Hippie, hippie, yeah!

2017-08-02

Eine Reise durch Kalifornien – 50 Jahre nach dem „Summer of Love“

Hier wohnten die Grateful Dead! Gegenüber die Hells Angels! Und um die Ecke Janis Joplin und der spätere Mörder Charles Manson! Während Stan Flouride, ein Punk Mitte 60 mit blondiertem Schopf und Bauchansatz, uns durch Haight-Ashbury führt, kommt er aus dem Aufzählen von Sechziger-Jahre-Legenden gar nicht mehr heraus. Der Stadtteil von San Francisco, benannt nach der Kreuzung von Haight Street und Ashbury Street, gilt als Geburtsort der Hippie-Bewegung: Er war damals ein Szeneviertel, in dem viele junge Leute und Künstler lebten.

Heute kann man hier Stans “Flower Power Walking Tour” buchen, der ich mich angeschlossen habe. Egal, ob man wie ich in San Francisco lebt oder die Stadt als Tourist besucht: Momentan kommt man um die Hippies nicht herum. Vor 50 Jahren strömten Jugendliche aus dem ganzen Land in die Stadt, um Drogen auszuprobieren, kostenlose Konzerte im Golden Gate Park zu besuchen und die freie Liebe zu leben. Und San Francisco lässt es sich nicht nehmen, das Jubiläum des “Summer of Love” ausgiebig zu feiern. Ausstellungen und Konzerte erinnern an ihn, überall hängen Plakate mit Schrifttypen, die aus einem LSD-Trip stammen könnten. Ich hatte mich gefragt, ob das mehr ist als Nostalgie: Ob es die Hippies von einst noch gibt? Und gibt es vielleicht neue?

Der erste Weg führte mich nach Haight-Ashbury, wo Stan nach Kräften versucht, Hippie-Flair heraufzubeschwören. Gerade mit Farbkopien historischer Dokumente – etwa von einem Flugblatt der Diggers, einer anarchistischen Gruppe, die mittellosen Blumenkindern in ihrem Haus freie Kost und Logis anbot. Dazu erzählt er, wie der Name “Hippie” entstand: Die Beatgeneration der fünfziger und sechziger Jahre fand die neue Jugendbewegung nicht “hip”, sondern nur ein bisschen “hippy”. Das alles ist spannend – täuscht aber nicht darüber hinweg, dass Haight-Ashbury heute eher ein Museumsdorf ist: ein paar Häuserblocks mit knallbunten Läden, die Batik-T-Shirts, Modeschmuck und Cannabis-Paraphernalien anbieten. In den Straßen ringsum hat sich längst die neue Oberschicht aus der Tech-Branche breitgemacht.

Aber es gibt ein paar junge Leute, die den Geist der alten Zeit wiederbeleben wollen: Die Gruppe Haight Free Love kämpft gegen die Kommerzialisierung der Hippie-Kultur. Chris Swimmer, ein Mittzwanziger mit Sieben-Tage-Bart und Nasenring, ist ihr ungewählter Sprecher. Ein paar Tage nach der Tour treffe ich ihn und einige Mitglieder auf einem Straßenfest im Mission District. Ihr Stand nennt sich Free Store: An einer Kleiderstange hängen Klamotten, die man gratis mitnehmen kann, es gibt Tee umsonst. “In Haight-Ashbury”, erzählt Chris, “setzen wir uns oft an eine Straßenecke, singen Lieder und halten Schilder hoch mit Parolen wie ‘Freie Liebe jetzt!’ oder ‘Was wäre, wenn es kein Geld gäbe?’.” Die Aktionen sind als Protest gedacht – was Passanten aber nicht immer verstehen: “Touristen sind ganz begeistert, wenn sie uns sehen”, sagt Chris, “und schießen Fotos.”

So werden die Protestler zur Staffage im Nostalgiedorf Haight-Ashbury, denke ich. Außerdem: Ein paar singende Neu-Hippies am Straßenrand, das kann ja wohl noch nicht alles sein. Wo sind die Blumenkinder von früher?

Ich fahre raus aus San Francisco, eine Stunde nach Norden. Dort wohnt Charlie Cowles in einer Vorortsiedlung von Petaluma. Wir sitzen auf der Terrasse seines Häuschens, blicken auf den überwucherten Garten, und der weißhaarige Mann mit der hohen Stirn erzählt mit leiser Stimme, wie er und ein paar Freunde 1967 aus Ohio nach San Francisco fuhren – über 4.000 Kilometer mit dem Motorrad auf der Route 66. Ein junger Chemiker war er, 23 Jahre alt, seine Masterarbeit hatte er über LSD geschrieben. “Wir kamen wegen der Drogen”, sagt Charlie, “und wir wollten die Welt retten.” In San Francisco, so hatten sie gehört, versammelten sich viele Gleichgesinnte.

