Augenklappe wie Kriegsreporterin Marie Colvin von der Londoner Sunday Times im Irak, aber fast: Eine Platzwunde auf der Braue und ein grünlila Veilchen.

Das habe ich vom Golfspielen. Golf habe ich ebenfalls mein ganzes Leben vermieden, aber vor einer Woche wurde ich als Familienbegleitung zu einer kleinen Medizinerkonferenz in eine Art Landhotel eingeladen – eines von der überteuerten Sorte, die gerne unter dem blumigen Namen ‚boutique accomodation‘ laufen und amerikanischen Besuchern gefallen sollen. Was in dem Fall bedeutete, dass man sich ein Polohemd mit dem Logo des Resorts kaufen konnte und eine einfache Massage das Dreifache wie daheim kostete. Ich sparte mir Massage wie Polohemd, dafür ließ ich meine Söhne minderjährig und unerlaubterweise im Golfwägelchen herumkreuzen. Zum Abschluss wollten sie mir kurz die Driving Range demonstrieren. Und so geschah es, dass ein Schläger mit voller Wucht in meinem Gesicht landete.

Drei Tage später musste ich mich auf einen Korrespondenteneinsatz begeben. Ich sollte für ein schönes Wochenendmagazin eine schöne Farm in den Bergen besuchen und was Schönes schreiben. Sowas Angenehmes mache ich nicht alle Tage, davon konnte mich auch die leichte Gehirnerschütterung nicht abhalten. Angeregt worden war der ‚interaktive Homestay‘ von der Tourismuswerbung Neuseelands, die sich tolle Sachen einfallen lässt und Medien gerne unter die Arme greift. Doch die Sache bekam einen Haken. Wäre es doch ein Angelhaken gewesen! Aber nein, statt übers Forellenfischen oder Jetboatfahren, statt über die köstlichen Weine der Region oder gar die grünen Golfplätze Queenstowns – indiskutabel, siehe oben – wollte ich übers Schafescheren berichten. Was irgendwie nahe liegt, da es auf der Farm von 29.000 Merinoschafen wimmelt, die gerade unters Rasiermesser kommen.

Diese Interaktivität war so gar nicht im Sinne der PR-Strategen. Schafe und Neuseeland: Das passt zwar – excuse the pun – wie die Faust aufs Auge, soll aber tunlichst in jedem gedruckten Zusammenhang vermieden werden. Total imageschädigend! Schließlich hat unser Aotearoa so viel mehr zu bieten. Seit Jahren heißt das inoffizielle Motto der Tourismusbehörde ‚Don’t mention the sheep‘. Was übersetzt meinem Buchtitel „Was scheren mich die Schafe“ entspricht. Ich stehe im Fronteinsatz nach Möglichkeit auf der richtigen Seite.

Also ließ ich mich auf der Farm aus Rücksicht auf diese Befindlichkeiten nicht im Schafstall fotografieren, sondern mit einem Huhn auf dem Arm. Das flatterte erbost auf, verhakte sich mit seinen Krallen in meinem Ärmel und stach mir mit dem Flügel um ein Haar ins kaputte Auge. Die Studenten werden staunen.

 

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Lesson learned…

Es war drei Uhr in der Früh, als vergangenen Dienstag bei uns die Lichter ausgingen. Ich hatte gerade alles, was im Garten rumstand und hätte wegfliegen können, ins Haus gebracht. Warum ich das nicht vor dem ins Bett gehen gemacht habe, weiß ich nicht. Mir war klar gewesen, dass ein Taifun auf Manila zu rauschte, aber ich brachte es irgendwie nicht mit mir in Verbindung. Bis der Sturm mich wachtrommelte und mir klar wurde, dass ich zum zweiten Mal in diesem Jahr null Vorbereitungen für eine nicht unerwartete Ausnahmesituation getroffen hatte.

Das erste Mal hatte es uns in Tokio erwischt. Als sich am 3. März die Erde in einen sich wütend hebenden und senkenden Untergrund verwandelte und die Hochhäuser wie in einem Horrorfilm schwankten, stand ich buchstäblich mit leeren Händen da. Obgleich ich seit unserer Ankunft in Japan im Sommer 2009 gewusst hatte, dass dem Land ein großes Beben bevorstand, war es beim guten Vorsatz geblieben, Notfalltaschen zu packen und immer ausreichend Lebensmittel- und Wasservorräte im Schrank zu haben. Ich hatte mich damals verantwortungslos geschimpft und es als gerechte Strafe gesehen, dass ich in den Tagen nach dem Erdbeben durch etliche nahezu geplünderte Läden in der Nachbarschaft streifen musste, um ausreichend Wasser und unverderbliches Essen für einige Tage aufzutreiben.     

Und nun hat es mich am Dienstag ähnlich kalt erwischt. Am Montag war keine Wasserlieferung gekommen – ich merkte es erst, als es für eine Reklamation zu spät war und sah betrübt auf die leeren Wasserflaschen. Dafür hatte ich einen Großeinkauf durchgezogen, der Kühlschrank und die Tiefkühltruhe waren bestens gefüllt. Nur ohne Strom und bei tropischen Temperaturen verwandeln sich Lebensmittel ruck zuck in ungenießbares Zeug.

