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Nackt und nass im Nirgendwo

Japaner sind schlank, sehen fünfzehn Jahre jünger aus und werden älter als alle anderen Erdbewohner. Nicht Fisch, Reis und Gene allein sind das Geheimnis ihrer Langlebigkeit, sondern Wasser. 43 Grad. Täglich. Mittlerweile hat es sich auch im Westen herumgesprochen, dass die Badewanne in Japan nicht zum Einseifen und Shampoonieren da ist, sondern zur Entspannung. Waschen tut man sich auf dem Schemel vor der Wanne. Erst danach taucht die ganze Familie ein, ins selbe Wasser, einer nach dem anderen.

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Gedanken gedämpft im Dampf: Ferne Erinnerung an mein Embryonaldasein

Zurück zum langen Leben: Jedes Strassenviertel in Japans Metropolen hat heute noch ein Sento, ein öffentliches Bad, geöffnet bis Mitternacht oder länger. Suchte man es in alten Zeiten auf, fehlte zu Hause die Waschgelegenheit. Geht man heute hin, will man sich entspannen, praktiziert Hausputz im Kopf (bei mir drei, vier mal die Woche). Der Eintritt kostet 450 Yen (3.50 Euro). Den kassiert die „Sento-Mama“. Sie sitzt auf einem überhöhten Stuhl und hat Einblick sowohl in die Männer- als auch Frauenabteilung. (Getrenntes Baden hatten die Amerikaner nach dem zweiten Weltkrieg verordnet.)

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Im Blickfang der Sento-Mama: Umkleiden mit klassischer Musik

Mitunter ruft die Chefin des Familienbetriebs zu den Frauen rüber: „Nakamura-san, der werte Ehemann ist bereits angezogen!“ Oder umgekehrt. „Nakamura-san, lassen Sie doch die werte Ehefrau nicht warten!“ Meine Sento-Mama kennt die Familien der Umgebung, hört alles, weiss alles. Sie liebt klassische Musik und manchmal fragt sie mich nach einer Melodie, während ich mich vor ihr ausziehe. Ich lege die Kleidung in eine Box und gehe mit Seife, Zahnbürste und Handtuch in die Badehalle. Ich schnappe mir einen Plastikschemel und setze mich vor einen der dutzenden Wandspiegel. Und dann beginnt mein Ritual, mit dem ich seit zwanzig Jahren in der 35-Millionen-Metropole Tokio den Stress loswerde – und mein Leben um 15 Jahre verlängere.

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Schuhbox mit Holzschlüssel

Ich fülle einen Kübel mit Wasser, übergiesse meinen Kopf, seife mich ein. Ringsum Plätschern und Glucksen, gedämpft vom Dampf – wie eine ferne Erinnerung an mein Embryonaldasein. Ich werde langsamer. Ich stehe auf, steige in eines der Becken mit Digitalanzeige: 39 Grad. Ich seufze, wie alle Japaner, wenn sie ins heisse Wasser steigen mit diesem langgezogenen, kehlige „Ahhhhhh“. Dabei öffnet sich der Mund wie beim Gähnen. Nun wissen die anderen Sento-Mitverschworenen, dass man „heimgekommen“ ist und mit der Welt draussen nichts mehr zu tun hat. Sie nicken zustimmend und sagen „Ii neeee! Wunderbar!“ Ich setze mich zu ihnen. Meine Füsse schwimmen oben und mein Nacken ruht auf einer eisgekühlten Röhre. Dann das zweite Einseifen. Die Haut ist nun aufgewärmt und die alte Schicht lässt sich leicht mit einem Tuch abreiben. Rauh ist es wie Sandpapier. Väter, Kinder, Brüder, Freunde schrubben sich abwechselnd den Rücken.

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Füsse schwimmen oben. Der Nacken ruht auf einer eisgekühlten Röhre

Anschliessend ins Becken mit 43 Grad. Sollten noch Restbestände der Aussenwelt im Kopf herumschwirren – nun werden auch die eliminiert, wobei das kehlige „Ahhhhhh!“ diesmal Ausdruck des Schmerzes ist. Ich halte es im Becken länger aus, als die meisten Japaner. Dabei hilft mir ein Trick, den ich durch Zufall vor Jahren entdeckt hatte: Ich lege die flachen Hände auf die Nierenseiten. Damit sinkt die Temperaturempfindlichkeit. Zumindest bilde ich mir das ein. Danach sitze ich – der Körper krebsrot – wieder auf dem Hocker vor dem Spiegel. Diesmal sind die Augen geschlossen und ich wasche mir den Kopf innen, das heisst, ich tauche in ein Gedanken- und Bildernichts ein und verliere das Zeitgefühl. Abschliessend probiere ich es mit einer alten Übung, die mir noch nie gelungen ist: in Gedanken einen Salto schlagen. Es klappt einfach nicht, aber ich bin nicht enttäuscht. Ich bin über alles erhaben. Ich habe die Ärgernisse des Tages vergessen und bin mit dem Leben im Reinen. Die Sento-Mama hat Schubert aufgelegt. Ich trete hinaus in die Nacht und finde die hässliche, fünfstöckige Strassenkreuzung eigentlich recht interessant.

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Meine Kreuzung nebenan

 

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Wir sind so sexy

Kiwis haben gerade den totalen Sex-Flash, und das ganz ohne Schafe. Die 17jährige Lorde ist mit „Royal“ an der Spitze der YouTube-Charts; nicht lange davor war die wunderhübsche Kimbra schwer im Rennen. Musikalisch was drauf, genug Sex-Appeal, um Miley Cyrus locker von ihrer Kanonenkugel zu schubsen UND aus Neuseeland – wann gab’s jemals sowas? Wir können es selber noch nicht ganz fassen. Wir haben Hormonschübe, wir reißen uns vor Exstase fast die Kleider vom Leibe, und als größtes Aphrodisiakum haben wir jetzt auch noch ein waschechtes Polit-Luder, das Aucklands Bürgermeister zu Fall brachte. Voll Hollwyood!

Aber erst mal Kiwis und Stars: Einen Russell Brand können wir nicht bieten, nicht mal eine Fehlpressung von One Direction oder Justin Bieber. Okay, Fat Freddie’s Drop touren gerade durch Deutschland, und ihr Sound ist vom Feinsten. Aber sexy? Nee, sorry, abwink, so sind wir nicht. Aber dann plötzlich: Lorde! Oh my fucking god.

Das gleiche Phänomen bei den Dichtern und Denkern. Wer gewinnt den elitären Man-Booker-Preis? Eleanor Catton. Nicht nur 26 und hochbegabt, sondern auch noch so hübsch, was natürlich gar keine Rolle zu spielen hat, aber natürlich bemerkt wird. Das kannten wir bislang nicht. Denn Kerri Hulme, die bis dato einzige Booker-Preisträgerin aus dem literarischen Kiwi-Kanon, ist eine sperrige Gestalt. Nicht nur charakterlich, auch leiblich. Ihr öffentliches Auftreten jenseits von Angelstellen ist eher deftig: Saufen, fluchen, Pfeife rauchen. So gar nicht Pin-Up.

Auch unsere Politiker, mal abgesehen von der transsexuellen Schönheit Georgina Beyer, sind eher von der unglamourösen Sorte. Ganz besonders Len Brown, Bürgermeister von Auckland. Wer hätte daher gedacht, dass ausgerechnet dieser brave Schlipssträger mit Halbglatze in den größten Schmuddelskandal gerät, den das Land je gesehen hat. Man müsste sich mit ihm schämen, wenn man sich nicht so wunderbar daran aufgeilen könnte.

Brown, verheiratet mit drei Töchtern , hat zwei Jahre lang eine Affäre mit einer jungen Chinesin gehabt, die angeblich auf einen Posten im Stadtrat scharf war. Heiß für ihn, lauwarm für sie, denn der schnelle Len – das wissen wir jetzt alles im Detail – kam immer schon nach wenigen Minuten. Bevan Chuang, nur halb so alt und nebenbei mit einem Mitarbeiter von Browns politischem Gegner liiert, wurde von ihrem Sugardaddy wie eine Prostituierte behandelt, „nur ohne Bezahlung“. Telefonsex im Amtszimmer – ja, mit Hose runter – und Wham-Bam-Thank-You-Ma‘am in den würdigen Hallen, wo die Maori-Ältesten tagten. Ein Pförtner überraschte sie dort in flagranti. Der schwieg, Miss Chuang jedoch nicht, und so kommt es, das wir jetzt ihre intimen SMS-Nachrichten kennen und man ihr Rollen in Pornos anbietet, weil ihre Karriere vorerst zuende ist. Len Browns noch nicht, denn Bill Clinton hat das mit Monica Lewinsky damals ja auch hingebogen. Ausdenken kann man sich das alles nicht. Nur wundern, wohin es noch führen soll. Sodom und Aotearorrha! Und jetzt: kalt duschen.

 

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Mein Nationalfeiertag

Am 26. Oktober war ich nicht in Japan, besuchte mit Architekt Terunobu Fujimori Raiding. Der Geburtsort von Franz Liszt befindet sich im Burgenland – unweit vom ehemaligen Eisernen Vorhang. Die Vortragsscheune war alt, das Architekturthema modern. Zur gleichen Zeit feierte Österreich – wie jedes Jahr, seine wiederhergestellte Souverenität: mit Panzerparaden und Rekruten auf der Wiener Ringstrasse. Und deshalb fiel mir folgende Geschichte mit meinem Armeepullover ein.

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Sturmgewehr vorn. Pullover nach hinten: Auch ich war einmal Rekrut.

1973 diente ich meiner Heimat, wie man so schön sagt. Während der sechs Monate als Wehrpflichtiger in der Kaserne Leobersdorf bei Wien lernte ich, dass eine Handgranate aus 3000 Splittern besteht und über den Kopf geworfen werden muss – damit sie nicht in den eigenen Reihen explodiert. Das Sturmgewehr konnte ich in stockdunkler Nacht zerlegen, putzen und wieder zusammenbauen. Panzer eleminierte ich mit einem langen Brett, einer Schnur und einer Mine. Kurz vor Eintreffen des „Russen“ zog ich das Brett vom Versteck aus über die Fahrbahn. Bummmm! Heute heisst sowas IED – Improvised Explosive Devise, und die Taliban verwenden statt der Schnur ein Handy. Ausserdem lernte ich, dass es besser ist, den olivgrünen Pullover mit dem V-Ausschnitt nach hinten zu tragen. Das schützt den Hals besser vor Gegenwind. Nach dem Abrüsten durfte ich diesen Pullover, sowie eine Hose – und ich glaube, auch eine lange Unterhose in Tarnfarbe, behalten – für den Ernstfall, sollte der Russe doch noch kommen. Ich nehme an, dass es bei einer Mobilisierung Zeit spart: Kein Armeeunterhosenanziehen in der Kaserne, sondern schon auf dem Weg dorthin. Der Schnitt und die Farbe des Pullovers passte perfekt zu meinen Jeans, und so war er noch Jahre nach meinem aktiven Heimatdienst fester Bestandteil von Disko- und Ausstellungseröffnungsbesuchen – bis er sich irgendwann von selber auflöste.

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Pullover und Unterhose, 30 Jahre alt, für €36.34

Wie gross meine Überraschung, als ich dreissig Jahre später vom Militärkommando eine eingeschriebene Drohung erhalte – getarnt als Grosszügigkeit. Wird der Pullover samt Unterhose nicht retourniert, geht’s vor’s Gericht. Die Grosszügigkeit bestand darin, dass „in Anerkennung meiner geleisteten Dienste“ die Möglichkeit besteht, den dreissigjährigen Pullover und die Unterhose für €36.34 zu erwerben.

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Dank an die Sovietunion für die Befreiung von der Naziherrschaft: Das „Russendenkmal“ auf dem Schwarzenbergplatz in Wien. Heute dient es als Kulisse für russische Musikvideos.

Ob die Betriebsversorgungsstelle des österreichischen Militärkommandos mit der Armeebekleidung immer noch so umgeht, das heisst, im Jahr 2043 zurückverlangt? Wer ist heute der imaginäre Feind? Es muss ihn geben, denn sonst würden am Nationalfeiertag in Wien keine Panzer rollen. Oder ist der Feind unsichtbar, die Militärparade ein Ausdruck der Hilf- und Nutzlosigkeit? Ist der Feind vielleicht sogar einer, der aus meinem Blog Schlüsselwörter wie IDE, Taliban und Handgranate filtert?

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Verfallener Schweinestall im Burgenland: Bauern versteckten hier ihre Frauen während der zehnjährigen russischen Besatzungszeit.

 

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Im Zentrum der Macht

Unterirdische Gänge führen vom japanischen Parlament zu den Büros der 480 Abgeordneten . Einer von ihnen ist Hideki Miyauchi (52). Er vertritt die Anliegen von 350,000 Einwohnern und ist Mitglied der Liberal Democratic Party (LPD). Ich besuche den konservativen Politiker, passiere dabei unbedrohlich wirkende Sicherheitszonen.

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Anzug zurechtrücken im Granittunnel: Sauber und steril ist der Zugang und unscheinbar die Videoüberwachung.

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Unterstützung vom Boss: Mit dem Wahlsieg von Premierminister Shinzo Abe (rechts) ist Hideki Miyauchi im Dezember 2012 zum ersten Mal ins Parlament eingezogen. 25 Jahre hat er sich darauf vorbereitet – als Mitarbeiter von einem Abgeordneten. „Ich fliege jedes Wochenende in meine Heimatstadt Fukuoka, besuche Bauern und Geschäftsleute. Wir müssen auf Biegen und Brechen die japanische Wirtschaft ankurbeln!“ sagt Miyauchi.

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Bürogebäude der Abgeordneten: Ich passiere einen Metalldetektor. Die Wachen tragen hellblaue Uniformen, sind zuvorkommend, Waffen erkenne ich auf den ersten Blick nicht. Die Atmosphäre ist kühl, geschäftsmässig. Keine Spur von Überheblickeit, wie ich sie sonst bei Sicherheitskontrollen an deutschen oder österreichischen Flughäfen erlebe. Eine uniformierte Dame kontrolliert hinter Panzerglas meinen Ausweis. Vor mir ist eine kleine Kamerakugel aufgebaut, davor das Schild: „Sie werden nun im Büro, das Sie besuchen wollen, identifiziert“.

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Nach dem Security Check Hände desinfizieren: Ich besprühe meine Hände mit antiseptischer Flüssigkeit, hänge mir eine Magnetkarte um den Hals, passiere die zweite Absperrung. Sie sieht aus wie eine Fahrkartenschranke.

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Delegationen in Schwarz: Ich folge dunklen Anzügen zum Aufzug. Miyauchis Büro hat die Nummer 604 und liegt gleich neben dem des LDP-Granden Ichiro Ozawa.

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Abenomics: Mit Deficit spending und strukturpolitischen Reformen will Premierminister Abe dem Land auf die Beine Helfen. Seine LDP hat die absolute Mehrheit. Gefolgsleute wie Miyauchi predigen Verzicht (niedrigere Renten), Zusammenarbeit (Freiwilligenarbeit unterJugendlichen im Sozialbereich) und Mut (mehr Investitionen für Forschung und Ausbildung). Kritiker bezeichen den Abenomics-Kurs als leichtsinnig. Der Geldumlauf soll sich innerhalb von zwei Jahren verdoppeln.