Der Sommer der Liebe war kurz. Als die Semesterferien zu Ende gingen, kehrten viele Blumenkinder an ihre Unis zurück. Die Übrigen wollten mit der aufkommenden Kommerzialisierung nichts zu tun haben – in den Medien wurden Kleidung und Musik der Hippies inzwischen als Modetrend gefeiert. Am 6. Oktober 1967 trugen sie den Hippie daher symbolisch zu Grabe; verabschiedeten sein Klischee in einem Sarg, gefüllt mit zwei Kilo Marihuana, Postern, Buttons und falschen Bärten.

“Und nach dem Sommer der Liebe kam der Winter des Heroins”, sagt Charlie: Die Drogen waren für viele nun nicht mehr Mittel zur spirituellen Erfahrung, sondern Lebensmittelpunkt. Die Kriminalität nahm zu. “Ich war bei den Drogen ganz vorne mit dabei.” Finanziell hielt Charlie sich mit einem kleinen Musikladen namens Treefrog über Wasser. Als der sich nicht mehr rentierte, Charlie Drogen und Alkohol satt hatte, zog er wie etliche damals aufs Land, wo man der Szene entkommen und billiger wohnen konnte.

Heute ist sein Laden Tall Toad Music in Petaluma Anlaufpunkt für Musiker aus der Region, darunter Tom Waits, der alle paar Monate seinen Cadillac im Halteverbot vor dem Laden parkt und nach alten Instrumenten sucht. Charlie ist seit 21 Jahren trocken und frei von harten Drogen; wie viele Hippies führt er ein unauffälliges Kleinstadtleben. Doch noch immer wuchern in seinem Gärtchen, zwischen hohen Gräsern, Marihuanapflanzen. Sechs Stück dürfen Privatleute in Kalifornien besitzen. “Fuck”, meckert Charlie, “damit kann man doch seinen Jahresbedarf nicht decken!”

Ein Genie oder ein Spinner?

Ohne Drogen wäre der Summer of Love nicht denkbar gewesen. Figuren wie der Psychologie-Dozent Timothy Leary, der freien Zugang zu LSD und Mescalin predigte, zählten zu den Gurus der Hippie-Bewegung. Der Mann, der einen Teil von Learys Archiv hortet, lebt südlich von San Francisco, in den Santa Cruz Mountains. Dort schlängelt sich die Straße über einen Bergrücken, und ich finde mich plötzlich in einem staubigen Westernstädtchen wieder. Ein paar Cafés, eine Autowerkstatt, einen Bioladen – viel mehr gibt es nicht in Boulder Creek, einem ehemaligen Holzfällerort.

Bruce Damers Haus liegt etwas außerhalb, ein verschachteltes Anwesen, verkleidet mit rotbraunen Holzbrettern. Im Garten fällt mein Blick auf einen verrosteten, doppelstöckigen Bus – das ist doch nicht etwa …? Nein, es ist nicht Furthur, jener bunt bemalte Schulbus, mit dem die Künstler-Gruppe The Merry Pranksters in den Sechzigern durchs Land fuhr, LSD-Happenings veranstaltete und Bürger schreckte. Dieses Vehikel, erfahre ich später, heißt No Further und wurde in den Siebzigern zusammengeschweißt, innen ausgestattet mit Fotos und Devotionalien aus der Hippie-Ära.

Sein Besitzer ist ein Hippie wie aus dem Bilderbuch: braune, an den Schläfen angegraute Haare, die den halben Rücken hinunterreichen, Rauschebart, indische Gewänder. Dabei ist Bruce Damer Mitte 50 – zu jung, um beim Summer of Love aktiv gewesen zu sein. Doch er füllt eine Lücke zwischen den Ur-Hippies und der Gegenwart: Er gehört einer Generation an, die nach wie vor einen alternativen Lebensstil pflegte und bewusstseinserweiternde Drogen nahm – die aber auch von der Besiedlung des Weltalls und virtuellen Welten träumte. In den späten siebziger Jahren begann diese Generation, in Eigenregie Personal Computer zu basteln. Das entsprach durchaus dem Geist der Ur-Hippies: Die Idee von Heimcomputern hatte einen befreienden Charakter, weil dank ihnen nicht nur große Konzerne künftige Welten erschaffen konnten, sondern jeder.