Ich fand genau zwei kleine Taschenlampen – perfekt, um zwei Kindern die Angst in einem stockfinsteren, sturmumtosten Haus zu nehmen. Telefon und Internet gingen nicht und die Batterie meines Handys war nahezu leer. Aufladen ging nicht – kein Strom. Trotz umherfliegender Äste und Weltuntergangsstimmung musste ich nach einer schlaflosen Nacht also wieder Noteinkäufe machen: Drei Säcke Eis für den Kühlschrank, große Stand-Taschenlampen mit 40 Stunden Laufzeit und jede Menge Kerzen. Zur Beruhigung der Nerven Kekse mit Schokofüllung.

 Gut, dass noch welche übrig sind. Tropensturm Quiel ist im Anmarsch, bis morgen früh soll er über unserer Insel wüten. Draußen schüttet es bereits, und die Palmen beweisen im Wind, wie biegsam sie sind. Doch diesmal kann ich gemütlich durchs Fenster schauen und Schokokekse knabbern. Trinkwasser, kühlende Eissäcke, Taschenlampen – alles ist an Bord. Lesson learned…

 

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Die Tapferkeit der Provinz

Hurrikan Irene – schon vergessen? Erst einen Monat ist es her, dass ganze Stadtviertel in New York evakuiert wurden, weil Meteorologen den Wirbelsturm durch die Metropole ziehen sah. Irene jedoch umkurvte die Großstadt weitgehend (siehe Blog vom 30.8.). Für die meisten New Yorker war die Sache damit erledigt. Nicht so für die Bewohner des Umlands, wie ich vor zehn Tagen bei einem Besuch der Catskill Mountains feststellte, einem Mittelgebirge rund 150 Kilometer nördlich des Big Apple.

Natürlich hatte ich von den Schäden gelesen, die der Sturm dort und auch in Vermont angerichtet hatte. Aber die unmittelbare Konfrontation mit den Schäden war erschütternd. Die Cold Spring Lodge bei Oliverea, in der sich unsere Hütte befand, war wundersamerweise verschont geblieben. Nur 50 Meter weiter jedoch hatte sich ein kleiner Fluss in einen reißenden Strom verwandelt, Häuser geflutet, Terrassen und Balkone weggerissen, Boote von Anhängern weggetragen und in die Wildnis geworfen.

 

Wir gingen die Landstraße ein Stück bergan und kamen an zwei riesigen Erdrutschen vorbei, glücklicherweise auf unbesiedeltem Terrain. Einige hundert Meter weiter hatte die Flut ein komplettes Haus aus dem Fundament gehoben – es handelte sich ausgerechnet um den örtlichen Lebensmittelladen. Die Besitzer muss so etwas wie Galgenhumor getrieben haben, als sie nach dem Desaster ein Verkaufsschild aufstellten und darunter schrieben „Flexible Price“.

 

 

 

 

 

Der nächste Supermarkt in Pine Hill ist etwa zehn Kilometer entfernt, und die Inhaberin erzählte, dass ihre Regale wie leer gefegt gewesen seien, weil die Menschen nirgendwo anders hätten einkaufen konnten. Sie sagte das nicht wie jemand, der ein gutes Geschäft gemacht hat. Sie wirkte eher, als stünde sie noch immer unter Schock.

Doch die meisten Menschen in der Katastrophenzone strahlten eine beeindruckende Mischung von Tatkraft und Gelassenheit aus. Etwa in Margaretville, eine Kleinstadt, die so stark zerstört wurde, dass ihr Präsident Barack Obama seine Aufwartung machte. Wir trafen dort am Sonntag um die Mittagszeit ein und parkten vor dem Tempel der Freimaurer. Eine ältere Frau saß vor dem Haus auf einem Gartenstuhl und sprach Passanten an, auch mich: Ob wir Putzgerät bräuchten, zum Säubern der vom Schlamm verdreckten Häuser? Durch eine Spende war sie in Besitz größerer Mengen Schrubber und Besen gelangt. Die lagerten nun im Treppenhaus der Freimaurer. „Nachher beginnt deren Versammlung, dann nehmen die den Rest mit“, hoffte die Dame.

Ein paar hundert Meter weiter hatte der Sturm ein halbes Geschäftszentrum weggerissen, aber die Läden hatten schon wieder geöffnet – in provisorischen Räumen in der nahe gelegenen Hauptstraße. Ein Drogist hatte ein Schild an der Tür, dass er „mindestens ein Prozent“ seiner Einnahmen der Monate September und Oktober den Flutopfern spenden werden. Und ein Schnellimbiss hatte trotzig ans Fenster geschrieben: „Was uns nicht umbringt, macht uns nur härter!“

 

 

 

 

 

 

 

Man kann nur hoffen, dass sich die Leute diese optimistische und solidarische Haltung bewahren. Von Vater Staat haben sie wenig zu erwarten: Die zerstrittenen Parteien in Washington konnten sich über Wochen hinweg nicht auf ein Hilfspaket einigen.