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Marmelade und Nudeln: In seinem Büro hat Miyauchi Produkte aus seiner Heimat ausgelegt. „Die Leute aus meinem Wahlkreis sagen nicht direkt ‚wir wollen höhere Löhne‘. Sie sprechen indirekt, sagen zum Beispiel ‚Die Wirtschaft soll besser werden!‘ Als Abgeordneter muss ich die Wünsche herausfiltern, interpretieren. Meine Heimatstadt Fukuoka war immer schon Japans Tor zu Asien. Diesen Standortsvorteil sollten wir nützen.“

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Kühlen Kopf bewahren: „Militärisch gesehen bereitet uns die Nähe zu China keine Sorge,“ sagt Miyauchi. „Was immer in Zukunft passiert, Amerika bleibt unser Partner. Wir wollen einen sachlichen, konstruktiven Dialog mit unseren Nachbarländern.“

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Room with a view: Die Begrünung rund um das Abgeordentenhaus gleicht Wehranlagen aus alten Samurai-Zeiten.

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Auf Wiedersehen und alles Gute! Miyauchi empfängt Besucher und Delegationen im 30-Minuten-Rhythmus.

 

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Hauptsache, LAUT!

Seit wir vor ziemlich genau zwei Monaten nach Peking gezogen sind, ist ein ruhiges Plätzchen schwer zu finden. Das liegt zum einen an den großen Baustellen neben und hinter unserem Haus. Doch das Problem ist temporär und wird irgendwann verschwinden. Etwas anderes aber wird uns während unserer Zeit im Reich der Mitte begleiten: Die Freude der Chinesen am Lärmen, am geselligen und kakophonischen Beisammensein.

Was den normalen Mitteleuropäer zurückprallen lässt, ist für die Einheimischen normale Härte. Knallvolle Restaurants, dichtes Treiben vor Sehenswürdigkeiten, Schieben und Drängen an Bushaltestellen, und das alles mit möglichst lautstarker Untermalung (Nein, ich fange jetzt nicht an, mich über das deutlich hörbare, röchelnde Spucken auszulassen). Hier ist das Alltag und deswegen gibt es auch ein Wort dafür: Rè Nào nennen die Chinesen den Zustand der lärmenden Enge. Laut meiner Chinesischlehrerin ist der Begriff eine Zusammensetzung der Worte „heiß“ und „laut“. Das trifft’s genau.

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Bei unserem ersten Trip in den Süden Chinas vor drei Wochen sammelten wir intensiv Erfahrung mit Rè Nào. Es war während der so genannten Golden Week, wenn sich ganz China und wenige, unerfahrene Ausländer (also wir) auf Reisen begeben. Egal, zu welcher Sehenswürdigkeit wir kamen, durch welche Gassen wir gingen, auf welchem Ausflugsdampfer wir fuhren – es gab kein Entkommen von den Massen, die sich freudig ihre Urlaubs-Eindrücke zubrüllten.

 

Inzwischen kann ich verstehen, dass eine chinesische Freundin, die vor Jahren als Krankenschwester nach Österreich ging, bei ihrer Ankunft in Wien dachte, es sei etwas Furchtbares geschehen. Ganz still und menschenleer wären die Straßen der Hauptstadt an jenem Sonntagmorgen gewesen. Das hätte ihr richtig Angst gemacht, und sie hätte gedacht, dass vielleicht ein Krieg bevorstünde und deswegen alle Menschen in ihren Häusern wären. Damals hatte ich diese Geschichte nicht verstanden, als eine übertriebene Anekdote abgehakt. Doch aus hiesiger Perspektive wird der Kulturschock begreifbar, den meine an Rè Nào gewöhnte Freundin erlitten hatte. So wie ich jetzt (eigentlich wollte ich immer im dünn besiedelten Schweden leben, aber das ist eine andere Geschichte). Egal, meine Freundin hat sich bestens mit ihrem ruhigeren Leben in Wien arrangiert. Das wird mir mit dem kakophonischen Alltag in China sicher auch gelingen. Irgendwann jedenfalls.

 

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Buchhimmel, Buchhölle, Buchmesse

Als ich gestern begann, diese trauerumflorten Zeilen zu schreiben, gewann doch glatt Eleonar Catton den Man-Booker-Preis. Ja, eine Neuseeländerin sackte den begehrtesten Literaturpokal ein. Als Jüngste überhaupt, und für den dicksten Booker-Schmöker aller Zeiten: „The Luminaries“ hat 832 Seiten. So viele Superlative, so toll! Das erinnert mich ans letzte Jahr, als ich von der Buchmesse wiederkam und jeder fragte, wie wir waren. Denn Neuseeland, das ja alle so schätzen, sich nach ihm sehnen, aber selten was von ihm lesen, war damals Ehrengast gewesen. Ein Riesen-Tamtam.

Die gefühlte Häfte aller einheimischen Autoren wurde nach Frankfurt verschifft, wo sie etwas ratlos rumstand. Es war wie auf Klassenfahrt. Radio New Zealand machte eine Live-Schaltung, man feierte sich ab, dazu Pinot Noir aus Central Otago – wer kann da meckern? Ich hielt mich eher an die Freigetränke meines Verlages als bei Maori-Tänzen auf und konnte die ganze Pazifik-Pracht kaum aufnehmen. Aber eines war klar: So viel Beachtung wie in jener Woche hat die kleine, feine Verlagszene Aotearoas noch nie bekommen. Und ein Jahr später ist klar: So beschissen wie jetzt ist es ihr auch noch nie ergangen. Während die Frankfurter letzte Woche mit Brasilien anstießen und unsere neue Star-Autorin in London geehrt wurde, herrscht daheim beim ehemaligen Ehrengast Krise.

Kevin Chapman lief damals als kiwianischer Wichtigmann von Halle zu Halle. Das deutsche Messe-Essen war ihm suspekt, er hielt sich an Hot Dogs. Im Mai diesen Jahres tönte er als Präsident der Verlegervereinigung Neuseelands noch: „Dies ist eine Branche, die über ein Jahrhundert lang bemerkenswerte Widerstandskraft bewiesen hat.“ Zwei Monate später war er seinen Posten los. Der Verlag Hachette, dessen neuseeländischer Direktor er war, machte sein Auckland-Büro dicht und strich 15 Stellen, auch seine.

Zuvor hatte sich bereits HarperCollins aus Neuseeland zurückgezogen – die Geschäfte werden jetzt von Sydney aus geregelt. Random House und Penguin haben sich im Juli global vereinigt, was ein paar Druckmöglichkeiten weniger für Kiwi-Autoren bedeutet. Und dann schloss noch Pearson seine Tore, der größte Schulbuchverleger. Von den 2000 Büchern, die pro Jahr in Neuseeland erschienen, waren allein 1200 Lese-Heftchen für Grundschüler.

Was in den letzten fünf Jahren weltweit den Buchmarkt umkrempelte, erlebten die Kiwis in nur 12 Monaten: Mehr selbstverlegte E-Books im Netz, weniger echte Verlage. Es ist in Aotearoa billiger, sich was von Amazon schicken zu lassen, als es im Buchladen zu kaufen. „Book shop“ bedeutet in vielen Fällen Schreibwarenladen mit Sportzeitschriften, in dem als literarisches Beiwerk Dan Browns Schinken und ‚Fifty Shades of Grey‘ stehen, aber selten ein im Lande produziertes Buch. Zum Beispiel von Awa Press. Mary Varnham ist dort Verlegerin und sagt: „Wer weiß, ob es uns in fünf Jahren noch geben wird.“ Mit einem Caipirinha allein lässt sich das nicht runterspülen. Prost, Eleanor!

 

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Zu wenig Platz für guten Auslandsjournalismus

weltreporter.net ist der größte Zusammenschluss freier deutscher Auslandskorrespondenten. Da ist es wenig überraschend, dass wir meinen, dass unser Berufsstand dringend gebraucht wird. Das gleiche sollte man von den Herausgebern deutscher Tageszeitungen denken, die ihr Geld damit verdienen, eine möglichst gute Zeitung zu machen, die den Leser täglich aufs Neue begeistert. Doch das Gegenteil ist der Fall.

Ein Medienkonzern wie Madsack (HAZ, Lübecker Nachrichten, OZ, LVZ) hat bisher über 18 überregional arbeitende Redaktionen – bald soll es nur noch eine sein. Mit der hochwertigen Berichterstattung, für die wir Weltreporter uns mit unserer täglichen Arbeit einsetzen, ist das kaum vereinbar. Deshalb betonen wir das Selbstverständliche: die Notwendigkeit einer publizistischen Vielfalt, zu der ortskundige Korrespondenten kritisch und kompetent mit Inhalten und Hintergründen beitragen.

Madsack ist kein Einzelfall. Die jüngsten Spardiktate etwa bei DuMont (Kölner Stadtanzeiger, Berliner Zeitung) lassen Schlimmes befürchten. Wir sehen, wie ganze Weltregionen ausgeblendet werden – auf Kosten der Korrespondenten, deren Rahmenverträge gekündigt werden, aber auch der Leser, die immer oberflächlicher informiert werden.

Tageszeitungen können nur überleben, wenn sie sich durch tiefergehende, überraschende und spannende Geschichten vom bunten Allerlei im Internet absetzten. Dafür braucht man Journalisten, die in ihrem Berichtsgebiet leben – keine Fallschirmreporter, die zu Krisenzeiten für ein paar Tage eingeflogen werden und dann voneinander abschreiben.

Guter Journalismus muss außerdem auch in Zukunft bezahlt werden. Ausbeutungsportale wie die Huffington Post, die ihre Autoren nicht bezahlen, nutzen letztlich nur einem: dem Herausgeber, der mit den unbezahlten Leistungen anderer Profit macht.

Weltreporter.net gehören derzeit 66 Mitglieder an, die aus 160 Ländern für ebenso viele verschiedene deutschsprachige Medien berichten. Ziel unseres eingetragenen Vereins ist die Förderung eines hochwertigen Auslandsjournalismus, zu dem sich alle Mitglieder bekennen.

Im kommenden Jahr feiern wir unseren zehnten Geburtstag. Diesen Anlass werden wir nutzen, um besonders engagiert und lautstark für guten Auslandsjournalismus auch in den Tageszeitungen zu streiten!

Dafür haben die Weltreporter einen neuen Vorstand gewählt. Neue zweite Vorsitzende ist die ehemalige ARD-Nahost-Korrespondentin Birgit Kaspar, die nach langer Zeit als Freie in Beirut nun für Hörfunk und Print aus Toulouse berichtet. Das globale Vorstandsteam vervollständigen Schatzmeisterin Julica Jungehülsing (Sydney), Klaus Bardenhagen (Taipei) und Kerstin Zilm (Los Angeles). Geschäftsführerin Barbara Heine leitet die Hamburger Geschäftsstelle von weltreporter.net.

Ich – Marc Engelhardt, nach sieben Jahren in Afrika inzwischen UN- und Schweiz-Korrespondent in Genf – darf in den kommenden zwei Jahren als erster Vorsitzender unser streitbares und kompetentes Netzwerk vertreten. Darauf freue ich mich – wie über jeden Tag, an dem Leserinnen und Leser in ihrer Tageszeitung noch lesenswerte Geschichten aus dem Ausland finden.

 

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Eine tierische Angelegenheit

Hammel, überall blöken die Hammel. Die Autobahnen und Landstraßen sind voller Pick Up Trucks auf deren Ladenflächen sich Dutzende Tiere quetschen. Auf den Plätzen vor den Städten sind sie zu Hunderten zu sehen. Männer laufen herum und suchen sich ein Tier aus. Bündel von Geldscheinen wechseln den Besitzer. Der Grund: Das Islamische Opferfest steht bevor. Am heutigen 15. Oktober feiern die Muslime überall auf der Welt Aid al Adha oder Aid el Kebir, wie der Tag im Maghreb genannt wird. Jedes Familienoberhaupt ist angehalten ein Tier zu schlachten. In den meisten Länder sind es Hammel.

Das Tier wird einige Tage zuvor gekauf, denn Last-Minute ist teuerer. Stellt sich vor allem in der Stadt die Frage: Wohin mit dem Vieh? In Algerien erlebte ich das Opferfest vor einigen Jahren mit und konnte mir vom Einfallsreichtum der Städter selbst ein Bild machen. Wer zu den wenigen gehört, die in einem Ein- oder Zweifamilienhaus leben, hält das Tier in der Garage oder im Innenhof. Wer unweit eines Parks lebt, markiert seinen Hammel und lagert ihn dort zwischen. Die Tiere fressen die Parkvegetation, während ein Wächter aufpasst, dass sie nicht gestohlen werden. Schwieriger wird es da schon in den monotonen Wohnblocks der Vororte mit ihren viel zu engen Wohnungen. Hier bevölkern die Hammel die Balkone und selbst die Absätze im Treppenhaus. Es riecht entsprechend.

Am Opferfest dann, werden die Tiere auf die Straße geführt, um ihnen – den Blick gen Mekka gerichtet – mit einem Messer die Gurgel durchzuschneiden. Überall in der Stadt fließt das Blut. Nicht jeder Mann in der Familie ist geeignet das Opfer darzubringen. Er muss ein guter Muslim sein. Viele meiner Freunde haben deshalb noch nie das Messer geführt und wollen das auch nicht. “Ich trinke doch Bier”, heißt die Entschuldigung, um sich vor dieser Aufgabe zu drücken.

Es ist kein billiges Fest. Dieses Jahr kosten die Tiere in Algerien um die 450 Euro. Das ist das dreifache des Mindestlohnes. Viele Tiere müssen importiert werden, da Algeriens Viehwirtschaft nicht ausreicht, das gesamte Land zu versorgen. Wer sich einen Hammel leisten kann, und einem Armen Nachbarn hat, ist angehalten, ein Stück Fleisch abzugeben.

Das Opferfest geht übrigens auf das Alte Testament zurück. Der Koran hat die Geschichte des Propheten Ibrahim (Abraham) übernommen. Das Hammelopfer gedenkt der Bereitschaft Ibrahims seinen Sohn Ismael (Isaak) aus Furcht vor Gott, soll heißen Allah, zu opfern. Als Allah – Gott – seine Bereitschaft und sein Gottvertrauen sah, gebot er ihm Einhalt und Ibrahim und Ismail opferten daraufhin voller Dankbarkeit im Kreis von Freunden und Bedürftigen einen Widder. Die Geschichte wird im Koran in Sure 37,99-113 erzählt. Ihr biblisches Pendant ist die Erzählung von der Opferung Isaaks (Gen 22,1-19 EU).

Am Festtag selbst, werden die Innereien zubereitet. Sie verderben am schnellsten und das Hammelfleisch an sich muss einige Zeit abhängen, um genießbar zu sein. Wer an so einem Opfertag eingeladen wird, bekommt das beste Stück aufgetischt. In meinem Falle waren es die Hoden. Unter dem aufmerksamen Blicken meiner Gastfamilie verzehrte ich den Leckerbissen und spülte mit amerikanischer Brause nach. Probe bestanden!

 

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Zerstörte Träume und schlaflose Nächte – die US-Haushaltsblockade

Gerade habe ich im Radio gehört, dass weltweit kein großes Interesse am schlechten Schauspiel der Haushaltsblockade von Washington besteht. Kein Wunder. Ich kann auch kaum noch die Stimmen der üblichen Verdächtigen ertragen, die sich gegenseitig die Schuld zu schieben. Die müssen doch mindestens genausoviele Geschichten von Betroffenen gehört haben wie ich!

