Artikel | Christoph Drösser

George-Washington-Fresko: Soll Geschichte ausgelöscht werden?

2019-08-15

San Francisco hält sich gern für die toleranteste Stadt der Welt. Hier nahm die Hippiebewegung ihren Ausgang, hier wagten es Homosexuelle erstmals, öffentlich zu ihrer sexuellen Orientierung zu stehen. Wenn im Schwulen-Stadtteil Castro am hellichten Tag ein splitternackter Mann in der Sonne flaniert, dann schaut kaum ein Passant von seinem Smartphone auf.

FAZ, 15.8.2019

 

Als Victor Arnautoff 1936 dreizehn Fresken über das Leben George Washingtons für eine High School schuf, illustrierte er auch die Schattenseiten des amerikanischen Säulenheiligen. Darüber ist nun ein erbitterter Streit entbrannt.

 

San Francisco hält sich gern für die toleranteste Stadt der Welt. Hier nahm die Hippiebewegung ihren Ausgang, hier wagten es Homosexuelle erstmals, öffentlich zu ihrer sexuellen Orientierung zu stehen. Wenn im Schwulen-Stadtteil Castro am hellichten Tag ein splitternackter Mann in der Sonne flaniert, dann schaut kaum ein Passant von seinem Smartphone auf. Was nicht so viele wissen: Schon vor dem Sommer der Liebe gab es in San Francisco radikale politische Bewegungen. In den dreißiger Jahren war die Stadt eine Hochburg der Arbeiterbewegung. Und ein Kunstwerk aus dieser Zeit hat nun angeblich eine derart verstörende Wirkung auf Jugendliche, dass es dem Blick der Öffentlichkeit entzogen wird. Zeitweise sollte es sogar übermalt und damit zerstört werden.

Der Stein des Anstoßes ist eine Serie von Wandgemälden, die der Künstler Victor Arnautoff 1936 an der George Washington High School schuf. In der Zeit des New Deal, nach der großen Wirtschaftskrise, war Kunst auch eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Die föderale Regierung gab Geld dafür, dass arbeitslose Künstler öffentliche Bilder malten. Sie waren angehalten, das amerikanische Leben in realistischer Weise abzubilden – fast wie ihre Kollegen in der Sowjetunion, die damals den Stil des Sozialistischen Realismus entwickelten. Berühmt sind die Wandgemälde am Coit Tower, damals dem höchsten Gebäude San Franciscos, die den Alltag von Arbeitern und Bauern, aber auch Szenen aus dem amerikanischen Familienleben darstellen.

Die Schattenseiten des Säulenheiligen

Arnautoff bekam den Auftrag, in dreizehn Fresken das Leben George Washingtons darzustellen, des ersten amerikanischen Präsidenten und Namenspatrons der Schule. Der linksgerichtete Künstler begnügte sich nicht mit hagiographischer Erhöhung, sondern zeigte auf zwei Bildern auch die Schattenseiten des Säulenheiligen der Nation. Eines zeigt Washington als Plantagenbesitzer. Er ist an den Rand des Bildes gerückt, in der Mitte sieht man vier schwarze Sklaven, die Maiskolben in Säcke verpacken. „Das macht sehr deutlich, dass Washington zwar die Gleichheit aller Menschen propagierte, aber gleichzeitig andere Menschen als Eigentum besaß“, erklärt der Historiker Robert Cherny, ein anerkannter Fachmann für die öffentliche Kunst des New Deal.

 

Auf dem zweiten umstrittenen Bild zeigt Washington mit ausgestrecktem Arm gen Westen. Ein paar in Grau gehaltene, schemenhafte Soldaten folgen seiner Weisung, aber zu ihren Füßen liegt ein toter Indianer. Das Bild nimmt damit den Völkermord vorweg, den die Siedler auf ihrem Zug gen Westen begingen. Arnautoff war bei Diego Rivera in die Schule gegangen, sein Stil ähnelt stark dem des mexikanischen Muralisten und Revolutionärs. Die Figuren sind realistisch, aber stilisiert dargestellt, erinnern an Werke der italienischen Renaissance. Die Gewalt der historischen Ereignisse wird nicht in blutrünstigen Details präsentiert, sie formt sich im Kopf des Betrachters, der um die Geschichte weiß. Trotzdem sagen nun indianische und afroamerikanische Elternverbände: Wir können es unseren Kindern nicht zumuten, Tag für Tag mit der Unterdrückung ihrer Vorfahren konfrontiert und zu Opfern degradiert zu werden. Die Schulbehörde griff den Protest auf und beschloss im Juni einstimmig, die Kunstwerke zu übermalen – abmontieren und woanders wieder aufbauen lassen sich die in den feuchten Putz gemalten Bilder nicht.