© ZEIT-Grafik

Neben Leary-Devotionalien hortet Bruce daher heute alles rund um die ersten Heimcomputer. Doch bevor er mir seine Sammlung zeigt, führt er mich durch seine mit orientalischen Teppichen ausgelegte Wohnstube. Er sei gerade begeisterter Quereinsteiger in die Biochemie, erzählt er und präsentiert mir seine neuesten Forschungsobjekte: ein paar unscheinbare Steine. In ihrer Struktur habe er Abdrücke früher Vorlebewesen entdeckt – die ältesten Spuren von Leben auf dem Planeten. Diese Wesen, hofft Bruce, könnten die Entwicklungslücke zwischen einfachen organischen Verbindungen und den ersten sich selbst reproduzierenden Zellen schließen. Sein Artikel über diese Theorie ist immerhin die August-Coverstory des angesehenen Scientific American. “Und stell dir vor: Diese frühen Vorläufer lebten in einem kollaborativen System! Da herrschte kein Darwinismus; es basierte auf dem Teilen von Ressourcen. Die Hippies hatten recht, wir sind alle miteinander verbunden!” Ist der Mann ein Genie oder ein Spinner?

Zwei Stunden lang versiegt Bruce’ Redefluss nicht. Auch nicht in der angrenzenden Scheune, seinem Museumsraum: Er zeigt mir Zeitungsartikel über Timothy Leary und unveröffentlichte Dokumente zum ersten Apple-Computer. Erzählt von den Plänen einer Weltraummission, die er als freischaffender Entwickler für die Nasa entwarf. Das Projekt Shepherd sollte der erste Schritt zur Besiedelung des Sonnensystems sein. Eine Art Raumstation, die Asteroiden einfängt und daraus Rohstoffe gewinnt. Das Projekt wurde eingestellt. Nun will Bruce es den Chinesen verkaufen.

Keine Grenzen akzeptieren, seien es geistige, politische oder juristische. Dazu der Glaube an Verbundenheit und Gemeinschaft – in Bruce’ Theorien blitzt viel Flower-Power auf. Seine Inspiration zieht er dabei oft aus psychedelischen Erfahrungen – genau wie die Ur-Hippies. Neben LSD, das in Kalifornien schon seit Oktober 1966 illegal war, gehörte vor allem Marihuana zu ihrer Kultur. Legalisiert wurde es erst im vergangenen November, doch lange zuvor war es weitgehend geduldet. Weswegen die Hippies ab den siebziger Jahren zum Selbstanbau übergingen – vor allem im nordkalifornischen sogenannten Smaragd-Dreieck zwischen den drei Countys Mendocino, Humboldt und Trinity. Auf der siebenstündigen Fahrt dorthin lege ich einen Stopp im Städtchen Sebastopol ein. Ein ruhiger 7.000-Seelen-Ort, umgeben von Obst- und Weingärten. Hier ist die Alternativbewegung zu einer konsensfähigen, ans Kitschige grenzenden Kultur von Bioläden und Öko-Klimbim geronnen. Selbst der Musikladen preist kalauernd “frei laufende Gitarren” an.

Im West County Museum bin ich mit Sue Pekarsky Gary verabredet, einer älteren Dame, die 1972 als Hippie-Mädchen von der Ostküste nach Kalifornien kam. Sie ist die Kuratorin der Ausstellung The Hippies: Schwarz-Weiß-Fotos, Flugblätter und Zeitungsausschnitte erinnern daran, dass in Sebastopol mal richtige Kämpfe zwischen den Alternativen und dem Rest der Bevölkerung tobten. “Zwei Aktivisten hatten in der Nähe der Stadt Land gekauft und lockten junge Hippies aus San Francisco an”, erzählt Sue. Doch der Anblick nackter Paare und im Freien stillender Mütter war für die Ländler zu viel – immer wieder stürmte die Polizei die Grundstücke, durchsuchte alles nach Drogen, riss ohne Genehmigung errichtete Hütten ab. “Man tat alles, um den Kommunarden das Leben so schwer wie möglich zu machen.” Schließlich wurde das Gelände der einen Kommune von Bulldozern platt gewalzt, die andere ließ ihre Hütten selbst in Flammen aufgehen.

Ein bisschen ungläubig stehen die Ausstellungsbesucher vor den Dokumenten, die zeigen, wie zerrissen die Gesellschaft damals war. Kaum ein Kalifornier kann sich heute noch vorstellen, dass man andere Menschen so drangsalierte, nur weil sie einen anderen Lebensstil hatten.

