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Verurteilte Korrespondenten in Ägypten sofort freilassen!

In Kairo sind heute drei Korrespondenten des englischsprachigen Programms des Fernsehsenders Al Jazeera zu sieben bzw. zehn Jahren Haft verurteilt worden. Die Weltreporter fordern: Die verurteilten Korrespondenten müssen umgehend freigelassen werden!

Die Bundesregierung muss massiven Druck auf die Regierung Ägyptens ausüben, damit dieses ungeheuerliche Urteil zurückgenommen wird – die verurteilten Journalisten haben nichts anderes getan, als ihren Beruf auszuüben und damit ein fundamentales Menschenrecht zu verwirklichen.

Sie muss das Urteil alleine deshalb mit aller Schärfe verurteilen, um auch in Zukunft eine kritische Berichterstattung über Ägypten zu ermöglichen. Wenn die Bundesregierung nicht ihr ganzes Gewicht für die Freilassung unserer Kollegen einsetzt, müssen in Zukunft auch deutsche Korrespondenten fürchten, ohne Grund verhaftet und verurteilt zu werden – ein unhaltbarer Zustand!

Nach Ansicht von Menschenrechtlern und anderen unabhängigen Prozessbeobachtern wurde zur Rechtfertigung des Urteils kein einziger plausibler Beweis vorgelegt. Das am Montag gesprochene Urteil hat offenbar vor allem ein Ziel: die Einschüchterung von Korrespondenten. Vor Ort ist bereits zu sehen, wie bei manchen Berichterstattern die Schere im Kopf ansetzt. Auch deshalb ist es so wichtig, von politischer Seite Druck auf die ägyptische Regierung auszuüben.

Weltreporter.net gehören derzeit 66 Mitglieder an, die aus 160 Ländern für verschiedene deutschsprachige Medien berichten, darunter auch aus Ägypten. Das Netzwerk gibt es seit 2004. Ziel des eingetragenen Vereins ist die Förderung eines hochwertigen Auslandsjournalismus, zu dem sich alle Mitglieder bekennen.

 

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Die gelbe Gefahr!

 

Aus aktuellem Anlass ein paar Worte zur »gelben Gefahr«, weil mir vorhin auf Facebook jemand Folgendes schrieb:

 

»Ich frage mich, warum der gelbe Hintergrund in Ihrem Facebook-Profilfoto, der aktuell als Kennzeichen der Muslimbrüder-Sympathisanten angesehen wird? Ich erwarte Neutralität von Journalistinnen und Journalisten!«

Nun, ähemm, das Foto steht so, wie es aussieht, seit April 2011 auf meiner Facebook-Seite, weil ich damals dachte, dass rot und gelb zusammen so’ne schöne Signalwirkung entfalten. Hat mir einfach gut gefallen. Dass es die Farbe der Muslimbrüder sein soll, ist mir unbekannt (seit GESTERN verwenden sie allerdings einen gelben Hintergrund in einem ihrer Protestlogos). Man könnte über den Vorwurf an mich lachen, wenn er nicht ein Beispiel dafür wäre, wie so manchem Ägypter (und Deutschen in Ägypten und Deutschen in Deutschland, der sich für Ägypten interessiert) in dieser Atmosphäre der Hysterie die Nerven durchgehen.

 

 

Ich richte ja nie meine Berichterstattung an den Stimmungswogen der Leute aus. Eine der Hauptfragen, die ich mir beim Recherchieren und Schreiben selber stelle, lautet: »Ist das, was ich sehe, jetzt wirklich das, was ich denke, was es ist…?« Will sagen: Es gibt ziemlich viele Gründe dafür, immer und überall kritisch unter die Oberfläche zu gucken. Was Ägypten betrifft, gilt das nicht nur für die Islamisten, auch für Militär, Sicherheitskräfte, Opposition usw. usf. Alles andere wäre journalistisch falsch (und außerdem sterbenslangweilig).

 

 

Ich weiß, dass das schwierig für jene ist, die nach einfachen ›Wahrheiten‹ dürsten, nach solchen, die am besten auch noch ihren Stimmungen und Erwartungen entsprechen. Ich verstehe das ja, aber es ist journalistisch nicht machbar. Ich erhalte auch Post, in denen Unterstellungen stehen wie: »Sie haben doch die Muslimbruderschaft immer geschont und die Gefahr verharmlost!« — Wahlweise steht statt Sie auch gern Ihr für »Ihr Journalisten«…

 

 

Wen es interessiert, ich verlinke hier mal ein paar meiner Beiträge, die ich eben auf die Schnelle rausgesucht habe. Das soll keine Rechtfertigungsein (dazu gibt es keinen Grund), sondern eine Ermunterung dazu, mal ein bisschen genauer in die deutschen Medien hineinzugucken oder hineinzuhören. Da gibt es bei meinen Kollegen (auch von WELTREPORTER.NET) ne ganze Menge zu entdecken, zum Beispiel in den Tageszeitungen und auf den öffentlich-rechtlichen Radiosendern (sehr empfehlenswert!) und zum Beispiel besonders auch bei Karim El-Gawhary.

 

 

Hier Links zu ARD-Hörfunkbeiträgen von mir aus dem Frühjahr und Winter:

 

 

Das folgende Stück hier wurde knapp drei Monate vor der Entmachtung Mursis gesendet, ich lasse einen ägyptischen Gesprächspartner erklären, warum er die Ideologie der Muslimbruderschaft für gefährlich & faschistisch hält :

 

 

http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2013/04/12/drk_20130412_2248_aeceaafc.mp3

 

 

Hier zu Menschenrechtsverletzungen unter Mursi (April 2013):

 

 

http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2013/02/11/drk_20130211_1214_7d7da371.mp3

 

 

Hier genau zur Hälfte der Amtszeit Mursis (Januar 2013), ebenfalls über Menschenrechtsverletzungen und repressive Politik:

 

 

http://www.tagesschau.de/ausland/aegypten1410.html

 

 

Hier die ersten Massenproteste gegen Mursi & Muslimbruderschaft im Dezember 2012:

 

 

http://www.tagesschau.de/ausland/aegypten-proteste110.html

 

 

Das sind einige von vielen Beispielen. Auf den Text-Webseiten gibt es jeweils immer auch ein Audio-Logo, auf das man klicken kann, um sich das jeweilige Stück anzuhören.

 

 

Mal auch ganz spannend für mich, in der Rückschau zu gucken, wie die eigene Berichterstattung damals aussah. ■

 

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Ägypten – das Reich der Phantasie

Dass die Wahrheit in Konflikten auf der Strecke bleibt, ist eine Binsenweisheit, ebenso wie die Tatsache, dass mit Informationen Politik gemacht wird. Geschenkt. Es gibt nichts, das ein Journalist nicht kritisch abklopfen muss.

 

Am 26. Januar 2011, dem zweiten Tag des ägyptischen Volksaufstandes gegen Mubarak, bin ich tagsüber zu drei Orten in der Nähe des ARD-Studios gegangen, für die Regimegegner Demos mit mehreren Tausend Menschen über Twitter und auf Facebook vermeldet hatten. An nicht einem der drei Orte traf ich auch nur einen einzigen Demonstranten an.

 

Bei Opferzahlen sieht’s nicht anders aus. Wem hohe Zahlen nutzen, der vermeldet hohe Zahlen, wem nicht, der nicht. Fotos von Kindern, die das ägyptische Militär angeblich bei ihren brutalen Angriffen gegen Mursi-Anhänger in Kairo tötete, erwiesen sich später als Bilder von Kinderleichen aus Syrien.

 

Diese Bilder waren auf Webseiten aufgetaucht, die der Muslimbruderschaft nahestehen. Andere Webseiten fanden die Quelle und stellten die Screenshots der ägyptischen sowie der syrischen Webseite nebeneinander –beide zeigen dasselbe Massakerfoto, nur mit einer anderen Bildunterschrift.

 

Ich habe aber auch schon Webseiten mit solchen Gegenüberstellungen gesehen, bei denen der »Beweis«, also der Screenshot von der Webseite mit dem angeblichen Originalfoto, eine Fälschung war – und das angeblich »entlarvte« Foto aber echt. Alles ziemlich verworren.

 

Gestern tauchten in Ägypten Fotos von Männern in Zivil auf, die mit Maschinengewehren bewaffnet am Rande von Demonstrationen durch Kairos Straßen liefen. Angeblich soll es sich um bewaffnete Mursi-Anhänger gehandelt haben. Das kann stimmen, ich habe selber in den letzten Wochen Mursi-Anhänger mit Waffen gesehen. Die Behauptung kann aber auch falsch sein. Andere Fotos von gestern zeigen Männer in Zivil und mit Maschinengewehren, die mit Polizisten in der Sonne stehen, plaudern und ganz offensichtlich zu ihnen gehören.

