Reportage | Julia Macher

Migration: Was von der Hoffnung übrig bleibt

2019-10-05

Immer mehr minderjährige Marokkaner fliehen nach Spanien. Perspektiven haben auch dort die wenigsten. Hier zeigen sich die Grenzen der spanischen Migrationspolitik.

Abdelaziz Benfrail hat seine Decken zum Trocknen an einen Bauzaun gehängt. In der Nacht hat es geregnet und der 21-Jährige ist zu spät von seiner Matratze unter freiem Himmel unter das nächste Dach geflohen. Jetzt scheint wieder die Sonne in Barcelona. Bagger und Baumaschinen dröhnen. Ein paar Touristen ziehen ihre Rollkoffer Richtung Hotel, in einen der Glas-Stahl-Kästen, die hier dicht an dicht stehen.

Das Poblenou in Barcelona ist ein Viertel im Wandel. Doch an seinen Bruchstellen haben sich diejenigen angesiedelt, für die in der Metropole sonst kein Platz ist: Roma aus Rumänien, Migranten aus dem Senegal und aus Marokko. So wie Abdelaziz Benfrail, der vor einigen Jahren aus dem marokkanischen Tanger nach kam und jetzt in einem Zelt auf einer verlassenen Baustelle lebt. Nicht immer stellt er das Zelt auf, manchmal, so wie vergangene Nacht, schläft er nur auf der Matratze. “Die Polizei kommt manchmal und nimmt uns die Zelte weg”, sagt er. Da wolle er vorbeugen.

Benfrail kam nach Spanien, weil er es zu Hause in Tanger nicht mehr ausgehalten hat. Dort habe es kaum für das Nötigste gereicht, sagt er. Sein Vater sei taubstumm und arbeitslos, die Mutter Putzfrau, er und seine anderen fünf Geschwister hätten als Schrott- und Müllsammler versucht, etwas Geld dazu zu verdienen. Eines Nachts im Sommer 2012, da war er 14 Jahre alt, sei er zum Hafen gelaufen und in eines der Flüchtlingsboote geklettert. Andere junge Menschen drängten sich dort, viele kamen aus Subsahara-Afrika, vermutet er, sie hatten die Schmuggler für die Überfahrt nach Spanien bezahlt. Abdelaziz habe kein Geld dafür gehabt, sagt er, und sich deshalb versteckt. Das Boot brachte sie ins 40 Kilometer entfernte Tarifa. “Ich dachte, dass ich in Spanien vielleicht eine Chance habe, etwas aus meinem Leben zu machen”, sagt er heute. Doch einfach ist das nicht.

12.500 “Mena” – so das spanische Akronym für unbegleitete, minderjährige Migranten – leben derzeit laut Innenministerium in Spanien. Am Umgang mit ihnen zeigen sich die Grenzen und Widersprüche der spanischen Migrationspolitik. In galt Spanien lange als flüchtlingsfreundlich und tolerant, doch dieses Bild hat mit der Realität wenig zu tun.

Benfrail ist ein großer, schlaksiger Mann mit einem schüchternen Lächeln. Er hievt sein Fahrrad über den Zaun, der das unbenutzte Grundstück umzäunt, und deutet mit dem Kinn auf die Brachen ringsum: “Das ist mein Jagdrevier.” Jeden Tag schiebt er seinen Einkaufswagen durch Poblenou, klappert Baustellen ab, stochert in den großen, grauen Müllcontainern nach Verwertbarem. Für ein Kilo Eisen gibt es beim Schrotthändler 15 bis 20 Cent, für Kupfer vier Euro, ab und zu kann er ein paar Schuhe oder Kinderspielzeug verkaufen. Die Konkurrenz ist groß, das Geschäft dominieren die Senegalesen, die mit der ersten großen Migrationswelle in den Nullerjahren nach Spanien kamen. Benfrail lehnt sich über ein Brückengeländer. An die Böschung unter ihm haben drei junge Marokkaner eine Hütte aus Plastikplanen und Pressspanplatten gebaut, vor dem Eingang stehen aufgereiht ein Paar Turnschuhe. Er kennt die Jungs flüchtig, der jüngste sei vor ein paar Tagen aus einem Heim der katalanischen Regionalregierung weggelaufen.