Fotos: Christine Mattauch

 

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Mit Adidas Richtung KZ

Vorletzten Freitag war ich auf einem Pokerabend. Zum Zocken kam es aber nicht, denn kaum wandte sich der unpatriotische Gastgeber dem Wein zu,  da schaltete ein Sportsfreund schnell den Fernseher an. Es lief nämlich die Eröffnung der Rugbyweltmeisterschaft auf heimischem Boden. Wer die verpasst, der kann auch gleich „nach drüben gehen“, also zum Erzfeind Australien.  

Was wir sahen, war bombastisch und rührte selbst das härteste Pokerface: Gesänge und Maori-Tänze, Feuerwerk und Nationalhymne, Pathos und Poesie. Unser Gastgeber murrte nur einmal im Hintergrund – „was das alles kostet, davon kann man halb Christchurch wiederaufbauen“ – aber wurde von der Runde weggezischt. Und dann gewannen die All Blacks auch noch im Auftaktspiel gegen Tonga. Welch ein Abend! Gänsehaut pur. Doch in Auckland, wo das ganze Spektakel unter freiem Himmel bei schönstem Wetter stattfand, wurde die Heldenfeier als mittlere Katastrophe verbucht.

In Neuseelands Metropole waren rund 200.000 Fans aus aller Welt aufgelaufen. Die wenigsten von ihnen schafften es zum Stadion und sahen wie wir vor dem Bildschirm den Traum in Türkis. Der öffentliche Verkehr der Stadt brach komplett zusammen. Überfüllte S-Bahnen standen zwei Stunden auf den Gleisen, ein Bus fuhr in eine Gruppe Fußgänger. Totales Chaos. In bester Diktatorenmanier entzog Neuseelands Rugby-Minister prompt Aucklands Bürgermeister die logistische Oberaufsicht. Und Raybon Kan, Komiker und prominentes Lästermaul, twitterte kurz darauf ins Volk: „Vielleicht sollte Adidas den Nahverkehr übernehmen. Nette deutsche Firma. Die wissen, wie man Tausende auf Züge verlädt.“

Nun hat sich Adidas weiß Gott nicht immer mit Ruhm bekleckert. Und ich meine damit nicht die Tatsache, dass Firmengründer Adi Dassler Nazi war, genauso wie sein Bruder Rudi, dessen Schuhfabrik auch Panzerschrecks für die Wehrmacht  herstellte. Immerhin nannte sich die Firma nicht nach Adis vollem Geburtsnamen, sonst hieße sie jetzt Adolfdas. Nein, was den Kiwis aufstieß, war der Trikot-Skandal. Adidas hatte sich nämlich erdreistet, das offizielle Rugby-Shirt der Nationalmannschaft im Lande der All Blacks zum Wucherpreis von 220 Dollar anzubieten, obwohl der Fummel im Internet weltweit bis um die Hälfte billiger zu erstehen war. Ein Eigentor und ein PR-Desaster, das die Kiwis dem Sportmulti nicht verzeihen. Aber dafür gleich als Zugführer auf den KZ-Transport?

Raybon Kans Tweet rief die erwartete Empörung hervor: Antisemitisch sei das, da den Schrecken des Holocausts dreifach gestreift mit Füßen tretend. Wie immer in solchen Fällen wurde der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde um Stellung gebeten, und wie immer mahnte der gute Mann milde, aber verteidigte das Recht auf freie Rede. Als einziger Kommentator merkte er an, dass Kans Transport-Witz ja auch den „modern Germans“ Unrecht täte. Worauf ihm der Komiker prompt Recht gab. Wenn überhaupt, habe er die Deutschen beleidigt, nicht die Juden. Schon okay. Wir haben ja noch nicht mal eine Rugbymannschaft bei der WM.

 

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Der unglaubliche Tschitscho – Über den beliebtesten Laden in meinem Stadtviertel

Gut möglich, dass all das, was derzeit in meiner Nachbarschaft los ist, undenkbar wäre ohne diesen einen Tag im Frühjahr 2008. Den Tag an dem Italiens Innenminister Roberto Maroni sagte, dass er es nicht für illegal hielte, Musik übers Internet zu tauschen: Ja dass er das sogar selber mache. Es war eine Sensation, in etwa so, als würde ein Arbeitsminister sagen, dass er Arbeitslosigkeit prima fände oder ein Außenminister, dass er andere Länder grundsätzlich doof fände. 

Denn seither kennen die Italiener überhaupt keine Scheu mehr, was das illegale Runterladen von Musik im Internet angeht. Mein Freund X beispielsweise rechtfertigt seine mehreren Gigabyte Musik mit: “Der Roberto Maroni macht das doch auch.” Und Roberto Maroni muss auch jetzt wieder herhalten für das neue Geschäft oben in meiner Straße. “Irre, oder?”, sagte ich kürzlich zu meinem Nachbarn Andrea. Er lachte nur und meinte: “Wieso, Roberto Maroni macht das doch auch!”

