Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Weltreporter-Forum 2016 – hier ist das Programm!

Das Programm des Weltreporter-Forums 2016 in Raiding/Burgenland steht!

Wir freuen uns mit unseren internationalen Gästen auf einen spannenden Sommer-Nachmittag auf dem Land. Das Programm des Weltreporter-Forums 2016 in Raiding/Burgenland steht!

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Sama Wareh – Hoffnung und Kunst für syrische Kinder

Sama liest Brief der Flüchtlingskinder

Sama liest Brief der Flüchtlingskinder

Ich fahre durch die Dunkelheit in ein schmales Tal in den Bergen südlich von Los Angeles: Silverado Canyon. Die Wegbeschreibung endete mit einem Hinweis auf eine große rote Scheune. Ohne Straßenbeleuchtung sind Größe und Farbe der wenigen Gebäude am Straßenrand kaum zu erkennen. Endlich finde ich die Scheune, im Haus gegenüber leuchtet hinter einem Fenster warmes Licht. Ich bin bei Sama Wareh angekommen: Künstlerin und Aktivistin, Kalifornierin mit Wurzeln in Syrien. Bis zum Kriegsausbruch hat sie regelmäßig Familie und Freunde in Damaskus besucht.
Der Krieg hat sie so beschäftigt, dass sie einmal auf eigene Faust an die türkische Grenze reiste, um Flüchtlingen mit Decken, Heizkörpern, Medizin und Mietzahlungen zu helfen. Ein Jahr später machte sie sich wieder auf den Weg, diesmal mit der Mission, ein nachhaltiges Projekt zu initiieren und dabei ihre Stärken zu nutzen: Kunst und Pädagogik. Sie entwickelte ein Curriculum: “Kunsttherapie für Kinder in Kriegsgebieten” und zog los. Vor ein paar Wochen kam sie zurück und erzählt mir nun, was sie erlebt hat.

“Möchtest Du Linsensuppe?” fragt sie mich zur Begrüßung. Die köchelt vor sich hin, füllt die kleine Wohnung mit Wärme und dem Duft einer starken Gewürzmischung. Wir setzen uns auf ein niedriges Sofa und Sama beginnt zu erzählen.
Im November reiste sie zu einer Schule im Libanon, nördlich von Tripolis. Dort hatte sie nach langer Recherche einen Direktor gefunden, der Schülern die selben Werte vermitteln wollte wie sie: Teamwork, Kreativität und Gleichberechtigung über Religion, Geschlecht, Herkunft, Alter und Rasse hinweg – ein Vorbild für die Zukunft Syriens. Die Schüler hatten den Namen der Schule selbst gewählt: Vögel der Hoffnung.
Sama kaufte von Spenden, die sie in Kalifornien gesammelt hatte und vom Einkommen aus dem Verkauf ihrer Bilder Material und begann ihr Kunstprogramm: Sie ließ die Kinder ihre Träume und Hoffnungen malen und gestaltete mit allen Schülern, Lehrern und dem Direktor ein Wandgemälde. Die steckten der kalifornischen Künstlerin jeden Morgen Briefe und Zeichnungen zu: Blumen und Herzen, Monster, Bomben, blutende Bäume und zerstörte Städte.
“In Kunst drücken Kinder aus, worüber sie nicht sprechen können,” erzählt Sama von ihrer Zeit mit den 350 ‘Vögeln der Hoffnung’. Ein Junge sang jeden Morgen vor Unterrichtsbeginn auf der Schultreppe ein Lied von der Schönheit Syriens und von Trauer um die Zerstörung des Landes. Der Abschied fiel ihr schwer, weinend ermutigte sie die Kinder, weiter zusammen zu arbeiten, zu reden und Konflikte ohne Gewalt zu lösen.
Die gesammelten Spenden finanzieren nun einen Kunstlehrer, der ihr Projekt fortführt. Er schickt ihr Videos von den Fortschritten. Sie zeigt mir eines auf dem Computer und holt aus ihrem Schlafzimmer Briefe und Zeichnungen der Kinder. Sie erinnern sie an traurige und glückliche Momente in der Schule. “Nichts kann mich mit so viel Glück und Freude füllen, wie das Lächeln der Flüchtlingskinder und die Konzentration und Ruhe auf ihren Gesichtern während sie zeichnen.”
Aus Videoaufnahmen ihres Abenteuers an der Schule produziert sie einen Dokumentarfilm. Einnahmen aus Vorführungen werden direkt zu den ‘Vögeln der Hoffnung’ geschickt. “Jeder kann etwas Positives bewirken in der Welt,” sagt sie während wir Linsensuppe löffeln. “Ich bin Künstlerin, ich hab nicht viel Geld aber jetzt haben die Kinder diese neue Freude im Leben, nur weil ich mich angestrengt habe. Das ist das beste Gefühl der Welt!”

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Trauertag für Australiens Great Barrier Riff

coalreefEinen Funken Hoffnung gab’s noch für Australiens Great Barrier Reef, den löschte die Great Barrier Reef Marine Park Authority (GBRMPA) heute aus. Die konservative Regierung unter Tony Abbott hatte schon im Dezember beschlossen, drei neue Kohlehäfen in unmittelbarer Nähe des Weltkulturerbes zu genehmigen, dafür drei Millionen Kubikmeter Meeresboden auszubuddeln und über den Korallen zu verschlammen. Die GBRMPA musste jedoch auch noch zustimmen. Das wollte sie eigentlich bis 24.Dezember tun, hielt ihre Entscheidung dann aber wohl für kein passendes Weihnachtsgeschenk und vertagte auf heute.

Fischer, Anwohner, Menschen die gern tauchen und/oder die Natur schätzen und viele Umweltschutzorganisationen hatten eine heiße und verzweifelte Kampagne geführt. Erfolglos. Heute gab die GBRMPA  ihre Entscheidung bekannt und die heißt: JA zu Kohle, ‘Dredging & Dumping’ und NEIN zum Schutz des Welterbes. In ihrer Begründung sagt die Behörde (deren Job eigentlich ist, das Riff zu erhalten und zu schützen): die strengen Umwelt-Auflagen für das Projekt würden die Biodiversität, sowie das Erbe und die soziale Bedeutung des Riffs gar noch verbessern. Das liest sich fast schon orwellianisch zynisch. Außerdem, so ein GBRMPA-Sprecher, sei das Riff ja viel größer als die Oma aus Wagga Wagga sich vorstelle, kurz, das falle gar nicht so auf und man solle sich mal nicht so anstellen.

Der größte Kohlehafen der Welt ensteht – mitten im größten Korallenriff der Erde.

Seit Antritt der neuen Regierung ist dies nicht die erste schlechte Nachricht für die Zukunft von Australiens Umwelt: Tasmaniens Tarkine Wildnis, gerade erst zum Schutzgebiet erklärt, ist dabei hunderttausende Quadratkilometer bisher geschützen Regenwaldes zu verlieren, das Wissenschaftsministerium wurde als aller erstes nach dem Wahlsieg abgeschafft. Tourismusbeschäftigte und Naturinteressierte sehen fassungslos und entsetzt zu.

Aber offenbar ist der Regierung wichtiger, noch mehr Bodenschätze so schnell und lukrativ wie möglich aus der Erde zu buddeln. Australien ist der weltgrößte Kohle-Exporteur. 2010 exportierte der Kontinent knapp 300 Millionen Tonnen Steinkohle. Hauptabnehmer sind Japan und China. Was wir Australiens Kohle rundum noch so verdanken, hat Bill McKibben im Monthly aufgeschrieben.

 

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Taifun Haiyan – war da was?

Als Taifun Haiyan vor zwei Wochen mit Windgeschwindigkeiten von mehr als 300km/h auf die Philippinen zuraste, war ich für Recherchen in Japan. Weit weg vom Geschehen und von meinem Arbeitsplatz in Peking. Fast zehn Jahre habe ich auf den Philippinen gelebt und über das Land berichtet. Abnehmer für Geschichten zu finden war oft schwierig. Die Philippinen sind kein Touristenziel für Deutsche wie Thailand, sie haben wirtschaftlich nicht das Potenzial wie Japan oder China und überhaupt, da gibt’s doch dauernd Ärger. Kriminalität, islamistische Terroristen, Naturkatastrophen. Genau, Naturkatastrophen. So wie jetzt Haiyan, der auf einigen Inseln der Visayas-Gruppe alles umsäbelte, was sich ihm in den Weg stellte. Den Rest erledigte die Sturmflut.

Und nach dem Sturm und der Flut kamen sie in Scharen, die Fallschirm-Journalisten. Rasch eingeflogen aus New York, Singapur oder London. Auf dem Weg zum Unglücksort noch schnell einige Länderinformationen studieren und dann geht’s los mit der Berichterstattung, als hätte man schon immer auf einer philippinischen Insel gelebt. So wie im März 2011 in Japan, als der CNN-Korrespondent Anderson Cooper nach dem großen Erdbeben gemeinsam mit meinem Mann in der ersten Maschine aus New York saß, die den vorübergehen gesperrten Flughafen in Tokio anfliegen konnte. Kaum gelandet, erzählte er Millionen Zuschauern, wie katastrophal die Situation in Japan war und wie eigenartig ruhig die Japaner damit umgingen.

Die Großen der Branche können es sich leisten, jeweils einen ganzen Tross aus Journalisten, Fotografen, Kameraleuten und Technikern zu den Brennpunkten der Erde zu schicken. Über Nacht war Tacloban, die Hauptstadt der Insel Leyte, ein solcher Brennpunkt geworden. Cooper & Co. machten sich hastig auf ins Epizentrum der Zerstörung. Eine Woche lang gehörten die Schlagzeilen den philippinischen Taifunopfern und ihrem verzweifelten Warten auf Hilfslieferungen. Auch bei mir fragten Zeitungen und Sender an, ob ich nicht rasch nach Tacloban fliegen könnte.

Nein, ich konnte nicht, mit zwei Kindern ist man nicht super-flexibel. Aber ich wollte auch nicht. Ich sah‘ keinen Sinn darin, mich diesem Medienhype anzuschließen. Auf allen Kanälen, in sämtlichen Zeitungen wurde berichtet, was die Leitungen hergaben. Welchen wichtigen Beitrag kann man in einer solchen Situation noch beisteuern? Muss man wichtige Ressourcen (Lebensmittel, Wasser, Helikopter, Ansprechpartner vor Ort) verbrauchen, nur um eine Geschichte zu schreiben, die so wie alle anderen das Grauen der Zerstörung und das Elend der Überlebenden ausleuchtet?

Ich will lieber nachschauen, wie es in Tacloban ausschaut, wenn der Medientross weitergezogen ist. Wenn die Welt nicht mehr auf die zertrümmerten Orte schaut, weil niemand mehr von dort berichtet. Es ist keine Überraschung, dass diese Idee auf wenig Resonanz bei den Redaktionen stößt. Ein netter Kollege vom Nachrichtensender N24 sagte ganz offen: „Die Leute wollen das doch nicht mehr sehen.“

So ist das. Eine Woche hieß es „Spot on“. Nun liegen die Taifungebiete wieder im tiefen Dunkel (buchstäblich, denn Strom soll es erst um Weihnachten wieder geben). Wie es dort weitergeht, ob die von der Regierung versprochenen neuen Behausungen gebaut werden, was mit den vielen Millionen Spenden passiert, wie die Menschen ihr Leben wieder in den Griff bekommen – wer will das wissen? Die Fallschirm-Journalisten jedenfalls nicht. Sie sitzen bereits wieder im Flieger zum nächsten Krisengebiet und lesen sich rasch an, worüber sie eigentlich berichten sollen.

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Die gelbe Gefahr!