Vielleicht war der Anlass für den Protest gegen Arnautoffs Bilder die Debatte um Statuen von Führern der konföderierten Staaten, die seit 2017 vor allem im Süden Amerikas geführt wird. Die stellen für viele eine Glorifizierung der Sklavenhalter dar, sie möchten sie im öffentlichen Raum nicht mehr sehen. Das Paradoxe an der Debatte in San Francisco: Hier geht es gegen Kunst, die zur ihrer Zeit eine äußerst fortschrittliche Interpretation der Geschichte darstellte.

Kunst als Mittel der Rebellion

Die geplante Zerstörung der Bilder stieß ihrerseits auf Protest und entfachte einen politischen Streit in einer Stadt, die von außen als ideologische Einheitsfront gesehen wird. Bei Wahlen treten – begünstigt durch das seltsame kalifornische Vorwahlsystem – praktisch ausschließlich Mitglieder der Demokratischen Partei gegeneinander an. Präsident Trump holte hier weniger als zehn Prozent der Stimmen, eine konservative Öffentlichkeit existiert praktisch nicht. Aber an der Frage der Arnautoff-Gemälde spalten sich die linken und liberalen Geister mit ungewohnter Heftigkeit. Der Graben verläuft häufig entlang der Generationengrenze. Für die Älteren, die noch in einer muffigen, konservativen Welt aufwuchsen, war Kunst ein Mittel der Rebellion, sie sollte schockieren und aufrütteln. Die jungen Identitätspolitiker von heute, die sich vor allem als Anwälte benachteiligter Gruppen sehen, beurteilen Kunst nach ihrer politischer Weltsicht. Eine ganze Menge Linke sitzen ratlos in der Mitte, in der Schnittmenge dieser beiden Fraktionen. „Und die sind plötzlich ganz still geworden“, sagt der Soziologe Peter Richardson von der San Francisco State University.

Längst wird der Streit nicht mehr nur mit Argumenten ausgetragen. Als Robert Cherny im Juli einen akademischen Vortrag über Arnautoff und seine Bilder hielt, wurde das Podium von Aktivisten gestürmt, die gegen die vermeintlich „rassistische“ Kunst protestierten. Ein absurder Vorwurf, findet Cherny: „Die Absicht des Künstlers war es eindeutig, die Sklaverei und den Genozid an den amerikanischen Indianern zu kritisieren. Aber diejenigen, die diese Bilder nun zerstören wollen, sagen, dass die Absichten des Künstlers unwichtig seien.“

Die Schüler wurden nicht befragt

Vor einem halben Jahrhundert gab es an der George-Washington-Schule schon einmal einen Streit über die Arnautoff-Bilder. Im Zuge der Black-Power-Bewegung schlossen sich schwarze Schüler 1968 zusammen und protestierten gegen die nach ihrer Meinung klischeebeladene und unwürdige Darstellung ihrer Vorfahren. Man befragte die Schülerschaft, und die sprach sich mehrheitlich für eine kreative Lösung aus: Der afroamerikanische Künstler Dewey Crumpler malte ein ergänzendes Triptychon mit seiner Version der schwarzen Geschichte. Damals war das ein gelungener Kontrapunkt zu Arnautoffs Fresken, heute bietet für manche nur noch die komplette Auslöschung Genugtuung. Die Schüler als die wirklich Betroffenen wurden nicht befragt. Ob sie sich wirklich traumatisiert fühlen, ist daher schwer zu beurteilen, aber hinter vorgehaltener Hand sagt so mancher Kritiker, dass sie in ihren Computerspielen erheblich mehr menschenverachtende Gewalt zu sehen bekommen als auf den eher naiven Gemälden.

Der stadtweite Protest gegen die Bilderstürmerei, der sich viele Prominente angeschlossen haben, unter anderen der schwarze ehemalige Bürgermeister Willie Brown, blieb nicht wirkungslos. Am Dienstag dieser Woche beschloss der Schulausschuss mit der denkbar knappen Mehrheit von vier gegen drei Stimmen, die Fresken mit Paneelen zu verdecken. Die sollen dann mit Bildern bemalt werden, die „inspirierend“ auf die jungen Menschen wirken. Für Peter Richardson ist das ein Rezept für eine weichspülende Kunst – „oder überhaupt keine Kunst“.

Robert Cherny, der Arnautoff-Experte, hatte noch bis zur letzten Minute versucht, auch diese Variante zu verhindern, weil sie die Kunstwerke zwar nicht zerstören, aber ebenfalls dauerhaft dem öffentlichen Blick entziehen wird. Er favorisierte eine Lösung mit Vorhängen oder verschiebbaren Blenden vor den Fresken, sodass man sie zumindest zeitweise einem sittlich gefestigten Publikum präsentieren könnte. Das letzte Wort in dieser Posse werden wohl die Gerichte haben.

via www.faz.net

Newsletter

Es gibt Post!