Denn das neue Geschäft oben in meiner Straße ist eine Videothek. Daran wäre zunächst nichts besonderes, würde der Eigentümer namens Ciccio – sprich “Tschitscho” –  dem normalen Geschäftsmodell von “Videothek” folgen: Originalfilme verleihen. Doch “Ciccio” verleiht nicht, er verkauft. Und zwar gebrannte Filme, Raubkopien. Nicht heimlich unter der Ladentheke, sondern im großen Stil.  Jeder im Viertel weiß das. Als würde ein Autohändler in aller Öffentlichkeit geklaute Autos verkaufen.

“Ciccio” ist zum neuen Star in meiner Nachbarschaft geworden: Man geht in den Laden hinein, schaut sich Hüllen von Original-DVDs an und sagt dann, dass man ein “Sicherheitskopie” von Film X oder Y benötige.  Und weiß man keinen Film, von dem man eine “Sicherheitskopie” braucht, empfiehlt “Ciccio” gerne den ein oder anderen “Driller-e”, er meint damit “Thriller”. Ciccio hat es in kurzer Zeit zum beliebsten Bewohner des Viertels geschafft, und er hat viel zu tun. Soviel, dass er kürzlich DVDs vertauschte und einer Dame um die 60 eine “Sicherheitskopie” eines  – naja – “Dokumentarfilms über körperliche Liebe” gab. Man erzählt sich in der Nachbarschaft, die Dame habe wutentbrannt Ciccios Laden betreten, Ciccio habe alles abgestritten, die DVD eingelegt und dann beim Betrachten einschlägiger Szenen gesagt: “Oh, ha ragione Signora.” Oh, Sie haben recht, Signora.

Vor wenigen Tagen dachte ich nun, Ciccios Tage seien gezählt: Ein Polizeiwagen stand vor dem Eingang. “Hab ichs doch gewusst”, dachte ich bei mir, “dieses Geschäftsmodell konnte ja auch nicht gut gehen.” Am Abend erzählte ich meinem Nachbarn Andrea von meiner Entdeckung, der lachte nur: “Das waren bestimmt Kunden.” Ich hielt das für unmöglich. Doch tatsächlich ist Ciccios Laden auch heute wieder geöffnet.

Nun bin ich gespannt, welche Gesetzesüberschreitung Roberto Maroni demnächst zugibt – und welches die Folgen sind: Was etwa würde passieren, wenn er sagt: “Ich gebe zu, ich baue leidenschaftlich gern Sandburgen”.  Das nämlich ist am Strand der Adria-Gemeinde Eraclea verboten. Bauen dann alle Italiener wie verrückt Sandburgen?  Nicht auszudenken, wenn Maroni kleinlaut zugeben würde, er küsse gern im Auto und übertrete so das lokale Gesetz im süditalienischen Eboli. 60 Millionen Italiener würden ins Auto springen und knutschen. Gar nicht schlecht, dann wären mal die Straßen frei. Obwohl, wie ich die Römer kenne, knutschen sie auch während der Fahrt.

 

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“Angenehm, Herr Muskel” Über das unverkrampfte Verhältnis der Römer zu Gift

Ich wachte auf, und der weiße Nebel schob sich schon in mein Wohnzimmer. Oh Gott, ich war auf dem Sofa eingeschlafen! Panisch hielt ich die Luft an, sprang auf, drückte die Terrassentür zu, rannte aus meiner Wohnung und atmete erst wieder, als ich im obersten Stockwerk des Hauses vor der Wohnungstür meines Nachbarn und Freundes Andrea stand.  Endlich in Sicherheit! Als er öffnete und mich einließ, sagte ich nur: “Sie sind wieder da”.

“Sie” das sind gewaltige weiße Maschinenwägen der römischen Stadtverwaltung, die sich derzeit jede Woche durch mein Stadtviertel drängen und weißen Nebel aussprühen: Gegen die sogenannten “Zanzare Tigre”, die “Tigermücken”, besonders angriffslustige und durstige Mücken. Natürlich, ich bin grundsätzlich froh, dass die Stadt etwas unternimmt, misstraue aber den Mitteln. Da kann Andrea noch so oft mit dem Faltblatt der Stadt Rom wedeln, wo etwas von “natürlichen Wirkstoffen” bei der Mückenbekämpfung steht. “Keine Sorge”, sagt er dann. Und warum steht in dem gleichen Faltblatt auch:  “Signori e Signore, bitte Fenster und Türen geschlossen halten?”. 

Ich bin überzeugt, der weiße Nebel besteht aus Batteriesäure oder DDT. Denn die Römer haben ein sehr unverkrampftes Verhältnis zu Brachial-Mitteln, sie sind so, wie wir vielleicht in den 70er Jahren. So war es eben auch Andrea, der mir, als mal mein Waschbecken verstopft war, umgehend “Mr. Muscolo” in den Ausguss schüttete, einen Abflussreiniger, der übersetzt “Herr Muskel” heißt.