 

Aus aktuellem Anlass ein paar Worte zur »gelben Gefahr«, weil mir vorhin auf Facebook jemand Folgendes schrieb:

 

»Ich frage mich, warum der gelbe Hintergrund in Ihrem Facebook-Profilfoto, der aktuell als Kennzeichen der Muslimbrüder-Sympathisanten angesehen wird? Ich erwarte Neutralität von Journalistinnen und Journalisten!«

Nun, ähemm, das Foto steht so, wie es aussieht, seit April 2011 auf meiner Facebook-Seite, weil ich damals dachte, dass rot und gelb zusammen so’ne schöne Signalwirkung entfalten. Hat mir einfach gut gefallen. Dass es die Farbe der Muslimbrüder sein soll, ist mir unbekannt (seit GESTERN verwenden sie allerdings einen gelben Hintergrund in einem ihrer Protestlogos). Man könnte über den Vorwurf an mich lachen, wenn er nicht ein Beispiel dafür wäre, wie so manchem Ägypter (und Deutschen in Ägypten und Deutschen in Deutschland, der sich für Ägypten interessiert) in dieser Atmosphäre der Hysterie die Nerven durchgehen.

 

 

Ich richte ja nie meine Berichterstattung an den Stimmungswogen der Leute aus. Eine der Hauptfragen, die ich mir beim Recherchieren und Schreiben selber stelle, lautet: »Ist das, was ich sehe, jetzt wirklich das, was ich denke, was es ist…?« Will sagen: Es gibt ziemlich viele Gründe dafür, immer und überall kritisch unter die Oberfläche zu gucken. Was Ägypten betrifft, gilt das nicht nur für die Islamisten, auch für Militär, Sicherheitskräfte, Opposition usw. usf. Alles andere wäre journalistisch falsch (und außerdem sterbenslangweilig).

 

 

Ich weiß, dass das schwierig für jene ist, die nach einfachen ›Wahrheiten‹ dürsten, nach solchen, die am besten auch noch ihren Stimmungen und Erwartungen entsprechen. Ich verstehe das ja, aber es ist journalistisch nicht machbar. Ich erhalte auch Post, in denen Unterstellungen stehen wie: »Sie haben doch die Muslimbruderschaft immer geschont und die Gefahr verharmlost!« — Wahlweise steht statt Sie auch gern Ihr für »Ihr Journalisten«…

 

 

Wen es interessiert, ich verlinke hier mal ein paar meiner Beiträge, die ich eben auf die Schnelle rausgesucht habe. Das soll keine Rechtfertigungsein (dazu gibt es keinen Grund), sondern eine Ermunterung dazu, mal ein bisschen genauer in die deutschen Medien hineinzugucken oder hineinzuhören. Da gibt es bei meinen Kollegen (auch von WELTREPORTER.NET) ne ganze Menge zu entdecken, zum Beispiel in den Tageszeitungen und auf den öffentlich-rechtlichen Radiosendern (sehr empfehlenswert!) und zum Beispiel besonders auch bei Karim El-Gawhary.

 

 

Hier Links zu ARD-Hörfunkbeiträgen von mir aus dem Frühjahr und Winter:

 

 

Das folgende Stück hier wurde knapp drei Monate vor der Entmachtung Mursis gesendet, ich lasse einen ägyptischen Gesprächspartner erklären, warum er die Ideologie der Muslimbruderschaft für gefährlich & faschistisch hält :

 

 

http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2013/04/12/drk_20130412_2248_aeceaafc.mp3

 

 

Hier zu Menschenrechtsverletzungen unter Mursi (April 2013):

 

 

http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2013/02/11/drk_20130211_1214_7d7da371.mp3

 

 

Hier genau zur Hälfte der Amtszeit Mursis (Januar 2013), ebenfalls über Menschenrechtsverletzungen und repressive Politik:

 

 

http://www.tagesschau.de/ausland/aegypten1410.html

 

 

Hier die ersten Massenproteste gegen Mursi & Muslimbruderschaft im Dezember 2012:

 

 

http://www.tagesschau.de/ausland/aegypten-proteste110.html

 

 

Das sind einige von vielen Beispielen. Auf den Text-Webseiten gibt es jeweils immer auch ein Audio-Logo, auf das man klicken kann, um sich das jeweilige Stück anzuhören.

 

 

Mal auch ganz spannend für mich, in der Rückschau zu gucken, wie die eigene Berichterstattung damals aussah. ■

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Ägypten – das Reich der Phantasie

Dass die Wahrheit in Konflikten auf der Strecke bleibt, ist eine Binsenweisheit, ebenso wie die Tatsache, dass mit Informationen Politik gemacht wird. Geschenkt. Es gibt nichts, das ein Journalist nicht kritisch abklopfen muss.

 

Am 26. Januar 2011, dem zweiten Tag des ägyptischen Volksaufstandes gegen Mubarak, bin ich tagsüber zu drei Orten in der Nähe des ARD-Studios gegangen, für die Regimegegner Demos mit mehreren Tausend Menschen über Twitter und auf Facebook vermeldet hatten. An nicht einem der drei Orte traf ich auch nur einen einzigen Demonstranten an.

 

Bei Opferzahlen sieht’s nicht anders aus. Wem hohe Zahlen nutzen, der vermeldet hohe Zahlen, wem nicht, der nicht. Fotos von Kindern, die das ägyptische Militär angeblich bei ihren brutalen Angriffen gegen Mursi-Anhänger in Kairo tötete, erwiesen sich später als Bilder von Kinderleichen aus Syrien.

 

Diese Bilder waren auf Webseiten aufgetaucht, die der Muslimbruderschaft nahestehen. Andere Webseiten fanden die Quelle und stellten die Screenshots der ägyptischen sowie der syrischen Webseite nebeneinander –beide zeigen dasselbe Massakerfoto, nur mit einer anderen Bildunterschrift.

 

Ich habe aber auch schon Webseiten mit solchen Gegenüberstellungen gesehen, bei denen der »Beweis«, also der Screenshot von der Webseite mit dem angeblichen Originalfoto, eine Fälschung war – und das angeblich »entlarvte« Foto aber echt. Alles ziemlich verworren.

 

Gestern tauchten in Ägypten Fotos von Männern in Zivil auf, die mit Maschinengewehren bewaffnet am Rande von Demonstrationen durch Kairos Straßen liefen. Angeblich soll es sich um bewaffnete Mursi-Anhänger gehandelt haben. Das kann stimmen, ich habe selber in den letzten Wochen Mursi-Anhänger mit Waffen gesehen. Die Behauptung kann aber auch falsch sein. Andere Fotos von gestern zeigen Männer in Zivil und mit Maschinengewehren, die mit Polizisten in der Sonne stehen, plaudern und ganz offensichtlich zu ihnen gehören.

 

Zu welcher ‘Seite’ gehören Männer in Zivil, die in der Nähe von Protesten mit Waffen rumlaufen? Das Publikum entscheidet sich für die Antwort, die es hören will. Das ist der Hauptpunkt. Nur wenige der vielen Falschinformationen und Behauptungen dienen noch dazu, einen Beweis zu suggerieren. Sie sollen einfach nur Stimmungen beeinflussen, bei Leuten, die ohnehin schon in einer bestimmten Weise gestimmt sind.

 

Es ist inzwischen völlig egal, wie plausibel diese Behauptungen sind. Sie tauchen auf, sie putschen auf. Sie sind ein paar Stunden später schon wieder aus der Wahrnehmung verschwunden und haben ihren Zweck erfüllt. Im Zeitalter von Social Media und von Fernsehbildschirmen, die rund um die Uhr flimmern, erwartet niemand mehr, das irgendwas von dieser Informationsflut später dementiert oder entlarvt wird. Es guckt sich alles einfach so weg.

 

Seit Mittwoch wurden in Ägypten landesweit mehrere Dutzend Kirchen gestürmt, verwüstet und/oder in Brand gesteckt. Ich habe in Videoaufnahmen Täter gesehen, bei denen es sich mit ziemlicher Sicherheit um Sympathisanten von Mursi und der Muslimbruderschaft handelte – zur ‘Rache’ womöglich angefeuert durch die Reden, die wochenlang von der Protestcamp-Bühne an der Rabaa-al-Adawiyya-Moschee hallten und in denen aufs Übelste immer wieder auch gegen Christen gehetzt wurde.

 

Auf Aufnahmen von anderen der attackierten Kirchen sah ich Angreifer, die mit Pick-up-Trucks kamen und bei denen es sich unverkennbar um Baltagiyya-Schlägertrupps handelte, um jene meist jungen, verrohten Männer aus Armenvierteln, die seit Jahrzehnten für Funktionäre der Mubarak-Nomenklatura die Drecksarbeit machen, nicht selten vollgepumpt mit Bango (Marihuana), und die ein paar ägyptische Pfund für ihren Einsatz erhalten.

 

Eine ägyptische Koptin aus Beni Suef (die ich nicht kenne und für deren Äußerungen ich nicht bürgen kann) schrieb auf ihrer Facebook-Seite (mehrere Tausend Abonnenten): »Glaubt mir! Die, die bei uns im Ort die Kirchen anzündeten, waren Geheimdienstleute in Zivil und Männer von der NDP (Mubaraks 2011 aufgelöster Regierungspartei).« In einem Fernsehinterview an jenem Mittwoch erzählt ein koptischer Kirchenfunktionär aus Al-Minya, dass die Angriffe auf alle Kirchen im Ort exakt zur selben Zeit nach demselben Muster abliefen und vor allem in jenem Moment im Morgengrauen stattfanden, als in Kairo die brutale Räumung der Protestcamps der Mursi-Anhänger gerade begonnen hatte. Die Kopten riefen die Polizei an und baten um Schutz und Hilfe, aber bei keiner der überfallenen Kirchen habe sich die Polizei blicken lassen, bis zum Schluss nicht.

 

Es bleibt einem nichts weiter übrig, als sich auf all das irgendwie selber einen Reim zu machen – indem man so aufwändig und so kritisch wie möglich recherchiert und indem man die eigenen, Jahre langen Erfahrungen bei der Beurteilung hinzuzieht. Nach dem, was ich von den Überfällen auf die Kirchen gesehen habe, würde ich sagen: sowohl radikale, aufgehetzte Mursi-Sympathisanten als auch koordiniert agierende Angreifer, die Überfälle orchestrierten, die den Islamisten in die Schuhe geschoben werden können.

 

Vorfälle dieser und ähnlicher Art müssten von offizieller Seite untersucht werden. Nach jedem Blutbad der letzten zweieinhalb Jahre wurde schonungslose Aufklärung versprochen, aber ich kann mich an keinen einzigen Untersuchungsbericht erinnern. Und wenn es Pressekonferenzen gab, auf denen »Untersuchungsergebnisse« präsentiert wurden, waren sie keine einzige der Minuten wert, die man für sie opferte.

 

Im Oktober 2011 habe ich sechs Stunden lang aus nächster Nähe mit ansehen müssen (ich konnte den Ort nicht verlassen), wie das ägyptische Militär vor dem TV-Gebäude Maspero ein Massaker unter Teilnehmern einer Christendemonstration verübte. Ich sah Soldaten, die auf Menschen schossen (die dann getroffen zusammensackten), ich sah, wie gepanzerte Militärfahrzeuge über Demonstranten fuhren. Am Ende waren mindestens 27 Menschen tot.

