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Die Tapferkeit der Provinz

Hurrikan Irene – schon vergessen? Erst einen Monat ist es her, dass ganze Stadtviertel in New York evakuiert wurden, weil Meteorologen den Wirbelsturm durch die Metropole ziehen sah. Irene jedoch umkurvte die Großstadt weitgehend (siehe Blog vom 30.8.). Für die meisten New Yorker war die Sache damit erledigt. Nicht so für die Bewohner des Umlands, wie ich vor zehn Tagen bei einem Besuch der Catskill Mountains feststellte, einem Mittelgebirge rund 150 Kilometer nördlich des Big Apple.

Natürlich hatte ich von den Schäden gelesen, die der Sturm dort und auch in Vermont angerichtet hatte. Aber die unmittelbare Konfrontation mit den Schäden war erschütternd. Die Cold Spring Lodge bei Oliverea, in der sich unsere Hütte befand, war wundersamerweise verschont geblieben. Nur 50 Meter weiter jedoch hatte sich ein kleiner Fluss in einen reißenden Strom verwandelt, Häuser geflutet, Terrassen und Balkone weggerissen, Boote von Anhängern weggetragen und in die Wildnis geworfen.

 

Wir gingen die Landstraße ein Stück bergan und kamen an zwei riesigen Erdrutschen vorbei, glücklicherweise auf unbesiedeltem Terrain. Einige hundert Meter weiter hatte die Flut ein komplettes Haus aus dem Fundament gehoben – es handelte sich ausgerechnet um den örtlichen Lebensmittelladen. Die Besitzer muss so etwas wie Galgenhumor getrieben haben, als sie nach dem Desaster ein Verkaufsschild aufstellten und darunter schrieben „Flexible Price“.

 

 

 

 

 

Der nächste Supermarkt in Pine Hill ist etwa zehn Kilometer entfernt, und die Inhaberin erzählte, dass ihre Regale wie leer gefegt gewesen seien, weil die Menschen nirgendwo anders hätten einkaufen konnten. Sie sagte das nicht wie jemand, der ein gutes Geschäft gemacht hat. Sie wirkte eher, als stünde sie noch immer unter Schock.

Doch die meisten Menschen in der Katastrophenzone strahlten eine beeindruckende Mischung von Tatkraft und Gelassenheit aus. Etwa in Margaretville, eine Kleinstadt, die so stark zerstört wurde, dass ihr Präsident Barack Obama seine Aufwartung machte. Wir trafen dort am Sonntag um die Mittagszeit ein und parkten vor dem Tempel der Freimaurer. Eine ältere Frau saß vor dem Haus auf einem Gartenstuhl und sprach Passanten an, auch mich: Ob wir Putzgerät bräuchten, zum Säubern der vom Schlamm verdreckten Häuser? Durch eine Spende war sie in Besitz größerer Mengen Schrubber und Besen gelangt. Die lagerten nun im Treppenhaus der Freimaurer. „Nachher beginnt deren Versammlung, dann nehmen die den Rest mit“, hoffte die Dame.

Ein paar hundert Meter weiter hatte der Sturm ein halbes Geschäftszentrum weggerissen, aber die Läden hatten schon wieder geöffnet – in provisorischen Räumen in der nahe gelegenen Hauptstraße. Ein Drogist hatte ein Schild an der Tür, dass er „mindestens ein Prozent“ seiner Einnahmen der Monate September und Oktober den Flutopfern spenden werden. Und ein Schnellimbiss hatte trotzig ans Fenster geschrieben: „Was uns nicht umbringt, macht uns nur härter!“

 

 

 

 

 

 

 

Man kann nur hoffen, dass sich die Leute diese optimistische und solidarische Haltung bewahren. Von Vater Staat haben sie wenig zu erwarten: Die zerstrittenen Parteien in Washington konnten sich über Wochen hinweg nicht auf ein Hilfspaket einigen.

Fotos: Christine Mattauch

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