Das giftgrüne Gel schob sich zischend und dampfend in mein Waschbecken hinein.  Das Problem löste er nur kurz: Als einige Wochen später wieder der Ausguss verstopft war und ich im Fachhandel nach einer Pumpe fragte, verkaufte mir sie der Händler nur widerwillig. “Ich empfehle aber Mr. Muscolo”. In jeder Putzmittelabteilung eines Supermarkts bekäme ein Despot eines Schurkenstaats leuchtende Augen, angesichts des dortigen Chemiewaffenarsenals. Aus dem bedient sich übrigens leider auch die Putzfrau im Büro. Sie wischt den Boden mit einem Ammoniakreiniger, der so in der Nase beißt, dass mir zuweilen die Augen tränen. Hmm. Lassen sich durch den Ammoniakreiniger auch die Ticks jener Kollegen erklären, die hier schon seit zehn oder mehr Jahren arbeiten? Das seltsame Kichern des Spaniers? Das einem Wolfsheulen ähnelnde Räuspern des Engländers?

Am Montag ist wieder weißer-Nebel-Vormittag, ich werde Fenster und Türen diesmal rechtzeitig schließen. Gut möglich, dass die Tigermücken schon längst immun sind gegen das Spray. Ich rechne jeden Tag mit der Nachricht in der Zeitung, der römische Stadtrat habe beschlossen, in Zukunft “Mr. Muscolo”-Gel versprühen zu lassen.

 

 

Ach ja. Mein Vermieter nahm das von “Mr. Muscolo” verätzte Waschbecken übrigens auf die leichte Schulter. Ich erzählte vom verstopften Ausguss und dem Gegenmittel meines Nachbarn Andrea, und mein Vermieter sagte. “Va be, Mr. Muscolo è cosi”. So sei Mr. Muscolo eben nun mal.

 

 

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Jeder für sich, gemeinsam gegen Sarkozy

Da standen sie nun vor der Kamera des französischen Fernsehsenders France 2, die sechs Bewerber für die sozialistische Präsidentschaftskandidatur. Zu Anfang ein bisschen nervös, etwas bemüht, schließlich geht es um viel. Ségolène Royal, die bereits 2007 gegen Nicolas Sarkozy angetreten war und verlor, zeigte sich mit Abstand am besten geschminkt. Doch ihr gewinnendes Dauerlächeln hatte etwas irritierendes. Offenbar hatten ihre Berater es verordnet, damit sie trotz der allgemeinen Krisenstimmung vor allem Zuversicht verbreite. Aber punkten konnte sie bei diesem knapp dreistündigen TV-Politmarathon mit ihrem ‘I can do it’-Grinsen nicht.

Royal, Franҫois Hollande (der in den Umfragen vor dem Fernsehduell führte), Martine Aubry, Manuel Valls, Arnaud Montebourg und der sich als Statist gebärdende Jean-Michel Baylet – sie alle wollten ihr Profil vor den für den 9. Oktober angesetzten Vorwahlen der Parti Socialiste schärfen. Aber auch gleichzeitig die gemeinsame linke Plattform stärken. Hollande: „Das Wichtigste ist, dass uns (bei den Präsidentschaftswahlen) 2012 der Wechsel gelingt. Ich habe nur ein Ziel: Dass die Linke gewinnt.“ Natürlich am besten mit ihm an der Spitze. Ein Ende des für Frankreich tragischen Sarkozysmus sei notwendig, darin waren die sechs potentiellen Frankreich-Retter sich einig.

An diesem langen Fernsehabend, dessen Ausgewogenheit sorgfältig geplant war, wurden mehr oder weniger vage Programme vorgestellt, nichts Neues, nichts Überraschendes. Ein paar unterschiedliche Ansätze, Akzente. Aber nichts, was den informierten Zuschauer sehr viel weiter bringen konnte. Die Finanzen wollen sie alle restrukturieren, mehr soziale Gerechtigkeit soll geschaffen werden, gleichzeitig müsse Frankreich aus der Schuldenfalle raus, den Ausbildungssektor wollen sie stärken. Schließlich garantiere die Jugend die Zukunft der ‘Grande Nation’. Ach ja! Und ein paar grüne Ideen dürfen auch nicht fehlen, denn in Frankreich erwacht so langsam das ökologische Bewusstsein. Ja, sogar mit Blick auf die Nuklearpolitik.

Spannender als Finanzmodelle gespickt mit Slogans und Bankenschelte sind die unterschiedlichen Persönlichkeiten der drei Hauptkontrahenten. Franҫois Hollande, der sich so gerne als freundlich, humorvoll, zuverlässig und völlig „normal“ gibt, zeigt seine Terrier-Qualitäten. Es passt ihm nicht, in Frage gestellt zu werden. Er kann ganz schön verbissen dreinschauen, wenn seine Rivalen sich positiv in Szene setzen. Und sogar wütend bellen. Hollande redet ohnehin viel und gerne. Martine Aubry scheint präziser, auf souveräne Weise kämpferisch. „Je suis claire – Ich bin klar“ ist einer ihrer liebsten Nachsätze. Nur falls es jemand nicht gemerkt haben sollte. Sie hat in meinen Augen etwas „Merkeliges“ – diesen sehr ernsten Zug, mit einem starken Unterton von mütterlicher Sorge für die Nation gepaart mit deutlichem persönlichen Machtwillen. Das macht sie nicht unbedingt charismatischer. Aber es könnten ihre Entschiedenheit und in der Tat Klarheit sein, die sie als Persönlichkeit präsidiabel machen. Und Ségolène Royal? Sie lächelt nett, wirkt sympathisch, ein bißchen gebremst, wedelt mit ihrem Programm für die Nation und bleibt ohne nachhaltige Wirkung.