 

Ein paar Tage später gaben Armeeoffiziere auf einer Pressekonferenz die offizielle Version der Militärs bekannt. Fast alles, was sie sagten, war praktisch das Gegenteil von dem, was ich selber gesehen hatte. Ähnliche Erfahrungen macht man immer wieder auch mit Erklärungen anderer Behörden. Es ist leider so, dass die Informationen offizieller Stellen in Ägypten keinen Wert haben. Sie können stimmen (und tun das womöglich hin und wieder auch), aber sie können ebenso gut auch komplett dem Reich der Phantasie entstammen. Man könnte sie eigentlich ignorieren. Sie helfen einem bei der Suche nach dem Hergang der Ereignisse keinen einzigen Millimeter weiter. ■

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Vor Wahlen wird Islam zum Land …

Zu wenig dringt vom australischen Wahlkampf in den Rest der Welt vor. Was schade ist, denn wenn die nächsten 4 Wochen bis zur Wahl nur ansatzweise so skurril weitergehen, wie sie angefangen haben, wird’s zum Schreien. Kostprobe gefällig? Gern! Gestern zb gab eine junge Kandidatin der “One Nation” Partei (so eine Art australische Le-Pen- oder Sarah-Palin-Truppe) ein Interview und erklärte : Sie sei jetzt nicht generell gegen Islam als Land, aber deren Gesetze sollten lieber nicht in Australien gelten. Okay, ich verstehe, Sie brennen darauf, den Namen dieser politischen Wunderwaffe kennen zu lernen: Verständlich, denn Stephanie Banister, mit 27 Jahren das jüngste “poster girl” ihrer politischen Vereinigung, hat noch weitere Weisheiten in Sachen Religion parat. Da Skepsis in diesen schnellmedialen Zeiten angebracht ist, hören Sie sich den Beweis aus Australiens öffentlichem Fernsehen auf Youtube an. Es lohnt! Sarah, sorry Stephanie weiß auch: Nur 2 Prozent aller Australier etwa folgten dem Haram (sie meinte Koran, haram ist ein muslimischer Terminus für etwas das verboten ist )

http://www.youtube.com/watch?v=6_1SFf8t-ko

Dann belehrte sie noch: Juden hätten andere Diätvorschriften (nicht haram sondern kosher und steuerfrei), aber Juden hätten ja eh ihre “eigene Religion, welche nämlich Jesus Christus folge”. Autsch, ich glaube Stephanie muss wirklich muss noch mal zurück in Jahrgang 10, wo’s um “Religionen dieser Welt” ging. Denn Glaube und Gott sind ihr Lieblingsthema (sagt sie). Kaum nötig zu erwähnen, dass die aufstrebende Politikerin sich am nächsten Tag beschwerte und falsch zitiert fühlte… Die Beweise waren allerdings etwas zu erdrückend.

Mit etwas Glück bleibt Australien mehr Banister-Intelligenz eventuell erspart: im Moment wird gerichtlich gegen sie ermittelt weil sie angeblich Aufkleber verteilt hatte: “halal funds terrorism” brüllten die weiß auf rot, und ihre Anhänger hatten sie in Brisbanes Supermärkten auf Fleischwaren und andere Produkte geklebt. Das Verfahren steht noch aus, aber mit Vorstrafe darf sie nicht ins Parlament. phhhh.

halalfood

 

Dies waren Stephanie Banisters Aufkleber. Dank derer könnte Australien von ihr verschont werden.

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Mit Kleister und Trillerpfeife

Überlebensgrosse Portraits von Menschen, die kurz vor dem Verlust ihrer Wohnung stehen, Trillerpfeifenkonzerte und eine Postkartenaktion, bei der sich jeder Passant persönlich für einen “Hypothekengeschädigten” einsetzen konnte: So haben letzte Woche in Barcelona Hunderte gegen Zwangsräumungen und die schuldnerfeindliche Bankengesetze protestiert, hier vor der Zentrale der Sparkasse Caixa Catalunya.

Caixa catalunya Blog 2klein

Spanien hält einen traurigen Rekord: Über 126.000 Zwangsvollstreckungen wegen nicht bedienter Kredite wurden im letzten Jahr verhängt. Und wer aus seiner Wohnung geworfen wird, ist deswegen noch lange nicht schuldenfrei. Im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern wird die Schuld in Spanien nicht dadurch getilgt, dass die Wohnung an die Bank zurückfällt. Nachdem im letzten Jahr eine Reihe von Selbstmorden die Öffentlichkeit erschütterte, hat die Regierung Rajoy Zwangsräumungen in besonders prekären Fällen zwar gestoppt, an der Situation an sich hat sich allerdings kaum etwas geändert.

Die landesweiten “Plattformen der Hypothekengeschädigten” (P.A.H., Plataforma de Afectados por la hipteca) haben daher für kommende Woche zu Protesten aufgerufen. Am 24. Januar wollen Vertreter dem Parlament 750.000 Unterschriften für eine Gesetzesänderung übergeben, für den 16. Februar sind Grossdemonstrationen geplant.

Carmeli Caixa Catalunya kleiner1

Zumindest die Plakataktionen scheinen ihr Ziel zu erreichen: Nachdem vor einer anderen Filiale wochenlang das Portrait eines Schuldners prankte und Aktivisten unter den Passanten Postkarten mit der Kurzfassung seines Falls verteilten, rückte die Bank von der Zwangsvollstreckung ab und hat die Rahmenbedingugnen des Kredits geändert. Die Plakatkampagne ist eine Initiative des Künstlerkollektivs Enmedio, über dessen Arbeit ich am Sonntag im Neonlicht von Deutschlandradio Kultur berichte.

 

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Zeitungskrise? Es kriselt eher die Qualität

Morgen, am Freitag, 7. Dezember, erscheint die Financial Times Deutschland zum letzten Mal. Wir haben dazu Folgendes gedacht (und als Pressemitteilung in die Welt geschickt):
Die nach der Insolvenz von Financial Times Deutschland, Frankfurter Rundschau und dapd heraufbeschworene Zeitungskrise ist in Wirklichkeit eine Krise des Qualitätsjournalismus.
„Verleger klagen, dass immer weniger Leser bereit sind, Geld für ihre Zeitung auszugeben – dabei sind sie häufig selber nicht willens, in Qualitätsjournalismus zu investieren, um damit ihre Leser zu überzeugen“, kritisiert der Weltreporter-Vorsitzende Marc Engelhardt. Durchschnittliches fänden die Leser inzwischen kostenlos im Internet. „Wer eine Zeitung kauft, erwartet mehr: qualitativ hochwertige Berichte, exklusive Reportagen und tiefgehende Analysen. Für solche Texte müssen die Autoren dann aber auch angemessen bezahlt werden.”
Das gilt auch und gerade für die Berichterstattung aus dem Ausland. „Wenn derzeit auf dem Tahrir-Platz wieder gekämpft wird, dann möchten Leser wissen, was genau dahintersteckt – genauso wie bei den Unruhen in Syrien oder dem Aufflammen des Bürgerkriegs im Kongo. Dafür müssen Zeitungen es ihren Korrespondenten, die zunehmend freiberuflich arbeiten, ermöglichen, vor Ort zu berichten – mit vernünftigen Honoraren, mit kaum noch üblichen Reisekostenerstattungen oder mit Pauschalen.”
Wenn jetzt als Konsequenz aus der angeblichen Zeitungskrise weiter bei denen gespart werde, die den Inhalt und damit den wirklichen Wert der Zeitungen bestreiten, sei das genau der falsche Weg. „Dann werden unweigerlich noch mehr Leser ihre Abos kündigen und weitere Zeitungen dichtmachen. Der einzige Weg aus der Krise ist eine Qualitätsoffensive.”
 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Go home – on time or for ever

In Australien gehen heute einige Leute pünktlich nach Hause. Die nämlich, die beim  “go home on time” Day mitmachen, einer Aktion vom Australia Institute. Dies Institut, ein philantophiser Think Tank, hat zusammengezählt, dass Australier jedes Jahr 2 Milliarden unbezahlte Überstunden kloppen und ihren Arbeitgebern damit 72 Milliarden Dollar schenken (58 Mrd Euro). Einer von zehn Australiern (und zwar genau 2.2 Millionen) wissen morgens nicht, wann sie abends nach Hause kommen. Etwa doppelt so viele gehen nicht zum Sport, nicht zum Arzt oder rechtzeitig schlafen weil sie zu viel arbeiten. Daher also der Vorschlag, heute mal zur Abwechslung pünktlich Feierabend zu machen: go home on time. Ich muss mich ja nicht entschuldigen, wenn ich nach 8 Stunden den Laptop zuklappe, aber zum Spass und zur Illustration hab ich mir auch einen “Leave Pass” ausgedruckt. Schon nicht wirklich gut, wenn so was nötig ist. Ich tippe, eine Menge Mitarbeiter von FR und FTD, die mit ihren Kündigungen rechnen, haben auch massenhaft Überstunden ohne Extralohn geschrubbt. Die, die ich dort kenne haben’s jedenfalls ständig getan. Und was haben sie (oder ihre Arbeitgeber) jetzt davon? Den Beweis, dass das Konzept, “ich schenke meiner Firma meine Zeit” nicht funktioniert. Ach ja. Traurig aber wahr.

 

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

The Day After

Am Tag nach dem Sturm ist New York eine geteilte Stadt. Die eine ist von Sandy hart getroffen – mit Überschwemmung, Stromausfall und dem Schock, trotz  High-Tech so verwundbar zu sein. Die andere hat gewaltigen Böen erlebt, aber sonst kaum unter dem Monstersturm gelitten – und probt Business as Usual.

Glücklicherweise wohne ich in einem wettertechnisch privilegierten Viertel an einem Hang in Brooklyn, Park Slope. Oder vielleicht sollte ich schreiben “sandy-privilegierten Viertel”. Denn Park Slope wurde im vergangenen Frühjahr von einem lokalen Tornado heimgesucht, der dutzende Bäume zu Fall brachte. Womöglich ist dies einer der Gründe, weshalb Sandy den Bäumen in unserer Nachbarschaft vergleichsweise wenig zusetzte. Ja, einige sind gefallen, aber doch viel weniger als wir erwartet hatten.

Insgesamt war die Stimmung in Park Slope heute geradezu fröhlich. Brooklyns Stadtteilpräsident Marty Markowitz hatte schon morgens kämpferisch die Parole ausgegeben: “Der Sturm hat sich die falsche Stadt ausgesucht, wir geben nicht auf!” Viele Leute gingen einkaufen – zwei von drei Läden hatten geöffnet -, und vor allem waren Restaurants und Kneipen dicht besetzt. Die Menschen feierten den zusätzlichen Feiertag – kaum einer konnte wegen U-Bahn-Ausfalls und gesperrter Tunnels zur Arbeit – und die Erleichterung, eine Katastrophe unvermutet gut überstanden zu haben.

Aber auch in Red Hook, einem Viertel in der Evakuierungs-Zone am East River, bewiesen die Leute Standfestigkeit und Humor.

Das zeigten nicht nur solche Graffitis, sondern auch die Atmosphäre in dem Viertel. Während die Keller ausgepumpt wurden, standen die Leute in Grüppchen zusammen, tauschten Tipps aus und Neuigkeiten. Und selbst in Downtown Manhattan ist die Lage weniger dramatisch als viele Fernsehbilder vermitteln. Wir mieteten heute nachmittag einen Wagen und fuhren durchs Börsenviertel. Das Wasser ist längst abgeflossen; der spärliche Verkehr läuft trotz ausgefallener Ampeln reibungslos. Während die Subway nach wie vor still steht, fahren schon wieder Busse – kostenlos. Sandsack-Barrieren wie hier vor Goldman Sachs werden abgebaut.

In den deutschen Medien ist das Unspektakuläre verständlicherweise nicht so interessant. Doch es entsteht auf diese Weise ein schiefes Bild. Wir erhielten viele Mails von Angehörigen und Freunden, die Angst hatten, dass wir einem kompletten Chaos zum Opfer gefallen wären. Manche mochten unsere beruhigenden Antworten kaum glauben. Es war ihnen nicht bewusst, dass zwar in 600 000 Haushalten der Strom ausgefallen ist – aber rund vier Millionen keine Probleme haben.

