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2009: Der Schrei: Wie die Prager Botschaftsflüchtlinge von ihrer Ausreise erfuhren

pdf Der Tagesspiegel

Zum zwanzigsten Jahrestag der Balkonrede des damaligen BRD-Außenministers Hans-Dietrich Genscher in der westdeutschen Botschaft in Prag hat Kilian Kirchgessner einen Mann besucht, der die große Weltgeschichte damals um ein Haarbreit verpasste.

Kilian Kirchgeßner für Der Tagesspiegel, 24. Sepember 2009

Gerade einmal 163 Schritte lagen zwischen der Weltgeschichte und Joachim Bruss, damals, am 30. September vor 20 Jahren. Wäre er ein bisschen schneller gegangen, wäre er da gewesen, als der Aufschrei kam, der Deutschland für immer verändern sollte. 163 Schritte – so lang ist die Kopfsteinpflastergasse, die von der Bierstube Zum weißen Löwen zum Palais der Deutschen Botschaft führt. Joachim Bruss rannte die letzten Meter, aber da war es schon passiert: Jubel war in der Luft, der bis in die Prager Altstadt zu hören war, ein Jubel, der nicht mehr abklingen wollte.

Jener 30. September war ein Samstag. Als der Diplomat Joachim Bruss sich am Freitag davor aus der Botschaft ins Wochenende verabschiedete, wusste er nicht, dass der deutsche Außenminister nach Prag kommen würde. Als ihn tschechische Freunde für jenen Samstag zu einem Gartenfest einluden, ahnte er nicht, dass zugleich die wochenlangen Verhandlungen mit der DDR abgeschlossen würden. Als er dann vom Prager Vorstadtbahnhof Smichov aus zu seinen Freunden fuhr, als er dort im Garten die Sonnenstrahlen genoss, da ahnte er nichts von der unerträglichen Spannung in der Botschaft. Und als er am Abend, nach dem Grillfest, dort noch einmal vorbeischauen wollte, als er gerade die enge Gasse vom Kleinseitner Ring aus hinaufgestiegen war, als die Botschaft von der Kneipe Zum weißen Löwen aus schon in Sichtweite war, da sprach Hans-Dietrich Genscher vom Botschaftsbalkon aus seine berühmtesten Worte: „Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“ Der Rest seines Satzes ging in jenem Jubelschrei unter. Es war 18.58 Uhr, gerade hatte das Ende der DDR begonnen – und Joachim Bruss den großen Moment verpasst.

Wenn er sich heute aus dem Fenster seines Büros lehnen würde, sähe er den Genscher-Balkon. Joachim Bruss lehnt sich aber selten aus dem Fenster, schließlich ist er schon seit ein paar Jahrzehnten hier an der Botschaft, jedes Stuck-Ornament und jeden goldenen Türknauf kennt er. Bruss ist ein Mann von 64 Jahren, mit seinen weißen Haaren und dem gewitzten Blick sieht er genauso ehrwürdig aus wie das barocke Lobkowitz-Palais, in dem die Botschaft residiert. Dolmetscher ist er, und weil er auf dem Posten viele Konflikte, Streitigkeiten und Verhandlungen hautnah mitbekommt, bringt ihn so schnell nichts aus der Ruhe.

„Wir haben damals nicht in den ganz großen Kategorien gedacht“, sagt er. „Auch als die Botschaft voll war, haben wir versucht, unseren Alltag zu leben. Natürlich war uns klar, dass etwas in Bewegung gerät. Aber wer konnte schon wissen, dass hier bei uns Geschichte geschrieben wird?“ Und so deckten im Spätsommer 1989 die Diplomaten ihre Routine über das Flüchtlingschaos, das vor ihren Bürotüren herrschte: Pünktlich um 9 Uhr gab es die Morgenbesprechung, zu der sich die Mannschaft gewohnheitsgemäß in der abhörsicheren Kabine irgendwo im Innern des Barockpalastes verschanzte. Es gab die Wasserstandsmeldungen nach Bonn, und jeden Tag meldete die Prager Botschaft neue Rekordzahlen in die bundesdeutsche Hauptstadt: Immer neue Flüchtlinge kamen, quartierten sich mit Schlafsäcken im Dachgeschoss des Barockpalastes ein.