Für mich ist Aubry bei diesem Polit-TV-Marathon ohne große Überraschungen aber mit durchaus unterhaltsamen Passagen die Punktsiegerin. Wie die anderen knapp 5 Millionen Fernsehzuschauer (laut Médiamétrie war die Debatte mit 22,1% der Zuschauer der Spitzenreiter des Abends und schlug damit sogar knapp den populären Kochwettbewerb „Masterchef“ auf TF 1) das einschätzen, dürften die nächsten Umfragen zeigen.

 

 

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Widerstand in bunten Hosen

Einladungen nach Hause bin ich als Reporter gewöhnt, doch nur selten greifen meine Gastgeber nach dem Interview zur Klampfe. Arkadijus Vinokur, Jahrgang 1952, saß an einem Spätsommerabend auf dem Sofa, barfuß, das graue Haar zum Zopf gebunden. Er sang mir im schönsten Litauisch eine Weise. Es ging um die unglückliche Beziehung des Poeten zum Frühling.

Seine geographische Randlage in einem Vorort von Vilnius macht der stolze Spross einer jüdischen Familie mit einer Vielzahl von Talenten wett: Mit seiner Frau hat Vinokur in Litauen überaus populäre Kinderbücher geschrieben. Er hat ein Sudelbuch über den Eros und seine vielfältigen Facetten vorgelegt, das die tiefkatholischen Litauer vor Scham erröten ließ. In der  Zeitung Lietuvos Rytas geisselt er die populistischen Kampagnen der Nationalisten und die Intoleranz gegenüber Homosexuellen. Als Berater des Premiers Andrius Kubilius hat der streitbare Kreative unlängst ganz nebenbei den seit Jahren schwelenden Konflikt um die Rückgabe des jüdischen Eigentums gelöst.

Kürzlich traf ich dieses Talent mit den vielen Leben wieder: in Stockholm, wo er nach seiner Ausweisung durch den KGB drei Jahrzehnte als Clown und Dichter überdauert hatte. Noch einmal las er seine Gedichte auf dem Norrmalmstorg. Dort versammelten sich an jedem Montag die Exilanten und ihre Freunde zum friedlichen Protest – vom März 1990 bis zum September 1991. Es waren Kundgebungen der Sympathie. Für die Aufrechten in Estland, Lettland und Litauen. Die in mächtigen Chören von der Zeit des Erwachens und von der Freiheit sangen. Die sich zu einem 600 Kilometer langen Lindwurm aus Menschenleibern formierten – von Tallinn über Riga bis Vilnius. Mein Porträt von Arkadijus Vinokur zum Nachhören beim WDR.

 

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Happy Feet, unhappy fish

Eine denkwürdige Woche. Am Sonntag feierten oder besser betrauerten wir das erste Jahr in einer Erdbebenzone. Damals, am 4. September 2010, wurden wir um 4.35 Uhr von einem furchtbaren Getöse aus unseren Betten und Häusern geschmissen und wussten noch nicht, dass das erst der Auftakt war. Jetzt aber schnell zu den guten Nachrichten, bevor alle katastrophenmüde werden und uns niemand mehr besuchen kommt: Am Freitag beginnt die Rugby-Weltmeisterschaft, hurra! In Aotearoa herbeigesehnt wie einst in Bethlehem die Ankunft Christi. Oder ein neues Apple-Handy in New York.

Aber die eigentliche Sensation passierte am Montag: Happy Feet rutschte mit seinen glücklichen Füßen voran ins Meer. Nach der Aufpäppelung im Zoo von Wellington wurde unserem berühmtesten Pinguin in der subantarktischen See die Freiheit geschenkt. Eine Sonde wird ihn bis zur nächsten Mauser begleiten. Falls ihn vorher kein Hai frisst.

Wer Happy Feet nicht kennt, hat wahrscheinlich auch Knut, den Eisbären, verpasst, und das will schon was heißen. Man konnte dem Vogel die letzten Wochen nicht entkommen. Der dicke Königspinguin war an der Küste Neuseelands gestrandet, über 3000 Kilometer von seiner kalten Heimat entfernt. Statt Schnee zur Abkühlung schluckte er Sand und drohte zu verenden. Ein Rätsel der Natur: Wie konnte er so weit schwimmen? Hatte er sich verirrt? Seine Retter tauften ihn ‚Happy Feet‘ nach besagtem Zeichentrickfilm. ‚Forrest Gump‘ hätte vielleicht besser gepasst: Schwimm, Forrest, schwimm!