Fotos: Christine Mattauch

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Der “Monstersturm” ist da

Der Sturm ist da. Einmal mehr liegt New York in Agonie. Die Küstengebiete sind evakuiert worden, U-Bahnen und Busse fahren seit gestern abend nicht mehr. In vielen Supermärkten sind die Lebensmittelregale leergekauft und Batterien ausgegangen. Schulen und Universitäten sind geschlossen und auch der Parketthandel der Börse – gemeinhin ein sicheres Zeichen dafür, dass die Sache ernst ist.

Das alles stimmt und vermittelt doch ein falsches Bild. Die Windböen, die bei uns in Brooklyn ums Haus heulen, sind bisher kaum stärker als bei manchen Gewittern. Und als ich gerade einen Spaziergang auf unsere Viertels-Einkaufsstraße 7th Avenue wagte, war ich überrascht, wie viele Menschen unterwegs sind.

Einige führen ihre Hunde aus, andere gehen ganz normal einkaufen oder essen – denn tatsächlich haben diverse Läden und Restaurants geöffnet, von der Drogerie Rite Aid über den Billigjapaner Shinju bis zur Hamburgerkette Cheeburger, wo sich ein paar Jugendliche über Fritten hermachten. Die Post allerdings hat zu. Auch unser Hardwarestore Tarzian samt angrenzender Drogerie, der sonst keine Gelegenheit zum Geschäft auslässt, ist so kunstfertig verrammelt, als wolle der Inhaber Reklame für Klebstreifen machen. Vielleicht will er das ja auch.

 

An den Küsten Staten Islands und Brooklyns ist die Lage ebenfalls durchwachsen, wie klatschnasse Reporter im Lokalfernsehen NY1 berichten. Riesige Brecher arbeiten sich an den Stränden empor, und heute nacht wird das noch schlimmer werden, wenn die Flut ihren Höchststand erreicht. Vorerst aber laufen auch dort noch viele Anwohner über die Promenaden und sagen den Reportern ins Mikrofon, dass sie überhaupt nicht daran denken, ihre Wohnungen zu verlassen – obwohl die Stadt in den großen Sozialsiedlungen jenseits der Promenade schon gestern Aufzüge, Heizungen und Warmwasser abstellen ließ, um die Evakuierung zu beschleunigen. In New York wird nicht gerade sanft mit Almosenempfängern umgegangen. Busse mit Polizisten fahren durch die Straßen, um evakuierungswillige Mitbürger einzuladen.

Hat das Hurrican Center Sandy – in der Boulevardpresse auch „Frankenstorm“ genannt, in Anspielung auf Frankenstein, schließlich ist übermorgen Halloween – etwa überschätzt? Die Prognosen der Wetterstationen sind erstaunlich unterschiedlich. Einige sagen, dass der Höhepunkt des Sturms heute abend gegen 18 oder 20 Uhr lokaler Zeit zu erwarten sei, andere meinen, das Schlimmste sei bereits vorbei. Unser Vollkornbrot und die Thunfischdosen jedenfalls liegen noch ungeöffnet im Schrank. So langsam beginne ich mich mit dem Gedanken zu befassen, wer das eigentlich alles essen soll, wenn der Sturm vorüber ist.

Fotos: Christine Mattauch

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Warten auf Wirbelsturm Sandy

An diesem Sonntag vormittag ist es in New York ganz schön windig – Laub wirbelt durch die Luft, und auf der Straße haben viele eine Kapuze über den Kopf gezogen. Aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was uns offenbar bevor steht: Im Laufe der kommenden Nacht, spätestens am Montag wird Hurrikan Sandy an der Ostküste eintreffen.  Mit bis zu 120 Stundenkilometern und heftigem Regen. „Ein solcher Sturm ist noch nie da gewesen“, warnte Rick Knabb, vom National Hurricane Center. Das Besondere ist vor allem die Ausdehnung von Sandy – der Sturm ist so groß, dass er die Küste von North Carolina bis hoch nach Maine schädigen und, wenn er wie vorhergesagt nach Westen zieht, den gesamten Bundesstaat Pennsylvania erfassen wird. Der Meeresspiegel an der Küste soll um bis zu zweieinhalb Meter ansteigen, da zufällig auch noch gerade Vollmond ist mit ohnehin höherem Wasserstand. Andrew Cuomo, Gouverneur des Staates New York, hat den Notstand ausgerufen.

„Heute ist der Tag, um sich vorzubereiten, morgen ist es zu spät“, warnt das Wetterfernsehen. Aber eigentlich ist es heute schon zu spät. Als ich gerade noch ein paar Wassercontainer im Supermarkt kaufen wollte, waren die Regale schon ziemlich leer.

Hätte ich nur auf die Drogeriekette CVS gehört. Die schickte schon am Samstag eine Mail mit der Überschrift „Christine, be hurrican-prepared“! Genau 20 Sachen waren aufgeführt, die man für den Fall der Fälle unbedingt im  Haus haben müsse, darunter Pflaster, Windeln, Kerzen und Taschenlampen. Zufälligerweise alles Dinge, die CVS im Sortiment hat.

Auch ein „handbetriebener Dosenöffner“ gehört laut Drogerie zur Notfallausstattung. Tatsächlich besteht für die Menschen außerhalb der küstennahen Gebiete das größte Risiko des Wirbelsturms darin, dass der Strom ausfällt. Und damit möglicherweise auch Gas- und Wasserwerke den Betrieb einstellen. Es ist fast unheimlich, mit welcher Geschwindigkeit einschlägige Unternehmen reagieren. Auf der Website weather.com waren gestern große Banner des Batterieherstellers Duracell geschaltet, und im Fernsehen gibt es Werbung für den dezentralen Stromgenerator „Generac“: „Never feel powerless“.

Gerade trat Gouverneur Cuomo, im Fernsehen auf und stahl damit dem New Yorker Bürgermeister Bloomberg die Show – die beiden Männer befinden sich in einer Dauerkonkurrenz, die offenbar auch in Notzeiten keine gemeinsame Pressekonferenz zulässt. Jedenfalls wissen wir jetzt, dass U-Bahnen ab 19 Uhr und Busse ab 21 Uhr nicht mehr fahren. Ob morgen die Schulen geschlossen bleiben, wird später entschieden.

Wir stellen uns jedenfalls auf einen gemütlichen Montag ein, an dem wir  uns von Vollkornbrot und Thunfisch ernähren und die Körperreinigung mit kaltem Wasser aus der Waschschüssel vornehmen. Notfalls bei Kerzenlicht. Arbeiten können wir spätestens dann nicht mehr, wenn die Akkus leer sind. Stromausfall hat auch seine guten Seiten.

Foto: Christine Mattauch

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

“Arbeiten” in den Zeiten von Email …

Internet, höre ich oft, macht unsere Arbeit schneller und flexibler, vor allem erleichtert es die Kommunikation.
Wirklich? Nach einer Woche mit einem Duzend Gesprächen wie dem  Folgenden wage ich vorsichtig zu zweifeln:

– “Hi Cindy, für eine Reportage in Magazin Xy über TT würde ich gerne mit Dr Wz (Cindys Boss) sprechen. Wär das in den nächsten Tagen möglich?”
(Umrundet wird dieses Intro von dem in Australien üblichen Austausch über Wetter, Befinden der Gesprächspartner, deren letztes Wochenende, etc., die ich hier aus Gründen der Kürze weglasse).
– Was für eine großartige Idee! Wie war Ihr Name noch gleich?
– JJ
– Und wo sagten Sie noch…?
– bei XY… 
(jetzt liefere ich ein Exkurs zu Auflagenzahlen, Brillanz, Schlagkraft des besagten Objekts im Allgemeinen und der Glorie, die geplante Geschichte auch für Cindy und ihren Boss haben wird im Besonderen …  ps: das ist oft der Moment, in dem ich mich frage, ob ich wohl auch auf dem Isemarkt Allgäuer Bergkäse verkaufen könnte)
– How absolutely AMAZING!
(Cindy ist vor Glück überwältigt, es folgen diverse positive Ausrufe, die mein Anliegen ganz weit oben in die Kategorie “wunderbare Ereignisse der Woche” sortieren dürften)
–  Well, ja, ich denke auch das könnte interessant werden.

Jetzt hat Cindy eine Idee, die ihren Tag vergoldet:
–       Warum, liebe JJ, fassen Sie das alles nicht rasch für mich in einem E-mail zusammen und poppen es in meine Mailbox?
(Übersetzung: Cindy wird mein E-mail an Kylie in der Pressestelle weiterklicken, die mein E-mail in den Ordner “lästige Anfragen/zum Jahresende löschen” schiebt.)

– Warum, Cindy, kannst du uns nicht allen viel Zeit und Arbeit sparen und mich einfach zu Wz durchstellen, oder ihn bitten mich zurückzurufen. Er ist schließlich Regionalchef des Känguru-Schutz-Klubs und nicht der Kaiser von China. (Das sage ich natürlich nicht, sondern denke es nur, laut lüge ich:)– Kein Problem, das mache ich gerne, great talking to you, Cindy!

Zwei Tage später rufe ich Kylie in der Pressestelle an, wir werden ein ähnlich herzliches Gespräch führen. Zum Abschluss wird Kylie sagen:
– Warum fassen Sie das nicht rasch für mich in einem E-mail zusammen und werfen es in meine Mailbox …?

Ich lege auf. Dann denke ich dankbar darüber nach, wie Emails unsere Kommunikation erleichtern und beschleunigen, wie sie Alltag und Arbeit eigentlich überhaupt erst möglich machen… Und dann träume ich ganz kurz von jener altmodischen Epoche, in der Menschen noch miteinander telefonierten.

 

 

 

 

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Der 11. März 2011

Eigentlich hab‘ ich es nicht so mit Jahrestagen. Ich fand‘ immer, das hat so etwas Bemühtes. Aber den 11. März 2011, jenen Tag vor einem Jahr, den werde ich für den Rest meines Lebens nicht vergessen. Dieser Moment, als erst ein leichtes Zittern den Boden unter meinen Füßen in Bewegung versetzte, das dann in ein Rucken und Beben überging, das immer stärker wurde und gar nicht mehr aufzuhören schien. Es war der Moment, dem schlaflose Nächte und von Furcht geprägte Wochen folgten, der nicht nur meine Welt aus den Fugen geraten ließ.

Denn das Erdbeben, das uns in Tokio durchschüttelte, war ja nur der Beginn, nur der Auslöser viel größerer Katastrophen, die Japan heimsuchten. Zunächst schien das Beben schlimm genug. Jedem war sofort klar, das war es gewesen, „the big one“, vor dem schon lange gewarnt worden war. Keiner ahnte da, dass nur wenige Minuten später an der Küste im Norden 22.000 Menschen sterben würden, weggerissen und zermalmt von den Monsterwellen eines Tsunamis. Dass einige Stunden später die letzten Notstromaggregate im AKW Fukushima-Daiichi versagten und kein Mensch mehr den Gau verhindern konnte. Kein Drehbuchautor in Hollywood war bisher irre genug, sich eine solch zerstörerische Kettenreaktion vorzustellen.

Dies alles passierte an einem ganz normalen Arbeitstag, einem Freitag. Bestimmt hatten viele Menschen schon Pläne fürs Wochenende gehabt. Jetzt hieß es Notfallpläne schmieden, Taschen mit dem Nötigsten packen, die dauernden Nachbeben ertragen und die sich überschlagenden Nachrichten aus Fukushima einordnen.

Ein Jahr ist vergangen. Nein, ich habe nicht jeden Tag an die Dreifachkatastrophe gedacht. Glücklicherweise. Es geht ja weiter, das Leben. Zumal für uns, die wir inzwischen wieder auf den Philippinen leben. Die glimpflich aus Japans schwärzestem Tag davongekommen sind. Ich ärgere mich wieder über Belanglosigkeiten, rege mich über Bagatellen auf, freue mich über meine Kinder oder einen guten Auftrag. Alltag eben, nicht der Rede wert. Oder doch? Seit dem 11. März 2011 weiß ich: Normalität hat etwas sehr beruhigendes. Normalität – das ist wunderbarer, kostenloser Luxus.