Ich habe Touristen am Flughafen von Los Angeles getroffen, die ihren gesamten Ferienplan umstellen mussten weil sie nicht in Nationalparks kommen. Eine Rentnerin war auf dem Weg zum Trip ihres Lebens mit Schulfreundinnen – Wildwasserrafting im Grand Canyon. Aus der Traum!
Ich traf einen Vater, der die Hypothek für sein Haus und Studiengebühren für seine Töchter nicht bezahlen kann, weil er im Zwangsurlaub ist. Irgendwann soll er sein Gehalt bekommen. Bis dahin stapeln sich unbezahlte Rechnungen und Verzugsgebühren. Er schläft nicht gut.

Am meisten beeindruckt aber hat mich die Geschichte von Shanice, einer Studentin aus dem nicht gerade idyllischen Viertel Watts in Los Angeles. Das ist berühmt vor allem für Rassenunruhen in den 60ern und für die Türme aus Recycle-Material. “Ich weiss nicht, was derzeit unser größtes Problem ist – Gangs oder Teen-Mütter,” erzählte sie mir. Shanice will den Kreislauf durchbrechen und hat ein Studium angefangen. Sie schrieb sich ein für Soziologie und Kommunikation an einem relativ preiswerten College. 1000 Dollar zahlt sie im Jahr für Studium und Studienmaterial. Das stieß bei Freundinnen auf großes Unverständnis. “Warum wirst du nicht einfach schwanger, dann bekommst Du Geld für Essen und Wohnung?” haben die gefragt.
Die 21 jährige lebt bei ihrer Großmutter. Sie hat sechs Geschwister. Die leben bei der Mutter. Der Vater hat sich nie um sie gekümmert. Shanice bekommt etwa 10 tausend Dollar im Jahr aus verschiedenen Töpfen des Bundeshaushalts. Mir ist es ein Rätsel, wie man mit so wenig Geld in Los Angeles leben und studieren kann! “Ich bin total von finanzieller Hilfe abhängig. Ich zahle alles davon – das Busticket, die Bücher, mein Essen, die Gebühren, meine Kleidung, Zuschuss zur Miete.” erzählte sie mir. Und das ist die Verbindung zur Haushaltsblockade.
Vor gut acht Wochen wäre eine Zahlung an Shanice fällig gewesen, etwa 1500 Dollar. Wegen Kürzungen an den Unis noch vor der Blockade hat sich die Zahlung verzögert. Wegen der Streits in Washington wurden nun zusätzlich Stellen am College gestrichen und Shanice fürchtet, dass sie das Geld gar nicht mehr bekommt. Bei der Beratungsstelle sind die Schlangen endlos. Dort arbeiteten einmal drei Angestellte, nur eine Stelle ist geblieben. “Wenn ich am Ende des Monats keine Überweisung bekomme, kann ich mir den Bus nicht mehr leisten. Wenn ich nicht zur Schule komme, kriege ich schlechte Noten. Mit schlechten Noten bekomme ich keine finanzielle Förderung mehr.” Shanice will ein Vorbild sein, ihren Geschwistern zeigen, dass auch Kinder aus Watts einen Collegeabschluss machen können. Momentan fürchtet sie, dass die Schulfreundinnen recht behalten und es einfacher ist, eine Teen-Mutter zu sein als zu studieren.

 

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Olympiade 2020: Kampf der greisen Giganten

Schon jetzt fliegen die Fetzen. Zwar bekrittelt niemand öffentlich (noch nicht), dass die gebürtige Irakerin „Dame“ Zaha Hadid das Stadion in Tokio bauen wird (siehe Blog 9. September 2013), doch Unmut über Grösse und Location wird lauter.

Befürworter des protzigen Projekts ist der ehemalige Boxer, Pritzker Preisträger und Beton-Purist Tadao Ando,72. Er hat als Jurymitglied die Entscheidung massgeblich beeinflusst und letzten November Hadids Sieg verkündet. Sein Gegenspieler, Fumihiko Maki, 85, sieht in dem Projekt Geldverschwendung und Umweltzerstörung. Deshalb schart der suave Harvard Absolvent – ebenfalls ein Pritzker Preisträger – eine Protestgruppe japanischer Architekten um sich. Unter anderem gehören ihr Toyo Ito, Kengo Kuma, Taro Igarashi und Sou Fujimoto an.

Am Wochenende bin ich durch das zuküftige Olympia-Viertel spaziert.

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Last Tange: Für die olympischen Spiele 1964 baute Kenzo Tange (1913-2005) zwei Stadien im Yoyogi Park. Auch 2020 sollen sie zum Einsatz kommen. Doch der Hadid Bau wird sie erdrücken.

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Lachend in die Zukunft? Yoyogi ist eine der wenigen grünen Lungen Tokios und mit seinen angrenzenden Vierteln Harajuku, Aoyama und Shibuya Freizeitspielplatz der Jugend. Grünanlagen werden dem Hadid-Bau zum Opfer fallen. Die Skyline hinter den beiden Gebäudespitzen von Kenzo Tange dominiert dann das neue Stadion.

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Der Kritiker: Fumihiko Maki will retten was zu retten ist. Er prangert Grösse, Umweltbelastung und fehlendes Einfühlungsvermögen an. Hadids Stadion wird ca. eine Milliarde Euro kosten (Umrechnungskurs 130 Yen) und drei mal so gross werden, wie das Hauptstadion bei den Spielen in Londen. „Viel können wir nicht mehr ändern“, gesteht Maki, „aber zumindest verkleinern. 85,000 Sitzplätze sind nicht notwendig.“ In der Yomiuri Shinbun warnt ein Beamter davor, dass die Kosten explodieren würden. Korruption ist aber nicht auf Japan beschränkt, wie wir das bei den Flughäfen Berlin und Wien gesehen haben.

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Fahrradhelm im CG-Grün: Hadids Olympia Stadion täuscht vor, friedlich in der Natur eingebettet zu sein. Zu sehen sind aber weder die geopferten Grünflächen, noch die breitspurigen Auswirkungen auf das Gesamtstadtbild. Hadid hat 400 Angestellte und Projekte in 55 Ländern, einige davon Diktaturen. (Einen interessanten Fotobericht von Hadids Heydar Aliyev Center in Baku, Aserbaidschan, gab es am 11. Oktober 2013 in der New York Times. Heydar Aliyev war der ehemalige KGB-Chef des Landes. Am Ende des Artikels betont die Times, dass die Fotos von Hadid zwar beauftragt, aber nicht von ihr vor Veröffentlichung abgesegnet wurden.)

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Habt acht beim Strippenzieher: Tadao Ando findet, dass Hadids Design Japans Zukunft interpretiert. Er war in Osaka immer schon ein kompromissloser Einzelkämpfer gewesen, dem die Elite in Tokio suspekt erschien. Die internationale Olympia-Ausschreibung für 2020, wo hochkarätige japanische Architekten aus Tokio teilgenommen haben (Toyo Ito und das SANAA Team), wirkt unter diesem Blickwinkel unglaubwürdig. Zudem hätte der Wettbewerb – meiner Meinung nach, ohnehin nur unter japanischen Architekten stattfinden sollen. Japan ist nicht China, dass mit Leuten wie Koolhaas und Co. Anerkennung im Ausland erheischen muss.

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Obdachlosen-Architektur: Die bisher stillschweigend geduldeten Zeltlager im Yoyogi Park werden ebenfalls dem Hadid Stadion weichen müssen.

 

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Universum im Abflussrohr

In Spanien über Handwerker zu schimpfen ist ungefähr so originell wie sich in Deutschland über die Verspätungen der Bahn zu echauffieren. Zeit also für eine Ehrenrettung: Spanischen Handwerkern verdanke ich wesentliche Erkenntnisse über Sprache und Weltanschauung.

Die Sachlage: Wir haben seit einem Jahr ein Zimmer mit einer feuchten Wand. Seit genau so langer Zeit bemühen wir uns, unsere Vermieterin zur Lösung dieses Problems zu bewegen. Neulich tropfte es auch im Supermarkt unter uns auf die Kasse. Und so hatten wir innerhalb weniger Wochen das Vergnügen mit gleich vier (4!) Handwerkern.

Die ersten schickte die Vermieterin. “Son de confianza”, Vertrauensleute also. Ich interpretierte das als “Denen kannst du vertrauen”. Meine Vermieterin wollte damit aber lediglich zu erkennen geben, dass es ihre Vertrauten waren: vermutlich Kumpel ihres erwachsenen Sohnes, die sich ein Zubrot verdienen wollten. Hochmotiviert klopften die beiden im Bad Kacheln ab, wickelten etwas um die tropfende Kupferleitung und begannen am gleichen Nachmittag im Nebenzimmer Gips auf die feuchte Wand zu spachteln und dann darüber zu pinseln.

Auf mein schüchtern hervorgebrachtes “Sollte das nicht zuerst trocknen? Und was ist mit der Grundierung?” entgegnete man mir, die “Señora” solle sich keine Sorgen machen, man werde das Zimmer “to’ guapo, to’ guapo” hinterlassen (was mit “tip-top” nur unzureichend übersetzt ist). Tatsächlich hatte ich am nächsten Tag eine originell gestaltete Wand, reliefartig weissgelb, hellbraun gesprengelt. Glatt weiss ist für Spiesser!

Da das Wandrelief in den nächsten Wochen wieder in Bewegung geriet und sich schliesslich auf Rohrhöhe auflöste, riefen wir wieder an, diesmal nicht bei der Vermieterin, sondern bei der Hausverwaltung, die uns den “offiziellen Handwerker des Gebäudes” schickte. Der machte uns mit einem der schönsten Worte der spanischen Sprache bekannt: “Esto es una chapuza”. Das heisst so viel Schlamperei, Murks, Pfusch, ist aber weniger negativ behaftet, da “chapuza” streng genommen nichts weiter ist als eine zwangsläufige Transformation von “arreglo” (so viel wie “schnelle Reparatur”), und einen “arreglo” hatte der erste Handwerker gemacht. Da half jetzt nur eine gründliche Reparatur, und die kostete ihre Zeit. Wir lebten tagelang in einer offenen WG mit Handwerkern, die Farbe abspachtelten, Kacheln abklopfen, Rohre verschweissten. Manchmal sang ich leise “cha-pu-za, cha-pu-za” vor mich hin – das Wort tröstete mich als melodiöser Ohrenschmeichler über den Dreck und das zu Unzeiten abgestellte Wasser hinweg.

Diesmal wurde auch nicht sofort gestrichen, da aber auch nichts trocknete, kam drei Wochen später ein anderer, von Hausverwaltung und Vermieterin gemeinsam bestellter Handwerker vorbei. Er sei der Chef, wurde uns gesagt. Der Chef ging ins Bad, klopfte drei Mal melancholisch gegen die Kacheln, ging in das Zimmer mit der feuchten Wand, seufzte tief, ging dann in den Innenhof, wo er den Kopf in den Nacken legte und den Blick das Rohrgewirr im Lichschacht emporwandern liess. Dann schüttelte er den Kopf und sagte: “Esto es un universo” – “Das ist ein Universum!”. Er packte seinen Werkzeugkoffer zusammen, drückte uns die Hand und ging. Für immer.

Ich war erschüttert: Ein Universum im Abflussrohr! Die Welt als Rohrsystem! Auf so eine Metapher muss man erst einmal kommen. Und dann dieser Abgang! Würdevoller kann man vor der Ausweglosigkeit des Lebens nicht kapitulieren.Spanische Handwerker sind die letzten grossen Poeten der Post-Postmoderne.

Ach ja, das Problem mit der tropfenden Wasserleitung haben dann keine spanischen Handwerker, sondern “manitas”, wörtlich “Händchen”, gelöst: zwei Ecuadorianer ohne “offiziellen Titel”, die das defekte Rohrstück durch ein neues ersetzten. Prosaisch, aber effizient.

 

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Weckruf mit der Nobel-Nachricht

Aus dem Schlaf gerissen, verstand Alice Munro zunächst nicht die Nachricht, die ihr ihre Tochter telefonisch übermittelte: „Mama, Du hast gewonnen.“ Es war heute morgen, kurz nach 4 Uhr in Victoria in Kanadas Pazifikprovinz British Columbia. Dann aber dämmerte es ihr: Sie, die 82 Jahre alte Grand Old Lady der kanadischen Literatur, war für ihr Lebenswerk mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden.

 

Als sie wenige Minuten später die ersten Interviews gab, hatte sie immer noch Mühe, die richtigen Worte zu finden. „Es ist mitten in der Nacht hier“, sagte sie fast entschuldigend in einem Gespräch mit dem kanadischen Rundfunk CBC. „ich kann es nicht beschreiben. Was soll ich sagen?“ antwortet sie auf die Frage, wie sie die Nachricht aufnahm. „Meine Tochter weckte mich und zunächst verstand ich nicht warum“, erzählt die „Meisterin der zeitgenössischen Kurzgeschichte“, wie das Nobelkomitee in Stockholm sie bezeichnet. Erst „kürzlich“ sei sie darauf aufmerksam gemacht worden, dass sie wieder eine Kandidatin für den Nobelpreis sei. „Ich hatte daran nicht gedacht. Ich bin hier für Familienangelegenheiten.“ Ja, sie weiss, dass sie schon öfter als Kandidatin im Gespräch war. Aber den Nobelpreis zu erhalten, das sei „eines dieser Hirngespinste, die passieren könnten, aber wahrscheinlich doch nicht“.

 

Nun hat sie ihn doch bekommen. Alice Munro, die erste Kanadierin, die mit Literaturnobelpreis ausgezeichnet wird, die 110. in der langen Reihe der Geehrten, aber erst die dreizehnte Frau. Als sie damit konfrontiert wird, reagiert sie schlagfertig. Es sei „haarsträubend“, dass erst dreizehn Frauen den Preis erhalten haben. Ob sie auch der erste kanadische Preisträger in Literatur ist, ist eine Frage der Definition: Kanadische Medien verweisen darauf, dass der in Kanada geborene, aber in den USA aufgewachsene Saul Bellow den Preis 1976 erhielt.

 

Alice Munro, die grauhaarige Dame, ist in Kanada hoch angesehen. Ihre nicht minder bekannte kanadische Kollegin Margret Atwood nennt sie eine „internationale Literatur-Heiligkeit“. “Hurra, Alice Munro erhält den Literaturnobelpreis”, gab sie ihrer Freude auf Twitter Ausdruck. Die US-amerikanische Schriftstellerin Cynthia Ozick nannte Munro Kanadas „Tschechov“ und verglich sie damit mit dem russischen Schriftsteller Anton Tschechov. Ihr langjähriger Publizist Doug Gibson nennt die Preisverleihung „eine wunderbare Nachricht für uns alle. Kanada hat den Literatzurnobelpreis gewonnen.“ Er sei über die Auszeichnung für Munro „nicht überrascht. Sie verdient es. Es ist an der Zeit.“

 

Ihr Ansehen in Kanada wird durch mehrere Preise unterstrichen. Für ihr Debutwerk „Dance of the Happy Shades“ (Tanz der seligen geister) erhielt sie den Literaturpreis des kanadischen Generalgouverneurs, ebenso für ihre 1978 erschienene Sammlung „Who Do You Think You Are?“ (Das Bettlermädchen). Für „The Love of a Good Woman“ (Die Liebe einer Frau) und „Runaway“ (Tricks) wurde sie mit dem Giller-Preis ausgezeichnet, und 2009 gewann sie den renommierten Man Booker International Prize für ihr Lebenswerk.