In Spanien sind die 17 autonomen Regionen des Landes verantwortlich für die Aufnahme von minderjährigen Migranten. 40 Millionen Euro hat die spanische Regierung dafür bereit gestellt. Das Geld soll den Minderjährigen, die laut UN-Konvention unter besonderem Schutz stehen, bei Ankunft und Integration helfen – und ihnen ermöglichen, als Erwachsene ein selbstständiges Leben zu führen.

Auch Benfrail hat diese Maßnahmen durchlaufen. Er hat in Andalusien, Madrid und Barcelona in Heimen und betreuten Wohngemeinschaften gelebt, doch zu Hause gefühlt hat er sich nirgends. “Ich war immer wütend”, sagt er. “Die Erzieher haben mich häufig bestraft und ich wusste nicht, warum.”

 

“Eigentlich steht das System kurz vor dem Kollaps”

Seine Anlaufstation in Barcelona war das Centre de Acollida Gaudí. Das Erstaufnahmezentrum für jugendliche Migranten liegt direkt am Park Güell. Hinter der gläsernen Eingangstür des zweigeschossigen Baus stehen zwei junge Marokkaner, die Schirmmütze auf den Hinterkopf geschoben. Sie beobachten den Strom der Reisegruppen, die zu Antoni Gaudís weltberühmter Gartenanlage pilgern.

Eigentlich sollen die Jugendlichen in dem umgebauten ehemaligen Kloster nicht länger als ein paar Monate bleiben, doch viele leben hier schon seit mehr als einem Jahr. Zwischen 2016 und 2018 haben sich die jährlichen Ankünfte im Vergleich zum Vorjahr jeweils fast verdoppelt, fast alle Jugendlichen kamen aus Marokko. Die offiziell 28 Plätze des Zentrums teilen sich seit zwei Jahren 34 Jugendliche. Man hat zusätzliche Betten in die Dreier-Zimmer geschoben, im Speisesaal rückt man enger zusammen, die Erzieher und Psychologen betreuen sechs Jungen mehr. Man zeige viel guten Willen, sagt Rosa Mir, die Leiterin des Hauses, “doch eigentlich steht das System kurz vor dem Kollaps”.

Sozialforscher erklären den Anstieg der Migration aus dem Maghreb mit den Nachwirkungen des Arabischen Frühlings, mit zunehmender Armut, einem repressiven Umfeld. Fragt man die Jugendlichen im Zentrum, erzählen sie von der vagen Hoffnung auf ein besseres Leben. Da ist Amin Binlahbib aus der Oasenstadt Tenghir, der sagt, er hätte die Schule abbrechen müssen, um dem Vater im Laden zu helfen. Da ist der schüchterne Mohamed Reda Rafi aus Ksar-el-Kebir, der davon träumt, Sanitäter oder Krankenpfleger zu werden und darauf wartet, dass sein 13-jähriger Bruder nachkommt. Seine Familie wolle, dass die Kinder in Europa eine Zukunft haben und hat deshalb für die Überfahrt bezahlt. Oder Soleyman Afela aus Tanger, der die neunte Klasse nicht wiederholen wollte und dachte, in Spanien sei das Leben einfacher, “weil es hier Menschen gibt, die einem helfen”. Mit Silberketten, Glitzer-T-Shirt und sorgsam gegeltem Undercut wirkt der 17-Jährige wie Cristiano Ronaldo im Kleinformat. Neben die FC-Barcelona-Poster über seinem Bett hat er ein Holzschildchen mit der Aufschrift “I love Mama” gehängt.

Zu den ersten Aufgaben der Heimleitung gehört die Prüfung der Familienverhältnisse. Damit die Jugendlichen in weiterführende Betreuungsmaßnahmen aufgenommen werden können, muss für jeden Einzelfall desamparo, Schutzlosigkeit, festgestellt werden. “90 Prozent dieser Jugendlichen haben zwar feste, stabile Bindungen zu ihren Familien,” sagt die Direktorin Mir. “Trotzdem fallen sie unter gesetzlichen Schutz, weil sie als Minderjährige allein unterwegs sind.” Zurück zu ihren Familien dürfen die Jugendlichen nur geschickt werden, wenn beide Seiten einverstanden sind. In ihren zehn Jahren als Heimleiterin sei das bisher fünf Mal vorgekommen, in zwei Fällen waren die Jugendlichen ein paar Tage später erneut in Barcelona. Viele Familien schickten ein minderjähriges Kind als Anker nach Spanien, in der Hoffnung, dass es irgendwann Papiere und Arbeit bekomme.

