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Wo der Wind weht

Es macht keine Freude, seiner Familie samstagmorgens erklären zu müssen, dass man nicht früh aufsteht, um Croissants zu holen, sondern um in ein Katastrophengebiet zu fliegen. Aber bedeutet ein Wochenende neben der Erdbebenkatastrophe in Japan? 

Am Pekinger Flughafen sehe ich, dass ich nicht der einzige Familienenttäuscher bin. Zwei Dutzend internationale Journalisten warten auf den ersten verfügbaren Flug nach Tokio – und fragen sich, ob es Pflicht oder Wahnsinn ist, in eine Region zu fliegen, in der ein Atomkraftwerk kurz vor der Kernschmelze stehen könnte. Wir googeln Wetterberichte und Windrichtungen und versuchen uns zu erinnern, wie das damals mit der Wolke von Tschernobyl war. Ich erzähle, wie mein Vater damals in unserem Garten eine Erdprobe genommen und im Keller mit einem Geigerzähler überprüft hat. Jahre später war die Strahlung immer noch erhöht. Die Anekdote kommt nicht gut an. Tschernobyl ist von Niedersachsen 1300 Kilometer entfernt, Tokio vom AKW Fukushima nur 200. Einige Journalisten drehen kurz vor der Passkontrolle wieder um, doch die meisten verlassen sich auf die Vorhersage, dass der Wind in den kommenden Tagen nicht Richtung Tokio blasen würde. Oder geht es einfach nicht in unsere Köpfe, dass es tatsächlich einen Super-GAU geben könnte und was die Folgen wären? Die Grenze zwischen Schwarmintelligenz und Herdentrieb verschwimmt. 

Im Flugzeug werden Pläne geschmiedet, um ins Tsunamigebiet zu gelangen. Wir hoffen, dass es am Flughafen Taxis gibt, bilden Fahrgemeinschaften, zählen Bargeldbestände und überprüfen die Limits unserer Kreditkarten. Doch kaum haben die Handys wieder Empfang, verbreitet sich die Meldung, dass die Nachrichtenagentur Kyodo über den Beginn der Kernschmelze berichtet. Wenig später wird eine Explosion gemeldet. Ich fluche auf meinen chinesischen Handyanbieter, der mir in Japan keinen Internetempfang gewährt. Alle Roaminggebühren wären mir recht, wenn ich noch einmal überprüfen könnte, dass sich an den Windrichtungsvorhersagen nichts geändert hat. Einige Kollegen sind noch immer fest entschlossen, so nah wie möglich an die Evakuierungszone zu kommen. Dort winken die besten Geschichten und dramatischsten Bilder. Wenn sie sicher zurückkommen, werde ich sie gewiss beneiden. Aber auch bewundern?

Fünf Stunden dauert es, um vom Flughafen Narita mit einem Vorortzug in die Tokioer Innenstadt zu gelangen. An den Bahnhöfen steht alle fünf Meter ein Uniformierter und dirigiert die Menschenströme. Die Japaner haben den Ausnahmezustand im Griff. Ihre scheinbare Normalität beruhigt und man trägt gerne dazu bei. Im Hotel haben Stromschwankungen die meisten Fernseher zerstört, aber das Internet funktioniert. An den Windrichtungen hat sich nichts geändert, aber im Umkreis von Fukushima werden hunderttausende  angewiesen, in ihren Häusern zu bleiben und Türen und Fenster geschlossen zu halten. Die Hochhausfenster meines Hotelzimmers lassen sich ohnehin nicht öffnen. Ab und zu lassen Nachbeben den Turm wackeln. Per Skype beruhige ich meine Familie, dass sie sich um mich keine Sorgen zu machen braucht, und hoffe, dass das auch stimmt.

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