 

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Der Dollar (Alb-)Traum

Meistens sympathisiere ich mit den Bewohnern meiner Wahlheimat: Wenn Australiens Wirtschaft floriert, die Sonne lacht, die Welle gut bricht, keine Katastrophen passieren – Immer dann freue ich mich gern mit den 22 Millionen Skippys. Schließlich schreibe ich ja nicht nur über den Kontinent unten rechts, sondern wohne auch hier. Seit gut einem Jahr allerdings reagiere ich auf einen Aspekt australischen Glücksempfindens allergisch: Auf den starken Dollar.
Schon morgens beim Macchiato, wenn ich ins wohlgefällige Grinsen der Zeitgunsleser hinter den Wirtschaftsseiten blicke, rutscht meine Laune in den Keller: “Mighty Aussi Dollar here to stay!”  Für Jahre, gar Jahrzehnte soll der von Erz, Nickel und Kohle gepäppelte Dollar fett bleiben, sagt Ross Gittins, der Wirtschaftsguru meiner Tageszeitung. Je mehr von dem Zeug sie aus der Erde buddeln um so besser gehts offenbar der Währung. Meine Nachbarn reisen wie verrückt, kaufen halb Amerika per online-shopping leer, hauen zu gut deutsch so richtig auf die Kacke. Es sei ihnen gegönnt. Für mich allerdings geht der Spaß nach hinten los: Meine Arbeit ist nur noch ein Drittel wert. Eine Story für die ich vor drei Jahren 1000 Euro und damit 2000 Dollar bekommen habe, bringt mir heute noch so eben 1200 $. Traurig aber wahr, denn meine Auftraggeber zahlen in Euro. Und sie haben ihre Tarife nicht ans australische Rohstoffwunder angepasst. Ist es ein Trost, dass ein paar (wenige) andere Industrien – Einreiseverkehr alias Tourismus zb – mit mir leiden? Ein schwacher. Denn auch Reisereportagen gehör(t)en zu meinen Jobs: “Australien? Och nö, viel zu teuer für unsere Leser…” Aber hier kommt der Lichtblick: Französischer Champagner kostet nur noch die Hälfte. Wie genau das mit dem Rohstoffboom zusammenhängt ist mir schleierhaft. Aber Veuve oder Piper brut sind kaum noch teurer als ein Abendessen im Thai-Imbiss. So könnte ich mir (könnte ich’s mir noch leisten) meinen Kontostand wenigstens stilvoll schön trinken. Santé, Prost und Cheers!

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Belgrad auf Eis

BRRRRRRH. Kalt. Saukalt. Scheißkalt. Minus zwanzig Grad kalt. Gefühlte Temperatur: Minus dreißig. Der Ostwind KOŠAVA fegt über die Pannonische Ebene orkanartig. Seit Tagen Schnee, Schnee, Schnee, der Himmel ist Schnee, der Boden ist Schnee, du weißt gar nicht mehr von welcher Seite kommt er. Der Schneesturm verweht dir den Atem, die Nasenspitze erfriert.

Dabei ist Belgrad noch gut dran. Südserbien ist seit zwei Monaten verschneit. 70.000 Menschen in den Bergdörfern haben zwischendurch keinen Strom, Straßen haben sie eh nicht, ergo, sie sind schwer erreichbar. Zwanzig Tote zählt man seit Januar, täglich wird die zahl höher, Soldaten und Helikopter sind unterwegs.

Serbien mutiert langsam zu Sibirien.

Eis und Schnee haben Ex-Jugoslawien vereint: Etwa 150.000 Menschen sind in Kroatien, Bosnien oder Montenegro eingeschneit. Die ersten Lawinen haben die ersten Opfer begraben. Zehn Menschen sterben in Kosovo, ein fünfjähriges Mädchen wird gerettet.

Montenegro ruft den Ausnahmezustand aus, es besteht die Arbeitspflicht, die Bergregion ist vom Rest der Welt abgeschnitten. Aus einem verschneiten Zug wurden 20 Personen gerettet. In der mediterranen Hauptstadt Podgorica knicken die Palmen wie Streichhölzer um, der Nordwind BURA weht tote Fische ans Land. In den Krankenhäusern der kroatischen Adria-Stadt Split ist der Gips knapp geworden, Eis und Kälte kennen die sonnenverwöhnten Dalmatiner gar nicht. Die Adria ist – tiefgefroren.

Der Ausnahmezustand in Serbien heißt „Ausnahmesituation“, die Soldaten und Freiwillige erreichen Kranke und Alte in den Bergdörfern oft nur auf Skiern.

In Belgrad verschwinden die Save und die Donau unter dicken Eisschichten, Schiff-Fahrt auf der Donau ist eingestellt. Nach zwei Sonnentagen und Minus 20 Grad schneit es wieder. Die Energieversorgung der Hauptstadt steht auf der Kippe: Strom und Gas sind knapp, Schulen und große Betriebe geschlossen,  Straßenbeleuchtung wird sparsam eingesetzt.

Seit gestern wieder Schnee, Schnee, Schnee. Laut Prognose hört der Schneefall erst in zwei Tagen auf.

Dann soll es wärmer werden.

 

 

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Occupy Wall Street 2.0

„99% Clean“, titelte die New York Post triumphierend, nachdem die New Yorker Polizei das Zeltlager von Occupy Wall Street diese Woche geräumt hatte. Das rechtslastige Boulevardblatt (Eigentümer: Rupert Murdoch) hatte zuvor eine regelrechte Kampagne gegen die Besetzer im Zuccotti-Park gefahren und Bürgermeister Michael Bloomberg in starken Worten aufgefordert, die „Hippies“ und „Gammler“ zu entfernen. Volkes Stimme? Eher nicht. Nach einer Umfrage des Fernsehsenders NY1 sympathisieren 57 Prozent der New Yorker Wähler mit den Demonstranten, vor allem junge Leute.

 

Mit der Räumung sind die Proteste freilich keineswegs vorbei. Zwar hat die Bewegung keine einheitliche ideologische Führung, aber sie ist schlagkräftig, flexibel und professionell organisiert. Gestern abend um 18.30 Uhr wurden Emails versandt, die den 17. November zum „Day of Strenght and Solidarity“ erklärten, mit der Absicht, die Wall Street zum Börsenauftakt lahmzulegen.

Tatsächlich versammelten sich heute morgen hunderte in Downtown Manhattan, woraufhin die Polizei die Zugänge zur Wall Street blockierte – und, insofern, das Anliegen der Besetzer umsetzte. Wer sich als Mitarbeiter der NYSE ausweisen konnte oder sonst wie einen seriösen Eindruck machte, kam freilich trotzdem durch. Das sorgte, wie die New York Times berichtet, neben ernsthafter Konfrontation auch schon mal für Heiterkeit. Als die Polizei an einer Straßenecke mal wieder zwei Männer in Anzügen passieren ließ, rief ein Demonstrant: „Hey, gibt’s einen Dress-Code für diese Kreuzung?“

Persönlich sind mir die Proteste, nicht zuletzt in Erinnerung an eigene Jungendaktionen, einerseits sympathisch, und das drastische Wohlstandsgefälle der US-Gesellschaft lädt wirklich ein zu Widerspruch. Andererseits hat die Frontenbildung etwas Bizarres. Mag die NYSE für die Besetzer ein Symbol für die globalen Finanzmärkte sein – in Wahrheit ist deren Bedeutung im Zuge der Computerisierung der vergangenen Jahre erheblich geschrumpft. Die elektronischen Plattformen, die das Geschäft inzwischen zu großen Teilen besorgen, sitzen in New Jersey oder in Kansas, wo die Mieten billig sind, und an der Wall Street bangen die wenigen verbliebenen Parketthändler um ihre Arbeitsplätze. Nicht dass sie sich deshalb mit den Demonstranten solidarisieren würden – das ist eine andere Welt.

Am meisten unter den durch OWS ausgelösten Blockaden leiden die kleinen Geschäftsleute in Downtown, genau jene Mittelschicht also, deren Verschwinden die Demonstranten wortreich beklagen. Das Problem: Die Kunden kommen nicht mehr durch. Schon als die Besetzer noch im Zuccotti Park kampierten, soll in einem benachbarten Cafe das Geschäft derartig zurückgegangen sein, dass der Inhaber 20 Leute entließ.

Als ich diese Meldung las, war ich allerdings verwundert, denn als ich an einem Sonntag vor zwei Wochen den Zuccotti Park besuchte, hatte ich den Eindruck, dass das Zeltlager wie ein Magnet auf Touristen wirkte. Hunderte bestaunten und fotografierten Zelte und Bewohner. Ich dachte zuerst, dass die Besetzer davon ziemlich genervt sein müssten, aber sehr schnell realisierte ich, dass das Gegenteil der Fall war. Denn der Besucherstrom führte zu Einnahmen: Es gab Solidaritätsbuttons für zwei Dollar das Stück, eine OWS-Zeitung für einen Dollar. Die einmalige Chance nutzen auch Andere, darunter diverse Straßenkünstler und eine trotzkistische Splittergruppe, die Zeitungen verkaufte, in denen das Engagement der USA gegen den libyschen Diktator Gaddafi angegriffen wurde. So wie der Zuccotti-Park überhaupt zur Sammlungsstätte der wunderlichsten Aktivisten mutierte, die gegen den thailändischen König ebenso protestierten wie gegen die Kommerzialisierung von Hip Hop und die Notenbank Fed.

Unter Finanznot leidet OWS jedenfalls nicht: Zwischen Mitte September und Ende Oktober hatten die Demonstranten fast eine halbe Million Dollar Spenden gesammelt und nur einen kleinen Teil davon ausgegeben, 55 000 Dollar. Da bleibt genug, um Winterquartiere und noch viele Aktionen zu organisieren. Einen Überblick über Ein- und Ausgaben veröffentlichte die zuständige OWS-Arbeitsgruppe übrigens in einem ordentlichen Finanzbericht. Spontanität hin oder her – die Kasse muss stimmen. Vielleicht sind die Welten diesseits und jenseits der Blockaden ja doch gar nicht so verschieden. 

Fotos: Christine Mattauch

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

New York nach dem Hurrikan

 

Als die deutsch-deutsche Mauer fiel, war ich in Budapest und rercherchierte für meine Diplomarbeit. Mit ungläubiger Verwunderung blickte ich auf verwaschene schwarz-weiße Fernsehbilder von jubelnden Landsleuten und konnte nicht fassen, dass ich in dieser historischen Stunde am falschen Ort gelandet war.

Ähnlich fühlte ich mich, als ich vergangene Woche in München war, um ein neues Visum zu beantragen, und die Nachricht las, dass New York von Hurrikan „Irene“ heimgesucht werden sollte, dem womöglich stärksten Sturm seit Jahrzehnten. Ich las von Evakuierungen, nur wenige Kilometer von meinem Brooklyner Viertel Park Slope entfernt, von Subway-Stilllegung und Hamsterkäufen, und erhielt besorgte Emails von Freunden, die nicht wussten, dass ich mich sechstausend Kilometer entfernt im sicheren Deutschland aufhielt. Ich konnte alle beruhigen. Hinfliegen ging schon deshalb nicht, weil ich meinen Pass im Konsulat hatte abgeben müssen.