 

Zu welcher ‘Seite’ gehören Männer in Zivil, die in der Nähe von Protesten mit Waffen rumlaufen? Das Publikum entscheidet sich für die Antwort, die es hören will. Das ist der Hauptpunkt. Nur wenige der vielen Falschinformationen und Behauptungen dienen noch dazu, einen Beweis zu suggerieren. Sie sollen einfach nur Stimmungen beeinflussen, bei Leuten, die ohnehin schon in einer bestimmten Weise gestimmt sind.

 

Es ist inzwischen völlig egal, wie plausibel diese Behauptungen sind. Sie tauchen auf, sie putschen auf. Sie sind ein paar Stunden später schon wieder aus der Wahrnehmung verschwunden und haben ihren Zweck erfüllt. Im Zeitalter von Social Media und von Fernsehbildschirmen, die rund um die Uhr flimmern, erwartet niemand mehr, das irgendwas von dieser Informationsflut später dementiert oder entlarvt wird. Es guckt sich alles einfach so weg.

 

Seit Mittwoch wurden in Ägypten landesweit mehrere Dutzend Kirchen gestürmt, verwüstet und/oder in Brand gesteckt. Ich habe in Videoaufnahmen Täter gesehen, bei denen es sich mit ziemlicher Sicherheit um Sympathisanten von Mursi und der Muslimbruderschaft handelte – zur ‘Rache’ womöglich angefeuert durch die Reden, die wochenlang von der Protestcamp-Bühne an der Rabaa-al-Adawiyya-Moschee hallten und in denen aufs Übelste immer wieder auch gegen Christen gehetzt wurde.

 

Auf Aufnahmen von anderen der attackierten Kirchen sah ich Angreifer, die mit Pick-up-Trucks kamen und bei denen es sich unverkennbar um Baltagiyya-Schlägertrupps handelte, um jene meist jungen, verrohten Männer aus Armenvierteln, die seit Jahrzehnten für Funktionäre der Mubarak-Nomenklatura die Drecksarbeit machen, nicht selten vollgepumpt mit Bango (Marihuana), und die ein paar ägyptische Pfund für ihren Einsatz erhalten.

 

Eine ägyptische Koptin aus Beni Suef (die ich nicht kenne und für deren Äußerungen ich nicht bürgen kann) schrieb auf ihrer Facebook-Seite (mehrere Tausend Abonnenten): »Glaubt mir! Die, die bei uns im Ort die Kirchen anzündeten, waren Geheimdienstleute in Zivil und Männer von der NDP (Mubaraks 2011 aufgelöster Regierungspartei).« In einem Fernsehinterview an jenem Mittwoch erzählt ein koptischer Kirchenfunktionär aus Al-Minya, dass die Angriffe auf alle Kirchen im Ort exakt zur selben Zeit nach demselben Muster abliefen und vor allem in jenem Moment im Morgengrauen stattfanden, als in Kairo die brutale Räumung der Protestcamps der Mursi-Anhänger gerade begonnen hatte. Die Kopten riefen die Polizei an und baten um Schutz und Hilfe, aber bei keiner der überfallenen Kirchen habe sich die Polizei blicken lassen, bis zum Schluss nicht.

 

Es bleibt einem nichts weiter übrig, als sich auf all das irgendwie selber einen Reim zu machen – indem man so aufwändig und so kritisch wie möglich recherchiert und indem man die eigenen, Jahre langen Erfahrungen bei der Beurteilung hinzuzieht. Nach dem, was ich von den Überfällen auf die Kirchen gesehen habe, würde ich sagen: sowohl radikale, aufgehetzte Mursi-Sympathisanten als auch koordiniert agierende Angreifer, die Überfälle orchestrierten, die den Islamisten in die Schuhe geschoben werden können.

 

Vorfälle dieser und ähnlicher Art müssten von offizieller Seite untersucht werden. Nach jedem Blutbad der letzten zweieinhalb Jahre wurde schonungslose Aufklärung versprochen, aber ich kann mich an keinen einzigen Untersuchungsbericht erinnern. Und wenn es Pressekonferenzen gab, auf denen »Untersuchungsergebnisse« präsentiert wurden, waren sie keine einzige der Minuten wert, die man für sie opferte.

 

Im Oktober 2011 habe ich sechs Stunden lang aus nächster Nähe mit ansehen müssen (ich konnte den Ort nicht verlassen), wie das ägyptische Militär vor dem TV-Gebäude Maspero ein Massaker unter Teilnehmern einer Christendemonstration verübte. Ich sah Soldaten, die auf Menschen schossen (die dann getroffen zusammensackten), ich sah, wie gepanzerte Militärfahrzeuge über Demonstranten fuhren. Am Ende waren mindestens 27 Menschen tot.

 

Ein paar Tage später gaben Armeeoffiziere auf einer Pressekonferenz die offizielle Version der Militärs bekannt. Fast alles, was sie sagten, war praktisch das Gegenteil von dem, was ich selber gesehen hatte. Ähnliche Erfahrungen macht man immer wieder auch mit Erklärungen anderer Behörden. Es ist leider so, dass die Informationen offizieller Stellen in Ägypten keinen Wert haben. Sie können stimmen (und tun das womöglich hin und wieder auch), aber sie können ebenso gut auch komplett dem Reich der Phantasie entstammen. Man könnte sie eigentlich ignorieren. Sie helfen einem bei der Suche nach dem Hergang der Ereignisse keinen einzigen Millimeter weiter. ■

 

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Revolutionszeit

Volksaufstand in Nordafrika, Unruhen im Nahen Osten – habt Ihr keine Angst, dass so was auch bei Euch passieren könnte? Solche oder ähnliche Fragen stellten Bekannte aus Deutschland in den vergangenen Wochen. Nein, habe ich nicht, antwortete ich, denn bei uns war schon vor 13 Jahren Revolution – oder besser: Reformasi. Nur haben das die meisten Europäer schon wieder vergessen. Was damals in Indonesien geschah, verlief ähnlich wie die Ereignisse in Tunesien oder Ägypten: Seit 33 Jahren regierte General Suharto quasi mithilfe einer Militärdiktatur. Er kam 1965 an die Macht, nachdem er einen angeblichen Putsch der Kommunisten durch einen Gegenputsch verhindert haben soll. Der Westen unterstützte Suharto aus Angst vor einer möglichen Machtübernahme der damals drittgrößten kommunistischen Partei der Welt – und nahm dabei in Kauf, dass Hunderttausende Zivilisten getötet wurden bzw. in Folterlagern verschwanden, weil sie dieser Partei angeblich angehörten.

1998 brach jedoch durch die Asienkrise das korrupte Regime des Autokraten zusammen. Zuerst protestierten die Studenten in einigen Großstädten gegen die politischen Verhältnisse, dann gingen immer mehr Menschen auf die Straße, oft aus schierer Not. Das Militär spaltete sich in mehrere Gruppen und bezahlte Anstifter lösten Unruhen aus, denen vor allem die chinesische Minderheit zum Opfer fiel. Auf einmal schrie die internationale Gemeinschaft auf und pochte auf die Einhaltung von Menschenrechten. Am Ende blieb Suharto nichts anderes übrig als zurückzutreten – ein Jahr später gab es demokratische Wahlen.

Seitdem gilt Indonesien als Demokratie. Der Putsch und die Massenmorde von 1965 jedoch wurden bis heute nicht aufgearbeitet – Vergangenheitsbewältigung bleibt ein Tabu. Das korrupte System konnte bis heute nicht aufgelöst werden und unterwandert immer wieder die Bemühungen zur Demokratisierung.  Das wiederum gibt Islamisten wie Ultra-Nationalisten Aufwind, die sich mit weißer Weste präsentieren, immer mehr Menschen wenden sich Ihnen zu. Die Aktivisten von 1998 sind heute völlig desillusioniert.

Habt Ihr nicht Angst, dass dies auch bei Euch passieren könnte, frage ich nun weiter in die Länder der momentanen Revolution?

 

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Die Sehnsucht ist geweckt

Die westlichen Demokratien haben sich bei der tunesischen wie der ägyptischen Revolution gründlich blamiert. Sie hinkten hinter den Ereignissen her, wanden sich in Schmerzen mit vorsichtigen Statements. Ging es doch schließlich darum, den Diktatoren und Unterdrückern die Unterstützung zu entziehen, die sie seit Jahrzehnten in ihren Palästen gehalten hatte. Völlig ungeachtet der Tatsache, dass man in politischen Sonntagsreden immer mehr Demokratie im Nahen Osten forderte. Aber das versteht sich von selbst.

Als es gar nicht mehr anders ging, forderten US-Präsident Barack Obama und seine europäischen Mitläufer einen schnellen aber geordneten Übergang zu einer wirklich demokratischen Regierungsform. Aha. Damit behalten sie sich vor, darüber zu urteilen., was ‘wirklich demokratisch’ ist. Und im gleichen Atemzug drängt man auf die Einhaltung internationaler Verträge und Verpflichtungen. Da nämlich liegt, wenn es um den Nahen Osten geht, für die meisten westlichen Politiker der Hase im Pfeffer: Fast alles darf passieren, aber die beiden Friedensverträge mit Israel (mit Ägypten und Jordanien) dürfen nicht angetastet werden. Außerdem dürfen keine Islamisten an die Macht kommen, wobei am liebsten alle islamistischen Gruppierungen in einen großen Topf geworfen werden. Wie man es in Washington, Berlin und Paris damit hält, wenn demokratische Wahlen Islamisten an die Macht bringen, das haben wir beim Urnengang in den Palästinensergebieten 2006 gesehen. Als die Hamas den Sieg davon trug, brach man schlicht die Beziehungen mit der von ihr geführten Regierung ab.

