Radio-Beitrag | Julia Macher

Umstritten und unfertig: die Sagrada Familia in Barcelona

2022-01-05

 Die Sagrada Familia gehört zu den meist besuchten Bauwerken Spaniens. Eigentlich sollte Antoni Gaudís Bau 2026 vollendet werden, doch der pandemiebedingte Tourismuseinbruch hat dem einen Strich durch die Rechnung gemacht. Aber nicht nur deswegen gibt es Streit um das Bauwerk. 

Jeden Abend legen Passanten an der Avinguda Gaudí den Kopf
in den Nacken und zücken das Handy. Auf einer der Kirchturmspitzen der Sagrada
Familia strahlt ein zwölfzackiger Stern aus Stahl und Glas. Fünfeinhalb Tonnen
schwer und 7,5 Meter von Spitze zu Spitze 2leuchtet er auf dem jüngst fertig
gestellten Marienturm – und das in genau 138 Metern Höhe.

 

Eingeweiht mit feierlichem Pontifikalamt und Volksfest am 8.
Dezember, dem katholischen Feiertag Maria Empfängnis, soll der Stern der
Sagrada Familia etwas von ihrer Strahlkraft zurückgeben. Denn die Pandemie hat
Barcelonas Touristen-Attraktion Nummer schwer gebeutelt. Die Einnahmen sanken
von 100 Millionen Euro 2019 auf 20 Millionen. Die Bauarbeiten mussten zunächst
gestoppt, dann auf einen einzigen Abschnitt beschränkt werden, den der Jungfrau
Maria gewidmeten Turm, den jetzt der ungewöhnliche Aufsatz ziert.

 

Ein Stern für mehr Strahlkraft

 

Eine Reiseleiterin führt eine Gruppe US-Amerikaner zum
besten Foto-Spot, betont wie wichtig der Besuch der Basilika gerade jetzt ist:
Ohne Eintrittsgelder kein Weiterbau. Auch auf der Webseite wird um Spenden
gebeten.  Seit der Grundsteinlegung 1882 wird
die Sagrada Familia aus privater Hand finanziert. Das ist kein Mangel an
öffentlichem Interesse, sondern Kernbestandteil der Ursprungsidee, sagt
Chefarchitekt Jordi Faulí.

 

“Von Anfang an haben Menschen immer wieder für die Sagrada
Familia gespendet, um wenigstens einen Teil des Bauwerks vollendet zu sehen.
Das ist die große Vision Gaudís: Er hat zunächst die Krypta gebaut und sich
dann ausschließlich der Weihnachtsfassade gewidmet, einem kleinen Teil des
Bauwerks. So vorzugehen, war etwas völlig Neues. Er hat das getan, damit er,
damit seine Generation einen Teil der Vollendung sieht. Etwas, was gen Himmel
strebt.”

 

Jordi Faulí ist seit 2012 zuständig für den Weiterbau der
ewig Unvollendeten. Nachfragen zu Verzögerungen kontert er mit einem Schmunzeln
und verweist auf ein Bonmot von Antoni Gaudí: „Mein Auftraggeber kennt keine
Eile.“

 

Was den Bau so herausfordernd macht, erklärt Faulí am
Modell. 18 Türme sollen die Sagrada Familia einmal krönen: zwölf den Aposteln
gewidmet, vier den Evangelisten, einer Maria und der höchste Jesus. Jedes
Bauteil muss einzeln gefertigt werden, nach komplexen mathematischen Formeln. Sie
leiten sich aus den Modellen und Bauteilen ab, die Gaudí hinterlassen hat. So
will man nicht nur dem Modernisme-Meister so treu wie möglich zu bleiben. Für
Faulí birgt das Spiel mit Formen und Proportionen auch die eigentliche, die
spirituelle Dimension des Bauwerks.

 

“Das Grundmodul für die Berechnung der Proportionen sind
die siebeneinhalb Meter Distanz zwischen den Säulen des Seitenschiffs. Der Chor
ist 15 Meter, also doppelt so breit. Das Seitenschiff ist 30 Meter, also vier
Mal so hoch. Die Vierung sechzig Meter, die Apsis 75 Meter hoch – alles
Vielfache der gleichen Zahl. Das Kreuz des Hauptturms wird sich auf einer Hohe
von 172,50 Meter befinden. Das sind 23 Mal siebeneinhalb Meter – und immer noch
etwas niedriger als der Berg Montjüic, der mit 180 Metern 24 Mal siebeneinhalb
Metern entspricht. Alles ist miteinander verbunden. Alles fügt sich.”

 

Kein menschengemachtes Werk dürfe Barcelonas Hausberg
Montjüic überragen, postulierte Gaudí. Denn der sei von Gott geschaffen. Auch
die schrägen Stützen, die sich gegeneinander drehen und nach oben verzweigen,
folgen religiös inspirierten, mathematischen Regeln: Die strengen Linien
treffen an der Kuppel kreisförmig aufeinander, als Symbol für die
göttliche Unendlichkeit.

 

Architektur als theologischer Bedeutungsträger

 

Die Besucher und Besucherinnen, die in Kleingruppen durch
den lichtdurchfluteten Innenraum der Sagrada Familia ziehen, sind fasziniert
von solchen Erklärungen. Juanjo Lahuerta ärgert sich darüber. Der Architekt und
Kunsthistoriker forscht seit drei Jahrzehnten zum Werk Antoni Gaudís. Wer sich
allein auf die mystische Dimension konzentriere, verfälsche die
Entstehungsgeschichte der Sagrada Familia. Gaudí konzipierte den Bau im späten
19. Jahrhundert, als sich auf Barcelonas Straßen Anarchisten und Arbeiter
blutige Gefechte mit Polizei und Militär lieferten. Lahuerta deutet auf ein
Figurenensemble in der Rosenkranzkapelle.