 

Alice Laidlaw, am 10. Juli 1931 in Wingham in Ontario geboren, wuchs auf der elterlichen Farm auf, studierte an der University of Western Ontario in London Journalismus, brach das Studium aber aus Geldmangel ab. Sie heiratete James Munro, mit dem sie drei Töchter hat. Die Ehe wurde 1972 geschieden und sie heiratete den Geografen Gerold Fremlin, der vor wenigen Monaten starb. Einige Jahre lebte sie in British Columbia, jetzt lebt sie zeitweise in Ontario und in British Columbia, wo sie am Donnerstag die Nachricht vom Nobelpreis erreichte.

 

Im vergangenen Jahr veröffentlichte Alice Munro ihre Sammlung „Dear Life“, für die sie ihren dritten Trillium Book Award erhielt, den Literaturpreis ihrer Heimatprovinz Ontario. Erst vor wenigen Wochen hatte sie in einem Interview mit der kanadischen Zeitung National Post erklärt, dass sie „wahrscheinlich nicht mehr schreiben wird“. Jetzt gefragt, ob sie diese Aussage nach dem Nobelpreis revidieren wolle, meinte sie lachend, dass sie das nicht glaube. „Ich werde ziemlich alt.“

 

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Gangster, Gelder, Gammastrahlen

Nach meiner Konfrontation mit einem Yakuza bin ich sicher: An der Fukushima-Katastrophe bereichern sich Verbrechersyndikate.

Was ist passiert?

Drei markante Gebäude markieren die Yoyogi-koen Kreuzung im Herzen Tokios: Ein Glaskubus von Mode-Shogun Issey Miyake, ein Family Mart Convenience-Store und ein koban. Das Polizeihäuschen ist 24 Stunden geöffnet. Manchmal sitzt dort ein Polizist, manchmal stehen dort drei. In Japan gibt es weder Strassennamen noch Strassennummern. Deshalb liegen im koban Stadtkarten auf, wo Häuser des Viertels mit Familiennamen eingezeichnet sind. Die Polizei gibt Auskunft, besucht zudem einmal im Jahr alle Bewohner im Revier. Sie fragt, wie’s geht oder warnt Omas vor „ore-Telefonaten. Das sind Anrufe von angeblichen Enkelkindern in Not, die um eine Banküberweisung bitten. Jährlich erschwindeln Banden wie die Yakuza auf diese Art Milliarden.

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Yakuza im Manga: “Sorry. Ich habe kein Geld!”

Unweit vom Yoyogi-koban, beim Family Mart, will ich mein Fahrrad abstellen. Neben dem Eingang aber schreit ein bulliger, kurzbeiniger Typ. Vor ihm – zwei Teenager. Sie nicken reumütig. Hinter ihm – eine junge Frau. Der Rock ist kurz, die Absätze lang, der Blick trüb.

„Mit den Scheiss-Fahrrädern habt ihr der Frau das Knie verletzt!“

Mein Seitenblick streift ihre Beine. Schlank sind sie und weiss und unverletzt.

„Was ist? Zahlt ihr? Habt ihr Geld ? Einen Ausweis? Wo wohnt ihr?“

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Koban bei der Yoyogi Kreuzung

Einkäufer gehen an uns vorbei. Nur keinem Yakusa in die Augen schauen! Mir reicht’s, laufe rüber zur koban. „Da drüben werden Jugendliche attackiert!“ Drei Polizisten springen los, halten Pistolentasche, Stahlrute, Funkgerät und Schellen am Gürtel fest, damit sie nicht klappern. Wie ein kleiner Bruder, der Geschwister zur Verstärkung mitbringt, stelle ich mich vor den Ganoven.

„Das ist er!“ sage ich. Der Yakuza baut sich vor den Polizisten auf: „Dreckskerle. Habt ihr nichts besseres zu tun? Arschlöcher! Verschwindet!“

Die Polizisten verziehen keine Miene, fragen höflich, was das Problem sei.

„Geht euch einen Scheiss an. Erzähle ich eurem Boss. Verpisst euch,“ sagt der Wegelagerer.

„Ist doch klar, dass er die Teenager erpresst,“ sage ich.

„Alles OK,“ sagt ein Polizist.

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Fahndungsposter bei der koban

Der Yakusa tritt an mich heran und ich rieche seinen ranzigen Sake-Atem. Er brüllt und bellt und lässt das „R“ rollen, wie es sich nur unter seinesgleichen geziemt. Er zieht sein Handy. Er fotografiert mich. Er fotografiert die Polizisten. Er hält die Faust mit den Goldringen vor meine Nase. Und erst dann stellen sich die Polizisten dazwischen.

„Ich kriege euch alle. Eure Familien. Eure Kinder!“ In seiner Stimme – keine Spur von Heiserkeit. Auf der Strasse – keine Schaulustigen. Im Family Mart – kein Aufruhr – der Laden könnte nächstes Opfer sein. Hinter dem Rücken des Gelegenheitsparasiten deutet die schlanke Frau den Jungen, sie sollen weglaufen – doch sie rühren sich nicht vom Fleck. Denken sie, nun sei Hilfe gekommen? Denken sie, sie müssten sich dem Polizisten erklären? Denken sie, bei einem Yakusa hat auch die Polizei keine Chance?

Und dann sagt der ranghöchste Uniformierte: „Das hier ist eine Privatunterhaltung.“

“Wo ist die Verletzung am Knie?” wiederhole ich.

Die Polizisten drehen sich um und spazieren zurück zum koban. „Scheisskerle! Wird Zeit!“ schreit ihnen das Bronsongesicht nach und wendet sich zu mir und ich ergreife die Flucht und die Jungen tun mir deshalb heute noch leid.

Und was hat das mit Fukushima zu tun?

1000-Tonnen-Tanks mit radioaktivem Wasser sind miserabel zusammengeschraubt. Viele davon stehen schief. Arbeiter pumpen von einer Seite Wasser hinein, auf der anderen läufte es ab. Die Dummheiten werden auch in Zukunft nicht aufhören und ich habe dafür eine Erklärungen. Das Arbeiterfussvolk im AKW ist nicht geschult. Niemand will den Laden freiwillig aufräumen, sein Leben riskieren. Deshalb ist die Yakuza nun Job-Vermittler für den Energiebetreiber, rekrutiert Obdachlose, Arbeitslose, Hilflose. Das munkeln Japaner. Ich glaube es. Ich habe die Polizisten weggehen gesehen.

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Roland in Fukushima

 

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Pharmaindustrie, Würmer und anderes Ungeziefer

Ausgerechnet im sauberen Deutschland hat sich mein Sohn Würmer eingefangen. Im Sandkasten, auf dem Spielplatz oder im Kindergarten, keiner weiß es so genau. Es fing an mit einem leichten Jucken am Popo und endete mit einem mehrwöchigen Drama durchwachter Nächte, wiederholtem Waschen sämtlicher Bettwäsche, Schlafanzüge, Unterhosen und Stofftiere sowie diversen Kinderarztbesuchen. Durchaus auch in gemäßigten Breitengraden nichts Ungewöhnliches, wie ich während der Prozedur gelernt habe, meist durch Übertragung von Tieren. Zwar hatte im Kindergarten angeblich sonst niemand Würmer, praktisch gesehen allerdings ein Ding der Unmöglichkeit bei der hohen Übertragbarkeit. Aber über so etwas reden Eltern – zumindest in Deutschland – wohl lieber nicht. So ähnlich wie bei Läusen: Während in Frankreich die bewährten Läusemittel in der Apotheke gleich vorne im Regal stehen, muss man sie sich in Deutschland mit gesenkter Stimme aus den Tiefen des Lagers holen lassen.

Wie auch immer: Bei der dritten Behandlung hat die verabreichte Wurmkur endlich gewirkt und der Spuk war mit einem Schlag beendet. Bei den ersten beiden Versuchen musste der dreijährige Patient ein widerlich riechendes, giftrotes Medikament hinunterwürgen, das ihm zwei Stunden später (also bereits nach Wirkungseintritt) wieder hochkam. Leider bekämpfte das Zeug nur den gemeinen Madenwurm und hat die Viecher im Darm meines Sohnes offensichtlich nicht beeindruckt. Erst beim dritten Wurmalarm bekamen wir ein Rezept für das verschreibungspflichtige Medikament Helmex, das gegen diverses Gewürm wirkt. Besonders lecker roch die schleimige Suspension ebenfalls nicht. Um Wiederansteckung vorzubeugen, hat die ganze Familie inklusive Oma mitgeschluckt. Und musste selbst bezahlen: 24 Euro pro Person.

Als wir wenig später wieder nach Indonesien reisten und der Kinderpopo dort schon wieder juckte, rannte ich sofort panisch in die nächste Apotheke. Mitten im Raum, nicht zu übersehen, stand in allen möglichen Packungsgrößten und Verabreichungsformen das Medikament Combantrin. Jedes Kind in Indonesien kennt die kleinen Plastikfläschchen, die idealerweise alle halbe Jahr vorbeugend verabreicht werden sollten. Der Sirup schmeckt in etwa wie flüssige Gummibärchen und kaum ein Kind weigert sich, dies zu trinken. Kosten für eine Erwachsenendosis: umgerechnet 70 Cent. Für die gleiche Menge desselben Wirkstoffs wie bei den in Deutschland verkauften Medikamenten.

Die vermeintliche, erneute Wurmattacke stellte sich glücklicherweise als Fehlalarm heraus. Stattdessen habe ich mich nun vor der nächsten Heimreise mit billigen, rezeptfreiem Wurmmittel eingedeckt.

 

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Die Deutschen und die Spanier

Wolfgang Maier erregt die Gemüter. Der Deutsche berichtet für FTL-Fernsehen aus Spanien. Seine Beiträge werden dort vom spanischen Fernsehsender La Sexta aufgegriffen und direkt nach dem Mittagessen ausgestrahlt. «Así nos va» – «So geht es uns» – heisst das Programm. Je nach Tonfall hat dieser einfache Satz die Bedeutung von: «Wir haben es so verdient.»

«Schaut, was wir im deutschen Fernsehen gefunden haben», kündigen die beiden Sprecher von La Sexta mit empörter Stimme die jeweiligen Kurzbeiträge an. Im Trenchcoat, Mikrofon in der Hand, berichtet der hoch gewachsene Reporter über den spanischen Alltag. Maiers Ton ist überheblich, besserwisserisch, hart an der Grenze zur Ausländerfeindlichkeit. Er fragt auf Spanisch und kommentiert auf Deutsch – La Sexta untertitelt nicht immer wortgetreu, aber immer provokant. «Sie haben mehr gebaut, als sie konnten. Sie haben spekuliert, bis sie in die grösste Krise ihrer Geschichte fielen …», eröffnet Maier seine Moderation. Bauruinen und Arbeitslose werden gezeigt. In reicheren Teilen Madrids geben die Menschen auf der Strasse offen zu, dass sie sich in Zeiten der Spekulationsblase eine goldene Nase verdient haben.

Maier berichtet aus den Madrider Bars: «Während Spanien um Rettung nachfragt, sind sie voll, keine Spur von Krise. Acht Millionen Spanier gehen täglich in die Bar, woher nehmen sie nur das Geld?» Er berichtet über den Müll auf dem Boden in den Bars («wenn das das Gesundheitsamt sehen würde») – die Osterwoche in Sevilla («sie verletzten sich beim Tragen der Statuen und liessen sich dann krankschreiben». Er besucht Volksfeste wie «Las Fallas» in Valencia, wo riesige Skulpturen, die Politik und Gesellschaft auf die Schippe nehmen, abgebrannt werden: «240 000 Euro stehen in Rauch und Flammen (…) Umweltverschmutzung, Ausgelassenheit und Ekstase (…) unglaublich!»

Maier zerpflückt alles, was den Spaniern heilig ist. Er lässt sich abschätzig über deren kulinarische Genüsse aus. Er interviewt Fussballfans, die vor der Kamera so richtig aufleben, grölen, saufen. Und natürlich darf der Stierkampf nicht fehlen. Maier starrt mit schockiertem Gesicht in die Kamera und hat die Gabe, immer diejenigen für Interviews auszusuchen, die am wenigsten zu sagen haben. Es entsteht das Bild eines Volkes von Ignoranten und Säufern.

Nur einmal bedient Maier nicht die Vorurteile der Deutschen, sondern beobachtet seine Landsleute aus spanischer Sicht. Er fährt nach Mallorca und zeigt junge Männer im Sangriarausch, die nicht in der Lage sind, auf einer Landkarte die Urlaubs­insel zu zeigen. Er spricht mit Rentnern in weissen Socken und Sandalen; das sind die Klischeetouristen, wie sie die Spanier Sommer für Sommer erleben. Und da ist sie auch wieder – die Überheblichkeit. Arm sei Spanien, Hungerlöhne würden sie bekommen, nuschelt ein sturzbesoffener Teutone seine Sicht der Dinge in die Kamera.

In seiner am meisten kommentierten Folge berichtet Wolfgang Maier für FTL über die spanische Arbeitsmoral. Er stellt sich vors Gesundheitsministerium und passt die Handvoll Beamten ab, die zu spät kommen und mehr oder weniger plausible Entschuldigungen in die Kamera stammeln. Maiers Schlussfolgerung: «Wir Deutschen sollen die Wirtschaft Spaniens retten. Wenn wir ihre Arbeitsmoral sehen (…), werden sie fähig sein, uns dieses Geld zurückzugeben?»

Die Kommentare im Internet sind alles andere als freundlich. Sie gehen von «neidisch auf unseren Lebensstil», über «Hurensohn», «Scheissdeutscher» bis hin zu «Rassist im klassischen Stile ­Hitlers». Nur wenige fragen sich, ob nicht ein ­bisschen Wahrheit hinter dem steckt, was Maier aus dem spanischen Alltag zeigt.

Und noch weniger Zuschauer stellen sich die Frage, was für ein Sender FTL eigentlich ist. Das Logo erinnert stark an RTL. Doch wer im Netz sucht, findet keine Homepage von FTL. Und wer nach Wolfgang Maier sucht, dem liefert Google einen Sprachwissenschaftler an der Universität in Düsseldorf, den Direktor des Deutschen Ski­verbandes, einen Geschäftsführer eines grossen Hotels in Abu Dhabi; doch von einem Starreporter fehlt jede Spur.

Nur eine Bloggerin ist La Sexta auf die Schliche gekommen: «Diese Reportagen sind unechter als eine Euromünze mit dem Gesicht Popeyes.» Wolfgang Maier und seine Reportagen sind ein Fake. Es ist ein weiterer Sketch, wie der Rest des Programmes auf La Sexta auch. Die meisten Zuschauer werden Maier dennoch weiterhin für bare Münze nehmen und sich aufregen. Das von La Sexta kreierte FTL-Fernsehen trifft perfekt den Nerv in einem Europa der Merkelherrschaft und der Krise.

 

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Zen und die Kunst der Zigarettenverpackung

Camel White ist in Japan angekommen – mit der schönsten Zigerattenpackung der Welt. Ich musste sie gleich fotografieren. Vorweggenommen: Ich bin Trockenraucher. Die Marke ist mir egal. Der Look ist wichtig, schlicht soll er sein und nicht schreien. Sackt die Schreiblust vor Redaktionsschluss ab, öffne ich eine Zigarettenschachtel und nuckle am Filter so lange herum, bis er flach und aufgeweicht ist. Anschliessend werfe ich die unverbrannte Zigarette weg. Mit vierzehen habe ich mir zum ersten Mal eine angezündet, eine A3. Ich sass unter Kastanienbäumen bei der Lainzer Tiergargartenmauer mit Blick auf Wien und dachte, dass ich von nun an mein Leben für immer im Griff haben würde. Die Zigarettenpackung war ausgehungert-graugrün mit einer schmutzig-violetten Schrift. A3 stand darauf. Das schlichte Design faszinierte mich, obwohl ich „Minimalismus“ noch nicht kannte. Instinktiv fragte ich, warum sich mit einer A3 in Österreich nur Proleten, Maurer und Arbeitslose sehen lassen konnten.