 

Die Katastrophe blieb aus, jedenfalls in der Metropole. Das stand auch in deutschen Zeitungen. Aber immerhin war „Irene“ ein formidabler Tropensturm. Deshalb war ich heute, nach der Landung auf JFK, gespannt auf das Ausmaß der Schäden vor Ort. Und fragte den Taxifahrer, der mit Panama-Hut, gestreiftem Hemd und karibischer Gelassenheit durch das Flughafengewühl steuerte. Er wiegte den Kopf. „Viel Wind, viel Regen. Aber nicht so schlecht.“ Nach kurzer Pause fügte er hinzu: „Gott steht über allem.“ Ich wollte nicht widersprechen und spähte um so aufmerksamer durchs Fenster. Aber von Sturmschäden sah ich wenig. Ein paar abgefallene Äste, das war’s, auf der kompletten Fahrt, die zirka eine Dreiviertelstunde dauert und durch dutzende von Wohnquartieren in Queens und Brooklyn führt.

Und in Park Slope, mit seinen vielen alten Bäumen? An meiner Haustür klebte eine Visitenkarte von „Leo’s Handyman“, einem Reparaturservice, der Sturmschäden behebt. Doch Leo scheint nicht viel zu tun zu bekommen. Bei einem ersten Rundgang durchs Viertel war alles so wie immer. Selbst die Subway meldet gegenwärtig lediglich ein Signalproblem und eine klemmende Weiche. Wer die New Yorker U-Bahn kennt, weiß, dass dies schon in normalen Zeiten als Erfolg zu werten ist.

 

Nicht überall lief es so glimpflich. In Manhattan, an der Lower East Side, trauern Nachbarn um einen entwurzelten alten Weidenbaum. „Es ist wie der Tod eines alten Freundes“, sagte einer. Der Baum stand in einem kleinen Gemeinschaftsgarten namens La Plaza, der auf wertvollem Baugrund angelegt ist und deshalb schon mehrfach dem Erdboden gleich gemacht werden sollte. Er hat sich aber dank des Einsatzes der Nachbarn für ihr Grün halten können, berichtet die New York Times, die für Heldengeschichten immer zu haben ist. Und jetzt, ohne die Weide? „Gott steht über allem“, würde der Taxifahrer mit dem Panama-Hut sagen.

Fotos: MTA

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Nachhilfe im Supermarkt

Seit kurzem habe ich eine neue Routine. Einmal die Woche geht’s zu einem Supermarkt, um den ich früher aus Prinzip einen großen Bogen gemacht habe. Ich fand es ätzend, wie Ausländer scheinbar jeden Preis zahlen, um ihren Kühlschrank mit vertrauten Produkten aus den USA, Europa oder Australien bestücken zu können. Kam für mich nicht in Frage. War ja auch nicht nötig, beim japanischen Tante-Emma-Laden um die Ecke gab’s alles, was ich brauchte, und halb so teuer wie im Internationalen Supermarkt.

Doch das strahlende Atomskelett in Fukushima hat meine Einkaufsgewohnheiten verändert. Etwas verschämt parke ich nun mein altes Rad im Diplomatenviertel zwischen all den Staatskarossen und Protzautos „made in Germany“. Ich ärgere mich zwar weiter über die Preise, die einem abgeknöpft werden. ABER ich kann lesen, wo das Gemüse, das Obst und die Milch herkommen, denn die Geschäftssprache dort ist Englisch. Zwar verraten auch viele japanische Läden ihren Kunden, aus welcher Präfektur der Salat oder der Kohl kommen, doch die drei in Japan gebräuchlichen Alphabete stellen mich noch immer vor zu viele Rätsel. Die Furcht vor kontaminierten Lebensmitteln aus dem Gebiet um das kollabierte AKW ist ein bindendes Glied zwischen den Ausländern und Einheimischen. Auch viele Japaner greifen derzeit lieber zu, wenn die Waren aus einer Gegend fernab von Fukushima kommen.

Aber wie gesagt, ich kann die japanischen Etiketten nicht lesen und misch mich daher unter die illustre Kundschaft im Internationalen Supermarkt in Hiro-o. Ist schlecht für den Geldbeutel, aber gut fürs störanfällige seelische Gleichgewicht. Und ich muss zugeben –das Management hat sich etwas einfallen lassen. Nicht nur ist die kleinste Knoblauchknolle mit Herkunftsort ausgezeichnet. Nein, es gibt nun auch Handzettel, die der werten Kundschaft in Geographie helfen. Die praktischen Flyer verraten, wo in Japan denn Fukuoka, Aomori  oder Saitama liegen.

Als Grundregel gilt: Alles südwestlich von Tokio kommt ins Körbchen, alles aus den Präfekturen rund um das nördlich der Hauptstadt gelegene Fukushima tendiert zum Ladenhüter. Ganz und gar unverkäuflich waren jüngst wohl die köstlichen Shiitake-Pilze. Sie stammten aus der an Fukushima angrenzenden Präfektur Gunma und da kann ein plakativ aufgestelltes Strahlenfreiheits-Zertifikat noch so versprechen, dass die Pilze astrein sind. Auch ich kaufe sie nicht, obgleich es ein Dilemma ist.

 

Das veränderte Konsumverhalten in Japan trifft ausgerechnet jene, die ohnehin am stärksten von den Katastrophen des 11. März betroffen sind. Bauern aus der Region um das AKW haben ihre Lebensgrundlage verloren, da helfen alle Zertifikate nichts. Es wird eine ganze Weile dauern, bis in den Supermärkten wieder Normalität eingekehrt ist, und sich die Verbraucher wieder am Preis oder der Qualität der Lebensmittel orientieren und nicht an der Herkunft.   

 

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Deutsche Botschaft hält Abstand

Eigentlich hätte dieses Wochenende das schönste im Jahresverlauf für die Bewohner Tokios sein können. Es ist Sakura-Zeit, überall in den Parks, auf Plätzen und entlang der Flüsse blühen Kirschbäume. Ihre zartrosa, weißen oder pinkfarbenen Blüten symbolisieren für die Japaner einen Lebenszyklus in all seiner Schönheit und Vergänglichkeit. Sakura wird jedes Jahr ausgiebig gefeiert: Nie sieht man Japaner ausgelassener (und betrunkener) als bei Hanami, dem Picknick unter blühenden Kirschbäumen.Trotz der Ereignisse vom 11. März sind sie in bei lauen Frühlingstemperaturen in den vergangenen Tagen mit ihren blauen Plastikplanen in Tokios Parks gezogen, haben sich mit Kollegen, Freunden und Familie getroffen. Der Wind wehte von Süden und vertrieb damit etwaige Sorgen. Südwind heißt: keine Gefahr aus Fukushima, alles weht aufs Meer hinaus. Heute, am Samstag, regnet es. Das verhindert viele geplante Hanami-Feiern, aber immerhin ist die Nachrichtenlage nicht ganz so düster wie an manch anderen Tagen. Die Amerikaner, so heißt es, überlegen, ob sie mit der Ausweisung einer 80 km-Evakuierungszone um das AKW nicht etwas übertrieben haben.

 Und die Deutschen? Das offizielle Deutschland sitzt weiterhin in Osaka. Am 18. März hat sich die Botschaft aus Tokio abgesetzt und Zuflucht in der 500 km weiter südlich gelegenen Großstadt gesucht. Während die Mehrheit der insgesamt 24 Botschaften, die Tokio in den Wirren nach dem 11. März ebenfalls verlassen haben, inzwischen wieder in der Hauptstadt sind, rücken die Deutschen nicht von ihrer Meinung ab. Momentan bestehe in Tokio aus radiologischer Sicht zwar keine Gefahr, aber so lange die Kühlsysteme in den havarierten Reaktoren nicht wieder zuverlässig arbeiteten, sollte man sich im Raum Tokio/Yokohama nur wegen eines zwingenden Grundes aufhalten und möglichst nicht länger als einen Tag. Nun ist aber inzwischen bekannt, dass die Kühlung erst in Wochen, möglicherweise Monaten wieder funktionieren wird.

Mit ihrer Argumentation hat sich die Botschaft in eine Sackgasse manövriert. Und die Deutsche Schule in Yokohama so wie deutsche Firmen gleich mit. Wegen der Warnung der Botschaft ist die Deutsche Schule die einzige in Japan (außer jenen in den Evakuierungszonen), die noch geschlossen ist. Hunderte Kinder müssen vorübergehend im In- oder Ausland auf andere Schulen gehen. 35 Abiturienten fragen sich, wie sie im Mai ihre Prüfungen ablegen sollen. Große Firmen wie VW, die ihre Angestellten samt Familien wenige Tage nach dem großen Beben nach Deutschland geflogen haben, trauen sich nicht, ihre Leute wieder nach Japan zu schicken.

Unser aller Außenminister, der sich vor zehn Tagen nach Tokio gewagt hatte, brachte das Totschlag-Argument: Sicherheit gehe vor, so Westerwelle. Da frage ich mich, wie es kommt, dass die Briten, Italiener oder Australier nie daran gedacht haben, ihre Botschaft zu evakuieren und auch ihren Landsleuten dies nicht so eindringlich rieten?

 Sind die Deutschen einfach hysterisch, wenn es um die potenzielle Gefahr atomarer Verstrahlung geht? Oder sind wir von Natur aus übervorsichtig, misstrauisch, skeptisch? Andersherum gefragt: Bin ich, weil ich mit meinen Kindern in Tokio bin, leichtsinnig, naiv, schlecht informiert? Letzteres sicher nicht. Wenn mich eines beruhigt, dann ist es der Zugang zu Informationsquellen, die aktuelle Strahlenwerte in Tokio aufzeichnen und die seit meiner Rückkehr aus Singapur im grünen Bereich liegen.

Ich bin gespannt, wann die deutsche Fahne wieder über der Botschaft im Bezirk Minato-Ku wehen wird. Vielleicht bekomme ich es aber auch gar nicht mehr mit. Im Sommer ziehen wir zurück auf die Philippinen. Ob die Kühlung in Fukushimas AKW bis dahin wieder funktioniert, ist nicht abzusehen.

 

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Berichterstattung aus Burma wg. Erdbeben

Am Donnerstag Abend hat sich im Nordosten Burmas ein schweres Erdbeben ereignet, mitten im Goldenen Dreieck zwischen Burma, Thailand und Laos. Es hatte die Stärke 6,8 und spielte sich in nur 10 Kilometern Tiefe ab. Damit ähnelt es stark dem Haiti-Beben.

Bislang sind etwa 80 Tote bestätigt, aber zu etlichen Bergdörfern ist jeglicher Kontakt abgerissen. Offenbar hat es zahlreiche Erdrutsche gegeben. Die Zahl der Todesopfer dürfte weitaus höher sein.

Ich bin gerade auf dem Weg nach Mae Sai an der Grenze zu Burma und werde auch versuchen, mit einem Tagesvisum ins Katastrophengebiet auf der anderen Seite der Grenze zu gelangen. Falls das nicht klappt, werde ich versuchen, mit von Mae Sai aus ein Bild zu machen.

Ich bin ab Samstag früh, 6 Uhr dt. Zeit, vor Ort zu erreichen. Eine Leitung werde ich nicht haben, aber ich bin per Handy (in Thailand) oder Sat-Telefon (in Burma) zu erreichen:

Tel.: 0066-858-314-174
Sat-Tel: 0088-216-4494-1281

Ich sollte auch in Tachileik in Burma auf der Thai-Nummer zu erreichen sein. Bitte mehrfach versuchen, falls das nicht klappt auf die Sat-Nummer ausweichen.

Sehr gerne kann ich auch kurze Radiobeiträge schicken, ca. eine Minute. Bei Interesse bitte melden bei:
zastiral@weltreporter.net

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Lost in Transition

Heute hatten meine Kinder den ersten Schultag. Um zehn sollten sie zur Bibliothek der Tanglin Trust School in Singapur kommen. Eigentlich gehen sie in Tokio zur Schule, aber die ist seit dem Erdbeben am 11. Maerz geschlossen. Nun duerfen sie zusammen mit etwa zwei Dutzend Schulkameraden einen Ersatzunterricht besuchen. Zwei Lehrer, die aus Tokio gekommen sind, werden dafuer sorgen, dass sie die online verschickten Lernpakete durcharbeiten.