Die westlichen Regierungen – nicht nur die amerikanische – haben in der arabischen Welt schon längst ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Die Menschen in der Region verstehen, dass es nicht um Werte wie Demokratie, Selbstbestimmung und Freiheit geht sondern um politische Interessen. Vornehmlich um solche, die sich mit israelischen Interessen decken. Auch wenn man in vielen Fällen trefflich darüber diskutieren kann, ob sich diese Interessen tatsächlich decken. Oder ob wir uns nicht selbst ins Knie schießen, gerade weil wir dazu tendieren, die Region ausschließlich durch die israelische Brille betrachten.

Auch deshalb können die Ägypter auf gute Ratschläge aus dem Westen derzeit verzichten. Ihnen ist nicht entgangen, dass Washingtons Lieblingskandidat für die Nachfolge Mubaraks sein Geheimdienstchef Suleiman war. Also jemand, der mit Leib und Seele für das alte System stand und steht. Die Armee ist nun die zweitbeste Wahl, arbeitet ihre Führung doch sehr eng mit amerikanischen Militärs zusammen, die eine Finanzhilfe von 1,3 Milliarden US-Dollar jährlich beisteuern. In dem Preis dürfte inbegriffen sein, dass keine Politik erlaubt wird, die den ohnehin kalten Frieden mit Israel einfrieren könnte.

Interessant wird es, wenn eine wirklich demokratische zivile Regierung in Kairo an der Macht ist. Ihr werden vermutlich die ägyptischen Moslembrüder angehören, auch wenn die Menschen auf dem Tahrir-Platz deutlich gemacht haben, dass die Islamisten keine Mehrheit im Land haben.Ein weiterer Schleier ist gefallen: Die Alternative zu autokratischen oder diktatorischen Systemen im Nahen Osten heißt nicht automatisch Chaos und Islamismus. Es dürfte den Regierenden in Washington und Berlin in Zukunft schwer fallen, mit dieser Gleichung zu argumentieren, wenn es um die Unterstützung repressiver Regime in der Region geht, die Menschenrechte verachten aber Stabilität und Kampf gegen Terrorismus versprechen.

Unsere westlichen politischen Moralapostel stehen plötzlich ohne Kleider da. Sieht ganz so aus, als stünden sie auf der Verliererseite nach den erfolgreichen Volksaufständen in Tunis und Kairo. Gemeinsam übrigens mit ihren Erz-Feinden, den islamischen Extremisten aus der Al Qaeda-Ecke. Denn der Sieg der friedfertigen Menschen gegen ein brutales, vom Westen unterstütztes System, nimmt diesen Terroristen den Wind aus den Segeln. Die Jugendlichen, die auf dem Tahrir-Platz in Kairo den Sturz Mubaraks gefeiert haben, haben es nicht mehr nötig, sich solchen Bewegungen aus Protest oder dem Gefühl der Ohnmacht anzuschließen. Sie haben sich selbst befreit und ermächtigt, sie haben ihren Stolz und ihre Menschenwürde zurück erobert.

Nachdem ich mehr 15 Jahre lang dem politischen Stillstand, der Demütigung und der Entmündigung der Menschen in der Region zugesehen habe, habe ich nun wieder Hoffnung. Auch wenn wir alle wissen, dass die Revolutionen noch nicht gewonnen oder vollendet sind. Aber es wäre schön, noch mehr solch befreite, lachende oder vor Freude weinende Gesichter in Arabien zu sehen. Die Sehnsucht ist geweckt, hoffentlich wird sie nicht in Blutvergießen ertränkt.

 

 

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Kairo: It´s Tea-Time auf der Stoßstange

Heute Nachmittag bei einem Interviewtermin  in der Kairoer Innenstadt: Wieder einmal zu spät, weil die Fahrt dorthin praktisch im permanenten Stau im Schritttempo verlaufen war.

Selbstverständlich gibt es nirgends Parkplätze, obwohl die parkenden Autos in der engen Strasse bereits zu beiden Seiten in der zweiten Reihe parken. Bis auf eine Lücke, wohlgemerkt in der zweiten Reihe.

Ein netter Verkehrspolizist  im Pensionsalter weist mich freundlicherweise mit zittrigen Händen ein und schreit dabei immer wieder stoisch den in der Situation recht paradoxen Satz: „Parken in der 2. Reihe ist verboten“, Unterbrochen von einem kurzen: ‘Vorne hast du noch einen halben Meter’.

Frei nach dem Motto, je öfter und je lauter er mich auf die Strassenverkehrsordnung hinweist, während er sich gleichzeitig als mein Partner im Brechen derselben anbietet,  umso größer das Bakschisch – die polizeiliche Motivationszulage.

Nachdem sich beide Seiten schnell geschäftseinig waren, beruhigt er mich noch. Was das eingezwängte Auto in der ersten Reihe angeht, solle ich mir keine Sorgen machen. Die Bürostunden des Besitzers endeten erst am frühen Abend.

Eine gute Stunde später nach dem Termin, wieder auf der Strasse: Stück für Stück manövriere ich den Wagen aus der Parklücke und fahre los, als mir ein junger Mann hinterrennt, sich atemlos vors Auto stellt und mich wild gestikulierend zum Halten bringt. Er duckt sich, lächelt  und hebt zwei leere Teegläser hervor. Die hatte er zuvor nach einer kleinen Teepause mit seinem Freund auf meiner vorderen Stossstange vergessen.

Wir lachen beide lauthals. Er zufrieden dass er auch seinen nächsten Tee aus dem gleichen noch heilen Glas trinken kann, ich glücklich, dass mein ansonsten nutzlos parkendes Gefährt und dessen Stoßstange sinnvoll zu einer Teeküche zweckeentfremdet wurden.  Wir winken uns zum Abschied zu. \’Ich liebe dieses verrückte Kairo\’ denke ich, und gebe Gas.

 

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Wer hat Angst vorm schwarzen Facebook-Mann?

Am 7. Juni wurde in Alexandria der 28jährige Khaled Said von Polizisten aus einem Internetcafé gezerrt und zu Tode misshandelt. Brutale Polizeiwillkür ist in Ägypten keine Seltenheit. Wie bei anderen Anlässen zuvor, zeigt auch diese Tragödie, dass das Land zu jenen auf der Welt gehört, in denen Facebook als zentrales Protestmedium kaum noch wegzudenken ist. Die Gruppe »Wir alle sind Khaled Said« hat jetzt – nicht mal zwei Wochen nach dem tragischen Tod – 112.000 Mitglieder. Die Gruppe »Ich heiße Khaled Muhammad Said« bringt es auf fast 200.000.

Das Web 2.0 als Plattform des Widerstandes ist kein Novum in Ägypten. Über die Facebook-Gruppe »Mohamed ElBaradei« werden 252.000 Mitglieder in Echtzeit über die Aktionen der Reformkampagne des früheren Chefs der Atomenergiebehörde informiert. Im Fall Khaled Saids konnte der öffentliche Druck übers Web 2.0 bereits einen ersten Erfolg erzielen. Schwierig bleibt es trotzdem, in einem Polizeistaat wie Ägypten den Protest aus dem Internet ins wirkliche Leben zu tragen.

Die Sicherheitsdienste lesen ebenfalls Facebook. Wann immer ein Straßenprotest angekündigt wird, sind sie zur Stelle und ersticken die Aktion im Keim. Wie auch am Freitag um 17 Uhr. Die Facebook-Gruppe »Wir alle sind Khaled Said« hatte zu einem Schweigespaziergang an die Uferpromenaden gerufen – in Kairo an die Corniche am Nil, in Alexandria an jene am Mittelmeer. Aus Protest und Trauer sollten die Leute in in schwarzer Kleidung kommen.

Pünktlich um fünf stand in Kairo auch die Bereitschaftspolizei am Nilufer. Beamte in Uniform oder in Zivil und mit Sprechfunkgeräten schlenderten die Promenade hoch und runter. Viel Resonanz erzeugte der Aufruf nicht, schätzungsweise einhundert junge Leute liefen, schwarz gekleidet, das Ufer entlang oder standen an Brückengeländern und lasen im Koran.

Für die Polizisten eine absurde Situation. Wer protestierte, wer spazierte hier ganz normal an seinem arbeitsfreien Freitag? Immerhin sind schwarze T-Shirts, Jacken oder Abayas in Kairo nicht unüblich. Das Spektakel war an Lächerlichkeit kaum zu überbieten. Wie auf einem Kegelklubausflug zogen Gruppen ziviler Beamte in Bundfaltenhosen und vollgeschwitzten Herrenoberhemden die Promenade entlang und versuchten nervös, alle schwarzgekleideten Menschen wegzuschicken. Wie viel Zeit bleibt einem Regime noch, das solche lächerlichen Szenen produziert? Vieles in Ägypten erinnert mich derzeit an die späte DDR.