Joachim Bruss war damals 44 Jahre alt. „In der DDR“, sagt er, „war ich bis dahin noch nie gewesen.“ Sein Tschechisch hat er im Studium gelernt, danach hat er sich als Übersetzer selbstständig gemacht. Er arbeitete in Bonn, und in seinem Job war er so gut, dass alle großen Werke bei ihm auf dem Tisch landeten: Václav Havel überträgt er bis heute ins Deutsche, auch die Dramen, Novellen und Romane anderer Dissidenten übersetzte er. Mit vielen ist er befreundet; wann immer er Zeit hatte, fuhr er in die Tschechoslowakei. Dass er damals in der Botschaft arbeitete, war Zufall, angefangen hatte er als Urlaubsvertretung, dann erreichte ihn ein Einstellungsschreiben: „Hiermit berufe ich Sie in den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes ein und ordne Sie zugleich an die Botschaft in Prag ab.“

Als Joachim Bruss in Prag landete, waren schon die ersten DDR-Flüchtlinge in der Botschaft, die ersten „Zufluchtsuchenden“. In dieses Wort fassen die Diplomaten die Schicksale der DDR-Bürger, die alles hinter sich ließen und in der vagen Hoffnung auf eine Ausreise das Prager Lobkowitz-Palais belagerten. Am Anfang hatte die Botschaft noch alles fest im Griff: Die Frauen einiger Diplomaten kauften Brot und Getränke, organisierten Toilettenpapier und Medikamente. Und Joachim Bruss tat, wofür er angestellt war: Er übersetzte. Jedes offizielle Dokument, jede diplomatische Note, jedes Gespräch bekam er mit auf seinem Posten, er war das Scharnier zwischen der tschechoslowakischen Führung und der Bundesrepublik. Er übersetzte auch die Bitte des Botschafters, eine Turnhalle für die Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen – die Tschechoslowakei lehnte ab. Da waren im Park der Botschaft sechs Großzelte aufgeschlagen, in ihnen schliefen 60 Flüchtlinge.

Und es wurden mehr, täglich klopften sie am Tor, einige stiegen über den Zaun. „Da haben wir allmählich gemerkt, dass sich etwas anbahnt“, sagt Joachim Bruss. Bis dahin nämlich hatte die tschechoslowakische Miliz niemanden zur Botschaft vorgelassen, ohne ihn streng zu überprüfen. Als dann immer mehr kamen, hörten diese Kontrollen auf, manchmal versuchten Polizisten, die Flüchtlinge zurückzuzerren. „Die tschechoslowakische Führung war aber der Meinung, dass die beiden deutschen Staaten die Sache unter sich ausmachen sollen“, erinnert sich Bruss – so habe es zwar niemand gesagt, aber er kenne die Sprache der Diplomatie.

Wenn er damals morgens aufstand, schaute er als Erstes aus dem Fenster des Hotels, in dem die ausländischen Diplomaten wohnten, wie um zu prüfen, ob alles noch so ist wie am Vortag. Dann kleidete er sich an, wie immer band er sich über sein dunkles Hemd eine Fliege, denn Krawatten mag er nicht. Und eilte zur Botschaft. Er nahm den kürzesten Weg, ging zu Fuß an der juristischen Fakultät vorbei, in der die kommunistischen Kader über ihren Büchern saßen, querte auf der Svatopluk-Cech-Brücke die Moldau und stieg am anderen Ufer in die Straßenbahn mit der Nummer 12 ein. Alte Waggons waren es, die Stahlräder kreischten in den Kurven, und bei jeder Weiche wurden die Passagiere auf ihren Plastiksitzen hart von links nach rechts geschleudert. Nach zwei Stationen stieg Joachim Bruss aus, und schon an der Haltestelle sah er, wie es um die Botschaft bestellt war. Wieder waren in den Gassen um den Kleinseitner Ring mehr Trabis geparkt als am Abend zuvor, sie standen überall: vor der Sankt-Nikolaus-Kirche, vor dem alten Kleinseitner Rathaus und die ganze Nerudova-Straße hinauf, sie parkten entlang der Bürgersteige, vor Einfahrten, auf Verkehrsinseln. Die Trabis waren ein Indikator, sie zeigten, wie viele Flüchtlinge in der Nacht gekommen waren. „Es gab im Park einen Baum“, sagt Bruss, „an den haben die Familien ihre Schlüssel genagelt: die vom Trabi, aber auch die von ihrer Wohnung.“ Es gibt keinen Weg zurück, hieß das.