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Meine bewunderte A3 (1969) und meine Hand mit Camel White (2013);

Beim Anblick der Camel White in Tokio dachte ich sofort an die A3. Mattes Weiss hat Graugrün ersetzt, Silberbuchstaben die violette Schrift. Entstanden ist ein Architekturmodell, ein Miniaturwolkenkratzer, eine Skulptur – geschaffen wie für New Yorker Galerien. Als würde die Verpackungsevolution nun sagen, „liebe österreichische Proleten und Maurer, ihr ward damals blind, habt den Designwert nicht erkannt, denn sonst würde es die A3 heute noch geben.“

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Camel Crushed: Wie eine John Chamberlain Autowrack -Skulptur – aber immer noch schön.

 

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Gott und Amerikas Klimawaffen

Russland rätselt über chronisches Sauwetter

Wettermäßig ist Russland verwöhnt. Im Sommer strahlt der Himmel monatelang wolkenlos, Weihnachten ist garantiert weiß, die trockenen Winterfröste fühlen sich milder als das scheußliche norditalienische Nieselwetter dieser Jahreszeit. Der vergangene Sommer aber war auch in Kontinentalrussland nasskalt, nach Dauerregen mit 700 Millimetern Niederschlag versank die ostsibirische Amurregion über einen Monat in Hochwasser. In Komsomolsk am Amur ist das Grundwasser so gestiegen, dass es aus den Brunnenschächten schwappt. Jetzt ist Moskau dran, binnen eineinhalb Wochen ergoss sich über der Hauptstadtregion das Vierfache der Regennorm für den ganzen September, dann kippten die Temperaturen Richtung November, seit Tagen gibt es Schneeschauer. Wolkenbrüche haben auch die Olympiastadt Sotschi überschwemmt, schon witzeln die Einwohner, die Taxifahrer sollten sich zu den Winterspielen im Februar Gondeln kaufen.

Vaterländische Meteorologen erklären das Sauwetter mit einem massiven Antizyklon. Der orthodoxe Blogger Dimitri Enteo sieht das anders: Der Herrgott warne mit den Wolkenbrüchen über Sotschi vor dem Entzünden des olympischen Feuers, einem Kult zur Ehren von heidnischen Götzen wie Apoll oder Zeus.

Die Russen, bei denen Glaube und Aberglaube oft fusionieren, erfühlen hinter Naturkatastrophen gern Gottes strafende Hand. Der Geistliche Sergi Karamyschew erklärte die Überschwemmung des südrussischen Städtchens Krymsk im Juli 2012 mit der „Sauferei und Hurerei“ der Badegäste an der nahen Schwarzmeerküste. Und nicht ohne Häme verkündete Filmregisseur Nikita Michalkow anlässlich der Erdbeben und Zunami, die Japan 2011 heimsuchten, Gott bestrafe damit Nippons Hochmut.

Jetzt aber hat der nationalpopulistische Duma-Altstar Wladimir Schirinowski ganz andere Verursacher ausgemacht. Er sagte Radio RSN, die USA hätten klimatische Geheimwaffen gegen Russland eingesetzt, um seine Investitionen im Amurgebiet zu vernichten und die Olympiade in Sotschi platzen zu lassen. Offenbar habe man aus einem Zentrum zur angeblichen Erforschung der Jonosphäre in Alaska das Magnetfeld über Russland unter Beschuss genommen. Laut Schirinowski besitzt Russland ähnliche Waffensysteme, vor dessen Einsatz es bisher abgesehen habe. „Aber wir sind jederzeit in der Lage, klimatisch zurückzuschlagen“, sagte er. „Sobald der Befehl kommt, können wir Erdbeben und Sturmfluten provozieren.“ Die Einwohner der Nato-Staaten sollten sich schon einmal auf einen sibirischen Winter einstellen.

 

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Ein Herz für tote Städte

”Wellington stirbt“, hat unser Premierminister letztens getönt. Oh, das saß. Das wollte dort niemand hören. Bis auf Peter Jacksons Filmstudios sähe es wirtschaflich mau aus in der Kapitale, so John Key. Der Finanzsektor habe seinen Hauptsitz längst in Auckland. Im lauten, vulgären, verstopften Auckland, wohlbemerkt. Schön für die Menschen dort. Die haben ganz viel davon, wenn sie nett ausgehen oder Besuchern was Tolles zeigen wollen, dass da ein paar Firmenlogos mehr vom Skytower blinken. Das zeugt von Vitalität.

Für einen wie Key bemisst sich Lebenswertes nach Dollarzeichen. Wellington, das nur Kunst und Kultur statt Kommerz und Casino zu bieten hat, zeigte nach der Beleidigung, dass in ihm noch Saft steckt. Es bebte, und wie. Menschen flohen aus der Stadt, es rüttelte über Tage und Wochen, die Nächte wurden kurz – aber niemand starb. Und der Wind blies weiter, der gemeine und berüchtigte Wind Wellingtons. Schlechteres kann man über die kleine, feine Hauptstadt nicht sagen, die man schon deshalb mögen muss, weil sie sich gegen den aufgeblasenen Bruder im Norden behaupten muss.

Auckland hat zwar wärmeres Klima und schöne Strände, aber an sowas will man bei uns in Christchurch lieber gar nicht denken, während man um diese Jahreszeit durch Pfützen und Baustellen stapft. Irgendwo müssen die teuer erarbeiteten Spray-Tans, Wadentattoos und nachgearbeiteten Brüste da oben in den Subtropen ja auch zur Geltung kommen. Es kann sich doch nicht nur alles ums Dichten und Denken drehen. Oder ums Renovieren.

Andere Städte haben andere Sorgen. Palmerston North zum Beispiel will sich in Manawatu City umbenennen. Denn Lord Palmerston selig, nach dem das Großkaff einst benannt wurde, hat es nie von England bis dorthin geschafft. Monty-Python-Star John Cleese hatte zudem eine „zutiefst miserable Zeit“ im unspektakulären ‚Palmy‘ verlebt. Da gilt es einiges wettzumachen. Und dann gibt es da noch ein fast unbekanntes Palmerston auf der Südinsel, das ständig mit dem nördlichen verwechselt wird. Manawatu bedeutet jedoch „Das Herz steht still“, was in der Debatte um Leben und Sterben der Städte problematisch sein könnte.

Überhaupt, diese Ortsnamen! Die schöne Gegend namens Poverty Bay („Bucht der Armut“) nahe Gisborne wollen Lokalpolitiker lieber in Oneroa oder Long Bay umtaufen. Ein PR-Desaster sei der jetzige Zustand, denn der Blick auf die Landkarte suggeriere Not und Elend. Das haben sie in der hübsch klingenden Golden Bay besser hingekriegt. Der Norden der Südinsel hieß anfangs „Murderers Bay“, weil Entdecker Abel Tasman sich dort 1642 ein kleines Gemetzel mit den Maori lieferte. Kaum vorzustellen, wie verheerend sich die Mord-Bucht heute auf das Backpacker-Geschäft auswirken würde.

Wenn wir schon bei Worten sind, die kleine Städte in Verruf bringen können, dann sollte man unbedingt über Städteslogans reden. Also die peinlichen. Aber die sind ein Kapitel für sich. Das dann ein anderes Mal, wenn ich bis dahin nicht an Standortschwäche gestorben bin.

 

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Die Informationsverhinderer

Es soll in dem Artikel nur um Spirituosen gehen, nicht um nukleares Material. Ich will kein Interview mit dem französischen Präsidenten, sondern nur ein paar Informationen über Schnäpse und Märkte. Zehn Minuten Telefongespräch würden reichen, um meine Fragen klären zu können.

Tag eins, vormittags am Telefon. „Allô?“, sagt die Mitarbeiterin in der Pressestelle des internationalen Spirituosenkonzerns mit Hauptsitz in Paris. Ich stelle mich vor und erkläre, worum es geht. Es folgt die übliche erste Hürde: Ich solle mein Anliegen per Mail an die Pressechefin senden. Die würde sich dann melden. Ich ahne, dass die Presseabteilung und ich in den kommenden Tagen eine spannende Zeit miteinander haben werden.

Die Zeit vergeht. Journalisten sind leider anstrengende Leute. Denn sie wollen Informationen meistens recht schnell. Aber es gibt nun mal Redaktionsschlüsse, Abgabefristen und Arbeitsdruck. Journalisten müssen recht schnell wissen, welche Quellen ihnen zur Verfügung stehen – denn davon hängt es ab, ob der Artikel geschrieben werden kann.

Am Nachmittag rufe ich noch mal an. „Allô?“ Eine andere Dame, die weder den Namen des Unternehmens sagt, noch ihren. Ich erkläre, dass ich schon einmal angerufen habe und dass es um Informationen für einen Artikel geht. Sie fragt, ob ich den Artikel schicken wolle, damit die Pressestelle ihn gegenliest. Ich bin sprachlos – sage, dass das nicht üblich ist. „Ihre Pressesprecherin wollte mich zurückrufen“, sage ich. „Sagen Sie mir Ihren Namen, ich werde ihr Bescheid geben“, sagt sie.

Tag zwei. Ich warte bis zum späten Vormittag. Kein Rückruf, nirgends. Also rufe ich an. Jetzt ist die Sprecherin selbst am Telefon. Oui, pardon, sagt sie, sie sei im Stress, sie habe noch mit der Jahresbilanz zu tun. (Die ist bereits vor einer Woche bei einer Pressekonferenz veröffentlicht worden.) Sie sucht meine Mail. Es dauert. Sie liest mir meine Mail vor. Ob ich für meine Fragen einen Ansprechpartner oder von ihr die Informationen bekommen könnte. „Ich werde Sie per Mail auf dem Laufenden halten“, sagt sie. Sie sagt nicht: Wir melden uns so schnell wie möglich. Das ist immerhin ehrlich. Denn diese Phrase würde übersetzt bedeuten: Wir melden uns, wann wir wollen. Und wenn wir wissen, was wir sagen wollen und was nicht.

Tatsächlich kommt eine Stunde später eine Mail. Inhalt: Nichts anderes als ein Link zum Jahresbilanz-Vortrag vor einer Woche. Den kenne ich schon von der Homepage des Unternehmens. Ein Gespräch? Fehlanzeige. So schön Mails in dieser Welt oft sind – hier sind sie ein perfides Werkzeug, um Journalisten auf der Jagd nach Informationen auf Abstand zu halten. In einem Gespräch könnte man ja Fragen gestellt bekommen, die man nicht gleich beantworten kann oder gar welche, die kritisch sind. Dann doch lieber einfach einen Link schicken. Will heißen: Such, Journalist, such selber! Such in den 88 Seiten, ob da drin ist, was Du brauchst! Wenn es nicht drin ist, hast Du Pech gehabt. Am Ende der Mail schließlich noch der Hinweis, dass ich mich für Fragen zum deutschen Markt an die Kollegin in Deutschland wenden solle.

Ich gebe nicht auf und antworte der Dame. Bedanke mich, aber bitte noch um Auskunft zu ein paar Fragen, deren Antwort nicht in dem Online-Pressematerial steht. Zwei Stunden später der karge Hinweis per Mail: Wie sie doch bereits geschrieben habe, solle ich mich an die deutschen Kollegen wenden. Am Ende ein höfliches „bien cordialement“. Man wahrt die Form statt ehrlich zu schreiben: Journalist, lass mich in Ruhe.

Tage später erreiche ich die deutsche Kollegin des Konzerns, die wegen einer Jahrestagung mehrere Tage nicht erreichbar war. „Ja, ich wollte sie auch gerade anrufen“, sagt sie. Wir reden zehn Minuten, in denen sich schon einige meiner Fragen klären lassen. Und einen Tag später habe ich dann schriftliche Antworten auf meine gestellten Fragen. Es geht eben auch anders. Bei einer letzten Nachfrage zum französischen Markt werde ich höflich an die Kollegin in Paris verwiesen. Das stimmt mich heiter.

„Service de presse“ heißen in Frankreich die Presseabteilungen. Bei Service darf man nicht an Service, Bedienung oder Auskunftshilfe denken, oft ist das Gegenteil der Fall. Die Franzosen, sonst Meister der Unterhaltung und Rhetorik, sind in Pressestellen sehr oft nicht mehr wiederzuerkennen: abweisend, hierarchieängstlich, arrogant. Wenn man Pressesprecher nicht schon mal vorher auf einem Pressetermin getroffen hat, mit ihnen vielleicht ein Glas getrunken hat, dann prallt man oft an ihnen ab wie ein Tropfen an einer Scheibe. Dabei könnte man vermuten, dass Pressestellen von Unternehmen Medienanfragen aufmerksam bearbeiten oder gar schätzen: Zum einen müssten sie interessiert sein, dass keine falschen Daten veröffentlicht werden. Zum anderen könnte es ja sein, dass der Artikel über ihre Produkte indirekt auch einen positiven Werbeeffekt für sie hat.

Das ist Alltag für viele Journalisten in Frankreich. Französische Pressestellen sind leider oft professionelle Informationsverhinderungsstellen.

 

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Mindestlohn Japan: Hello Work, Robot Cafe und Tepco

First Lady Eleanor Roosevelt hatte recht: Verdammt, wenn du’s tust, verdammt, wenn nicht. Bleibt der Mindestlohn gleich, fressen ihn nächstes Jahr Mehrwertsteuererhöhung, steigende Energie- und Sozialkosten auf. Verteilt Premierminister Shinzo Abe die Brosamen am Ende der Nahrungskette zu grosszügig, riskiert er den Verlust seiner Power Base – Japans Wirtschaftskapitäne. Nun sind 2 Prozent Erhöhung angedacht. Der landesweite Durchschnitt (es gibt regionale Unterschiede) beträgt dann 763 Yen/5.80 Euro pro Stunde (Umrechnungskurs 1€=130Yen).

Wie lebt man in der Welt des Minimums? Yumi Kimura, 32, (Name gändert) erzählt:

Robot Cafe Tokyo

VIDEO: Roland besucht Robot Cafe (nicht ganz am Ende der Nahrungskette)

Ich bin ausgebildete Grafikerin, ledig und seit zwei Jahren arbeitslos. Der Boss meiner Firma war eines Tages verschwunden. Seitdem gehe ich regelmässig zu „Hello Work“, so heisst in Japan das Arbeitsamt. Dort sitzen viele, die selber einmal arbeitslos waren und zu Hello Work gegangen sind. Sie arbeiten für die Stadt und deshalb nur von acht bis fünf. Sind sie krank, können sie zu Hause bleiben. Bei Privatfirmen ist das schwierig. Zudem arbeitest du dort jeden Tag unbezahlt vier, fünf Überstunden. Fahrkosten übernimmt der Betrieb.