 

 

 

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Die Fußball-WM – Business as usual?

Vor genau einem Jahr saß ich mit Kai Schächtele im La Siesta Resort am Roten Meer im Cafe »Cute«. Zusammen mit Dutzenden Ägyptern guckten wir das Confed-Cup-Fußballspiel Ägypten–Italien auf einem Großbildschirm. Ein denkwürdiger Abend. Es war das erste Mal seit Jahrzehnten, dass ich mir ein Fußballspiel anschaute, Kai zuliebe, ich wollte ein guter Gastgeber sein. Die Stimmung war hervorragend, Ägypten gewann 1:0.

Jetzt beschäftigt mich Fußball wieder, und wieder ist Kai schuld. Gemeinsam mit Christian Frey präsentiert er täglich Reportagen in Text, Ton & Bild aus Südafrika, die ich einzigartig nennen möchte. Das müssen sie sein, wenn sogar einer wie ich jeden Tag guckt, was es Neues gibt. Unbedingt selbst anschauen: Die WM – ein Wintermärchen.

Während für den Fußball eigentlich verlorene Seelen wie meine vielleicht doch gerettet werden können, haben viele wirkliche Fans in Ägypten das Nachsehen. Der World-Cup-Song, von Nancy Ajram auf Arabisch produziert (bei Youtube hier), stimmt sie auf die WM ein, aber sie können sich die Fußballübertragungen nicht leisten. Bis heute ist mir ein Rätsel, wie ein globales Gesellschaftsereignis, das von der Leidenschaft von Millionen von Menschen lebt, in die Hände solch einer raffgierigen, mitleidslosen Clique wie der FIFA fallen konnte. Auch diese WM ist in Ägypten weitestgehend nur im Pay-TV zu sehen. Detailliert beschreibt das Karim El-Gawhary in seinem Blog.

Vor vier Jahren war es ähnlich. In den Wochen vor der WM 2006 in Deutschland stieg das Fußballfieber in Kairo mit jedem Tag. Dann plötzlich stand fest: Dem staatlichen ägyptischen Fernsehen waren die Übertragungsrechte zu teuer. Während die Welt Fußball guckte, hingen in Kairo die Deutschlandfahnen stumm an den Fenstern. Die WM fand – gewissermaßen unter Ausschluss der Öffentlichkeit – auf dem arabischen Bezahlsender A.R.T. statt. Ein entsprechendes Abo hatten damals nur eine Million Leute in dem 80-Millionen-Land. Wie weh das tun musste, kann nur ermessen, wer einmal Ägypter beim Fußballgucken beobachtet hat. »Jetzt hat uns der Kapitalismus«, sagte damals ein Taxifahrer in Kairo zu mir, »auch noch den Fußball weggenommen.«

Manch ein Ägypter schaffte es, den Code zu knacken, andere konnten sich den überteuerten Tee in jenen Kaffeehäusern leisten, die die Spiele übertrugen. Dass das allerdings eine Minderheit war, konnte ich HÖREN. Als die WM 1994 in den USA stattfand, wurde noch frei übertragen. Ich wohnte damals in der Kairoer Altstadt, in einem Viertel von Ahmed Normalverbraucher. Wegen der Zeitverschiebung erklang der Jubel bis nachts um vier bei jedem Tor aus den Wohnungen der Nachbarschaft. Eine Stadt voller Fußballnarren vier Wochen lang im Ausnahmezustand. Während der WM 2006 in Deutschland war es anders. Kairo blieb still, kein Jubel, kaum irgendwo. Die deutschen Zeitungen verkündeten stolz, wie sehr die deutschen Gastgeber das Ausland begeisterten. In Ägypten durften viele das nicht erleben, weil sie nicht genug Geld haben.

Es wurde sogar extra die Ausstrahlung von ARD und ZDF über den Hotbird-Satelliten eingestellt. Einen ganzen Monat lang zeigte die ARD das Programm ARD Extra mit aufgewärmten Wiederholungen von irgendwas, und auf ZDF lief der Kanal ZDF Doku mit spannenden Themensendungen über Makramee u. ä. Wenn ich in Kairo auf einem dritten Programm um 20 Uhr die Tagesschau guckte, passierte folgendes. Sobald ein aktueller Kurzbericht von den Spielen vom Tage begann, wurde der Bildschirm schwarz und es erschien der Satz: »Aus lizenzrechtlichen Gründen etc.« Und das alles nur, damit die Schmuddelkinder an den Katzentischen der Welt nicht doch noch kostenlos was von der WM sehen, und sei es nur ein Fünf-Minuten-Beitrag in einer Sprache, die sie nicht verstehen.

In diesem Jahr hat sich der verschlüsselte Sportkanal von Al-Dschasira die Übertragungsrechte für die arabische Welt gesichert. Man will, heißt es, einige Spiele unverschlüsselt bringen. Das Trauerspiel hat damit kein Ende. Am ersten Tag kam das Signal über NILESAT nur verkrüppelt in die Haushalte. Al-Dschasira vermutet Sabotage, wie hauseigene Kanäle berichten. Der Satellit wird von der ägyptischen Regierung betrieben, und der ist Al-Dschasira ein Dorn im Auge.

 

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Globalisierung (Fortsetzung)

Der Gerechtigkeit wegen sei erzaehlt, dass Globalisierung nicht nur muerrisch (siehe Teil 1), sondern auch Spass machen kann. Naemlich dann, wenn die 23jaehrige Shari Chopra aus Duesseldorf nach einer Zwischenstation in Namibia im aegyptischen El Gouna am Roten Meer das kleine Restaurant ‘Le Garage – Gourmet Burger’ eroeffnet und mir heute dort den besten Burger meines Lebens servierte. Blauschimmelkaese, Walnuesse und Weintrauben auf einem Fleisch, das offensichtlich im Hamburger-Himmel gegrillt wurde. Dabei sind Burger ueberhaupt nicht mein Ding!

Das alles nebst Salat und French Fries war jeden einzelnen Piaster der umgerechnet 11 Euro wert. Leute, fuer die Hamburger ein Statussymbol sind, finden auf der Karte ‘The Golden One’ fuer umgerechnet 40 Euro: Wagyu-Rindfleisch, Foie Gras, Carpaccio aus schwarzen Sommertrueffeln plus obendrauf essbares 22-karaetiges Blattgold. Fuer den dekadenten Gesamteindruck bietet sich der Blick an auf die Luxusjachten im Hafenbecken zehn Meter vor den Tischen. Kellner, Koeche wie Chefin des ‘Le Garage’ tragen schwarze bzw. blaue Automechaniker-Overalls.

Vom Hafen zum Ortskern fuhr ich mit einem jener original pakistanischen Busse, die in El Gouna wegen ihres schrillen Bollywood-Designs angeschafft wurden, vorbei an einer Aussenstelle der Technischen Universitaet Berlin.

Nachtrag zu den Vulkan-Gestrandeten: Gestern auf der Promenade in Hurghada eine Szene der Verzweifelung. Ein deutsches Touristenpaar fuehlt sich von den aegyptischen Souvenirverkaeufern genervt, die einen dort auf Schritt & Tritt anquatschen. Ploetzlich schreit die Frau einem von ihnen auf deutsch ins Gesicht: ‘Wir warten hier nur auf unser Flugzeug! Wir wollen NICHTS … MEHR… KAUFEN!’ Offensichtlich gibt es Orte, die findet man nur ganz nett, solange man zu jeder Zeit auch weg koennte. (Liebe Esther, vielen Dank fuer den wunderbaren Thomas-Mann-Vergleich, zu hoeren auf RBB radioeins hier ab Sekunde 37.)

 

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Papa, was ist eigentlich Globalisation?

Nun, mein Junge, es heisst Globalisierung, und Globalisierung ist, wenn in Island ein Vulkan ausbricht, und ich hier in Afrika kein Hotelzimmer finde, weil massenweise Urlauber nicht in ihre Heimatlaender reisen koennen. Deren Rueckfluege wurden naemlich gestrichen.

Die Hotelbetreiber in Hurghada, wo ich heute zwangsweise eintraf, weil ich was recherchieren muss, also diese Hotelbetreiber in dieser Pauschaltouristenhoelle sagen ihren Gaesten, sie sollten nun selber sehen, wo sie bleiben, weil man den Touristen, die aus Russland jetzt ankommen, ihre gebuchten Zimmer nicht verweigern koenne. Deren Fluege wurden ja nicht gestrichen.

So fuehrt der Vulkanausbruch auf Island zu einem Touristenstau in Afrika. Und zu einer Preisexplosion bei den Zimmerpreisen, denn dieselben Hotelbetreiber haben angesichts der zwangsgestiegenen Nachfrage flugs die Raten um schaetzungsweise 30 Prozent erhoeht, gepriesen seien die Naturgewalten. Man kann also sagen, dass mein Geldbeutel in Afrika duenner wird, wenn auf Island ein Vulkan ausbricht. Das ist Globalisierung – oder besser die noch etwas unausgereifte Beta-Version davon.