Alt-Hippies beklagen den Cannabis-Anbau

Je weiter ich Richtung Smaragd-Dreieck nach Norden komme, umso weniger hat die Gegend mit dem Kalifornien-Klischee aus ewiger Sonne und fröhlichen Menschen in Shorts zu tun. Der Nebel hat das Land fest im Griff. Im Humboldt County halte ich am zentralen Platz des Städtchens Arcata: einer quadratischen Rasenfläche, von asphaltierten Wegen sauber in acht Kuchenstücke zerteilt, in der Mitte steht eine Statue des Präsidenten William McKinley. Ein Platz, der einen an Osteuropa denken lässt, nicht an Hippies.

Und doch, es gibt sie hier: eine Gruppe namens The Same Old People . “Dieselben alten Leute”, so nennen sie sich, weil sie seit 1974 jährlich ein Festival organisieren, eine Mischung aus Jahrmarkt und Paraden. Sie waren die ersten Hippies, die hier oben im Norden ankamen. Einer von ihnen ist Mark Cortright: kurzer Vollbart, Jeans, das T-Shirt bedruckt mit einem fliegenden Fisch. Er begrüßt mich in seinem Haus und zeigt mir erst mal seine Töpferei, in der Mitte ein riesiger Brennofen, umgeben von einem Chaos aus halb fertigen Tassen, Schüsseln und Tellern. Der töpfernde Hippie ist ein verbreitetes Klischee. “Und diesem Klischee habe ich entsprochen”, sagt Mark. “Es ging mir um Selbsterfahrung. Ob das Ergebnis schnell bröckelte, war mir egal.” Heute, mit 64 Jahren, lebt er noch immer vom Töpfern. Doch inzwischen brennt er seine Keramik in großen Stückzahlen; sie ist spülmaschinen- und mikrowellenfest. Und er verkauft sie nicht nur auf dem Festival, sondern auch über Galerien.

Dass Mark einen kleinen Teil der Hippie-Kultur zum Geschäft gemacht hat, bedeutet nicht, dass er sich von seinen Wurzeln losgesagt hätte. Immer noch ist er stolz auf seine Vergangenheit, immer noch will er etwas verändern. Er zeigt mir Aktenordner zu den Prozessen, die er gegen die örtliche Industrie geführt hat: die Holzwirtschaft, die die Wälder rodete; die Papiermühlen, die mit ihren Abwässern das Meer verschmutzten. Als endlich das Aus für sie kam, geschah das Unerwartete: Die nächsten Gegner tauchten aus den eigenen Reihen auf. “Die Cannabis-Plantagen, die die Hippies anfangs in den Wäldern versteckten, konnten sich nun ausbreiten”, erzählt Mark, “das Hobby wurde zum Geschäft.” Heute arbeiten zwei Drittel der Leute hier in der Cannabis-Industrie; und inzwischen bedrohen die riesigen Plantagen die Umwelt: “Die Unternehmen schlagen illegal die Wälder kahl; benutzen Pestizide, die dann im Wasser landen.” Und Alt-Hippies wie Mark finden sich einmal mehr in der Rolle der Kritiker wieder – nur, dass sie diesmal ausgerechnet den Cannabis-Anbau beklagen.

Für den Rückweg nach San Francisco nehme ich die schnellste Route. Auf der Interstate 5 darf man ein für amerikanische Verhältnisse halsbrecherisches Tempo von 113 Kilometern pro Stunde fahren. Das hier ist Drive-Through-Country, kaum jemand hält in Städtchen wie Redding oder Willow. Würde er es tun, träfe er auf eine ländliche Bevölkerung, die bei der letzten Wahl teilweise zu drei Vierteln für Trump gestimmt hat. Auch das ist Kalifornien – aber ein Kalifornien, das es in der öffentlichen Wahrnehmung nicht gibt, denke ich, während ich so dahinbrettere. Den Kulturkampf haben die Hippies in diesem Staat gewonnen. Ihre Musik, ihre Öko-Kultur, ihre sexuelle Toleranz, ihr Denken und ihre sanften Drogen sind zum Mainstream geworden. Doch ihr liberales Erbe ist auch eine Blase, in der es sich angenehm lebt.

So angenehm, dass es nach der Wahl vielen so ging wie den ersten Hippies nach dem Sommer der Liebe: Sie mussten erkennen, dass die böse Welt da draußen, die sie überwunden glaubten, nicht aufgehört hatte zu existieren.