Feature | Christoph Drösser

Das Geschlechter-Paradox – Fördert Gleichberechtigung alte Rollenbilder?

2024-02-09

Obwohl Frauen und Männer in Deutschland weitgehend gleichberechtigt sind, wählen viele rollentypische Berufe. Dass Frauen in patriarchalen Ländern viel öfter in „Männerberufe“ gehen, ist ein Rätsel.

Manuskript:

 

Musik

 

Autor:

Wir leben in aufgeklärten Zeiten. Männer und Frauen sind gleichberechtigt – das sagt nicht nur das Grundgesetz, dem kommen wir auch im Alltag immer näher. In der aktuellen Wertung des Weltwirtschaftsforums ist die Gleichberechtigung in Deutschland zu 82 Prozent verwirklicht, Tendenz steigend (1).

Sind wir also auf dem Weg zur vollkommenen Gleichstellung der Geschlechter? In den letzten Jahren sind einige Studien erschienen, die behaupten: Bei aller Gleichberechtigung nehmen manche Stereotype über Männer und Frauen wieder zu. Ein Phänomen, das auf den ersten Blick paradox erscheint.

 

Musik: Danger Dan – „Sand in die Augen“

… Wie soll ich ihr erklären, wo liegt da der Unterschied?

Man muss nicht auf Wunder warten, weil es keine Wunder gibt

 

Sprecherin Titel:

Das Geschlechter-Paradox – Fördert Gleichberechtigung alte Rollenbilder? Von Christoph Drösser.

 

O-Ton Straßenumfrage:

Frage: Würden Sie Mädchen raten, ein technisches oder naturwissenschaftliches Fach zu studieren?

Frau 1: Die sind sowieso vielseitig ausgerichtet und von daher brauche ich denen nichts zu empfehlen, die machen alles.

Frau 2: Man kann eigentlich gar nicht mehr so einen Unterschied machen zwischen Mädchen und Junge finde ich heutzutage, die ändern sich selber, die Kids sind inzwischen ganz anders wie ich als Kind war. Ich habe alles gemacht, was mir gesagt worden ist bis zur Berufsausbildung.

 

Autor: 

In unseren Straßenumfragen in Baden-Baden und Halle an der Saale haben alle Befragten bestätigt, dass junge Frauen heute ganz selbstverständlich Berufe wählen können, die früher Männern vorbehalten waren. Die Freiheit für beide Geschlechter bei der Berufswahl ist größer denn je, das ist der Konsens. Aber was wählen die jungen Menschen tatsächlich?

 

Atmo: Geplänkel mit Gijsbert Stoet

… Gijsbert Stoet, das kann keiner sagen … auf Deutsch kann man Giesbert sagen, das ist das deutsche Äquivalent …

 

Autor: 

Also gut, sprechen wir den Namen deutsch aus. Gijsbert Stoet ist ein niederländischer Psychologie-Professor, er erregte im Jahr 2018 Aufsehen mit einer Studie, in der er die Studienfachwahl von jungen Menschen in 67 Ländern unter die Lupe nahm (2).

 

O-Ton Prof. Gijsbert Stoet, University of Essex:

Ich habe Geschlechtsunterschiede in der Psychologie seit 2008 oder 2009 untersucht und meine Haltung ist eine eines Skeptikers, der nicht immer alles glaubt, was im Radio oder im Fernsehen über Geschlechterunterschiede gesagt wird. Manchmal denkt man, ist es wirklich wahr?

 

Autor:

Insbesondere interessierte Stoet und seinen Koautor David Geary der Männerüberschuss in den MINT-Fächern, das sind Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Den gibt es in allen Länden, aber er ist nicht überall gleich groß.

 

O-Ton Gijsbert Stoet:
Und dann haben wir gesehen, dass die Geschlechtsunterschiede einfach größer werden, je gleichberechtigter das Land wird.

 

Autor:

Wie bitte? Ja, wir haben richtig gehört. Auch Stoet war erstaunt:

 

O-Ton Gijsbert Stoet:

Und es war zunächst auch ein bisschen eine Überraschung, weil jeder sicherlich in den 70er-Jahren oder in den 80ern, auch in den 90er-Jahren immer gesagt hat, na ja, gut, die Gleichberechtigung wird immer besser und junge Männer und junge Frauen werden immer mehr die gleichen Aufgaben erfüllen.