Ganz zu schweigen davon, dass ich diesen Blogeintrag hier im Internetcafe nahezu blind auf einem kyrillischen Keyboard schreibe.

 

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Badische Backstub im Bom Bom Gym

Der lieben Bewegung wegen gehe ich seit kurzem manchmal in ein Sportstudio mit dem schrägen Namen Bom Bom Gym. Ich verlasse mein Bürogebäude durch den Hinterausgang und laufe zehn Minuten durch ein Armenviertel. An der Stelle, wo das Viertel langsam ins alte Kairoer Arbeiterviertel Boulaq Abul-Eila übergeht, befindet sich das Bom Bom Gym, nicht größer als zwei Wohnzimmer, mit ein paar einfachen Sportgeräten, die vielleicht in den dunklen Werkstätten des Armenviertels hergestellt wurden.

Natürlich gibt es keine Klimaanlage. Die Dusche ist auch nicht gerade ein Spa, und in der Toilette brennt kein Licht. Durch die Fenster zieht von der Straße der Dunst einer nahen Falafelbraterei. Alles sieht ein bisschen so aus, als würden im Bom Bom Gym die Kleinkriminellen der Nachbarschaft trainieren, für einen unschlagbaren Monatsbeitrag von umgerechnet acht Euro. Neulich hatte einer von ihnen ein gelbes T-Shirt mit dem deutschsprachigen Aufdruck »Badische Backstub – einfach besser…« an.

Er hatte es auf der Straße um die Ecke gekauft. In Boulaq gibt es Hunderte Straßenstände mit Billigklamotten á la Adidos und Wrengler und offensichtlich auch mit günstigen Werbe-T-Shirts. Vielleicht werden sie ja hier hergestellt. In dem Armenviertel gibt es Werkstätten aller Art, Druckereien, Bäckereien, Manufakturen für Plastikramsch etc. Neulich sah ich in solch einem Viertel, wie Halbwüchsige im Hinterhof eine selbstgebrühte braune Flüssigkeit in kleine Coca-Cola-Flaschen aus Glas abfüllten, die sie dann fachmännisch mit einem Kronkorken verschlossen. Seitdem bin ich vorsichtig, wenn ich beim Straßenhändler rasch eine Markenerfrischung kaufen möchte.

Diese Viertel sind ein Kosmos der Imitate und Täuschungen, in dem die Leute erfinderisch versuchen, ihre Welt mit jener in Übereinstimmung zu bringen, die ihnen das Satellitenfernsehen zeigt. Sie kriegen das ganz gut hin, wer will es ihnen verübeln.  Auf meinem Weg zurück vom Bom Bom Gym sehe ich, wie scharfkantig die Welten aufeinandertreffen. In der letzten langen Gasse des Armenviertels laufe ich auf mein Bürogebäude zu. Es ist Teil einer Hochhauszeile, hinter bzw. vor der das funkelnde Kairo beginnt. Auf der Vorderseite an der Nil-Promenade gibt es einen Radio-Shack-Laden mit modernster Heimelektronik, gleich südlich daneben das Hilton Ramses Cairo, 36 Stockwerke Luxus. In einem Kino kann man »Avatar« in 3D gucken. Das Ticket kostet so viel, wie ein Arbeiter in drei Tagen nicht verdient.

Ich laufe also – meistens nach Einbruch der Dunkelheit – direkt auf diese Hochhauszeile zu, zwischen den geduckten Katen des Armenviertels hindurch. Die Bürofenster in den Hochhäusern sind um diese Zeit alle dunkel. Die Gebäudezeile sieht aus wie eine riesige, trennende Kulissenwand. Nur am Lichtschein rund um die Rückseite der Neonreklametafeln auf den Dächern kann man erkennen, dass da vorn eine andere Welt existiert. Von hier hinten aus betrachtet erscheint einem die funkelnde Welt vorn wie eine künstliche Theaterdekoration, wie eine Täuschung, auch wenn es dort echte Produktoriginale gibt und keine Markenimitate, auch wenn die Welt dort einem vertraut vorkommt und nicht fremd, wie das Armenviertel hinter der Hochhauskulisse.

Denn drei von vier der 18 Millionen Kairoer, also die meisten, leben in einem jener ärmlichen Viertel – und nicht in dieser funkelnden Täuschung, die Kairo ja auch ist. Es kommt – wie immer – nur drauf an, von wo man guckt.

  VORN

 

HINTEN

 

 

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Wegelagerer im Internet

Wenn ich durchs Internet surfe, höre ich Stimmen. Überall wird es mir zugeraunt und zugeflüstert: ‘Sign up! Register now! Wir sind an Ihrer Meinung interessiert! Hallo, melden Sie sich bitte an! Neu hier?’

Manchmal will ich unbedingt auf eine Webseite. Ein einziges Mal nur, um dort jetzt, aber danach nie wieder irgendetwas zu erfahren oder zu tun. Dann registriere ich mich schnell und fülle die Lochmasken mit lauter Quatsch aus. Ich denke mir Namen aus, ein fiktives Geburtsdatum, eine Postleitzahl, die mit meiner echten keine Ähnlichkeit hat, und wenn nötig, auch irgendwelche Phantasieinteressen. Meistens bin ich in den Achtzigern geboren – wer möchte nicht gern jünger sein. Mein Nettohaushaltseinkommen ist natürlich immer so hoch, wie ich es mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorzustellen wage. Es kam sogar schon vor, dass ich mir rasch ein GMX-eMail-Konto einrichtete, nur für diese eine Stunde. Um sicher zu gehen, dass ich später nicht etwa ungewollt Werbung erhalte.

Damit bin ich wahrscheinlich der Supergau aller Online-Marketingexperten. Also für jene Leute, die zu ihren Werbekunden gehen und behaupten, sie könnten so zielsicher wie nie zuvor genau die potentiellen Kunden erreichen, für die ihr Produkt entwickelt wurde.

Sagen wir mal, ich melde mich durchschnittlich zweimal pro Jahr irgendwo an, um hier oder da reinzukommen. Dann konnten in den letzten zehn Jahren Online-Marketing-Abteilungen 20 Persönlichkeitsprofile von einer Person sammeln, die ich bin. Ich bin zwanzig verschiedene Leute, die sich jeweils deutlich von mir unterscheiden, deren Infos die Online-Werber aber als ihren kostbarsten Datenschatz bezeichnen.

Wenn ich in Internetmarketing machen würde, täte ich den Tag jeden Morgen mit einem Gebet beginnen: Lieber Gott, lass bitte nie rauskommen, dass das alles nur eine Fiktion ist.

Ich bin ja nicht der einzige mit diesem Verhalten. Weil mich die Mysterien unseres Alltages interessieren, frage ich immer mal wieder rum. Bislang traf ich fast keinen, der seine realen Daten angibt, abgesehen vielleicht von der eMail-Adresse.

Aber nicht nur das. In anderthalb Jahrzehnten Dauereinsatz im Internet hat mein Gehirn eine Art Autopilot entwickelt. Während ich auf Webseiten zielgerichtet das finde, was ich suche, sorgt der Autopilot in meinem Kopf dafür, dass meine Augen nicht auf Werbung schauen und mein Zeigefinger nicht aus Versehen Banneranzeigen anklickt. Sollte sich trotz Popupblocker ein Werbefenster öffnen oder ins Bild schieben, schließt mein Autopilot es ohne mein Zutun. Webseiten, auf denen automatisch Audio-Reklamespots tönen oder tröten, macht er sofort komplett zu, noch bevor mich der Sound erschreckt.

Dabei finde ich ja gar nicht, dass Werbung schlecht ist. Medien und Werbung gehören zusammen wie Elmex und Aronal, und das ist gut so. Schlecht ist nur, dass Werbung im Internet inzwischen oft derart nervt, dass es an Nötigung grenzt. Bei Zeitschriften ergeht es mir anders. Immer wieder bleibe ich auf Anzeigenseiten hängen, weil mir die Fotos gefallen oder weil mich das Produkt interessiert. Wahrscheinlich liegt das daran, dass ich beim Durchblättern von Magazinen selbst entscheiden kann, was ich wann tue.

Ein Händler auf einem Touristenbasar in Oberägypten erzählte mir, dass er mehr verkaufe, seit er den vorbeilaufenden Touristen nicht mehr auf den Geist geht. Früher seien sie mit starrem Tunnelblick an seinem Shop vorbei geeilt. Eine Regel, die vielleicht auch Onlinewerber beherzigen sollten, könnte lauten: Die Internetuser nicht bedrängen, sich ihnen nicht in den Weg stellen, sie nicht vollquatschen, anmachen oder ihnen an den Ärmeln zerren.