Nach jeder Jobvermittlung von Hello Work gibt es ein Vorstellungsgespräch. Die Fragen sind immer gleich. Was haben Sie studiert, wer sind Ihre Eltern, was haben Sie vorher gemacht, was ist Ihr Lieblingshobby? Nur einmal war ich überrascht, als der Personalchef fragte: „Was würden Sie tun, wenn neben Ihnen im Büro jemand ausflippt, agressiv wird, attackiert?“ Ich habe gesagt, ich war noch nie in so einer Situation, gehe aber oft zu Parties mit Ausländern, und mit denen komme ich immer klar.“ Der Personalchef hat wissend genickt. „Ach so, wenn Sie mit Ausländern umgehen können, ja dann…“

Die meisten Hello Work Berater engagieren sich, sind freundlich. Es gibt aber immer welche, die werfen dir ein Magazin mit Jobangeboten auf den Tisch. Und das war‘s. Die vermittelten Jobs zahlen etwas mehr als den Mindestlohn, dauern zwei, drei Monate. Für diese Teilzeitarbeit sagen wir alubaito, haben das Wort aus dem Deutschen übernommen. Eine Statistik behauptet, dass 40 Prozent der Japaner von arubaito leben. Ich denke dann an meine Freundinnen. Sie wohnen bei den Eltern oder bei den Eltern vom Mann und leben von deren Ersparnissen. Hello Work bietet auch Ausbildingskurse an: Massage, Kosmetik, Haarbehandlung, Blumenarrangieren – kannst du alles nicht brauchen, ausser zum Zeittotschlagen.

Einmal fragten sie mich bei Hello Work, wo ich die letzten drei Monate war. Und ich habe geantwortet, ich wollte über mein Leben nachdenken, wollte Ruhe. Die Beraterin hat geschwiegen, was sollte sie auch sagen, war sicher selber mit dieser Frage beschäftigt. Dass ich im Robot Cafe im Rotlichtviertel von Shinjuku aufgetreten bin, habe ich verschwiegen, obwohl das kein Sexklub ist, sondern ein Theater mit Manga-inspirierten Shows – für Angestellte nach der Arbeit, für Männer, Frauen und Touristen. Jeden Abend gibt es drei Vorstellungen, dauern insgesamt drei Stunden. Ich musste winken, tanzen, lachen, schlank sein – das war alles. Ich habe einen schillernden Bikini getragen, bin mit riesigen Robotern herumspaziert, auf einem Panzer gesessen und habe 76€ die Stunde erhalten. Gäste durften uns nicht berühren, Hande schütteln war Ok. Zum Abschluss sassen wir immer auf einem Sessellift und schwebten über den Köpfen der Besucher. Das hat mich etwas an eine Fleischfabrik erinnert, mit Haken am Fliessband. Nach drei Monaten kam ein jüngeres, schlankeres Girl, und so bin ich wieder zu Hello Work.

Für meine 20 Quadratmeter-Wohnung mit Dusche, Toilette und Kochnische zahle ich 650€. Ein ehemaliger Arbeitskollege übernachtet dagegen seit Monaten im Internet-Cafe. Es gibt dort Duschen, Computerkojen und du darfst unter dem Tisch schlafen. Sex ist aber nicht erlaubt.

Einmal vermittelte mir eine Privatagentur einen streng geheimen Job. Als er zu Ende war, ging ich zu Hello Work. Wie immer wollte die Beraterin wissen, wie das Arbeitsklima gewesen sei. „Streng geheim,“ habe ich gesagt. „ Ich musste im Regierungsviertel eine Geheimhaltungspflicht unterschreiben!“ Die Hello Workerin hat nicht weiter nachgefragt. Der Geheimjob war im Abrechnungszentrum der Tokyo Electric Power Corporation, wo ich Belege für Schadensansprüche überprüfte. 8 Uhr abends bis 6 Uhr früh. In der Halle sassen tausend Menschen. Unsere Mobiltelefone mussten wir in Schliessfächern deponieren, Privatsachen durften wir zum Arbeitsplatz mitnehmen – in durchsichtigen Plastiktüten. Die tausend Mindestlohnmenschen haben alle nicht gesprochen. Es war totenstill. Und wenn ich auf die Toilette wollte, bin ich aufgestanden, habe den Arm nach oben gestreckt und gewartet, bis der Grupplenleiter kam. Ich teilte ihm den Wunsch mit und durfte zur Toilette. Wir mussten Zahlungsquittungen der Atomflüchtlinge prüfen und speichern. Kühlschrank, Futon, Staubsauger, Decken, Kinderspielzeug – das war alles Ok, wurde rückerstattet, aber nicht 55-Zoll-Bildschirme.

Mein Gruppenleiter hiess Murata. Bei Fragen setzte er sich zu mir, mit einem abstehenden kleinen Finger, was mir zunächst nicht auffiel. Wenn er sich aber zum Bildschirm vorbeugte, drückte der Finger gegen meine Hüfte. Ich dachte, vielleicht ist er gelähmt oder so. Am nächsten Tag sass Murata wieder neben mir und legte die Hand auf meinen Oberschenkel. Ich habe ganz laut gesagt: „Murata-san!“ In der totstillen Halle haben alle tausend Menschen auf mich gestarrt. Murata ist aufgestanden und kam nie wieder.

Ein paar Monate später, ich war schon wieder woanders beschäftigt, bekam ich morgens einen Anruf von der Polizei. „Sind Sie Yumi-san?“ Das hat mich irritiert, denn in Japan wirst du nur mit Familiennamen angesprochen. Der Mann stellte sich als Inspektor vor. „Wir haben Ihren Vornamen gefunden mit Telfonnummer, im Notizbuch von einem Herrn Murata. Kennen Sie Herrn Murata? Und warum hat er Ihre Telefonnummer?“ Wieder habe ich gezögert. Wer ist Murata? Und dann fiel mir der Gruppenleiter ein. „Ja, er war mein Vorgesetzter bei Tepco. Für den Notfall haben dort alle die Telefonnummern der Angestellten“, habe ich gesagt, und dabei vergessen, dass die Sache streng geheim ist. Der Inspektor erklärte, dass Herr Murata in der U-Bahn verhaftet worden sei. „Hat er sich Ihnen gegenüber auffällig verhalten?“ wollte er wissen. „Chotto, ein wenig“, habe ich gesagt. „Sonst noch etwas?“ „Nein, sonst nichts“, habe ich geantwortet und dann hat er aufgelegt.

 

 

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Bayern – mitten in Washington State

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Der Reiseführer hatte gewarnt. „In the region is the Bavarian lookalike town of Leavenworth…People come from all over the country to see the spectacle“. Es klang nach einer Art Disneyland, nach Brezelbuden und Achterbahn mit Zwiebeltürmchen. Wenn man zum ersten Mal in Washington State unterwegs ist, muss man sich so einen Kitsch wirklich nicht antun, dachte ich. Aber dann war der Highway, den ich nehmen wollte, wegen eines Erdrutschs gesperrt, und so kam ich doch noch nach Leavenworth.

 

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Es muss recht harmlos begonnen haben, in den 1960er Jahren, als sich die Kleinstadt zusätzliche Einnahmequellen jenseits von Holz- und Landwirtschaft erschließen wollte. Pauline und Owen Watson, die einen kleinen Laden an der Hauptstraße betrieben, hatten Solvang besucht, eine kalifornische Siedlung, die dänische Einwanderer zu einem Mini-Kopenhagen umgebaut haben. Das Modell leuchtete den Watsons ein. Flugs wurde ein Komitee gegründet namens LIFE – Leavenworth Improvement For Everyone – und die Umwidmung der Stadt erörtert. Dabei kam heraus, dass sich die Bergstadt Leavenworth viel besser mit Weißwurst und Fachwerk vermarkten lässt als mit kleiner Meerjungfrau und Andersens Märchen. Der Stadtumbau wurde begonnen.

 

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Seit damals hat Leavenworth als bayerische Alpenstadt ein beachtliche Authentizität erreicht. Von wegen Achterbahn und Brezelbuden: Dies ist kein Vergnügungspark. Die komplette Innenstadt wurde als Kreuzung von Mittenwald und Berchtesgarden neu geboren, mit hölzernen Balkons, Fassadenmalerei, einschlägigen Restaurants, Biergärten, Kutschen und einem Nussknackermuseum. Viele Einwohner kleiden sich in Dirndl und Lederhosn. Auch einen Maibaum gibt es und im Herbst, natürlich, ein Oktoberfest.

 

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Sogar die Lokalzeitung hat sich dem Stil angepasst: Sie heißt „The Leavenworth Echo“ und trägt im Logo ein Edelweiß sowie einen Alphornbläser in Lederhosn.

Es ist eine so perfekte Verwandlung, dass ich mich unwirklich fühlte, wie in einem Film. Ich wusste, dass ich mich im Nordwesten der USA befand, unweit von Seattle, in einem Ort, in dem ich nie zuvor gewesen war. Gleichzeitig wurde ich Opfer der Illusion; eine Stimme in meinem Inneren flüsterte mir unablässig zu: Du kennst das hier!

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Kommerziell ist die Transformation von Leavenworth ein großer Erfolg. In dem 2000-Einwohner-Ort gibt es heute mehr als hundert Hotels und dutzende „uriger“ Gaststätten.

Die Transformation wirft Fragen von weitreichender Bedeutung auf. Ist bayerischer Kitsch weniger schlimm, wenn er in Mittenwald stattfindet als in Leavenworth? Kann die Kopie einer Lebensart besser sein als ihr Original? Sollte Bayern sein Kulturgut urheberrechtlich schützen lassen, und müsste Leavenworth dann Lizenzgebühren zahlen? Deutet sich hier womöglich sogar ein ganz neuer Ansatz zur Lösung der europäischen Krise an – ein Kompletttransfer der Akropolis ins Niemandsland von Nevada oder der spanischen Alhambra nach Idaho?

Fotos: Christine Mattauch

 

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Der Rockstar aus dem Weltall

Musik und Geschichten aus dem Weltall – Chris Hadfield hat viel zu bieten. Der singende und tweetende kanadische Raumfahrer fasziniert sein Publikum. Auf dem Folk Festival in der kanadischen Hauptstadt Ottawa war er jetzt einer der Stars. Gebannt folgten die Zuhörer seinen Berichten, seinen Liedern und seinem Gitarrenspiel.

 

Der 54-jährige schnauzbärtige Kanadier ist zweifellos als einer der schillerndsten Astronauten in die Geschichte der Raumfahrt eingegangen. Er hat berühmtere Kollegen, die so manchen „ersten Schritt“ machten – als erste die Erde umkreisten, das Raumschiff verließen oder den Mond betraten. Aber in Zeiten, in denen Daueraufenthalte im All nur bei Start und Landungen und Problemen an Bord des Raumschiffs Meldungen produzieren, schaffte er es als Kommandant der Internationalen Raumstation ISS, Menschen in aller Welt mit Tweets, Fotos, Songs und Lehrstunden aus dem All zu begeistern. Seine Version von David Bowie´s „Space Oddity“, bei der er mit Gitarre durch die ISS schwebt, wurde auf YouTube mehr als 17 Millionen Mal angeklickt.

 

Daher war es nicht verwunderlich, dass sein als “Workshop” und “Interview” bezeichneter Auftritt beim Ottawa Folk Festival so starkes Interesse fand. Erwartet worden war eigentlich ein stärker wortbetonter Auftritt des Starastronauten. Umso erfreuter waren die Folk-Fans, dass Hadfield so oft zur Gitarre griff.

 

In einem Lied für seine Tochter, das er in der Internationalen Raumstation komponierte, singt Chris Hadfield: „Ich war zu lange weg. Ich komme nach Hause.“ Nun ist er zu Hause. Die kanadische Weltraumagentur hat er verlassen. Jetzt ist er der „Ex-Astronaut“. Raumfahrer, Ingenieur, Vortragsreisender, Rockstar – auf das Ottawa Folkfest kam er als der Rockstar. Seine Stimme ist noch weitaus beeindruckender als bei der Präsentation von „Space Oddity“. Zusammen mit seinem Bruder Dave und dem kanadischen Musiker Danny Michel trägt er seine Lieder vor, manche melancholisch-weich, andere rockig-hart.

 

„Space and Music“ – so war Hadfields Auftritt angekündigt worden. Vom ersten Moment hat Hadfield den Draht zum Publikum gefunden. Mit seinem Lächeln, seinem Humor und seiner Ungezwungenheit nimmt er die Menschen für sich ein. Die Zuhörer haben ohnehin das Gefühl, dass Hadfield einer der ihren ist. Sie kennen ihn ja genau. Auch das ist eine Folge seiner Präsenz in Social Media. Viele Kinder, die vor ihm auf der Wiese sitzen, haben über Monate seine Reise verfolgt.

 

Sie scheuen sich nicht, Fragen zu stellen. Ob er damit gerechnet habe, dass ihm so viele Millionen Menschen folgen werden, will ein Mädchen wissen, das sich aus Sympathie mit Hadfield einen Schnurrbart ins Gesicht geklebt hat. Neun Jahre alt sei er gewesen, als bei ihm der Wunsch wach wurde Astronaut zu werden, „und mein Schnurrbart war damals viel dünner als Deiner“, sagt er dem Mädchen lachend. Die erste Mondlandung, die er 1969 als Neunjähriger gesehen hatte, hatte ihn inspiriert. Er hat sich seinen Traum erfüllt, und nun ist er glücklich „diese Momente mit Menschen in aller Welt zu teilen“.

 

Sieht er die Erde nach seinen drei Weltraumreisen anders? 2300 Mal hat Hadfield auf seinem letzten Flug die Erde umkreist, 16 Mal pro Tag. „Das erste, was du machst, nachdem du dich übergeben hast, du gehst zum Fenster und schaust auf die Erde“, erzählt er. Er sah die kanadischen Städte, aber dann auch Städte, die er nicht kannte, und die aus dem All alle ähnlich aussehen. Dieses Muster zeige ihm, „dass überall wundervolle Menschen leben“ und „Menschen, die glücklich sein wollen“.

 

Zur Ausrüstung in der Raumstation gehört ein Gitarre – „dauerhaft“, sagt Hadfield, denn es gebe viele Astronauten, die gerne Gitarre spielen und singen. Musik und All, das ist für ihn kein Gegensatz. Vor einigen Jahren habe er die 15.000 Jahre alten Höhlenmalereien in Südfrankreich gesehen und gehört, dass Archäologen bei Ausgrabungen eine mehrere Zehntausend Jahre alte Flöte gefunden haben, die aus einem Knochen hergestellt wurde. „Musik ist etwas Grundlegendes für die Menschheit“, sagt Hadfield, und Musik auf die „nächste Stufe“, in die Raumstation zu bringen, nichts Ungewöhnliches, sondern eine Notwendigkeit.

 

Seine Raumfahrerkarriere hat Hadfield beendet. Ob er den Weltraum vermisst? Hadfield ist glücklich, dass er dreimal ins Mall fliegen durfte – 1995 zur russischen Raumstation Mir und 2001 und 2012 zur ISS – und zuletzt sogar Kommandant der ISS war. Er habe niemals Vergangenem nachgetrauert. „Rückwärts zu blicken ist nicht mein Ding“, sagt er. „Das Leben ist voller Möglichkeiten.“

 

Was er machen wird, darüber hüllt er sich in Schweigen. Vermutlich hat er mehr Einladungen, als Redner aufzutreten, als er annehmen kann. Ein Buch über seine Erfahrungen ist in Vorbereitung. Einer seiner Kollegen, Kanadas erster Astronaut Marc Garneau, ist in die Politik gegangen und ist für die Liberalen Mitglied des Bundesparlaments. Politiker, die Charme besitzen und Wärme ausstrahlen, sind auch in Kanada Mangelware. Vor allem aber ist Chris Hadfield Berufsoptimist. „Wenn man sich auf einer Rakete ins All schießen lässt, muss man Optimist sein“, sagt er, greift zur Gitarre und singt das Lied vom Ritt auf dem Feuerstrahl – „Ride the Lightning“.