 

Autor:

In Ländern wie Indonesien, Algerien oder Albanien war der Frauenanteil in den MINT-Fächern größer als in Deutschland, Finnland oder Schweden. Generell wuchs die Lücke zwischen Männern und Frauen mit der Zunahme der Gleichberechtigung in der Gesellschaft. Sie wird mit dem Gleichberechtigungsindex ermittelt, den das Weltwirtschaftsforum jedes Jahr erstellt – ein sehr deutlicher mathematischer Zusammenhang. Deutschland steht auf Platz 6 des Länderrankings für die Gleichberechtigung – aber nur 27 Prozent der MINT-Absolventen an den Hochschulen sind Frauen. Algerien steht auf dem drittletzten Platz der Gleichberechtigung, aber 42 Prozent der Absolventinnen sind weiblich.

Gijsbert Stoet war überrascht – aber nicht entsetzt. Er findet, es wird eigentlich schon zu viel Druck auf Frauen gemacht, in diese mathematisch-technischen Berufe zu gehen.

 

O-Ton Gijsbert Stoet:

Wir sollen sehr froh sein, dass wir studieren können, was wir wollen. Und diese Idee, wenn eine junge Frau MINT studiert, ist sie eigentlich eine gute Frau. Und wenn eine junge Frau gut in MINT ist in der Schule, aber trotzdem kein MINT studiert, ist sie vielleicht nicht so gut in der Betrachtung von dieser Ideologie. Ich meine nicht, dass das ganz explizit gesagt wird, aber man hört es manchmal so im Radio oder so.

 

O-Ton Passantin:

Frau: Ich bin jetzt Kommunikationsdesignerin, also Grafikerin.

Frage: Und du wolltest keinen technischen Beruf wählen?

Frau: Das wäre mein Notnagel gewesen, wenn das mit der Bewerbung an der Kunsthochschule nicht geklappt hätte

Frage: Also es ist einfach kein Spaß an Mathe?

Frau: Doch das hatte ich schon, aber das war so eine Vorstellung: Okay, da würden wahrscheinlich die Frauen in der Minderheit sein. Und habe ich da so Bock drauf, die eine von 20 Frauen zu sein, die da im Studium sitzt? Ich bin nach wie vor glücklich mit meiner Berufswahl, aber ich weiß auch, dass ich mehr Geld hätte, wenn ich Informatik oder Mathematik studiert hätte. Aber ob jetzt Geld glücklicher macht, ist ja dann auch die nächste Frage.

 

Autor:

Stoet und Geary nannten das Phänomen das „Gender Equality Paradox“, das Geschlechtergleichheitsparadox. Wenn wir so frei wählen können – warum entscheiden sich dann in den entwickelten Ländern mehr Frauen für „frauentypische” Berufe, etwa Erzieherin, Lehrerin, Krankenschwester? Die naheliegendste Erklärung: Da kommt das „wahre Wesen“ von Mann und Frau zum Ausdruck.

 

O-Ton Gijsbert Stoet:

Wenn man etwas in jedem Land findet, dann ist eine mögliche Erklärung, dass es da eine biologische Grundlage gibt, insbesondere wenn es eigentlich keine alternative Erklärung gibt. Wir sagen nicht, dass Männer und Frauen unterschiedliche kognitive Fähigkeiten haben. Wir sagen in unserer Forschung immer, dass Männer und Frauen unterschiedliche Interessen haben – und Interessen treiben, was man Letzten Endes macht.

 

Autor:

Die Vermutung ist also: Wenn ökonomische Zwänge wegfallen, kann jeder und jede sich nach seiner oder ihrer biologischen Natur entscheiden. Kein Wunder, dass diese These auf Widerspruch stieß.

 

O-Ton Prof. Thomas Breda, Paris School of Economics:

I’m Thomas Breda, I’m trained as a labor economist. And I work on inequality on the labor market, and in particular, gender inequality. I’m based in Paris, Paris School of Economics.

 

Autor:

Der Pariser Arbeitswissenschaftler Prof. Thomas Breda fand diese biologisch-ökonomische Erklärung unbefriedigend – dazu waren die Unterschiede auch zwischen den Ländern mit ähnlichem Gleichheitsindex zu groß. Portugal und Italien zum Beispiel haben einen höheren Frauenanteil bei den MINT-Fächern als Deutschland oder die Schweiz.

 

O-Ton Thomas Breda:

One of the wrong ideas in the …. new type of gender norms.