 

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Schwarzer Peter im Glashaus

Als ich am Morgen des 6. Juli, einem Montag, ins ARD-Hörfunkstudio Kairo kam, fragte mich eine ägyptische Mitarbeiterin, ob ich von dem Mord an Marwa El-Sherbini im Dresdner Landgericht gehört hätte und warum die deutschen Medien und deutsche Politiker die Tat immer noch verschweigen würden. Tun sie sicher nicht, erwiderte ich und schaute später in den Archiven nach. Ich wollte der Kollegin das Gegenteil zu beweisen. Es gelang mir nicht, sie hatte recht. In den fünf Tagen nach dem Mord an der Ägypterin, der am Mittwoch zuvor stattfand, waren Meldungen außerhalb der Vermischtes-Seiten oder des Polizeireports die Ausnahme, vom Tathintergrund ganz zu schweigen.

Noch am selben Tag produzierte ich einen Hörfunkbericht mit O-Tönen, der die Reaktionen in ägyptischen Talkshows, Zeitungen und von Passanten auf Kairos Straßen zusammenfasste. Eine knappe Woche nach der Tat meldete sich dann endlich auch die Bundesregierung in Gestalt des Regierungssprechers zu Wort, mit enttäuschend hinhaltender Rhetorik: Sollte es sich herausstellen…, so werde man… aufs Schärfste verurteilen… usw… Andrea Dernbach fragte im Berliner »Tagesspiegel«: »Warum ist der Tod einer Kopftuchträgerin, die nicht Opfer eines Ehrenmords wurde, eine Woche lang nur eine kurze Meldung in den Nachrichtenagenturen und für die politischen Institutionen kein Grund, auch nur zu zucken?«

Ebenso Stephan J. Kramer, Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland, der bestürzt wissen wollte, warum es keine »Solidaritätsadressen von Vertretern der deutschen Mehrheitsgesellschaft« gegeben habe. Immerhin sei der Mord »ganz offensichtlich das Ergebnis der beinahe ungehinderten Hasspropaganda gegen Muslime von den extremistischen Rändern der Gesellschaft bis hin in deren Mitte«. Sind etwa die Protestnoten deutscher Politiker nach antisemitischen Straftaten, so könnte Kramer sich weiter gefragt haben, womöglich nichts anderes als ein hohles, pflichtbewusstes Routineritual?

Der Täter ist inzwischen zu lebenslanger Haft verurteilt worden, am Ende eines Prozesses, den der »Spiegel« zu Recht als Sternstunde des deutschen Rechtsstaates bezeichnet, ein Prozess, der die besondere Schwere der Schuld feststellte und auch in ägyptischen Medien gelobt wurde. Leider zu selten wurde allerdings die Frage gestellt, ob der Mord an Marwa El-Sherbini nicht Ausdruck einer Atmosphäre des Islamhasses ist, der bis in die Mitte der deutschen Gesellschaft reicht. Auch scheint es kaum jemanden zu beunruhigen, dass die deutsche Öffentlichkeit in diesem Fall reagiert hat, wie ich es normalerweise von der ägyptischen gewohnt bin.

Da waren zum einen die späten deutschen Reaktionen, die von der arabischen Presse als Todschweigen oder, schlimmer noch, gelegentlich als heimliche Komplizenschaft gedeutet wurden. Wenn Ihr nicht alle Terroristen seid, fragt der Westen seit 9/11 die muslimische Welt (zu Recht), wo sind dann Eure kritischen und gemäßigten Stimmen? Nun mussten sich dieselbe Frage die Deutschen gefallen lassen: Wenn Ihr nicht alle Rassisten seid, wo blieben dann Eure Verurteilungen und Solidaritätsnoten?

Wie in der arabischen Welt nach Terrorattentaten, so suchte man auch in Deutschland die Schuld bei anderen. Warum soll die Tat für uns relevant sein, wo Alex W. doch erst 2003 aus Russland nach Deutschland kam? Nicht ungelegen kamen offenbar die emotionalen Reaktionen in der muslimischen Welt, die Proteste und Drohungen. Brennen bald deutsche Botschaften, fragte ZEIT Online. Dass in Ägypten Protestaktionen die Ausnahme waren, spielte keine Rolle. 2000 Ägypter beim Trauerzug in Alexandria hinter Marwas Sarg, bei dem einige Hitzköpfe »Nieder mit Deutschland« grölten, drei Dutzend stumme Transparenteträger vor der Deutschen Botschaft in Kairo, ein Mordaufruf im Internet, der dort allerdings von Durchschnittsusern kaum gefunden werden konnte und von einem Wirrkopf stammte. All das reichte aus, um die anderen schlecht, fanatisch oder, besser noch, als Täter dastehen zu lassen.

Wie praktisch auch, dass es unter Muslimen (aber nicht nur unter ihnen) Ehrenmorde gibt. Diese Retourkutsche ließ man sich nicht entgehen. Laut Bundeskriminalamt wurden zwischen 1996 und 2005 pro Jahr im Schnitt fünf Frauen Opfer eines Ehrenmordes in Deutschland – jeder einzelne eine grausame Tragödie. Dennoch ist es an Geschmacklosigkeit kaum zu überbieten, angesichts der Proteste gegen den Mord an Marwa El-Sherbini zu fragen, wo denn die Proteste gegen Ehrenmorde bleiben? So geschehen in Kommentaren und Berichten in den letzten Monaten. Das erinnert mich daran, wie man in arabischen Ländern den Schwarzen Peter zurückgibt, indem nach Terrorattentaten gern auf Guantanamo, den Krieg gegen den Irak, die zivilen Opfer in Afghanistan oder den Palästinensergebieten verweist.

Besonders nervös wiesen die Deutschen in der Berichterstattung zum Marwa-Mord, in Leserbriefen und in Kommentarspalten den Generalverdacht von sich, dem man sich ausgesetzt sah. DIE Deutschen sind natürlich keine Rassisten, auch wenn das manche ägyptischen und arabischen Medien in den Wochen und Monaten nach dem Mord suggerierten. Aber ist der Generalverdacht nicht ein Instrument, das weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit bekannt vorkommen müsste, weil sie es jahrelang auf Muslime angewandt haben?

Unterm Strich war zu erleben, dass die deutschen Reaktionen auf den Mord in Dresden zu oft aus Verdrängen, Verharmlosen, Relativieren und Dämonisieren bestanden. Im Grunde haben sich weite Teile der deutschen Öffentlichkeit verhalten wie die arabischen Gesellschaften in spiegelgleichen Situationen. Und das sollte, angesichts der Tatsache, dass wir in einer demokratischen Zivilgesellschaft leben, nun wirklich beunruhigen.

 

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Rummelplatz mit Verkehrsinfarkt

Für ein Buchprojekt über die informellen Wohnviertel von Kairo ließ ich mir vor einer Weile im ägyptischen Ministerium für Stadtentwicklung Kairos Zukunft erklären. Man rechnet dort damit, dass in zehn Jahren rund 24 Millionen Menschen in der Megacity wohnen, im Jahr 2050 dann zwischen 32 und 34 Millionen. Das wird ein ziemliches Chaos werden, zumal der interne Kairo-Masterplan, den man mir netterweise kopierte, deutlich mehr Mubarak-Fotos enthielt als konzeptionelle Ansätze gegen die Apokalypse.

Zum Schlamassel, der den schleichenden Tod der Stadt herbeiführt, zählt die Tageszeitung Al-Masry al-Youm den allgegenwärtigen Verkehrskollaps sowie die einzigartige Untätigkeit der Behörden. Ach, wenn sie doch nur untätig wären. Als wir vor ein paar Jahren in unser Viertel zogen, war an der großen Kreuzung unweit unseres Hauses die ägyptische Welt noch in Ordnung. Die Ampeln leuchteten. Niemand schenkte ihnen Beachtung.

Der Verkehr floss zäh, aber stetig. Die Autofahrer einer Richtung fuhren dann los, wenn sie fanden, dass sie lang genug auf den Verkehrstrom aus den anderen Richtungen gewartet hatten. Dieser Pragmatismus ist auf Kairos Straßen üblich, aber den Behörden offensichtlich peinlich. Das ‘unzivilisierte Bild’, wie es gern genannt wird, sollte ein Ende haben. Verkehrspolizisten begannen, den Verkehr manuell zu regeln, während die Ampeln gleichzeitig fröhlich weiter leuchteten, beide meistens asynchron zueinander.

Die Ampeln als Errungenschaft der Moderne wollte man so schnell allerdings nicht aufgeben. Die Behörden installierten große Leuchtanzeigen, auf denen zu sehen ist, wie viele Sekunden es noch dauert, bis die Ampel auf grün bzw. rot schaltet. Die Autofahrer beeindruckte das wenig. Welchen Sinn sollte es auch machen, gebannt den Ampelcountdown zu verfolgen, wenn der Verkehrspolizist dann doch die Fahrbahn sperrt, obwohl endlich Grün kommt.