 

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Syrisches Frühstück im kalifornischen Canyon

Sama Wareh vor ihrem Studio

Sama Wareh vor ihrem Studio

Die Wegbeschreibung von Sama Wareh hörte sich nach einem wunderbaren Abenteuer an. Schon die Adresse klang verlockend: Silverado Canyon. Ich sollte über eine kleine Brücke fahren, vorbei an einem Fels mit vier Streifen und schließlich gegenüber einer großen rotgestrichenen Scheune parken. Ich verfuhr mich nur einmal auf dem Weg gen Süden von Los Angeles und wurde am Ziel mit einer warmherzigen Umarmung und einem wunderbaren Frühstück empfangen: Sama hatte einen Tomaten-Bohnensalat, Knoblauchkäse mit Minze und Olivenöl, Pitabrot und andere Leckereien zu einem kleinen Festmahl im Schatten einer großen Eiche ausgebreitet. Dazu servierte sie gesüßten Tee aus Glastassen. Die in Kalifornien geborene Tochter von syrischen Einwanderern erklärte mir, warum es so wichtig ist, den Tee zu sehen, das gehöre zum Genuss dazu. Ich konnte mich nicht gut konzentrieren: Samas brauner Cowboyhut über einem locker um Kopf und Hals gebundenen lila Palästinenserschal mit angehängter Feder und Perlen, ihre hohen Schnürstiefel über engen lila Jeans entsprachen nicht den Erwartungen, mit denen ich zu diesem Interview einer Künstlerin mit Familie in Damaskus gefahren war. Bis ich Sama sah war mir nicht einmal bewusst, dass ich Erwartungen hatte. Ich wusste nur, dass sie auf eigene Faust mit Rucksack, Erspartem und Erlösen aus dem Verkauf ihres Motorrads und ihrer Kunst in die Türkei geflogen war um dort Flüchtlingen aus Syrien zu helfen. Tränen treten der 30 Jahre alten Künstlerin in die Augen, wenn sie von den Begegnungen erzählt: vom Leben der Familien ohne Möbel und Heizung in Kellern ohne Fenster und von Gastfreundschaft unter ärmsten Umständen. Am stärksten ist ihr ein Fahrer in Erinnerung, der sie in ein Lager an der Grenze brachte. “Er hat seine tote Tochter aus den Ruinen seines Hauses geholt und pendelt nun zwischen Syrien und der Türkei, um Verletzte und Obdachlose über die Grenze zu bringen.” Das Foto seiner Tochter ist auf dem Handy immer dabei.
Samas Kunst beschäftigte sich bis zur Reise an die Grenze nicht mit Politik. Sie findet Gemeinsamkeiten zwischen alten Kulturen, zum Beispiel in ihrer Serie “Beduine trifft Indianer”. Jetzt ruft sie in Gemälden zu Frieden, Menschlichkeit und Vergebung auf. In Nachrichten auf facebook warnt sie Freunde und Verwandte in Syrien davor, in Hass, Rachelust und Animosität gegenüber anderen Sekten, Religionen oder Kulturen zu verfallen. Sie weiß, dass das aus der Entfernung leichter gesagt als vor Ort getan ist. Die aktuelle Politik macht sie ratlos und misstrauisch. Deshalb wird sie sich im November wieder selbständig auf den Weg machen, den Cowboyhut über dem Kopftuch, mit Rucksack und hohen Stiefeln. Um Spenden für die Reise zu sammeln wird sie im Gemeindehaus ihres Canyondorfes bei syrischem Frühstück ihre Kunst verkaufen. “Ich möchte den Flüchtlingen zeigen, dass sie nicht vergessen sind.”

 

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Etappensieg für die Pressefreiheit

Er hat nicht unterschrieben. Bravo! Südafrikas Präsident Jacob Zuma hat ein Gesetz zurück ans Parlament geschickt, gegen das Journalisten und Bürgerrechtler hier am Kap jetzt schon seit Jahren kämpfen. Das „Gesetz zum Schutz staatlicher Information“, in Südafrika besser bekannt als „Secrecy Bill“, frei übersetzt Geheimhaltungsgesetz. Denn mit diesem Gesetz hätten investigativen Journalisten und Whistleblowern drakonische Strafen gedroht, das Recht der Bürger auf Information hätte drastisch und willkürlich beschnitten werden können, Behörden hätten korrupte Machenschaften spielend vertuschen können – um nur einige der Einwände zu umreißen. Die Liste ist noch viel, viel länger. All das ist so gar nicht im Sinne der südafrikanischen Verfassung, die als eine der liberalsten der Welt gilt und Presse- und Meinungsfreiheit groß schreibt. Doch was gelten heute die Ideale des Freiheitskampfes, das Vermächtnis Nelson Mandelas. Der ANC blieb stur.

Trotz aller Kritik hatte die Regierungspartei den Gesetzentwurf mit überwältigender Mehrheit vom Parlament verabschieden lassen. Daher ist es jetzt umso köstlicher, dass ausgerechnet Jacob Zuma die Reißleine zieht. Teile des Gesetzentwurfs entbehrten jeden Inhalts, seien unstimmig, ja irrational und seien daher verfassungswidrig, sagte er gestern vor Journalisten. Da zergeht jedes einzelne Wort auf der Zunge. Zwar konnte Zuma nicht begründen, was genau er ändern lassen möchte. Schwamm drüber. Die Entscheidung hat er wohl nicht selbst gefällt, sondern seine juristischen Berater. Denn das Gesetz hätte in dieser Form niemals einer Verfassungsklage standgehalten und genau damit hatten die Gegner gedroht. Damit ist der Kampf für alle, die in Südafrika noch an Pressefreiheit und Bürgerrechte glauben noch nicht vorbei. Es ist unklar, ob die Abgeordneten jetzt zum x-ten Mal einzelne Passagen ändern, oder das Gesetz ganz in die Tonne treten. Aber erstmal ist es ein wichtiger Etappensieg. Glückwunsch!

 

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Olympiastadt Tokio 2020: Meine fünf Wünsche

Das Kaiserreich ist ausgelaugt. Fukushima strahlt. China schikaniert. Und der nationalgesinnte Premier Shinzo Abe will sein Land reformieren. Da kommt die Entscheidung des Olympischen Komitees wie gerufen. Nippon gambare! Viel Glück! Es geht aufwärts. Auch ich bin begeistert. Wird die 35-Millionen-Metropole ihre Urbanität überarbeiten, wie damals bei den Spielen 1964? Querdenker Kenzo Tange baute das olympische Stadion im Yoyogi Park, brachte Aufbruch, Hoffnung und Vision zum Ausdruck. Seine Kollegen, die „Metabolisten“, experimentierten ebenfalls mit radikalen Bauten: Städte im Meer, Wolkenkratzer mit Wäldern, transportable Apartments – alles ohne Computer. Die kreative Atmosphäre war geladen, ansteckend, berauschend. So was wünsche ich mir für 2020. Nicht nur in Japan.

Nach der Olympiade 1964 rückte das Inselreich zur Weltwirtschaftsmacht Nummer zwei auf. Seit den 90er Jahren aber siecht das Land dahin. Selbstvertrauen fehlt. Die Vision ist fern oder fort für immer. Soll deshalb die in Bagdat geborene und in London arbeitenden Stararchitektin Zaha Hadid das Olympia Stadion bauen? Futuristisch und Blade-Runner-isch sehen die Entwürfe aus, tragen Hadids charakteristische – nicht von Hand gezeichnete – Handschrift: Schleimige Flocken und Windkanalkreationen. Dabei hätte Japan genug eigene international anerkannte Form- und Vorausdenker. Allein in den letzten vier Jahren wurden drei Tokioter mit dem Pritzker Architekturpreis geehrt. Hadid erhielt als erste Frau diese Auszeichnung. Doch für die Olympiade 2020 ist die Exil-Irakerin eine Fehlbesetzung. Ich wünsche mir stattdessen einen japanischen Architekten.

Olympic stadion tokyo zaha hadid und mein studio

Die Entscheidung des IOC für 2020 ist keine Überraschung. Die geheimnistuerischen Vereinsmitglieder mit Weltrepräsentanz-Anspruch bestehen zu 13% aus Euro-Adel und Scharia-Scheichen. Die schütteln keine Bäume, wo alte Äpfel fallen könnten – wie nach einem arabischen Frühling. Sie gehen auf Nummer sicher. Natürlich wäre es ein tolles Experiment gewesen, die Spiele zum ersten Mal in einem islamischen Land abzuwickeln (Ob IOC Mitglied Prinz Nawaf bin Faisal bin Fahd bin Abdulaziz al Saud wohl dafür gestimmt hat?) Aber – Oh Inschallah! Wer weiss, was im nahen Aleppo und Homs noch passiert. Und dass die Hälfte der spanischen Jugend arbeitslos ist, diese Lunte haben IOC Vertreter nicht nur gerochen, sie haben sich das Pulverfass auch schillernd ausgemalt. Und deshalb diese Runde an Japan, eine Wirtschaftsmacht mit der politisch desinteressiertesten Bevölkerung der Welt. Zankfrei ist sie, harmonisch und Unruhe-immun. Die Insel ist zudem hermetisch abgeriegelt, fotografiert Einreisende und speichert deren Fingerabdrücke. Ich wünsche mir, dass sich bis 2020 die EU nicht nur zur Reziprozität bekennt, sondern auch praktiziert. Solange (zum Beispiel) Amerikaner und Japaner Europäer an ihren Grenzen fotografieren und deren Fingerabdrücke sammeln, solange sollen sich Amerikaner und Japaner an europäischen Grenzen separat anstellen, um sich der gleichen Prozedur zu unterziehen. Ach ja, und ein japanischer Edward Snowden könnte bis 2020 auch nicht schaden.

Zur Erinnerung: 4.4 Millionen Bestechungsdollar gingen 1997 an einzelne IOC Mitglieder auf Besuch in Nagano. Nicht dass Tokio diesmal unter ähnlichen Voraussetzungen zum Zug gekommen wäre. Für den Fall des olympischen Falles hatten die Japaner jedoch seit Jahren 4.5 Milliarden Dollar eingebunkert. Das überzeugt. Sie können morgen bauen, müssen nicht wie Spanier zuerst sammeln gehen. Ich wünsche mir, dass bis 2020 die Vereinten Nationen zwei permanente Orte für die olympischen Spiele finden, einen für den Winter, einen für den Sommer. Dann gibt es kein Länderaustrixen mehr und die Finanzen werden transparenter.

Ich nehme Premier Shinzo Abe beim Wort, dass die Strahlenwerte in Tokio die gleichen sind wie in Berlin und New York. Die lokalen Auswirkungen von Fukushima, das komplexe Zusammenspiel von lecken Tanks, Kühlwasser im Grundwasser, Strahlenpartikel, China-Syndrom – das alles entzieht sich meinem Verständnis und dem der Experten. Hinzu kommt die Sorge um das nächste grosse Beben entlang des Nankai-Grabens. Es wird die Hälfte Japans erschüttern. Es wird vermutlich 330.000 Tote fordern. Es wird zu 70% in den nächsten dreissig Jahren stattfinden. Ich wünsche mir bis 2020 kein grosses Erdbeben.

 

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Nummernschilder zu vermieten – oder auch nicht

Gerade letzte Woche habe ich sie wieder bekommen, die SMS: Lieber Kunde, leider haben Sie auch dieses Mal wieder nicht in der Lotterie gewonnen. Schade. Zwar gehts nicht um entgagene Millionen – sondern nur um ein entgagenes Nummernschild. Doch ohne Nummernschild gibts kein Auto in Peking. Seit einem Jahr landet mein Name jeden Monat mit Hunderttausenden anderer Führerscheinbesitzer der Hauptstadt in einem Topf, und nur 20.000 werden gezogen. Unbestreitbar eine nötige Maßnahme, auch wenn ich dadurch statistisch gesehen wohl noch ein paar Jahre warten muss. Mehr als fünf Milliionen Autos schieben sich durch Peking, es herrscht seit Jahren Dauerstau. Von der Luft ganz zu schweigen. Und das Los ist zumindest von der Idee her demokratisch. In Shanghai dagegen werden Nummernschilder versteigert und kosten mittlerweile umgerechnet 100.000 Euro. Mehr als viele Automobilmodelle.

 

Begehrtes Objekt: Pekinger Nummernschild

Begehrtes Objekt: Pekinger Nummernschild

 

Dass man aber auch in Peking Geld mit Nummernschildern verdienen konnte, zeigte “Tante Wang”, deren illegales Geschäft vor ein paar Tagen aufflog: Wang Xiuxia vermietete mehr als 1000 Nummernschilder, die sie allesamt vor Einführung der Nummernschild-Lotterie Ende 2010 erworben hatte. Offenbar hatte sie sie jahrelang gehortet. Die Dame aus Pekings Nachbarstadt Tianjin hatte schon 2005 zugeschlagen, nachdem ein Verbot für Nicht-Pekinger aufgehoben wurde, Autos in Peking zu registrieren. Die Schilder kosteten nichts, sondern waren wie in Deutschland mit der Anmeldung verbunden, und man zahlte dann eben Kfz-Steuer. Wie Frau Wang N 1000 Schilder kam, ist noch unbekannt. Aber als die Lotterie startete, witterte sie das große Geld. Und alles ging gut. Bis einer ihrer “Mieter” mit dem auf ihren Namen laufenden Fahrzeug einen Unfall verursachte und Fahrerflucht beging. Offenbar hatte aber der Geschädigte das Nummernschild aufgeschrieben. Clever – und Pech für Frau Wang, die angeblich bis dahin eine MIllion Euro mit dem Schilderbusiness verdient hatte. “Ich habe für 10.000 Yuan auf Lebenszeit ein Nummernschild gemietet”, erklärte ein namenloser Fahrer lokalen Medien (wo auch immer diese den Mann aufgetrieben haben).
Nun also ist Schluss mit lustig. Die Verkehrsbehörde erklärte alle 1000 Nummernschilder für ungültig. Parallel dazu gab die Stadtregierung diese Woche bekannt, weitere Restriktionen zu erlassen: Ein neuer Plan zur Luftreinhaltung für 2013-2017 sieht vor, ab 2017 eine Art “Verstopfungs-Abgabe” einzuführen. Außerdem will sie bis dahin die Parkgebühren deutlich anheben und mehr Gebiete für Fahrzeuge außerhalb Pekings sperren.

 

Muss bald draussen bleiben: Nummernschild der Inneren Mongolei

Muss bald draussen bleiben: Nummernschild der Inneren Mongolei

 

Erstmals ging Peking im Kampf gegen den Dreck diese Woche sogar gegen große Staatsfirmen vor: Das Umweltministerium stoppte je ein Projekt der Ölriesen SInopec und CNPC, da diese ihre Auflagen zur Emissionsreduktion nicht erfüllt hatten. Das ist mal eine gute Nachricht. Unter Druck stehen dieselben Firmen, da sie minderwertiges Benzin produzieren – auch die schlechte Qualität des Treibstoffs ist ein Grund für die urbane Luftverschmutzung. Es gibt viel zu tun.
Und 1000 Ex-Schilder-Mieter von Frau Wang müssen jetzt mit mir in den Lotterietopf. Viel Glück!

 

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Drohne gegen Kanadagänse

Steve Wambolt liebt, was man hier „gadgets“ nennt. Mit „technisches Spielzeug“ kann man das übersetzen. Eines seiner „gadgets“ ist ein kleiner ferngesteuerter Hubschrauber. Ich treffe Steve am Sandstrand von Petrie Island, einer Insel im Ottawa-Fluss in der kanadischen Hauptstadt. Hier lässt er seinen kleinen Hubschrauber steigen.

