Auch Gute können zu viel sein

Zu teuer, zu schick: Mitarbeiter von Techfirmen wollen nicht im langweiligen Valley wohnen. Stattdessen gentrifizieren sie die quirligen Viertel von San Francisco.
Ich bin in den Castro gezogen, das schwule Szeneviertel in San Francisco. Die Zebrastreifen schillern bunt, überall Männerpärchen Hand in Hand, die öffentliche Bücherei ist nach dem Schwulenaktivisten Harvey Milk benannt und über dem Viertel weht eine riesige Regenbogenfahne.
Am Ende meiner Straße steht ein Stoppschild. Unter das stop haben Unbekannte einen Aufkleber geklebt: the tech takeover. Sinngemäß: Stoppt die Übernahme durch das Silicon Valley. Der Castro und der benachbarte Mission District sind das Haupteinfallstor für die Mitarbeiter der großen Tech-Firmen, die lieber in der Stadt wohnen als im gesichtslosen Valley, oder deren Firma – nach dem Vorbild von Twitter – ihr Hauptquartier gleich in die Stadt verlegt hat.
Gehöre ich zu diesem takeover? Bin ich Opfer oder Täter? Die Miete hier ist doppelt so hoch wie in guter Lage in Hamburg oder München, ich zahle sie nur stöhnend – aber ich zahle sie, die alteingesessenen Bewohner könnten es nicht.
Antwort erhoffe ich mir von Erick Arguello. Er ist 55, wuchs in der 24. Straße in der Mission auf, wo in den sechziger Jahren Santana und Malo den Latin Rock erfanden. Heute leitet er die Bürgerinitiative der örtlichen Händler, die um ihre Zukunft fürchten. Gehöre ich zu den Leuten, die ihr bekämpft? “Das Problem ist, dass Tausende von deiner Sorte kommen”, sagt Arguello. “Der Wandel, der im Moment passiert, ist einfach zu schnell.”
Übernahme durch eine neue Oberschicht
Internationale Schlagzeilen machte das Viertel im vergangenen Jahr, als Anwohner gegen die Busse von Google und anderen Tech-Firmen protestierten. Die weißen Ungetüme holten die Mitarbeiter ihrer Firmen in der Stadt ab, damit sie hinter verdunkelten Scheiben auf dem Weg zum Büro schon mit der Arbeit anfangen konnten. “Die hielten an öffentlichen Haltestellen und zahlten keine Gebühren”, sagt Arguello. “Wenn wir dort unser Auto parken, kostet es 225 Dollar Strafe.” Gegen einen Bus hätte niemand etwas gehabt, aber die Monster besetzten den öffentlichen Raum. Es gab Protestblockaden, Tech-Mitarbeiter wurden angegriffen, verbal und tätlich.
Heute zahlen die Firmen für die Busse eine bescheidene Gebühr, aber damit ist das Problem nicht aus der Welt. Arguello und seine Mitstreiter fürchten, dass ihr Viertel Straße für Straße von der neuen Oberschicht übernommen wird. Ein Beispiel ist die Valencia Street: Freunde hatten mir diese Attraktionen in der Mission früh empfohlen. “Wenn du da an einem Ende anfängst Restaurants auszuprobieren”, hatte einer gesagt, “und am anderen Ende ankommst, dann haben vorne schon wieder die tollsten neuen aufgemacht.”
Kann es denn keine Koexistenz geben – die edle Fressmeile für die, die es sich leisten können, und der Gemüsehändler ist zwei Straßen weiter? “So läuft das nicht”, sagt Arguello, “die ziehen immer weiter. Jetzt wollen sie die 24th Street, weil Valencia schon voll ist und außerdem längst zu teuer.”
Zu teuer oder gutes Geschäft?

Bringen die Neuankömmlinge mit ihrem Geld den alteingesessenen Händlern wenigstens ein gutes Geschäft? “Sollte man meinen”, sagt Arguello und lacht. “Aber die kaufen nicht beim Händler um die Ecke, die gehen zu Whole Foods, zu Trader Joe’s, zu Safeway. Und die örtlichen Händler haben die Hälfte ihrer Kundschaft verloren.” Das saß. Er hat genau die Läden benannt, wo Neuankömmlinge aus Bequemlichkeit hingehen, weil dort der Wocheneinkauf schnell und effektiv erledigt ist.
Italienisch, irisch, latino
Wie viele Stadtteile von San Francisco hat auch die Mission eine ethnisch vielfältige Geschichte. Sie war immer ein Stadtteil der kleinen Leute, wurde ursprünglich von italienisch- und irischstämmigen Amerikanern bewohnt. Nach dem zweiten Weltkrieg zogen viele von ihnen mit staatlicher Förderung in die Vorstädte, um ihre Version des amerikanischen Traums dort zu leben. Latinos zogen ein – Neuankömmlinge aus Mittelamerika, aber auch eingesessene Bewohner, die andere Stadtviertel verlassen mussten, weil dort Straßentunnel oder Brücken gebaut wurden.
Das Latino-Viertel war kein Idyll, in den neunziger Jahren gab es Probleme mit Bandenkriminalität. Es bildeten sich lokale Initiativen, um die Lebensqualität zu verbessern: Häuser wurden repariert, Parks angelegt, der Verkehr gebremst, Wandgemälde geschützt. Auch Arguello hat bei den Bürgerinitiativen mitgemacht. Heute stellt er sarkastisch fest: Indem die Einwohner die Lebensqualität in ihrem Viertel verbesserten, machten sie es attraktiv für Außenstehende und bereiteten den Boden für die Gentrifizierung, die heute stattfindet. Die Unser-Dorf-soll-schöner-werden-Mentalität, mussten Leute wie Arguello erkennen, reicht nicht aus, um die Mission zu bewahren.
Die kleinen Händler, die Arguello jetzt repräsentiert, sind für ihn der Schlüssel zum Erhalt der kulturellen Identität des Viertels. Neben den Mietern, die ihre Wohnung verlieren, spüren sie den Wandel dann deutlich, wenn Makler in ihre Läden kommen, ungefragt Fotos machen und sich nach dem Vermieter erkundigen. Dann bieten sie einen zahlungskräftigeren Kunden an.
Bewahren durch Gesetze und Kultur
Zwar halten die USA viel auf ihren freien Markt, aber auch hier gibt es Möglichkeiten, Wucher zu verhindern. Im benachbarten Noe Valley, bewohnt vor allem von wohlhabenden jungen Familien, wurde für fünf Jahre die Eröffnung neuer Restaurants untersagt. In der Mission setzen Arguello und seine Initiative auf Kultur: Die Stadt hat einen Calle 24 Cultural District eingerichtet – ein Viereck von etwa 60 Straßenblocks, in dem die Latino-Kultur mit ihren typischen Wandgemälden besonderen Schutz genießt. Nach dem Vorbild von Chinatown, so hofft Arguello, könnte sich die Lage stabilisieren: Es zögen dann nur noch die Menschen und Firmen hierher, die diese Kultur schätzen – und nicht jene, die am liebsten all die schönen viktorianischen Häuschen von Menschen freiräumen würden.
Aber selbst wenn ich zu den Guten gehöre, die die Kultur mögen – auch von uns kann es zu viele geben. “Wenn die Leute sagen, sie kommen wegen der Vielfältigkeit in dieses Viertel”, sagt Arguello, “sage ich nur: Ich wünschte, es würde vielfältig bleiben.”