Wir gehen zu Fuss, es ist tropisch schwuel, Schweiss laeuft den Ruecken runter . “Ich mag nicht zur Schule”, sagt meine Aeltere. “Sind wir spaet dran?”, fragt die Juengste besorgt. Sind wir nicht. Vor der Bibliothek steht ein kleiner Trupp, ein Lehrer nimmt meine Kinder in Empfang. Ich halte mich etwas fern, sage Tschuess und schaue zu, dass ich wegkomme, bevor mich andere Muetter in ein Gespraech verwickeln.

Ich mag nicht wieder diese Muehle in meinem Kopf in Gang setzen. All diese Informationen hineinstopfen, die aus Tokio kommen. Versuchen, sie zu sortieren: In relevant und unwichtig, in glaubwuerdig und unglaubwuerdig. Seit acht Tagen sind wir in Singapur, die ersten Tage habe ich vollkommen neben mir gestanden. Habe brav weiter geschrieben fuer deutsche Zeitungen, alle news gescannt, mit Freunden geskypt und gemailt, die selbst im Ausland waren oder in Osaka. Einen klaren Kopf hatte ich nie.

Wie in einem Karussell drehen sich die Gedanken in meinem Kopf. Wie geht es weiter, wie lange sollen wir hier bleiben? Ist es wieder sicher, koennen wir nach Hause, nach Tokio? Viele Freunde melden sich. Sie sind froh, dass wir nicht mehr in Tokio sind. Sie wuenschen mir Glueck, richten Gruesse an die Kinder aus. Als waeren wir im Urlaub. Aber wir sind nicht im Urlaub. Weg von zu Hause, ja. Aber Ferien fuehlen sich anders an.

Wir sind irgendwie “lost in transition”. Im Niemandsland. Ich will so schnell wie moeglich zurueck. Will in Japan helfen, so gut ich kann. Wir konnten weg, haben uns Tickets gekauft und sind in Sicherheit geflogen. Anders als die Japaner, die ausharren und abwarten. Auch sie fuerchten sich, doch sie bleiben.  

 Ich habe in Singapur zwar keine Angst mehr um meine Kinder, das Handy warnt nicht regelmaessig vor einem neuen Erdstoss, die Strahlengefahr ist weit weg. Aber da ist diese Unruhe, die immer wieder aufflackert. Es ist schwer zu erklaeren, ich verstehe es letztlich selber nicht. Verglichen mit dem, was die Ueberlebenden in den Tsunamigebieten oder die Bewohner rund um das kollabierende AKW in Fukushima durchmachen muessen, sind meine Probleme laecherlich. Das weiss ich, aber dieses Wissen hilft mir auch nicht. Eine Entscheidung musste her.  

Vor zwei Tagen habe ich beschlossen, dass wir zurueckkehren. Am Freitag geht unser Flug. Ich schwanke zwischen Hoffen und Bangen, die Ungewissheit nagt wieder an mir. Ist es zu frueh? Warum bist du ueberhaupt weggegangen, wenn du jetzt nicht warten kannst?

Als ich die Kinder in der Schule abhole, sind sie ausgelassen. Beide haben es genossen, den Tag mit Freundinnen aus Tokio zu verbringen. Vor dem Einschlafen sagte meine Aelteste: “Ich freu’ mich auf die Schule morgen”. Es wird ihr zweiter Schultag in Singapur sein, und wahrscheinlich auch ihr vorletzter.

    

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Unsere Diktatoren dürfen das

Ist der Ruf erst ruiniert… Vielleicht denken sie das wirklich. In Washington, in Riyadh und in Manama. Die amerikanische Regierung ruft zu „Zurückhaltung“ auf in Bahrain. Während 1200 saudische Militärs und 800 Polizisten aus den Vereinigten Arabischen Emiraten einrollen, um – wie es heißt – strategisch wichtige Gebäude und die Interessen der Königsfamilie zu schützen. Sie kommen auf Einladung von König Hamad, versteht sich. Eine hübsche kleine Golf-Party wird das werden.

Tommy Vietor, der Sprecher des Weißen Hauses, sagte, die Partner der USA im Golfkooperationsrat sollten die Rechte der Menschen in Bahrain respektieren und mit all ihren Handlungen zum Dialog ermuntern. Das wird bestimmt gelingen mit all den bewaffneten, gepanzerten Fahrzeugen, bemannt mit grimmig drein schauenden Soldaten. Wir dürfen gespannt sein, wie Vietor ein befürchtetes Blutvergießen in Manama schön reden wird. Denn anders als bei dem ohnehin verhassten Muammar Gaddafi handelt es sich bei Bahrains König Hamad um einen wichtigen Partner am ölreichen Golf und einen bislang treuen Alliierten gegen den Iran. Der Schutz von Zivilisten vor militärischer Übermacht steht da gar nicht erst zur Diskussion.

In Nordafrika und selbst in Ägypten kann man, wenn alles nicht mehr hilft, schon mal ausgediente Diktatoren fallen lassen. Aber dort, wo die Energieversorgung auf dem Spiel steht, wo die 5. Flotte der USA vor Anker liegt und wo man die wichtigsten Partner im Machtkampf mit dem Iran ausmacht, dort gelten andere Regeln. Es gilt das Primat der eigenen Interessen vor irgendwelchen demokratischen Idealen oder gar Menschenrechten. Da muss man zusammenhalten, koste es was es wolle.

Die Saudis sind extrem nervös. Sonst hätten die Meister der Scheckbuchdiplomatie nicht plötzlich auf ihr eigenes Militär gesetzt. Das ist ungewöhnlich. Und ging schon vor mehr als einem Jahr im Nordjemen schief, als Riyadh in den Konflikt Sanaa’s mit den Houthis im Grenzgebiet eingriff. Daraus hätte man lernen können. Aber man muss nicht. Das Protestpotential im eigenen Land halten die Saudis noch mit einem massiven Polizeiaufgebot, der Verbreitung islamischer Fatwas gegen Protestkundgebungen sowie mit Schmiergeldern unter Kontrolle. Jedoch die unkalkulierbaren Entwicklungen im benachbarten Bahrain sowie im Jemen machen den von Krankheit und Alter angegriffenen saudischen Herrschern zu schaffen.

Die Verbündeten in Washington werden vermutlich beide Augen zu drücken solange es geht. Denn hier steht eindeutig zu viel auf dem Spiel: Die Ölpreise, die eigene militärische Machtprojektion in die Region sowie der Kampf gegen den Iran. Prognosen möchte man in diesen Tagen in der arabischen Welt nicht mehr wagen. Zu viele Dinge sind im Fluss, alte Regeln gelten nicht mehr, neue sind noch nicht etabliert. Aber wenn dieser von den USA geduldete, saudische Militäreinmarsch in Bahrain zu einem Blutbad führt, dann könnten am Ende diesseits und jenseits des Atlantiks ganz viele Verlierer stehen. Europäer inbegriffen, denn auch wer schweigt, macht sich schuldig. Der Begriff „politische Glaubwürdigkeit“ scheint aus dem Lexikon der modernen Politik gestrichen. Ersatzlos. Wie bedauerlich.  

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Revolutionszeit

Volksaufstand in Nordafrika, Unruhen im Nahen Osten – habt Ihr keine Angst, dass so was auch bei Euch passieren könnte? Solche oder ähnliche Fragen stellten Bekannte aus Deutschland in den vergangenen Wochen. Nein, habe ich nicht, antwortete ich, denn bei uns war schon vor 13 Jahren Revolution – oder besser: Reformasi. Nur haben das die meisten Europäer schon wieder vergessen. Was damals in Indonesien geschah, verlief ähnlich wie die Ereignisse in Tunesien oder Ägypten: Seit 33 Jahren regierte General Suharto quasi mithilfe einer Militärdiktatur. Er kam 1965 an die Macht, nachdem er einen angeblichen Putsch der Kommunisten durch einen Gegenputsch verhindert haben soll. Der Westen unterstützte Suharto aus Angst vor einer möglichen Machtübernahme der damals drittgrößten kommunistischen Partei der Welt – und nahm dabei in Kauf, dass Hunderttausende Zivilisten getötet wurden bzw. in Folterlagern verschwanden, weil sie dieser Partei angeblich angehörten.

1998 brach jedoch durch die Asienkrise das korrupte Regime des Autokraten zusammen. Zuerst protestierten die Studenten in einigen Großstädten gegen die politischen Verhältnisse, dann gingen immer mehr Menschen auf die Straße, oft aus schierer Not. Das Militär spaltete sich in mehrere Gruppen und bezahlte Anstifter lösten Unruhen aus, denen vor allem die chinesische Minderheit zum Opfer fiel. Auf einmal schrie die internationale Gemeinschaft auf und pochte auf die Einhaltung von Menschenrechten. Am Ende blieb Suharto nichts anderes übrig als zurückzutreten – ein Jahr später gab es demokratische Wahlen.

Seitdem gilt Indonesien als Demokratie. Der Putsch und die Massenmorde von 1965 jedoch wurden bis heute nicht aufgearbeitet – Vergangenheitsbewältigung bleibt ein Tabu. Das korrupte System konnte bis heute nicht aufgelöst werden und unterwandert immer wieder die Bemühungen zur Demokratisierung.  Das wiederum gibt Islamisten wie Ultra-Nationalisten Aufwind, die sich mit weißer Weste präsentieren, immer mehr Menschen wenden sich Ihnen zu. Die Aktivisten von 1998 sind heute völlig desillusioniert.

Habt Ihr nicht Angst, dass dies auch bei Euch passieren könnte, frage ich nun weiter in die Länder der momentanen Revolution?

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Und nun: zum Wetter …

Hart ist für Auslandsdeutsche in Australien in den letzten zehn Jahren vor allem eines gewesen: Sie durften nicht über Wetter meckern. Vor allem nicht über Regen, denn das gehört sich einfach nicht, wenn ein Kontinent die “schlimmste Dürre aller Zeiten” durchlebt.  

Australier, die nebenbei gesagt auch ganz gern mal die Witterung besprechen (vor allem wenn Regen länger dauert als einen Nachmittag) mussten sich ebenfalls beherrschen. Schauer oder Güsse durften zehn Jahre lang bestenfalls mit “oh, how lovely!” oder “let’s hope it falls where the dams are /on farmland” (hoffe es regnet die Dämme voll / auf Farmland) kommentiert werden.

 

Nörgeln und Jammern indes: komplett Tabu!

Inzwischen ist alles anders. Die Dürre ist vorbei. Während ich bei sehr blauem Himmel (es regnet schließlich nicht überall und immer) in Sydney dem Laptop per Ventilator eine Extraration Luft zublase, schüttet es jenseits der blauen Berge. Seen, die jahrelang riesige Sandkästen waren sind wieder beschiffbar, unsere Trinkwasser-Dämme schwappen über, Pläne für neue, milliardenteure Entsalzungsanlagen sind den Politikern plötzlich insgeheim ein bisschen peinlich.

Denn es nässte stellenweise heftig. Farmer, die sich nach staubtrockenen Leidenszeiten auf die erste feiste Ernte freuten, strahlten uns knöcheltief im Wasser watend via TV an: Glückliche Gesichter unter tropfnassen Akubrahüten aus einstigen Krisenzonen in Neusüdwales, Erleichterung sogar bei Gemüsebauern in Victoria und im besonders gebeutelten Südaustralien.

Dann allerdings war Schluss mit lustig. Denn es hörte einfach nicht wieder auf, das heiß ersehnte Geregne. Die Farmer zogen Stiefel höher und Hüte tiefer ins Gesicht, das Wasser stieg zur Hüfte, die Ernte ersoff. Letzte Woche wurde in einem meiner Lieblingsorte, Wagga Wagga, der Parkplatz zum Schwimmbad, Gunnedah drohte Evakuierung.