Wie oft das klappt? Rosa Mir zuckt die Schultern. “Die spanischen Ausländergesetze sind für erwachsene Migranten gemacht, die nicht lange bleiben sollen, nicht für diese Jugendlichen.” Der Garten im Innenhof, in dem Geranien gegossen werden müssen, die Werkbank, an der die Jungen Profile für den Modellbau aussägen, der Computersaal, in dem eine Lehrerin mit ihnen Katalanisch lernt: Als Betreuungsangebot, als Beschäftigungsprogramm sei das alles sinnvoll und gut, sagt Mir. Aber eine Existenz lasse sich darauf nicht aufbauen.

 

Drogen, Streit, eine Schlägerei

Mit der Volljährigkeit endet die Fürsorgepflicht des Staates. Es gibt zwar Nachfolgeprogramme und Übergangsgeld, doch den vollen Anspruch haben nur Jugendliche, die drei Jahre betreut wurden. Die meisten Migranten kommen aber mit 16 oder 17 Jahren. Arbeitsperspektiven für sie sind rar: Ausländer, die in Spanien arbeiten wollen, brauchen nicht nur eine Aufenthaltsgenehmigung, sondern auch eine Arbeitserlaubnis. Die erhält nur, wer einen Arbeitsvertrag über 40 Wochenstunden und ein Jahr Laufzeit oder zwei Teilzeitverträge vorweisen kann. Das ist in Katalonien gerade einmal ein Prozent aller Menas .

Benfrail, der Schrottsammler aus Poblenou, stand am Tag nach seinem 18. Geburtstag buchstäblich auf der Straße. Er bekam zwar Übergangsgeld für ein halbes Jahr, aber keinen Wohnplatz. Ein paar Monate konnte er bei einem Marokkaner in einer Metzgerei aushelfen. Der Umgang mit den Lebensmitteln und die Arbeit hinter dem Tresen machten ihm Spaß, doch einen Vertrag gab es nicht. Benfrail lebte in einem besetzten Haus bei Bekannten und rutschte irgendwann ab. Fragt man ihn nach dieser Zeit, reiht er Stichworte aneinander: “Drogen, Streit wegen eines Diebstahls, eine Schlägerei”. Ein Jahr und drei Monate verbrachte er in der Jugendhaft, weshalb, möchte er nicht erzählen. Dann kam er in eine Resozialisierungsmaßnahme in der Base Náutica Municipal.

Die städtische Wassersportstation liegt am Stadtstrand Mar Bella. Auf der Terrasse sonnen sich ein paar Einheimische, unter einem Baldachin warten Eltern, bis der Segelkurs ihrer Kinder endet. Angel Rincón Font, der Verwaltungsdirektor, sitzt in seinem Büro vor dem Computer und klickt durch eine Fotogalerie aus dem letzten Jahr: Benfrail, wie er gemeinsam mit anderen Surfbretter und Zweierkajaks zum Strand trägt. Benfrail, wie er einer Gruppe erklärt, wie man beim Stand-up-Paddling das Paddel ins Wasser führt. “Der Junge hatte Talent, auf dem Wasser und im Umgang mit Kindern”, sagt Angel Rincón Font. Er hätte ihn gern eingestellt und ausgebildet, aber es sei unmöglich, bei Gerichten und Ämtern die entsprechenden Anträge durchzukriegen. “Dabei sind Arbeit und Respekt doch die Grundlagen für Integration!”

Wenn sein ehemaliger Schützling alle paar Tage in der Base Náutica vorbeischaut, spendiert er ihm ein Tortillabrötchen und einen Kakao. Manchmal nimmt er ihn mit auf den Einmaster Icària, zur Spazierfahrt vor Barcelonas Küste. Geschickt balanciert Benfrail dann über das Deck und hisst gemeinsam mit den anderen das Segel. Irgendwann, sagt Ángel Rincón Font, würde er gern in Marokko eine Segelschule aufmachen. Die Infrastruktur dort gebe es, das Know-how und Personal könne er liefern, auch Benfrail soll dann mit dabei sein. Doch bisher fehle ihm für so ein Großvorhaben das Geld. “Wenn ich Leuten hier erzähle, dass ich mit marokkanischen Jugendlichen so ein Projekt starten will, sagen sie, ich sei verrückt”, sagt Rincón Font. Das treibt ihn nur noch mehr an.

 

 

via www.zeit.de

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