 

Sprecher 1 Voice-Over:

Eine weit verbreitete falsche Vorstellung ist, dass die Geschlechternormen verschwinden, wenn die Gleichberechtigung steigt. Ich komme aus dem Land des Soziologen Pierre Bourdieu. Der hat erklärt, wie schwer es ist, soziale Differenzierung zu verhindern. Sobald man die einen Unterschiede beseitigt, versuchen Frauen und Männer, sich in neuen Dimensionen voander zu unterscheiden. Das könnte eine Erklärung für das Paradox sein, dass sich in den Ländern, die einige traditionelle Geschlechternormen abgeschafft haben, andere Geschlechternormen verstärken.

 

Autor: 

Aber wie messen Forscher Geschlechtervorurteile? Sie können die Menschen direkt fragen, ob sie zum Beispiel finden, dass Jungs in Mathe von Natur aus besser sind als Mädchen oder dass Mädchen technisch weniger begabt sind als Jungs. Aber das führt nicht sehr weit, findet Breda.

 

O-Ton Thomas Breda:

But if you ask directly … want to compare countries

 

Sprecher 1 Voice-Over:

Wenn man Menschen direkt danach fragt, erhält man wahrscheinlich verzerrte Antworten. Wir nennen das soziale Erwünschtheit.

 

O-Ton Straßenumfrage:

Frage: Würden sie sagen, dass Jungen besser geeignet sind für technische Fächer als Mädchen?

Frau: Nein, warum? Diie Frauen sollen das gleiche Recht haben, auch mit dem Geld und mit allem.

Mann: Nee, ich denke, dass Frauen genauso gut geeignet sind wie  Männer und dass Mädchen genauso auch naturwissenschaftliche Fähigkeiten entwickeln können und da sich dann entsprechend entwickeln können.

 

Autor:

Die Franzosen maßen das Vorurteil über Frauen und MINT-Fächer indirekt. In der Pisa-Studie, dem internationalen Schülertest, werden die Jugendlichen auch regelmäßig gefragt, wie sie ihre Interessen und Neigungen selbst einschätzen und wie diese von außen gesehen werden.

 

O-Ton Thomas Breda:

We use two questions to give a very concrete idea … the same math ability.

 

Voice-Over:

Wir verwenden zwei Fragen beziehungsweise Aussagen aus der Studie. Die eine lautet: „Ob ich in Mathematik gut bin oder nicht, hängt allein von mir ab.“ Und die andere: „Meine Eltern sind der Meinung, dass es für mich wichtig ist, Mathematik zu lernen.“ Wir vergleichen die Antworten der Mädchen und der Jungen auf diese Fragen unter Berücksichtigung ihrer mathematischen Leistungen. Wir nehmen also Schüler und Schülerinnen, die die gleichen mathematischen Fähigkeiten haben und ein gleiches Interesse an Mathematik haben.

 

Autor:

Die Forschenden schauten also nicht nur, ob die Jugendlichen gut in Mathematik waren und ob sie Spaß daran hatten, sondern ob sie fanden, dass es nur auf ihre eigenen Fähigkeiten ankäme und ob ihr Umfeld sie positiv in ihrem mathematischen Interesse bestärkte. Und der daraus berechnete Index für das Geschlechter-Vorurteil bezüglich Mathematik passte noch besser zum Gleichheitsindex und der Wirtschaftskraft der Länder als die Studienfachwahl aus der Studie von Stoet (3) – je reicher und gleichberechtigter und man könnte meinen aufgeklärter ein Land, umso größer die Vorurteile bezüglich der mathematischen Fähigkeiten von Frauen.

Das klingt nun wirklich paradox. Was für eine Erklärung kann Breda anbieten, wenn es nicht die Wesensunterschiede von Mann und Frau sind?

 

O-Ton Thomas Breda frei:

I don’t pretend I have a definitive answer, this should be clear .

 

Autor:

Er hat noch keine. Aber er hat eine Idee:

 

O-Ton Thomas Breda:

So the more developed countries, … and your social identity.

 

Sprecher 1 Voice-Over:

Die entwickelteren Länder mit höherer Gleichberechtigung sind auch individualistischer, man glaubt dort, sich in der Arbeit selbst zu verwirklichen. Die Entscheidung, die man bei der Berufswahl trifft, ist für die Selbstdefinition als Mensch und für die soziale Identität von größerer Bedeutung.