 

 

“Wir sehen hier eine Darstellung der Versuchung. Aber die
Schlange beziehungsweise der Teufel verführt nicht Eva, sondern einen Arbeiter
– und er reicht keinen Apfel, sondern eine Orsini-Bombe, eine Granate. Dieser
Kragstein wurde gemeißelt, nachdem es in Barcelona zwei berühmte Anschläge mit
Orsini-Bomben gegeben hatte: das Attentat im Liceu, dem Opernhaus, und das
Attentat auf die Fronleichnamsprozession. Gaudí überträgt die Genesis in seine
Gegenwart, mit einer überraschenden Eindeutigkeit. Er macht die Zeitgeschichte
so zur heiligen Geschichte, inklusive des Versprechens auf Erlösung.”

 

Das Detail zeigt, wie sehr Antoni Gaudí vom kirchlichen
Denken seiner Zeit und den Ideen seiner Auftraggeber geprägt war. Die
Vereinigung des Heiligen Josef, eine Laien-Vereinigung, wollte mit der Sagrada
Familia einen Sühnetempel errichten: gedacht als Wiedergutmachung für die aufständischen
Arbeiter, die sich gegen eine göttliche Gesellschaftsordnung rebelliert
hätten. Die ersten Spenden stammten von wohlhabenden Bürgern, von
Textil-Fabrikanten und Großhändlern.

 

“Für die herrschenden Klassen, also für die Bourgeoisie,
war der Katholizismus ein Instrument, mit dem sie über Schulen, Krankenhäuser,
Wohlfahrtseinrichtungen eine ganz bestimmte Ideologie verbreiten konnten: Die
Gesellschaft hatte wie eine große, patriarchalisch strukturierte Familie zu
funktionieren: Der Großbourgeoisie kommt dabei die Rolle des Vaters zu, der
Arbeiterschaft die der Angehörigen, für die er zu sorgen hat. // Es ist die
Vision einer Gesellschaft ohne Konflikte. Die Sagrada Familia war die physische
Repräsentation dieser Idee.”

 

Die katholische Kirche und der Klassenkampf

 

Gaudí war auch über die Kirche hinaus der Lieblingsarchitekt
der Reichen und Mächtigen in Barcelona. Sie ließen sich von ihm nicht nur
Wohnhäuser mit ornamentalen Fassaden verzieren, sondern engagierten den
Modernisme-Meister auch für Modellprojekte jenseits der Stadtgrenzen: etwa die
Colonia Güell, in der Arbeiter mit ihren Familien direkt neben der Fabrikanlage
leben sollten, fernab der sündigen Großstadt, dafür aber mit eigener Kirche und
Schule. Für Juanjo Lahuerta, der im Nationalmuseum für katalanische Kunst derzeit
eine viel beachtete Ausstellung über Gaudí und seine Zeit kuratiert, gipfelt
diese Verschmelzung von Religion und Politik in der Sagrada Familia.

 

“Joaquim Mirs Ölgemälde „Die Kathedrale der Armen“ zeigt
die Sagrada Familia nicht nur als Kirche der gläubigen Arbeiter, sondern als
Ort, an dem Bettler, Arme, eben alle, die auf Erlösung hoffen, willkommen sind.
Das ist Teil einer damals initiierten Propaganda-Strategie. Gaudí ist in ihr
der Meißel Gottes: Er widersetzt sich dem nicht. Im Gegenteil: Auch er ist
davon überzeugt, der Auserwählte für diesen Bau zu sein. Gleichzeitig wetterte
die republikanische, antiklerikale Presse gegen ihn und seine Geldgeber und
zeigte ihn vor dem Bauwerk satirisch als Vertreter der Macht.”

 

 

Gaudís Meisterwerk entzweit noch heute. Kopfschüttelnd bahnt
sich Salvador Barroso den Weg zwischen Reisegruppen und fliegenden Händlern,
die Kastagnetten und mexikanische Sombreros verscherbeln.

 

“Kaum ein vernünftiges Lebensmittelgeschäft gibt es mehr in
der Umgebung”, schimpft der Sprecher der Nachbarschaftsvereinigung des Viertels.
Dazu der Verkehrslärm, die vielen Menschen, der Dreck. Am meisten aber ärgert
sich Barroso aber über die Baupläne: Geht es nach der Sagrada Familia, führt
irgendwann eine riesige Vortreppe zum noch nicht gebauten Hauptportal. Mehrere
Häuserblöcke müssten dafür abgerissen werden, 3000 Menschen umziehen. Eine
Lizenz für den Bauplan gibt es nicht, aber die hielt man auch bisher nicht für
notwendig. Mit offizieller Genehmigung baut die Sagrada Familia erst seit 2019.

 

“Das ist die Arroganz und Überheblichkeit einer mächtigen
und reichen Organisation. Aber es gibt ja in der Bibel auch diese Geschichte
von David und Goliath, Sie wissen ja, wie die ausging: also Vorsicht!”

 

Barroso hat gegen Pläne und Baugenehmigung geklagt. Der
Ausgang des Verfahrens ist offen. Was die einen als Gesamtkunstwerk bewundern,
dessen besondere Ausstrahlung in ihrem theologischen Programm begründet liegt,
gilt anderen als kommerzieller Kitsch oder Ausdruck von Arroganz und Macht. An
diesen gegensätzlichen Lesarten der Sagrada Familia hat sich in den letzten 140
Jahren nicht viel verändert.

 

via www.deutschlandfunk.de

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