“Drei Wochen Sonne und Wärme”, so Archie Kennedy, ein Landwirt in der Überschwemmungszone, bräuchte er nun, um seine Ernte retten zu können. Und dann sagte er das Unsagbare: Die Dürre sei ihm lieber.

Zum ersten Mal erlebe ich also den eigentümlichen Zustand, dass deutsche Weihnachtsferien-in-Australien-Touristen vom Niederrhein exakt das gleiche wollen wie australische Landwirte: Sonne satt. Über Regen nörgeln ist plötzlich nicht nur okay, sondern ein Akt der Solidarität und endlich erlaubt!

Ob Archies Wünsche erhört werden? Not sure. Das australische Bureau of Meteorology verspricht: Mit 75 % Wahrscheinichkeit wird Sydney dieses Jahr deutlich höhere Regenfälle als in anderen Sommern erleben. 

Daher für alle Reisenden noch rasch der Expertentipp aus dem Strandbüro: Mückenspray nicht vergessen! 300 der weltweit 2700 Moskito-Arten sind in Australien heimisch, und die brüten derzeit um die Wette.

 

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Prohibition auf australisch

Freunde des Trink- und Motorsports müssen sich dieses Wochenende in Australien schwer zusammenreissen. Vor allem in Bathurst, einem Bergort westlich von Sydney. Dort findet zum 50. Mal ein beliebtes Autorennen statt: Die Bathurst 1000: (Die Fahrzeuge umkreisen dabei den Mount Panorama so lange bis sie 1000 Kilometer geschafft haben). Für Zigtausende ist dies ein beliebter Anlass, rund um die Rennstrecke zu campieren und zu picknicken. Traditionell missachten dabei einige ihre zulässige Trinkgeschwindigkeit und anschließend Gebote der Höflichkeit. Deshalb griffen Behörden zu – runder Geburtstag hin oder her – DRASTISCHEN Maßnahmen: Die Alkoholmitnahme für Besucher wurde reglementiert, die Einhaltung des Limits kontrollieren Polizisten! Viele! Und die kennen kein Pardon: Erlaubt ist nur ein slab Bier. Genauer: 24 Dosen normalen Biers, 30 Dosen Leichtbier (was aber in Australien schwer zu kriegen ist), oder eine Flasche Hochprozentiges oder vier Liter Wein. Dieses Limit gilt übrigens pro Person, pro Tag. Harte Bandagen, fürwahr! 

Heute tröstet der örtliche Abgeordnete via Zeitung die Pissköppe: “Leute können auch mit w e n i g Alkohol noch eine Menge Freude haben.” Wobei das wenig nicht in Anführungszeichen gesetzt war. (“There’s been a review of that so certainly we’re finding that suddenly people can deal with less alcohol and still have a good time.”) Fast zynisch ist natürlich angesichts derlei radikaler Prohibition, wenn man auf einem von einer Biermarke gesponsorten Zeltplatz campen muss oder gar im von einer Whiskey-Marke finanzierten Eventbus zum Rennen fährt. Ich hoffe, die V8-Fans haben trotzdem ein schönes Wochenende. Happy Birthday Bathurst!

 

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Generalstreik und Existenzkrise – für Vierjährige

Am Mittwoch war Generalstreik in Spanien. Vor meiner Haustür trug der Streik das Gesicht von Robert de Niro. Der warb auf einer Leuchtreklame mit zwei Schusswaffen in den Händen für den Film „Machete“. Weil ihm aber jemand „Vaga!“ (Streik auf katalanisch) über die Brust gesprüht hatte, sah er plötzlich aus wie ein strenger Gewerkschafter, der seine Ziele by all means necessary durchsetzt. Ich verbrachte einen Gutteil des Vormittags vor dem Bildschirm und verfolgte via Internet die Streiknachrichten. Gelegentlich tauchte auch mein gerade vier Jahre alt gewordener Sohn an der Seite des Computers auf. Der Kindergarten hatte allen Eltern nahegelegt, die Kinder am Streiktag besser zuhause zu lassen. Mein Sohn wollte mit mir spielen. Ich sagte: Geht jetzt nicht, ich muss arbeiten. Er fragte: „Was guckst Du da an?“ – Das hat alles mit dem Streik zu tun. – „Was ist ein Streik?“ – Wenn die Leute nicht zur Arbeit gehen. – Mein Sohn sagte eine kleine Weile gar nichts. Er warf noch einen Blick auf den Bildschirm. Dort wurde gerade eine Straßenumfrage gezeigt. Mein Sohn legte nach: „Die Leute gibt es wirklich?“ – Ja, die gibt es wirklich (das heißt für ihn: weder Walt Disney noch die Gebrüder Grimm oder andere haben sie sich ausgedacht). „Und die arbeiten alle nicht?“ – Nein, in ganz Spanien arbeiten die Leute heute nicht. – „Und warum arbeitest du dann?“ Mein Sohn hatte mich in die Ecke getrieben. Ich konnte nur noch sagen: Die Spanier arbeiten nicht – aber die Deutschen ja! Das klang irgendwie nach einem uralten Vorurteil. Ich hoffte gleich, der Satz würde nicht bei ihm hängen bleiben wie so mancher andere.

Am nächsten Tag, als der Generalstreik vorüber war und die Spanier wieder arbeiteten wie die Deutschen, merkte ich, dass mein Sohn an einer ganz anderen Frage hängengeblieben war. Nach gemeinsamer Ansicht eines alten Disney-Strips, in dem sich Donald und Dagobert als Weihnachtsmänner verkleiden und am Ende auch noch der echte Weihnachtsmann auftaucht, nach diesem im Grunde also komplexen Stück Fiktion in der Fiktion, sah mich mein Sohn ernst an und fragte: „Papa, wir sind aber nicht in einem Film, oder? Wir sind nicht ausgedacht…“

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Money Never Sleeps

Zu den angenehmen Pflichten einer Wirtschaftsjournalistin in New York gehört mitunter auch ein Kinobesuch.

Vergangenen Freitag lief der Film „Wall Street – Money never sleeps“ in den USA an. Von der Finanzkrise inspiriert, wollte der linke Starregisseur Oliver Stone mit den Spekulanten abrechnen – und dabei auch seinen ersten Wall-Street-Film von 1987 aufarbeiten. Darin hatte Michael Douglas den rücksichtslosen Investmentbanker Gordon Gekko gespielt. Zu Stones Ärger wurden Gekko und sein Motto „Gier ist gut“ zum Vorbild einer ganzen Börsengeneration. 

Weil ich einen riesigen Ansturm auf den Film erwarte, reserviere ich im AMC Empire 25 unweit des Times Square eine Karte und bin eine halbe Stunde zu früh da, um noch einen guten Platz ergattern. Die erste Überraschung ist, dass es keine Schlangen gibt. Die zweite, dass der Kinosaal bestenfalls halb gefüllt ist. Gut, es soll an dem Abend noch acht weitere Vorstellungen in fünf Sälen geben, aber das ist in einem Großkino mit 25 Sälen nicht so ungewöhnlich, der Fantasyfilm „Legend of the Guardians“ läuft in dreien. Und die dritte Überraschung? Dass der Film schlecht ist.

Es fehlt die scharfsichtige Analyse, die den ersten Wall-Street-Film so gut machte. Die Finanzkrise wird zur dramatischen Kulisse einer rührseligen Familiengeschichte degradiert. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal einen Film gesehen habe, in dem so viele Tränen fließen. Der einzige Lichtblick ist Michael Douglas, der eine fantastische Vorstellung als alternder Gekko gibt.

Da ich keine geübte Kinokritikerin bin, beruhigt es mich am nächsten Tag zu lesen, dass es dem New-York-Times-Kolumnisten Joe Nocera auch nicht anders ging als mir. Im Gegensatz zu mir hatte er allerdings die Gelegenheit, mit Stone darüber zu reden. Auf Noceras Vorwurf, die Finanzkrise sei nicht angemessen thematisiert, antwortete der Regisseur, das sei in einem Mainstream-Film nicht möglich: „Die Leute wollen kein Business Movie sehen.“

Genau da liegt vermutlich das Problem: Der Film war von vornherein darauf ausgelegt, ein Kassenschlager zu werden. Und warum sollen Stone und die Filmgesellschaft nicht ein paar hübsche Millionen verdienen? Aber mit dem linken Anspruch verträgt sich das dann doch nicht so recht.

Auch das Product Placement ist nicht unbedingt als antikapitalistisch zu bezeichnen. Es erstreckt sich nicht nur auf Heineken Bier, sondern auch auf den New Yorker Hedge Fonds Skybridge Capital, dessen Logo in einer Szene groß eingeblendet wird. Dessen Gründer Anthony Scaramucci hat Oliver Stone bei den Dreharbeiten beraten. Scaramucci hat dann auch gleich noch ein Buch geschrieben, „Goodbye Gordon Gekko“, in dem er für den Film wirbt und fordert, dass er und seine Kollegen bessere Menschen werden. Auf der Rückseite des Buchs prangt ein Zitat von Oliver Stone: „Macht Spaß und ist leicht zu lesen.“ Ein gelungenes Cross-Marketing, das allerdings nicht unbedingt für Stones Distanz zur Wall Street spricht.

Am nächsten Tag laufe ich zufällig am City Cinema in der 86. Straße vorbei, an Manhattans vornehmer Upper East Side. Ich ärgere mich schon, dass ich nicht auf die Idee gekommen bin, den Film genau dort anzusehen, wo die reichen Leute wohnen, die es an der Wall Street zu etwas gebracht haben. Bestimmt hätte ich tolle Zitate von Börsenhändlern und Brokern sammeln können, die den Film über ihr eigenes Leben sicher in Massen begutachtet haben.

Doch dann stelle ich fest, dass der Film in der 86. Straße gar nicht gezeigt wird. Wie naiv ich bin! Gordon Gekkos Jünger gehen nicht ins Kino. Selbst wenn es um die Wall Street geht. Wenn sie einen Film sehen, dann auf den Großbildleinwänden ihrer Luxusappartments.

 

Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Japan in der Sinnkrise

Was ist nur mit Japan los? Nicht genug damit, dass es in der Politik drunter und drüber geht und ein Premierminister nach dem anderen zurücktritt. Die wirtschaftliche Entwicklung ist auch nur noch eine lahme Ente. Und nun erschüttern auch noch Skandale ohne Ende die Sumo-Szene.

Diese ur-japanische Sportart, eigentlich eine Bastion nationaler Traditionen, scheint kurz vor dem Ableben zu stehen. Seit geraumer Zeit macht Sumo nur noch negative Schlagzeilen. Vor wenigen Monaten musste der Großmeister Asashoryu nach einer Schlägerei im Suff seinen unehrenhaften Abschied nehmen. Ein Vorbild als besoffener Haudrauf, das ziemt sich nicht. Aber jetzt kommt’s richtig dicke. Die schwergewichtigen Ringer haben sich mit den schwerkriminellen Yakuza eingelassen, so wurde bekannt. Das japanische Pendant der italienischen Mafia hat den dicken Männern geholfen, fette Gewinne bei illegalen Wetten zu machen. Das stürzt so manchen Japaner in eine Sinnkrise. Nichts scheint mehr heilig zu sein im Land der aufgehenden Sonne. Die Idole im Ring sind in Wahrheit Halunken, die sich in der Halbwelt herumtreiben. Nippon liegt im Staub, Rettung ist nicht in Sicht. Fehlte nur noch, dass sich im Kaiserpalast Unerhörtes zutragen würde. Aber das wollen wir den Japanern nicht wünschen. Sie haben es derzeit schon schwer genug. 

 

Newsletter

Es gibt Post!