 

Autor:

Diese Rollenzuweisung fängt schon sehr früh an, fanden die Franzosen in einer großen Studie mit sämtlichen französischen Grundschülern. In der ersten Klasse rechnen Jungen und Mädchen gleich gut – aber bald differenziert sich das Bild.

 

O-Ton Thomas Breda:

What we find is pretty depressing … as well in all schools.

 

Sprecher 1 Voice-Over:

Was wir herausgefunden haben, ist ziemlich deprimierend. Wir untersuchen die gesamte französische Bevölkerung – es gibt keinen Familientyp, in dem die Mädchen nicht nach einem Jahr Grundschule im Rechnen zurückbleiben, obwohl sie zu Beginn genauso gut sind wie die Jungen. Ob es sich um homosexuelle Familien handelt, Alleinerziehende, Lehrerhaushalte, Kinder von Ingenieuren – überall und in allen Schulen dasselbe.

 

Musik: Danger Dan – „Sand in die Augen”

… die Sprechstundenhilfe eine Frau, der Oberarzt ein Mann

Und so weiter, ganz egal wohin man sieht

Der Kindergartenleiter leitet, die Erzieherin erzieht

 

O-Ton Maria Charles, University of California, Santa Barbara

I’m Maria Charles, I’m a professor of sociology at the University of California, Santa Barbara. And I’ve been studying gender from a comparative perspective for more than 30 years.

 

Autor:

Mit Geschlechter-Stereotypen beschäftigt sich Maria Charles von der University of California in Santa Barbara schon seit langem. Die Soziologie-Professorin ist in ihren Studien schon im Jahr 2009 auf das Geschlechterparadox gestoßen, sie hat es nur nicht so genannt (4).

 

O-Ton Maria Charles:

Some forms of gender segregation would decline with economic development … very different in different categories.

 

Sprecherin 1 Voice-Over:

Einige Geschlechterbarrieren nehmen mit der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes ab: etwa, dass Frauen keinen Zugang zu höherer Bildung haben oder zu Führungspositionen. Aber andere Unterschiede nehmen zu. Ich habe über Logik nachgedacht, die den verschiedenen Formen der Geschlechtertrennung zugrunde liegt. Bei manchen ist es die Vorstellung von der Überlegenheit des Mannes, bei den anderen ist es der verbreitete Glaube, dass sich die Geschlechter grundsätzlich unterscheiden. Das äußerte sich schon vor 40 Jahren in Buchtiteln wie „Männer sind vom Mars, Frauen sind von der Venus“.

 

Autor:

Und diese hartnäckigen Stereotype über den Unterschied von Mann und Frau können sich trotz zunehmender Gleichheit in der Gesellschaft sogar verstärken. Auch Charles macht den Individualismus in den reicheren Ländern dafür verantwortlich.

 

O-Ton Maria Charles:
And so in rich countries, we’re constantly told, … on these kinds of stereotypes.

 

Sprecherin 1 Voice-Over:

In den reichen Ländern wird uns ständig gesagt: Folge deinen Leidenschaften. Die Menschen suchen nach Dingen, von denen sie erwarten, dass sie sie mögen. Dinge, in denen Leute wie sie gut sind. Und da die Menschen nicht wirklich im Voraus wissen, was sie gut können, folgen sie diesen Stereotypen.

 

O-Ton Straßenumfrage:

Frage: Würdest du sagen, dass auch allgemein Frauen leicht in MINT-Fächer reinkommen oder in MINT-Berufe oder ob es da irgendwie Hürden gibt?

Frau: Man sagt ja schon, dass gerade Berufe, die irgendwie Ansehen schaffen, meistens dann eher so die Männerberufe sind und auch die besser bezahlten. Und ich meine, MINT-Berufe wie Informatikerinnen, die waren ja auch lange tatsächlich Frauenberufe, als sie halt eben vielleicht noch eher die in Anführungszeichen „dumme Zuarbeit“ waren, was ja gar nicht gestimmt hat – aber wie das heute so sich entwickelt, ist eine gute Frage …

 

Autor:

Heute bestimmen Informatiker die Zukunft in unserer technischen Gesellschaft, und in Gegenden wie dem kalifornischen Silicon Valley sind sie eine Kaste für sich, bewundert und hoch bezahlt – und in der großen Mehrheit männlich. Die australische Historikerin und Psychologin Prof. Cordelia Fine hat in Deutschland vor mehr als zehn Jahren das Buch „Die Geschlechterlüge – Die Macht der Vorurteile über Mann und Frau“ (5) veröffentlicht. Sie beschreibt in ihrem bald erscheinenden neuen , wie sich das Rollenbild der Programmiererinnen und Informatiker in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat. Cordelia Fine sagt: Frauen sind in der Community der Computer-Fachleute nicht willkommen, auch wenn wir sie bei dem Versuch unterstützen, dort Fuß zu fassen:

 

O-Ton Prof. Cordelia Fine, University of Melbourne, frei:

We can tell girls: Oh, yes, you should go into computer science, right. But there it’s been very masculinized, there’s a particular kind of person who suits those kinds of jobs …

 

Autor:

In der Computerwelt geht es männlich zu. Nur ein besonderer Typ Mensch ist angeblich für diese Jobs geeignet.

 

O-Ton Prof. Cordelia Fine, University of Melbourne,:

Women are not welcome … or less welcoming to women.

 

Autor:

Da sind Frauen nicht sehr willkommen, obwohl in der Anfangszeit der Computertechnik Programmieren eher ein Frauenberuf war und sie auch gut darin waren. Aber die Stereotype rund um diesen Beruf sind im Lauf der Zeit immer weniger frauenfreundlich geworden.

Die herrschende Vorstellung in westlichen Gesellschaften ist, dass wir unseren Lebensweg frei wählen, nur aus unserem inneren Antrieb heraus und gemäß unseren Talenten und Interessen. Aber die Natur hat uns zu sozialen Wesen gemacht, die sich stark von ihrem Umfeld beeinflussen lassen. Von den Eltern, von der Freundesclique, von den Medien.

 

O-Ton Cordelia Fine:

What is it that’s special about the human … simple way of way of putting it.

 

Sprecherin 1 Voice-Over:

Was ist das Besondere an der menschlichen Evolution? Wir haben diese außergewöhnliche Fähigkeit, uns auf komplexe Weise und in großem Maßstab mit Fremden zu koordinieren. Wir haben diese  Fähigkeit des sozialen Lernens und der kumulativen Kultur und übertreffen da alle anderen Tiere. Dazu gehört auch, dass wir andere nachahmen, dass wir empfänglich sind für Normen, und die setzen wir durch, auch wenn es uns selbst teuer zu stehen kommt. Wirtschaftswissenschaftler haben gezeigt, dass das schon bei der Interaktion mit Babys anfängt und sich durch die Bildungsinstitutionen zieht. Wir sollten die evolutionären Erklärungen für die Konstruktion des sozialen Geschlechts nicht ignorieren. Ganz einfach ausgedrückt: Es liegt in unserer Natur, die Kultur zu verinnerlichen.

 

O-Ton Prof. Armin Falk, Universität Bonn:

Mein Name ist Armin Falk, ich bin Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bonn. Und mich interessieren die Grundlagen menschlichen Verhaltens – das, was man auch Verhaltensökonomik nennt, also die Schnittstelle zwischen der psychologischen Motivation von Entscheidungen auf der einen Seite und ihren ökonomischen Wirkungen auf der anderen Seite.

 

Autor:

Armin Falk ist überzeugt, dass das wirtschaftliche Handeln von Menschen nicht nur Vernunftregeln folgt, sondern durch kulturelle Normen und die individuelle Persönlichkeit bestimmt wird. Im gleichen Jahr 2018, in dem die Studie zum Gender Equality Paradox veröffentlicht wurde, erschien in der Zeitschrift Science eine große internationale Studie, die Falk betrieben hatte (6). Sein Team untersuchte mit Umfragen einige psychologische Dimensionen des wirtschaftlichen Handelns in 76 Ländern, die etwa 90 Prozent der Weltbevölkerung repräsentierten. Eigenschaften wie Geduld – die braucht man zum Beispiel, wenn man Geld fürs Alter auf die hohe Kante legt. Oder die Risikobereitschaft, die einen guten Investor ausmacht.

 

O-Ton Armin Falk:

Und bei der Frage, woher Unterschiede in Präferenzen kommen, stößt man immer wieder auf die Frage, dass es Unterschiede gibt zwischen Männern und Frauen. Also beispielsweise finden wir in unseren Studien, und das gilt auch weltweit im Durchschnitt jedenfalls, dass Männer etwas risikobereiter sind als Frauen, dass Frauen etwas altruistischer sind als Männer und so weiter. Und die Frage war: Woher kommen eigentlich diese geschlechterspezifischen Unterschiede? Und dann sind wir eben auf die Idee gekommen zu gucken, ob es vom Einkommen, also vom Sozialprodukt abhängt oder eben auch davon, wie ausgeprägt die Geschlechtergleichheit in den Ländern ist.