Was dann geschah, erinnerte mich an die Rechtschreibreform. Jahrelang wurden Regeln aufgestellt und wieder zurückgenommen, bis sich die Leute dachten: Dann schreib ich halt einfach, wie ich es für richtig halte. An meiner Kreuzung bedeutet das: Lethargisch wird losgefahren, wenn sich die Stoßstange des Vordermannes bewegt, den Prinzipien einer unbekannten Macht folgend, deren Ratsschlüsse dem gemeinen Autofahrer verborgen bleiben.

Bald war die Kreuzung nur noch dauerverstopft, und die unbekannte Macht hängte einen riesigen Screen über die Straße, auf dem sie den Autofahrern heilige Verse offenbart. Sie lauten: ‘Geschätzter Verkehrsteilnehmer, der Gurt dient Deiner Sicherheit und der Deiner Mitfahrer.’ Oder: ‘Überfahre nicht die Fahrbahnmarkierung!’ Oder: ‘Die Signalanlage wird mit Kameras elektronisch überwacht.’ Die unbekannte Macht guckt also zu, wenigstens das.

Was die Autofahrer mit diesen Versen anfangen, ist mir ein Rätsel, vielleicht sprechen sie sie laut nach. Zeit genug haben sie im Dauerstau ja. Zwischendurch werden auf dem Screen Werbeclips gezeigt, für Coca-Cola oder für einen der neuen Luxuscompounds am Stadtrand, wo es keinen Verkehrskollaps gibt. Die Kreuzung ähnelt einem Rummelplatz mit Verkehrsinfarkt. Alles blinkt und flimmert: Ampeln, Leuchtanzeigen mit Sekundencountdown, ein Riesenbildschirm.

 

Literaturtipp: Carsten Otte. Goodbye Auto. Ein Leben ohne Führerschein. München, 2009.

 

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Der Kieferorthopäde vom Khan El-Khalili

»Good price, only today, nur gucken«, das sind Floskeln, die so manchem Ägypten-Reisenden noch Monate lang im Ohr klingeln. Kein Schritt über den Khan El-Khalili in Kairo, der Mutter aller Basare, der nicht einem Spießrutenlauf durchs Spalier ganzer Händlergroßfamilien gleicht. Onkel, Neffen und der Bruder vom besten Freund des Ladenbesitzers, und alle beherrschen jene Floskeln in einem halben Dutzend Sprachen, mindestens. Wer in einen ihrer Läden schaut, hat schon verloren. Egal, was er kauft, er hat das zu einem völlig überhöhten Preis getan. Abgesehen davon, dass es meistens sowieso Tinnef ist.

Dann steigt der Tourist in ein Taxi und zahlt ein Vielfaches von dem, was ein Ägypter bezahlen würde. Er holt sich eine Flasche Mineralwasser am Kiosk und wird auch dort ausgenommen. Das Gefühl, der Abzocke hilflos ausgeliefert zu sein, nervt – selbst mich, der ich nach über zehn Jahren in Kairo die wirklichen Preise kenne und mich (meistens) wehren kann.

Viele lieber würde ich mich den Nervereien widmen, die wirklich unvermeidbar sind, statt Taxifahrer an der Gurgel zu haben oder von einem angefahren zu werden, der den Rückwärtsgang einlegt, wenn ich aussteige, um mich wütend mit seiner Heckstange umzunieten. Nur weil ich den von ihm geforderten Fahrpreis nicht zahlte. So etwas passiert mir immer wieder.

Gern beobachte ich deutsche Freunde, die hier zu Besuch sind. Über Europäer, die von den Gebräuchen in Kairo völlig überfordert sind, schrieb Ali Bey al-Abbassi schon vor 200 Jahren: »Aus der Fassung gebracht gleichen sie dann in ihrem exaltierten Dahinschreiten Wahnsinnigen.« Feilschen gehört nicht zu den deutschen Gebräuchen meiner Freunde. Wenn sie es dennoch tun müssen, verkrampfen sie und kriegen einen starren Blick. Man muss natürlich nicht überall im Kairoer Alltag feilschen, schon gar nicht als Ägypter, aber überall dort, wo Touristen unterwegs sind.

Das Blöde ist, ich kann diese Abzocke verstehen. Der Taxifahrer, der sich einmal im Monat glücklich schätzen kann, einen Ausländer zu befördern, und ihn dann übers Ohr haut, ist danach immer noch arm und hat höchstens eine Fleischmahlzeit mehr. Er nimmt halt, was der Markt hergibt. Anders ist das in Deutschland ja auch nicht. Wenn ich mit deutschen Redakteuren ums Honorar feilsche, habe ich inzwischen, wenn ich gut feilschte, am Ende auch nur eine Fleischmahlzeit mehr. Davon, dass diese Redakteure für diese Verhandlungen ganz offensichtlich auf dem Khan El-Khalili geschult werden, ganz zu schweigen.

Kürzlich war ich mit meinem elfjährigen Sohn in Berlin beim Kieferorthopäden. In der Praxis schicker Designerbeton, Edelstahltreppengeländer, raffinierte Lichtinstallationen, Mineralwasser kostenlos aus dem Spender. Alles sah sehr teuer aus. Mein Junge braucht eine Zahnspange. Ich dachte: Was kann schon passieren, wir sind ja krankenversichert.

Der Kieferorthopäde guckte kurz in seinen Mund rein und überschwemmte mich dann mit Kostenvoranschlagsvarianten. 500 Euro hier, 1400 dort, und ohne 165 Euro gleich am Anfang könne erst gar nicht begonnen werden. Fehlte nur noch, dass er sagte: Good price, only today! Mir brummte der Schädel, ich war außerstande zu beurteilen, was medizinisch notwendig war und was nicht. Der Orthopäde beschwor mich so eindringlich, dass ich fürchtete, mein Sohn müsse den Rest seines Lebens ganz ohne Zähne verbringen, wenn ich knauserig sei. Wer möchte schon an der Gesundheit seines Kindes sparen.

Ich wollte das alles erst mal durchdenken, sagte ich. Beim Rausgehen, aus der Fassung gebracht, das Edelstahltreppengeländer fest im Griff, glich ich in meinem exaltierten Dahinschreiten einem Wahnsinnigen.

 

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Morgens auf dem Planeten Erde (6): Kairo

In Kairo beginnt der Tag zwei Mal. Das erste Mal, kurz vor Sonnenaufgang, erschallt der Ruf zum muslimischen Morgengebet, dem Salat ul-Fajr, heute um 4.08 Uhr. Er ertönt aus den Lautsprechern der Moscheen und Gebetsstuben, die zu Zehntausenden übers gesamte Stadtgebiet verteilt sind. Diesen Gebetsruf, arabisch Azzan, höre ich nicht, er weckt mich nicht auf. In meinem Stadtteil Dokki wie in vielen anderen Nachbarschaften ab Mittelklasse aufwärts, ist die Moscheedichte nicht so hoch. Anders in ärmeren Vierteln. Hier kann der Gebetsruf kaum ignoriert werden. Oft erschallt er aus billigen Lautsprecheranlagen, übersteuert und krächzend. Nicht selten übertragen besonders eifrige Moscheediener vor dem Azzan eine Viertelstunde lang noch Koranrezitationen, in der Hoffnung, das würde die Leute frommer machen.

Trotzdem bleiben die Reihen der Betenden zu dieser frühen Stunde meistens ziemlich kurz. Nur wenige Unermüdliche oder Frühschichtler schleichen durch die halbdunklen Straßen zur Kiezmoschee um die Ecke. Das zweite Mal beginnt der Tag ein paar Stunden danach, in Kairo normalerweise relativ spät, vielleicht zwischen acht und neun Uhr, auf jeden Fall später als im beflissenen Deutschland. Das hat womöglich mit dem Wetter zu tun, damit, dass die Leute nachts lange wach sind, um möglichst wenig von der frischen Nachtkühle zu verpassen.

Momentan beginnt für mich allerdings erst gegen sechs am Morgen die Phase erholsamen, entspannten Nachtschlafes. Gegen neun endet sie abrupt. Das hat mit zwei typischen Kairo-Phänomenen zu tun. Kairo ist voller Zeitanomalien, verglichen mit mitteleuropäischen Tagesabläufen.

In den Straßen um unseren Wohnblock herum werden gerade lauter neue Häuser gebaut, und das vorzugsweise zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens. Ich liege dann im Bett mit einer Klangkulisse im Ohr, die der einer Maschinenfabrik nicht unähnlich ist. Jemand erzählte mir, dass es für Baufahrzeuge und andere Schwerlaster nur in den sechs Stunden nach Mitternacht erlaubt sei, durchs Kairoer Stadtgebiet zu fahren. Deshalb herrscht genau dann Hochbetrieb auf den Baustellen. Gruben werden ausgebaggert, Betonmischerfahrzeuge lassen unter meinem Fenster den Motor laufen, Zimmerleute hämmern an den Verschalungen. Im Halbschlaf denke ich: Wo ist die Immobilienkrise, wenn man sie wirklich braucht.

