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Party bei den Toten

Ein Konzert auf einem Friedhof? Einen Moment glaubte ich, ich hätte mich verlesen. Doch da stand es, schwarz auf weiß, in der E-Mail meiner Freundin Carol, einer resoluten älteren Dame, die nicht zu dummen Scherzen neigt. „It is a really nice event“, ließ sie mich wissen. „Let me know if you want to join us.“ Das wollte ich allerdings.

Stattfinden sollte der „nice event“ nachmittags auf dem Green-Wood Cemetery, einem 1838 gegründeten Waldfriedhof im Brooklyner Stadtteil Greenwood Heights. Das Gelände ist riesig – fast 200 Hektar – mit Seen, Teichen, Hügeln und vielen, vielen Bäumen. Nicht nur deshalb ist dieser Friedhof ein wenig anders als die meisten. Viele berühmte und manche exzentrische Persönlichkeiten sind dort beerdigt und bilden eine ewig ruhende illustre Gemeinschaft: der Dirigent Leonard Bernstein; der Boxer und Gangster „Bill the Butcher“; der Vater des US-Präsidenten Theodore Roosevelt; Lola Montez, die Geliebte des bayerischen Königs Ludwig I. In der Fassade des pompösen Eingangstores nistet seit Jahren eine Kolonie grüner Papageien. Angeblich sind die Vögel aus einem Flughafen-Container entwischt.

Konzertanlass war Memorial Day, ein Feiertag, mit dem Amerikaner der Soldaten gedenken, die in Ausübung ihres Dienstes gefallen sind. Ich erwartete deshalb eine Militärkapelle mit Marsch- und Trauermusik, als Zuhörer ein paar Veteranen in Uniform und eine ernste, würdevolle Atmosphäre.

Die Bühne und ein paar Stuhlreihen waren auf einem asphaltierten Platz aufgebaut. Weil es so heiß war, hatten sich allerdings die meisten Zuhörer in den Schatten der Bäume zurückgezogen. Ich traute meinen Augen kaum: Hunderte lagerten auf und zwischen Grabsteinen – Großfamilien mit Picknicktaschen, junge Leute mit Yogamatten, Herrenclubs mit Klappstühlen. Einige wenige hatten Miniaturen des Sternenbanners angesteckt oder Kleidung in den Nationalfarben weiß-rot-blau gewählt. Doch die meisten sahen aus wie auf einer gewöhnlichen Sommerfrische – Shorts, kurze Röcke, Flip-Flops.

Wir breiteten unsere Decken am Grab eines gewissen John Huzinec aus, verstorben am 7. August 2005. Dan, ein Freund von Carol, holte drei Tüten Popcorn, das die Friedhofsverwaltung neben der Bühne verkaufte. Uniformträger sah ich keine, und sie hätten sich vermutlich auch fehl am Platz gefühlt, denn die „ISO Symphonic Band“ und der „Brooklyn Youth Chorus“ hatten ein überaus ziviles Programm zusammengestellt: von der „Bridge over troubled water“ über Auszüge aus der West Side Story bis zur „Minnie from Brooklyn“, einer Variation des berühmten Jazzsongs „Minnie the Moucher“. Zwischen den Grabsteinen wippte und schnippte das Publikum, manche sangen mit. Und warum diese Liedauswahl? Einer der Beteiligten, Komponist oder Texter, hat auf dem Green-Wood Cemetery seine ewige Ruhe gefunden. Oder, wie es der Konzertmeister formulierte: er ist ein „Permanent Resident“. Eine hübsche, pragmatische Idee.

 

Mit zunehmender Dauer des Konzerts wurden die Sitten immer lockerer. Kinder balancierten auf den Grabsteinen, Erwachsene benutzten sie als Rückenlehne. Wie die Permanent Residents dazu standen, wird man nie erfahren, aber vielleicht finden sie es ja ganz gut, wenn mal Leben auf ihren Friedhof kommt. Der Gipfel war erreicht, als eine Gruppe dickbäuchiger Herren vor uns eine Flasche Wein entkorkte. Carol, die genüsslich ihr Popcorn verspeiste, zuckte nicht mit der Wimper. Nur wenn die Kinder zu laut kreischten, ärgerte sie sich. „Psst! Das ist doch ein Konzert“, rief sie mehrfach in Richtung der Eltern.

Weil der Green-Wood Cemetery reichlich 30 Gehminuten von meiner Wohnung entfernt liegt, hatte ich übrigens die Idee gehabt, mit dem Fahrrad dorthin zu fahren. Das sei keine gute Idee, hatte mich Carol belehrt. Radfahren ist auf dem Friedhof streng verboten. Aus Pietätsgründen.

 

Fotos: Christine Mattauch

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