Dann kam der Tag, an dem Joachim Bruss sein Büro räumen musste. Die Welle der Flüchtlinge schwappte bis an seinen Schreibtisch, alle Räume wurden für Matratzenlager gebraucht, die Diplomaten bekamen ein Zimmerchen im östlichen Flügel des Palastes: Dort, im Vorzimmer der Großküche, arbeiteten sie Schreibtisch an Schreibtisch. Hunderte Flüchtlinge hatten sich in der Botschaft einquartiert, sie lagerten auf jedem freien Fleck. Längst war das Rote Kreuz angerückt und kochte mit Gulaschkanonen gegen den Hunger an. Als es 1000 Flüchtlinge waren, schaffte die Bundeswehr in zivilen Lastwagen eiserne Stockbetten heran. Die Repräsentationsräume im ersten Stock wurden zur Herberge: der Kuppelsaal mit seinen zweiflügeligen Türen und marmorgesäumten Kaminen, das Gobelin-Zimmer mit den kostbaren Teppichen und der Intarsienkommode, das Kaminzimmer, der Speisesaal mit den Tischdecken, in die der Bundesadler eingewebt ist. Dann waren es 2000 Flüchtlinge, in den gewaltigen Räumen türmten die Helfer Stockbetten inzwischen zu vier Etagen übereinander. 22 Toiletten gab es, Tag und Nacht bildeten sich davor Schlangen. 3000 Flüchtlinge. Vom barocken Park war nichts mehr übrig, auf jedem freien Meter standen weiße Großzelte. 4000 Flüchtlinge. Auch der Platz vor der Botschaft war mittlerweile belegt, selbst auf den Stufen der breiten Repräsentationstreppe schliefen jetzt DDR-Bürger.

„Das können Sie sich gar nicht vorstellen“, sagt Joachim Bruss: „Es war niemals ruhig in der Botschaft, auch nachts nicht, es war ein unglaubliches Gedränge.“

Ein Ende war nicht abzusehen. Die Verhandlungen mit der DDR stockten, die Flüchtlinge mussten ausharren. Wochenlang gab es keine Neuigkeiten. Frust kam auf, ein paar Flüchtlinge organisierten einen Hungerstreik, um Druck auf die DDR auszuüben. Der Botschafter konnte sie erst in letzter Minute bremsen. Dann rasierten sich die Männer aus Zelt 16 die Haare ab. Eines Tages verschwanden sämtliche Brotmesser, die Diplomaten fürchteten eine Geiselnahme. „Alle waren nervös, es wurde jeden Tag schlimmer“, sagt Joachim Bruss. Der Boden im Park war vom Septemberregen zu Matsch aufgeweicht worden, das Zeltlager glich einem Schlammplatz. Draußen vor dem Zaun standen Spanner und beobachteten die improvisierten Duschen.

Die Stimmung in der Botschaft war schlecht, die Langeweile zehrte an den Flüchtlingen, die Ungewissheit, die Enge. „Da gab es eine Gruppe von Männern“, erinnert sich Joachim Bruss, „die das nicht ausgehalten haben. Die sind abends über den Zaun zurückgeklettert.“ Aus der sicheren Zuflucht in der Botschaft wieder zurück in den Sozialismus. Die Männer suchten sich in den dunklen Gassen eine Kneipe, orderten krügeweise Pilsner Urquell und brüllten auf ihrem Rückzug in die Botschaft den Prager Polizisten Unflätigkeiten hinterher. Einen Tag später wurde der Botschafter ins tschechoslowakische Außenministerium einbestellt, in der Welt der Diplomatie eine harsche Protestgeste. Joachim Bruss war dabei, er musste die Wut der Tschechen ins Deutsche übersetzen. „Sehen Sie zu“, zischte der Mann vom Außenministerium, „dass diese Aktionen künftig unterbleiben!“

Als dann alles zu Ende war, als Genscher sprach und der erleichterte Jubel über die Prager Altstadt schallte, war Joachim Bruss kein Diplomat mehr, kein Dolmetscher, sondern ein Deutscher. Als er in die Botschaft stürzte, auf dem Rückweg von seinen Freunden draußen im Ort Cernosice, kam eine junge Frau auf ihn zu, die Augen verweint. „Ich weiß nicht, was ich machen soll“, rief sie. „Am Dienstag wollte mein Cousin nachkommen, wir wollten zusammen flüchten. Und jetzt muss ich heute Nacht schon ausreisen!“ Jetzt oder nie, sagte Joachim Bruss – entweder ausreisen oder zurückbleiben, warten geht nicht. Ob es jemals eine zweite Chance geben würde, wusste niemand.

„Diese Frau“, sagt Bruss heute, „ist für mich zum Symbol für das Flüchtlingsdrama geworden.“ Der Willen, in die Bundesrepublik zu entkommen, und zugleich die Last, ein ganzes Leben hinter sich zu lassen. Von der Frau hat Joachim Bruss nie wieder etwas gehört. Er weiß nur: Sie hat sich für die Ausreise entschieden.

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