Und er schwamm. Was darauf schließen lässt, dass das Tier wahrscheinlich einen genetischen Schaden hat, da sein Orientierungssinn so erbärmlich versagte. Ob es nach darwinistischem Prinzip sinnvoll ist, einen Pinguin mit defekter DNA zurück in seine Kolonie zu entsenden, sollen die Forscher entscheiden. Ob es jedoch sinnvoll war, rund 30.000 Dollar in die Pflege und in etliche Operationen für ein einziges Tier zu pumpen, wird nun rund um den Globus diskutiert.

Nicht, dass die halbe Million Königspinguine am Südpol vom Aussterben bedroht sind. Bedroht dagegen ist die Zahl der Neuseelandtouristen in diesem Erdbebenjahr, und da ist jede Investition in tierliebe Publicity nur recht. Bei den tatsächlich gefährdeten Insekten-, Motten- oder Reptiliensorten funktioniert so ein Medienhype ohne putziges Disney-Vorbild leider nur schlecht.

Dumm ist auch, dass Neuseelands Sorge um Flora und Fauna am Polarkreis endet. Denn die Kiwis fischen fröhlich in einem der letzten unberührten Gewässer der Welt und ziehen Tonnen an antarktischem Seehecht aus dem Meer, der sich im Jahr für umgerechnet 10 Millionen Euro als ‚Toothfisch‘ in amerikanischen Edelrestaurants verkaufen lässt. Warum also, wie 25 andere Nationen, eine Konvention unterzeichnen, die die 650.000 km2 der Ross-See zur Marineschutzzone erklären würde? Falls es Happy Feet dorthin nach Hause schafft, ist er dann gar nicht mehr so happy, weil ihm irgendwann das fischige Futter ausgeht.

 

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Klinsi coacht und keiner schaut hin

 

Es ist ein herrlicher Sommerabend im Fussballstadion südlich von Los Angeles:die Abendsonne scheint mild auf den saftigen grünen Rasen, wo sich junge Spieler und erfahrene Fussballveteranen fröhlich den Ball zukicken, angetrieben von UNSEREM KLINSI, dem neuen Nationaltrainer der US-Fussballmännermannschaft!.

Es ist ein öffentliches Training vor dem Freundschaftsspiel gegen Costa Rica, Eintritt frei – und keiner schaut zu. Naja, ok – ein paar Fans sind gekommen. Die Veranstalter sagen, es sind 2000, die die Südkurve füllen. Ihre Mischung bestätigt Statistiken, dass in den USA vor allem Kinder und Familien mit lateinamerikanischem Hintergrund von Fussball begeistert sind. Den Namen des neuen Trainers kennen sie auch:  “DSCHÖRGÄN KLIIIIIIINSMÄN” rufen sie auf die Frage, wer die Nationalmannschaft zum Erfolg bei der WM 2014 in Brasilien führen soll. Sie erwarten viel: Härte, Können, Wissen, Trophäen, Meisterschaften und den “Sechsten Sinn eines Weltmeisters, der weiß, welche Strategien zum Sieg führen” . Erstmal wollen sie aber vor allem Autogramme und ein Foto mit dem deutschen Fußball-Superstar.  

 

Der hat bisher mit dem US-Team nicht so viel Erfolg. In drei Freundschaftsspielen gab es ein Unentschieden und zwei Niederlagen. Das Team ist zwar gut gelaunt, Klinsi scheint alle mit seiner positiven Motivation gehörig anzustecken. Sie spielen angriffslustig aufs Tor, aber treffen tut keiner und nun müssen sie langsam mal gewinnen – sonst gibt es Stress. Oder auch nicht – denn abgesehen von ein paar auf Fussball spezialisierten Reportern und unerschütterlichen Fans kriegt die US-Sportwelt von all dem nicht viel mit. Sie ist nämlich mitten im NFL-Fieber. Am Donnerstag ist das Eröffnungsspiel für die Football-Saison. Sogar Präsident Obama musste seinen Terminplan danach richten und hat seine Rede zur Arbeitslosigkeit nach vorne verlegt um nur ja keine Football-Fans zu verärgern!

Fussball? Soccer? Interessiert hier niemanden wirklich. Und das ist für Klinsi ein Segen. Anders als in Deutschland, wo er dem Medienzirkus mehrmals am Tag jeden Kick, jedes Augenzwinkern und jeden Trikotwechsel erklären musste, kann er hier weitgehend unbeachtet fröhlich weiter experimentieren. Und im nächsten Jahr, wenn die WM-Qualifikation beginnt hoffentlich alle überraschen. Wenn dann jemand hinschaut. Die NFL-Saison ist im Juni zwar lange vorbei, aber Basketball mitten in der heissen Playoff-Phase. 

 

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“Rothschild, Ecke Tahrir”?