 

Autor:

Das Ergebnis war wieder dasselbe Paradox: Je reicher ein Land und je gleichberechtigter die Geschlechter, desto größer waren die Unterschiede in diesen Persönlichkeitsmerkmalen zwischen Mann und Frau.

 

O-Ton Armin Falk:

Also ich bin ganz ehrlich, ich war überrascht, und ich habe diesen Befund auch in vielen Vorträgen vorgestellt, und bevor ich dann die Ergebnisse zeige, die Leute gefragt. Und die meisten Zuhörer und Zuhörerinnen in den Vorträgen sind dann auch überrascht und fangen dann an, sich zu überlegen, woran es denn liegen könnte, aber man darf eben eine Sache nicht verwechseln: Die Möglichkeit, sich frei zu entfalten, das, was man eigentlich ja mit Chancengerechtigkeit beschreibt, ist nicht dasselbe wie, dass Menschen nachher auch alle gleich sind.

 

Autor:

Beziehungsweise die gleichen Entscheidungen treffen. An einen rein biologischen Unterschied zwischen den Geschlechtern glaubt Falk aber nicht.

 

O-Ton Armin Falk:
Man könnte ja vermuten, es gibt eine biologische Konstante, Männer sind systematisch risikobereiter als Frauen, aber dass es in vielen Ländern überhaupt keinen signifikanten Unterschied gibt und dass die positiven Unterschiede in der Größe sehr stark variieren – das ist mit so einer einfachen biologistischen Erklärung überhaupt nicht kompatibel.

 

Autor:

Während in Industrieländern wie Großbritannien und den USA die Geschlechterunterschiede bei diesen Eigenschaften sehr ausgeprägt sind, sind sie in China oder Uganda fast ausgeglichen, in Ghana und Kasachstan haben sie sogar umgekehrte Vorzeichen – da sind die Frauen ökonomisch risikofreudiger.

 

O-Ton Armin Falk:

Dem entgegen haben wir eine andere Hypothese formuliert, wir nennen das die Ressourcenhypothese. Die kurz gefasst folgenden Gedanken umfasst, dass nämlich zur Herausbildung individueller Eigenschaften bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen, vor allem muss man aus einem Subsistenzlevel rauskommen, das ist nämlich geschlechtsneutral.

 

Autor:

Subsistenzlevel – das bedeutet: Die Menschen haben gerade genug fürs nackte Überleben. Wem es wirtschaftlich schlecht geht, der kann seinen Beruf nicht frei wählen. Auch bei uns gab es früher solche Zwänge.

 

O-Ton Armin Falk:

Wenn ich so an die Aufstiegsgeneration beispielsweise meiner Eltern denke, ging es nicht um die Frage: Was macht mir Spaß? Es ging auch nicht um die Frage: Was bedeutet für mich Erfüllung oder was entspricht meiner Natur? All diese Dinge waren viel weniger relevant als die Frage: Wie kommen wir aus dem Dreck raus, wie kommen wir aus dieser Armut heraus?

 

Autor:

Aber heißt das, die Mädchen in ärmeren Ländern studieren MINT-Fächer, weil das ihre beste Chance ist, sozial aufzusteigen und aus der Armut herauszukommen? Klingt plausibel. Doch Maria Charles hat ihre Zweifel. In internationalen Schülerstudien wird nicht nur ermittelt, worin die Jugendlichen gut sind, sondern auch, was ihnen Spaß macht (6).

 

O-Ton Maria Charles:

It’s not just that they do it because they want to achieve material security … in affluent Western countries.

 

Sprecherin 1 Voice-Over:

Die tun das doch nicht nur, um materielle Sicherheit zu erreichen. Die Frauen in diesen Ländern bringen auch eine größere Affinität für die MINT-Fächer zum Ausdruck. Sie würden nichts anderes machen, wenn sie mehr Sicherheit hätten, sondern sie identifizieren sich mit diesen Fächern in einer Weise, wie es in den wohlhabenden westlichen Ländern nicht der Fall ist.

 

O-Ton Straßenumfrage:

Frage: Würden Sie Mädchen raten, ein technisches oder ein naturwissenschaftliches Fach zu lernen oder zu studieren?