 

Was wie ein Freizeitspaß aussieht, ist für Steve Wambolt tatsächlich aber Arbeit. Der Hubschrauber fliegt im Auftrag der Stadt Ottawa. Denn diese startete vor ein paar Wochen ein Pilotprojekt: Mit Steve Wambolts Hubschrauber, einer Art Drohne, werden die Kanadagänse vom Strand von Petrie Island vertrieben. Kanadagänse haben sich in Ottawa zu einer Plage entwickelt. Mit ihren Fäkalien verschmutzen sie Strandbäder und Parks. Der Hubschraubereinsatz zeitigt bereits Erfolge: Die Zahl der Gänse, die sich dort niederlassen, ist drastisch gesunken.

 

Steve Wambolt stellt seinen „Hexacopter“ auf den Sand. Mit seinem Mitarbeiter David Dutrisac checkt er Batterien und MP3-Player, der an dem etwa 70 bis 80 Zentimeter großen ferngesteuerten Fluggerät angebracht ist. Mit einem Knopfdruck am Steuergerät setzt er die Rotorblätter in Gang. Dann steigt die Drohne auf. Mit dem Steuerknüppelt dirigiert der 50-jährige Technikfreak sein unbemanntes Flugobjekt, das die Grundform eines Sechsecks hat und einer Kombination von „fliegender Untertasse“, Mondlandegerät und Hubschrauber ähnelt, zum Strand von Petrie Island. Eine Schar von etwa 20 Kanadagänsen hat sich dort niedergelassen. Mit einem Geräusch, das dem eines großen Bienenschwarms ähnelt, fliegt der Hubschrauber auf die Gänse zu, wenige Meter über dem Strand. Erst recken die Gänse verwundert ihren Kopf, dann nehmen sie mit Geschrei und Flügelschlag Reissaus. Sie stürzen Richtung Wasser, erheben sich in die Luft. Draußen auf dem Fluss lassen sie sich wieder nieder.

 

Der Gänsejäger ist zufrieden. Seit vier Wochen hat er den Vertrag mit der Stadt Ottawa. „Früher hatten wir ständig etwa 150 Kanadagänse auf der Petrie-Insel. Jetzt sind es vielleicht noch zwei Dutzend, die sich hier niederlassen“, sagt Steve Wambolt. Die „Drohnenschläge gegen Gänse“, wie in den Zeitungen Ottawas das Pilotprojekt martialisch genannt wird, sind offenbar erfolgreich.

 

Die bis zu sechs Kilogramm schwere Kanadagans (Branta Canadensis) ist mit ihrem schwarzen Kopf und Hals und dem weißen Band am Hals ein schöner Vogel. Und mit einer Flügelspannweite von rund eineinhalb Metern eine der größten Gänsearten. Auch in Europa brüten diese Tiere seit einigen Jahrzehnten. In Ottawa sind Tausende Kanadagänse, die sich in Parks und Strandbädern am Ottawa-, Rideau- und Gatineaufluss tummeln, eine Plage geworden. Sie fressen mehrere Pfund Gras pro Tag und lassen eine entsprechende Menge Fäkalien zurück. Der Vogelschiss führt öfter dazu, dass Liegewiesen, Bäder und Volleyballfelder wegen der davon ausgehenden Gesundheitsgefahren gesperrt werden müssen. Alle bisherigen Maßnahmen, durch Änderung der Vegetation oder dem Errichten von Zäunen, durch Licht, Geräusche oder Hunde der Plage Herr zu werden, förderten bisher allenfalls bescheidene Erfolge zu Tage. Auf rabiatere Vorschläge, etwa mehrere Jahre lang eine große Zahl von Gänsen zu erlegen und an Bedürftige zu verteilen, geht die Stadt nicht ein.

 

Im Mai trat IT-Techniker Wambolt mit seinem Hubschrauber an Stadtratsmitglied Bob Monette heran. Eigentlich mit einer ganz anderen Intention: Er bemühte sich für sein neu gegründetes Unternehmen Aerial Perspective um Verträge für Luftaufnahmen von Parks, um nach Unwettern die Schäden begutachten zu können. Monette hörte sich den Vortrag an, dann fragte er: „Kann man damit Gänse verscheuchen?“ Jedes Jahr wird er mit dem Gänseproblem auf Petrie Island konfrontiert, das zu seinem Wahlkreis gehört. Wambolt zögerte. „Eigentlich will man mit Fluggeräten Gänsen fern bleiben. Sie können ja sogar Flugzeuge zum Absturz bringen. Aber ich sagte mir: Warum soll ich das nicht mal probieren?“ Das Gerät wurde modifiziert. Auf dem MP3-Player wurden die Geräusche der natürlichen Feinde der Gänse gespeichert, von Raben, Falken, Wölfen und Eulen.

 

Aber schon allein das Brummen des kleinen Hubschraubers entfaltet seine Wirkung. Die Gänse fliehen, wenn das Geräte über ihnen auftaucht. „Sie lernen schnell, dass Petrie Island ein unwirtlicher Ort ist“, beschreibt Wambolt den Erfolg seiner Arbeit. Seit er im Einsatz ist, musste der Strand nicht geschlossen werden. Wichtig ist, Einsatzzeit und Geräusche der Drohne ständig zu variieren, damit sich die Vögel nicht daran gewöhnen können. Einmal verscheucht, kehrt ein Gänseschwarm viele Stunden lang nicht zur Insel zurück. Manchmal beginnt Wambolt seinen Einsatz am frühen Morgen bei Anbruch der Dämmerung. Bis zu sechs Stunden sind er und seine beiden Mitarbeiter an der Arbeit.

 

Der Vertrag, der die Stadt 30.000 Dollar kostet, läuft bis in den Herbst. Dann soll Bilanz gezogen werden. Das Geld sei gut investiert, wenn dafür ein stark frequentierter Park sicherer und für die Besucher angenehmer gemacht werden kann, meint Stadtratsmitglied Monette. Wambolt hofft, dass er sein Spielzeug, die Drohne gegen Kanadagänse, im nächsten Jahr auch an anderen Stränden einsetzen kann. Ein Patentverfahren für Fluggerät und Idee hat er bereits gestartet.

 

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Boom oder Crash: Wirtschaftsanalyse light

„Was läuft da falsch, wenn zwei große deutsche Zeitungen, die beide dem konservativ-wirtschaftsfreundlichen Spektrum zuzuordnen sind, an ein und demselben Tag ein völlig unterschiedliches Bild der indonesischen Wirtschaft zeichnen?“ fragt Alex Flor in einem Bericht der Berliner NGO Watch Indonesia! vom 24. August 2013. Anlass für seine Frage sind zwei Artikel zum Wirtschaftsstandort Indonesien, die in den Tageszeitungen „Die Welt“ beziehungsweise „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ erschienen sind.
Flor fährt fort: „”Die Welt” hält daran fest, Indonesien aufgrund seines Wirtschaftswachstums in höchsten Tönen zu loben. Es gebe einen “starken Trend nach oben”, getragen von einer wachsenden kauffreudigen Mittelschicht. Die FAZ zeichnet während dessen unter dem Eindruck der jüngsten Börsenkurse ein völlig anderes Bild: Asiatische Werte – damit gemeint sind hier Währungen, Aktien, Anleihen usw. – befinden sich wegen hausgemachter Probleme auf Abwertungstrend. Der Wert der indonesischen Rupiah fiel auf einen seit vier Jahren nicht mehr erreichten Tiefpunkt. An der Börse werden hohe Verluste geschrieben. Die Inflation steigt. Verschiedene andere Medien warnten bereits vor einer Neuauflage der Asienkrise Ende der 90er Jahre.“
Der Indonesienkenner kommt am Ende seiner Analyse zu dem Schluss, dass das Eine so falsch sei wie das andere. Denn ohne spezifische Länderanalyse blieben viele Indikatoren wertlos oder sogar irre führend.
Die eigentliche Frage dahinter ist: Warum werden eigentlich sowohl in den deutschen Medien als auch in der deutschen Politik die gesellschaftspolitischen Aspekte des plötzlichen Wirtschaftsbooms in Indonesien so wenig beachtet? Warum analysieren so wenige so genannte Experten die Hintergründe des kurzlebigen Konsumrauschs, des unglaublichen Reichtums der Eliten, des hart erkämpften Lohnanstiegs der Arbeiter, des Preisanstiegs im ganzen Land?
„Es gibt weder ein ideologisches Ziel noch eine ausreichende Vorsorge gegen die immer größer werdende Kreditblase“, erklärt Wirtschafsberater Eric Santosa in Jakarta und mahnt: „Wir können nicht von einer gesunden Wirtschaft reden, solange die folgenden drei Probleme nicht gelöst sind: mangelnde Infrastruktur, ineffektive Bürokratie und Personalentwicklung.“
Und warum hinterfragt kaum ein Analyst hierzulande die Zusammenhänge von indonesischer Politik und islamistischen Strömungen, von Wirtschaftsboom, Korruption und Menschenrechtsvergehen – wie das bei anderen Ländern oft so demonstrativ geschieht? Hier hat Wenzel Michalski, Direktor von Human Rights Watch Deutschland, eine Erklärung: „Indonesien ist für westliche Länder das neue China. Sie erhoffen sich dort eine gewinnbringende wirtschaftliche Zusammenarbeit. Daher wir mit strategischem Schweigen über Menschenrechtsverletzungen und andere Unannehmlichkeiten hinweg gesehen.“

 

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Als Mahalia Jackson Weltgeschichte schrieb

50 Jahre ist es her, dass Martin Luther King in Washington vor Hunderttausenden von (weißen und schwarzen) Zuhörern über seinen Traum von der Versöhnung zwischen den Rassen sprach. «I have a dream» wurde die Rede später getauft, die der junge Geistliche am 28. August 1963 an einer Demonstration «für Arbeitsplätze und Freiheit» hielt. Weniger bekannt ist es, dass King den Schluss seiner Ansprache weitgehend improvisierte – die Traum-Passage war im Manuskript nicht enthalten. Zeitgenossen des Bürgerrechtlers sagten später, dass es die legendäre Gospel-Sängerin Mahalia Jackson gewesen sei, die King zu dieser spontanen Einlage angespornt habe. Jackson, die auf der Tribüne mit den Ehrengästen saß, soll King zugerufen haben: «Martin, erzähl‘ ihnen über den Traum!»

Interessant an dieser Anekdote ist, dass niemand mit letzter Sicherheit zu wissen scheint, ob King diese Aufforderung zu Ohren bekommen hatte. Er sagte später, er habe instinktiv gefühlt, dass er den Schluss seiner Rede improvisieren müsse. Nicht bekannt ist zudem, wann Jackson genau intervenierte: Auf der überlieferten Aufnahme der Rede ist ihre Stimme nicht zu hören. Deshalb kursieren nun mehrere Versionen dieses Vorfalls. Der renommierte Historiker Robert Dallek behauptete in seiner Kennedy-Biographie (auf Deutsch: «John F. Kennedy: Ein unvollendetes Leben»), Jackson habe ihren Zwischenruf fünf Minuten nach Beginn der Rede angebracht. Das stimmt wohl nicht: King liest mindestens zehn Minuten seiner Rede von Blatt ab, wie der untenstehende Film zeigt. Eine andere Version brachte der verstorbene Senator Ted Kennedy in Umlauf. In seinen posthum erschienen Memoiren (im Original: «True Compass») berichtete er detailliert, wie King seine Rede bereits beendet hatte, und absitzen wollte, als Mahalia Jackson interveniert habe. Dies habe er, Kennedy, vor dem Fernsehgerät sitzend ausgemacht, obwohl er doch auch einräumt, dass er Jackson weder gesehen noch gehört habe. Weil ein Senator bekanntlich stets die Wahrheit sagt, wurde diese Anekdote dann auch von Weggenossen von Martin Luther King aufgegriffen — als Beweis dafür, dass Jackson in der Tat ein Stück Weltgeschichte geschrieben habe.

Wie dem auch sei. Schauen Sie sich die Rede Kings doch selbst an, um das kleine Rätsel zu lösen…

 

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Bitte lesen, bevor Ihr vor der Kamera strippt

Vor zwölf Jahren lebte ich für eine Weile auf einem abgelegenen Südseeatoll. Das Internet kannten auf Tokelau nur wenige, kaum jemand besaß einen Computer. Einer der Gebildetsten dort, ein Lehrer namens Keli Kalolo, sammelte über Wochen Geld im Dorf, um nach London reisen zu können. Ein teures Unterfangen in offizieller Mission. Kalolo war per E-Mail von einer afrikanischen Prinzessin kontaktiert worden, die ihm ein Vermögen für seine kleine Insel versprach, wenn er ihr aus der Patsche helfe. Er müsse nur persönlich mit einer Anzahlung nach Europa kommen.

Absolut glaubwürdig für jeden, der seit 15 Jahren nicht in seinen Spam-Ordner geschaut hat. Doch Keli Kalolo, tief gläubiger Polynesier und weitab vom westlichen Mediengeschehen, konnte sich nichts Böses hinter dem Fleh-Brief vorstellen. Er flog tatsächlich nach London. Was dort passierte, ob ihn die nigerianischen Hintermänner der notleidenden Prinzessin ausnahmen und ihm auch noch den Pass stahlen – ich weiß es leider nicht. Doch die Schande bei der Rückkehr nach Tokelau kann ich mir vorstellen.

Wir spulen vor ins Jahr 2013. Streng genommen befinden wir uns noch immer auf einer Südseeinsel, oder zweien, namens Aotearoa. Die Menschen skypen, sie chatten, sie wollen Sex im Netz. Aber auch die Schande existiert wie eh und je. Die Dummheit sowieso. Und was passiert? Kiwis lassen sich erpressen wie nicht gescheit, ganz ohne Prinzessin und Erbschaft.

Die Organisation NetSafe, die auch gegen Cybermobbing vorgeht, ist in Neuseeland auf eine neue Art der Internetkriminalität gestoßen. Die

Opfer: notgeile Chatter. Sie lassen sich auf ein Skype-Geplänkel vor der Webcam ein, bei dem die Hüllen fallen. Das lässt sich auch prima als Video von der Gegenseite aufzeichnen. Danach wird gedroht, die kleine Wichsvorlage Freunden und Kollegen zukommen zu lassen. Oder die Hosenlosen auf YouTube zu zeigen.

Bis zu 500 Dollar hätten die Spontan-Stripper jeweils in ihrer Panik an die Erpresser gezahlt. “Danach kommen immer neue Geldforderungen”, so NetSafe-Chef Martin Cocker. Die Internetadressen der Täter befinden sich teils auf den Philippinen oder in Marokko. Umgerechnet über zwei Millionen Euro hat dieser innovative Geschäftszweig schon erwirtschaftet.

Damit ist mein kleines Land mal wieder richtig weit vorn. Neuseeland hatte auch den ersten Cyber-Mord zu vermelden. Im Februar erstach ein Programmierer in Auckland im Affekt einen Freund, der ein paar Straßen weiter wohnte. Sie hatten sich zuvor virtuell in dem nervenaufreibenden Computerspiel “Guild Wars” bekriegt. Der IT-Mensch – laut Kollegen “ruhig, aber sehr, sehr schlau” – steigerte sich in seine martialische Cyber-Rolle hinein, rastete aus, fuhr zum Haus des Gegenspielers und setzte das Gemetzel analog mit einem Messer fort.

Vielleicht sollte NetSafe künftig warnen: MMORPG (massively multiplayer online role-playing games) nur mit weit entfernten Menschen spielen! Am besten Philippinos und Marokkanern.

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