 

“Rothschild, Ecke Tahrir” steht auf dem Betttuch, das seit mehr als einem Monat zwischen zwei Ästen eines Baumes über einem rot getünchten Freiluft-Zimmer auf dem Tel Aviver Rothschild Boulevard aufgespannt ist. Das Rothschild-Protestcamp liegt heute verlassen da. Das Spruchband schaukelt geräuschlos im Wind hin und her.

Es ist der 1. September, das neue Schul- und Kindergartenjahr beginnen heute in Israel. Eltern kehren in ihre Büroetagen zurück, die großen Ferien und kleinen Ferienvergnügungen sind vorbei. Und die Regierung Netanjahu atmet vermutlich erleichtert auf und hofft, dass der israelischen Protestbewegung nun endlich die Luft ausgeht.

Aber für Samstag Abend ist ein “Marsch der Millionen” angekündigt. Zahlreicher denn je, so hoffen die Organisatoren der Protestbewegung, sollen die 7,7 Millionen Israelis an den Demonstrationen überall im Land teilnehmen. Sie sollen die selbstgerechte Netanjahu-Regierung und das gesamte Geld-Establishment des Landes, die vermeintlichen 18 Magnaten, die den israelischen Markt kontrollieren, hinwegfegen. Die soziale Protestbewegung in Israel beschwört den Geist des Kairoer Tahrir-Platzes. Aber das rote Parloir auf dem Rothschild Boulevard ist an diesem ersten Tag im September ganz verwaist und die Zelte sind menschenleer. Ob der Rotschild Boulevard tatsächlich an den Tahrir-Platz angrenzt, werden wir sehen. Vielleicht schon übermorgen.

Foto: Ruth Kinet

 

 

 

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New York nach dem Hurrikan

 

Als die deutsch-deutsche Mauer fiel, war ich in Budapest und rercherchierte für meine Diplomarbeit. Mit ungläubiger Verwunderung blickte ich auf verwaschene schwarz-weiße Fernsehbilder von jubelnden Landsleuten und konnte nicht fassen, dass ich in dieser historischen Stunde am falschen Ort gelandet war.

Ähnlich fühlte ich mich, als ich vergangene Woche in München war, um ein neues Visum zu beantragen, und die Nachricht las, dass New York von Hurrikan „Irene“ heimgesucht werden sollte, dem womöglich stärksten Sturm seit Jahrzehnten. Ich las von Evakuierungen, nur wenige Kilometer von meinem Brooklyner Viertel Park Slope entfernt, von Subway-Stilllegung und Hamsterkäufen, und erhielt besorgte Emails von Freunden, die nicht wussten, dass ich mich sechstausend Kilometer entfernt im sicheren Deutschland aufhielt. Ich konnte alle beruhigen. Hinfliegen ging schon deshalb nicht, weil ich meinen Pass im Konsulat hatte abgeben müssen.

 

Die Katastrophe blieb aus, jedenfalls in der Metropole. Das stand auch in deutschen Zeitungen. Aber immerhin war „Irene“ ein formidabler Tropensturm. Deshalb war ich heute, nach der Landung auf JFK, gespannt auf das Ausmaß der Schäden vor Ort. Und fragte den Taxifahrer, der mit Panama-Hut, gestreiftem Hemd und karibischer Gelassenheit durch das Flughafengewühl steuerte. Er wiegte den Kopf. „Viel Wind, viel Regen. Aber nicht so schlecht.“ Nach kurzer Pause fügte er hinzu: „Gott steht über allem.“ Ich wollte nicht widersprechen und spähte um so aufmerksamer durchs Fenster. Aber von Sturmschäden sah ich wenig. Ein paar abgefallene Äste, das war’s, auf der kompletten Fahrt, die zirka eine Dreiviertelstunde dauert und durch dutzende von Wohnquartieren in Queens und Brooklyn führt.

Und in Park Slope, mit seinen vielen alten Bäumen? An meiner Haustür klebte eine Visitenkarte von „Leo’s Handyman“, einem Reparaturservice, der Sturmschäden behebt. Doch Leo scheint nicht viel zu tun zu bekommen. Bei einem ersten Rundgang durchs Viertel war alles so wie immer. Selbst die Subway meldet gegenwärtig lediglich ein Signalproblem und eine klemmende Weiche. Wer die New Yorker U-Bahn kennt, weiß, dass dies schon in normalen Zeiten als Erfolg zu werten ist.

 

Nicht überall lief es so glimpflich. In Manhattan, an der Lower East Side, trauern Nachbarn um einen entwurzelten alten Weidenbaum. „Es ist wie der Tod eines alten Freundes“, sagte einer. Der Baum stand in einem kleinen Gemeinschaftsgarten namens La Plaza, der auf wertvollem Baugrund angelegt ist und deshalb schon mehrfach dem Erdboden gleich gemacht werden sollte. Er hat sich aber dank des Einsatzes der Nachbarn für ihr Grün halten können, berichtet die New York Times, die für Heldengeschichten immer zu haben ist. Und jetzt, ohne die Weide? „Gott steht über allem“, würde der Taxifahrer mit dem Panama-Hut sagen.

Fotos: MTA

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