Frau: Ich würde gar nichts raten. Sie soll das machen, was sie gerne machen möchte. Ich selber habe Naturwissenschaft und Technik gemacht, insofern kann ich das nur aus vollstem Herzen empfehlen. Aber einschränken würde ich es nicht.

 

Autor:

Wenn freie Menschen in einer freien Gesellschaft unterschiedliche Wahlen treffen – kann man das nicht einfach hinnehmen? Gijsbert Stoet sieht die Sache entspannt.

 

O-Ton Gijsbert Stoet:
Menschen sollen glücklich sein, das wäre meine Haltung. Vielleicht so eine Art humanistische Haltung. Während vielleicht andere Menschen eine Haltung haben: Man sollte irgendwie die Gesellschaft ändern. Wenn man zum Beispiel zu mir sagen, Gijsbert, du wirst jetzt den MINT-Zar in Deutschland, du hast einen unbeschränkten Budget, du kannst machen was du willst, wir geben dich Milliarden – hier ist, was ich machen würde: viel mehr Geld für Lehrer, dann hat man, glaube ich, eine Chance das Ganze zu ändern, aber wenn man das nicht hat, dann ist es sehr schwierig, die Kinder fangen zu spät an, vielleicht sich wirklich zu verlieben in ein Fach wie Technik oder so etwas.

 

Autor:

Leider sind die meisten Jobs, die Frauen wählen, immer noch die schlechter bezahlten, darauf weist Thomas Breda aus Paris hin.

 

O-Ton Thomas Breda: 

If you pay more for jobs where you have many females, … between social groups.

 

Voice-Over:

Wenn man für frauentypische Berufe wie Krankenschwester höhere Gehälter zahlen würde, dann könnte jeder machen, was er will, und die Leute würden im Schnitt dasselbe verdienen. Solange man es aber für normal hält, dass Ingenieure besser bezahlt werden, so lange führen diese Entscheidungen zu Ungleichheiten. Und wenn sie nicht auf angeborenen Präferenzen beruhen, dann muss man nach den gesellschaftlichen Ursachen forschen.

 

O-Ton Maria Charles:

If a young woman says they want to be a preschool teacher, … and not at an engineering?

 

Sprecherin 1 Voice-Over:

Wenn eine junge Frau Erzieherin werden will und man sagt ihr, sie solle stattdessen Ingenieurin werden, wird das nicht gut ankommen. Denn sie glaubt ja, dass sie als Erzieherin ihre Talente am besten einsetzt und sich damit selbst verwirklicht. Man sollte die Menschen zu nichts zwingen. Aber die Frage ist: Warum glaubt sie denn, dass sie eine gute Kindergärtnerin ist und keine gute Ingenieurin?

 

Musik: Danger Dan – „Sand in die Augen“

…Ob sie studiert oder ackert auf’m Bau
Sie wird weniger verdienen, denn sie ist eine Frau …

 

Autor:

In anderen Sparten schrumpft die Geschlechterlücke erfreulicherweise, im Gesundheitswesen sind Frauen zum Beispiel immer häufiger die Ärztin und nicht nur die Krankenschwester (7). Aber dass junge Frauen nicht in mathematisch-technische Berufe gehen, führt nicht nur dazu, dass sie später weniger verdienen als Männer. Es bedeutet auch: Die Zukunftstechniken, die unsere Gesellschaft zunehmend prägen, werden vorwiegend von Männern vorangetrieben. Im Silicon Valley zum Beispiel bleiben die Softwareentwickler weitgehend unter sich, nur ein Fünftel von ihnen sind Frauen. Die großen KI-Unternehmen werden alle von Alpha-Männern geleitet, und viele meinen, dass das auch den Charakter der Technik prägt.

Dagegen sind andere kulturelle Phänomene vielleicht nebensächlich, aber doch wichtig. Beispiel Kinderspielzeug: Auch da findet eine zunehmende Polarisierung in eine rosa Welt für Mädchen und eine blaue Welt für Jungen statt. Die Soziologin Elizabeth Sweet wollte das einmal quantifizieren, erzählte sie in einem TEDx-Talk an der University of California in Davis (8).