Morgens um sechs ist der Spuk vorbei. Stille. Endlich tief und fest schlafen, und zwar bis um neun. Denn dann werden seit Tagen schon in einer Wohnung zwei Etagen unter mir Fliesen so leidenschaftlich von Wänden und Böden geklopft, dass es einem in Mark und Beinen vibriert. Die Abstemmer beginnen um neun mit jenem Geräusch, das für Kairo so typisch ist. Es hat mich in regelmäßigen Abständen durch meine zehn Kairo-Jahre begleitet, in allen vier Häusern, in denen wir bislang wohnten. Während in Deutschland Wohnungen tapeziert oder gestrichen werden, kacheln hier die Leute ihre Räume neu.

Gegen zehn stehe ich auf. Das tue ich seit vielen Jahren so, wenn ich keine Termine habe. Mein Biorhythmus ist vermutlich völlig im Eimer, kaum je resozialisierbar. Ich habe mir das so angewöhnt, weil ich unmöglich schon um Mitternacht ins Bett gehen kann. Nach 24 Uhr ebbt der Straßenlärm ab, meine Nachbarn hören langsam auf, bei offenem Fenster krachige ägyptische Seifenopern zu gucken. Durch die Stadt weht eine kühle Brise. Es ist, als sei dieser 18-Millionen-Moloch plötzlich von all seinen Flüchen befreit (abgesehen von den gelegentlichen Baustellen in der Nachbarschaft). Dann beginnt für mich die beste Phase des Tages. Texte, die ich um diese Zeit schreibe, gehen mir doppelt so schnell von der Hand. Zwischen drei und vier Uhr am Morgen lege ich mich schlafen.

Bis um zehn. Mein Frühstück sind Marmeladen-Baguettes, dazu höre ich meinen Lieblingssender, radioeins vom RBB aus Berlin. Ahmed Normalverbraucher frühstückt meistens Fuul (Bohnenbrei), T'aamiyya (die ägyptischen Falafel), ein paar Brotfladen dazu und vielleicht ein Omelett. All das gibt es an unzähligen Ständen und Imbisswagen. An vielen Straßenecken sind morgens Männer mit Fahrrädern zu sehen, die auf den Gepäckträgern Sandwiches zubereiten und für ein paar Piaster verkaufen. Die Zutaten haben sie und ihre Familie daheim vorbereitet, sowas nennt man Schattenwirtschaft. Ganze Familien leben von solchen informellen Sandwiches. Manchmal gehe ich zum Frühstück ins Costa Café um die Ecke. Dort ist mir vor ein paar Tagen Khaled Nabawy begegnet, einer der prominentesten ägyptischen Schauspielerstars, unter anderem bekannt aus Ridley Scotts Hollywoodstreifen "Kingdom of Heaven".

Um den Fahrradsandwichverkäufer neben unserem Haus bilden sich immer Kundentrauben, er ist offensichtlich sehr beliebt. Aber ich sehe ihn selten, um zehn ist er längst wieder weg. Er begegnet mir immer, wenn ich Korrespondentendienst im ARD-Hörfunkstudio Kairo habe. Ich versuche dann, um 8.30 Uhr im Studio zu sein – was mir nicht immer gelingt. Halbneun, das ist für mich eher ein Paralleluniversum denn eine Tageszeit. Am Anfang, in den ersten Tagen, fühle ich mich morgens, als litte ich unter einem Jetlag. Allerdings gibt es im Studio zwei Dinge, die mich aufmuntern: erstens der Blick vom elften Stock auf die Innenstadt am Nil, die im Morgendunst fast unwirklich aussieht, und zweitens der Morgenkaffee von Fatma, der Haushälterin des Studios.

 

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Das Yacoubianische Haus

Zwei Monate lang hatte ich mir es vorgenommen, gestern endlich bin ich ins Kino gegangen, um mir "Omaret Yacoubian" anzuschauen, "The Yacoubian Building", kein Film, sondern ein Phänomen.

Vor einigen Monaten hatte ich den Autor der Romanvorlage interviewt, den Zahnarzt Alaa Al Aswany, der immer noch praktiziert, der der Anti-Mubarak-Reformbewegung angehört und der einen Bestseller geschrieben hat, der seltsamerweise nicht verboten wurde, sondern von dem 50 mal mehr Exemplare über die Ladentische gingen, als es für einen arabischsprachigen Bestseller üblich ist.

Die Verfilmung hält sich an die Romanvorlage: In einem runtergekommenen Downtown-Art-Déco-Haus lebt unten die verblühte Elite, Pseudo-Aristokraten und Intellektuelle, und oben auf dem Dach das Volk, die Portiersfamilie, Habenichtse vom Land, die Verkäuferin Bussaina.

Ihre Geschichten kreuzen und verschränken sich. Keine Kränkung, kein Elend, keine Gemeinheit und keine Tragödie im Ägypten von heute wird ausgelassen – und über allem schwebt die Politik des korrupten Regimes, die die Biographien der Menschen zermalmt.

Gestern im Kino war das für einige im Publikum schwer zu ertragen, zu schwer. Als der Portierssohn in der Untersuchungshaft von Geheimdienstbütteln vergewaltigt wird und danach nackt und blutverschmiert in der Zelle hockt und jammert, da nehmen einige Männer ihre Frauen und verlassen das Kino.

Dasselbe geschieht, als der prominente, mehr oder weniger heimlich schwule Chefredakteur zärtlich seinen Liebhaber verführt. Und nochmal, als der Chef der jungen Verkäuferin Bussaina im Lagerraum auf ihr Kleid onaniert, eine Pflichtübung für alle jungen Verkäuferinnen in dem Laden, die ihren Job nicht verlieren wollen. Sie erhalten dafür 10 Ägyptische Pfund pro Abspritzen, umgerechnet 1,35 Euro.

Immer wieder verlassen Zuschauer den Saal. Bis zum Schluss guckten höchstens zwei Drittel von ihnen. In dem Film kommt nichts vor, was die Leute nicht wissen, aber diese geballte Ladung überfordert so manchen. Ägypter lieben die Illusion. Wenn ein Heuchler den frommen Muslim spielt, aber hin- und hersündigt, dann sehen sie drüber weg und reden nur privat darüber. Das ist Selbstschutz, anders wäre die Wirklichkeit vielleicht gar nicht zu ertragen.

Im Film kommen haufenweise Leute vor, die Gebetskettchen schwenken und alle paar Sekunden "So Gott will", "Der Herr wird uns beschützen" usw. sagen und im nächsten Moment eine Zweitfrau heiraten, weil das besser als eine Prostituierte ist, aber letztlich nichts anderes. Und die gleichzeitig bestechen, was das Zeug hält, sich Parlamentssitze kaufen, mit Rauschgifthandel reich werden usw. Und, auch das sagt der Film deutlich, die Mächtigen des Regimes (in Gestalt eines Ministers zum Beispiel) sind nur so mächtig, weil sie skrupelloser sind als all die anderen Schufte.

Nach dem Film bin ich durch die Innenstadt gegangen, über den Talaat Harb Square, auf dem eine Schlüsselszene spielt. Einer der Hauptdarsteller läuft nachts betrunken über ihn rüber und beklagt laut grölend den Niedergang des Landes. Seine Begleiterin sagt: "Die Leute gucken schon. Lass uns hochgehen!" Er antwortet, schreit: "Sie sollen nicht uns angucken, sondern unser Land, das mehr und mehr zerfällt!"

Vor einigen Wochen war ich genau hier auf diesem Platz bei einer Demonstration, für einen Hörfunkbericht. Linke(!) und Säkulare(!) protestierten für(!) die schiitische Hisbollah. Hundertschaften bewaffneter Polizisten hatten das Areal abgeriegelt.

Plötzlich stand ich irgendwie mittendrin, im inneren Absperrring, was mir normalerweise nicht passiert, weil ich eigentlich vorsichtig bin. Die berüchtigten Schlägertrupps zogen direkt vor meiner Nase auf, Beamte in Zivil und vermutlich auch Underdogs, die für ein bisschen Kleingeld bereit sind, die Schmutzarbeit zu machen. Mehr als einmal in den letzten Monaten richteten sie ihre Gewalt auch gegen in- und ausländische Journalisten.

Das alles sah vor ein paar Wochen aus wie gestern im Film "Yacoubian Building", nicht ohne Grund, denn die Produktionsfirma, gut mit dem Regime vernetzt, durfte echte Polizeitrupps bei den Dreharbeiten verwenden. Die wussten, was sie spielten, es wirkt im Film authentisch und ebenso bedrohlich wie in der Realität.

Die Demo vor ein paar Wochen wurde nicht gewaltsam aufgelöst, sondern verlief sich einfach so nach einer Stunde. Und während die Demonstranten in den Kaffeehäusern verschwanden, in die sie immer gehen, und sich vielleicht fragten, was es bringt, wenn man sehr viel mehr als früher sagen und tun kann, ging ich hinüber zur beliebten Konditorei "Al Abd", holte mir zwei Stückchen Schwarzwälder-Kirsch-Torte, die ich dann nachts zu Hause auf dem Balkon aß.

Kairo ist wie immer in diesen Tagen, nur greller als sonst, mit ganz scharfen Konturen, in Kunst wie Realität.

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