 

O-Ton TEDx-Talk Elizabeth Sweet, San Jose State University:

In my dissertation research, and now postdoctoral research here at UC Davis, I analyzed over 7000 Sears catalog toy advertisements from various time points over the 20th century …

 

Autor darüber:

7000 Spielzeugangebote aus Warenhauskatalogen seit Anfang des 20. Jahrhunderts untersuchte sie darauf, ob sie speziell auf Jungen oder Mädchen zielten. Das Ergebnis: Nie waren Spielzeuge so gegendert wie heute – selbst dann, wenn sie nicht einmal ein typisches Rollenverhalten bedienen. Das konnte sie ganz persönlich erfahren, als sie mit ihrer Tochter eine neue Brotdose kaufen wollte. Eine grüne Box mit einem Dinosaurier drauf hatte es dem Mädchen besonders angetan.

 

O-Ton Elizabeth Sweek:

As she’s taking the lunchbox off the shelf, she happens to see this tag on the lunchbox which says plain as day „boys‘ lunchbox.” And just like that, I could see the doubt cloud her eyes. She began to say I don’t think I want that lunchbox. I’m not supposed to have that lunchbox.

 

Autor:

Als die Tochter sah, dass es sich angeblich um eine „Jungen-Lunchbox” handelte, verflog die Begeisterung.

 

Musik: Billie Eilish – „ What was I made for”

 

Autor:

Kinder lernen sehr früh, was von ihnen erwartet wird. Spielzeug ist wichtig für die Entwicklung der Persönlichkeit, Kinder üben soziales Verhalten, lernen Rollenmuster. Deshalb waren und sind Barbiepuppen vielen Eltern ein Dorn im Auge. Die haben früher ein sehr rigides Rollenbild propagiert, in den letzten Jahren sind sie ein wenig progressiver geworden.

 

O-Ton Maria Charles:

I think in 1990, there was a Barbie … Barbie is still wearing pink.

 

Sprecherin 1 Voice-Over:

Anfang der 90er Jahre gab es eine Barbie, die man aufziehen konnte und dann sagte sie: „Matheunterricht ist schwer, lass uns shoppen gehen.“ Das hatte eine große Empörung bei Feministinnen ausgelöst, und Barbie begann sich anzupassen. Jetzt gibt es die Informatik-Barbie, die NASA-Barbie und alle Arten von Berufs-Barbies. Aber auch die Ingenieurs-Barbie trägt immer noch rosa.

 

O-Ton Straßenumfrage:

Frau: Mädchen dürfen Pink anziehen – aber nicht, weil alle Pink tragen, sondern weil sie vor dem Kleiderschrank stehen und sagen: Ja, Pink will ich!

 

Autor:

Wir leben in einer Gesellschaft, in der die persönliche Autonomie und Freiheit großgeschrieben wird. Niemand sagt mehr, dass Mädchen dümmer seien als Jungs, jeder und jedem steht prinzipiell die Welt offen. Diese Freiheit will uns auch niemand nehmen – aber manchmal sollten wir ein wenig Abstand nehmen und darüber nachdenken, welche äußeren Faktoren unsere Entscheidungen mitbestimmen – und woher die geschlechtlichen Rollenmuster kommen, an denen wir uns immer noch orientieren.

Absage: SWR2 Wissen. Das Geschlechter-Paradox – Fördert Gleichberechtigung alte Rollenbilder? Autor und Sprecher: Christoph Drösser. Mitarbeit: Fabiana Blasco. Redaktion: Sonja Striegl.

 

Endnoten und Links

(1) https://www3.weforum.org/docs/WEF_GGGR_2023.pdfhttps://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-zahe-fortschritte-39338.htm

(2) “The Gender-Equality Paradox in Science, Technology, Engineering, and Mathematics Education”, https://doi.org/10.1177/0956797617741719

(3) “Gender stereotypes can explain the gender-equality paradox”, www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.2008704117

(4) „Indulging Our Gendered Selves? Sex Segregation by Field of Study in 44 Countries”, https://www.jstor.org/stable/10.1086/595942

(5) https://www.amazon.de/Die-Geschlechterl%C3%BCge-Macht-Vorurteile-%C3%BCber/dp/3608947353

(6) “Relationship of gender differences in preferences to economic development and gender equality”, https://www.science.org/doi/10.1126/science.aas9899

(7) Ärztestatistik 2016 https://www.bundesaerztekammer.de/baek/ueber-uns/aerztestatistik/2016

(8) „Beyond the Blue and Pink Toy Divide”, https://www.elizabethvsweet.com/tedx-talk

via www.swr.de

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