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Das Rätsel aus Katar

Gestern rief ein Kollege an, der gerade unseren Weltreporter.net-Newsletter gelesen hatte. Er wollte wissen, wieso ich meinen Eintrag über den Start von Al Dschasira English "Medienoffensive auf islamisch" genannt habe – wo ich ihn doch schon mehrmals davon zu überzeugen versuchte, dass Al Dschasira vieles nicht ist, von dem man im Westen glaubt, das es das ist. Und es ist sicherlich nicht – auch nicht in seiner arabischen Variante – ein "islamischer" Sender. Des Rätsels Lösung: Unser Newsletter-Redakteur hatte schnell eine Überschrift benötigt, konnte mich nicht aber nicht erreichen. Da formulierte er: "Medienoffensive auf islamisch".

Während ich dies schreibe, läuft vor mir Al Dschasira English bzw. International, wie der neue Sender in den letzten Wochen auch genannt wurde. Der Sendestart liegt einige Stunden zurück. Ich habe die ersten beiden Stunden geschaut. Al Dschasira – das Rätsel aus Katar, von "Index on Censorship" 2003 für besonderen Mut ausgezeichnet? Das größte Fernsehexperiment seit 20 Jahren, wie "Die Zeit" schreibt?

Hoffentlich. Wo der etablierte News-TV-Journalismus der großen internationalen Häuser in einem Dickicht aus Interessen, Vorlieben und Rücksichten, aus Vorurteilen und Regierungspropaganda zu ersticken droht und immer glatter wird, scheint eine Frischzellenkur durchaus nötig.

Dem arabischen Programm von Al Dschasira ist es in den zehn Jahren seiner Existenz gelungen, nahezu alle Meinungsmonopole im Nahen und Mittleren Osten zu brechen. Aidan White, 20 Jahre lang Direktor der Internationalen Journalisten-Föderation, schreibt: "Al Dschasira ist keine Terroristenorganisation. Es besitzt keine Waffen. Es beschreitet neue Wege, fordert Regierungen heraus und bietet alternative Blickwinkel in einer weithin von den USA dominierten Weltsicht auf aktuelle Vorgänge."

Ebenso faszinierend wie das Phänomen Al Dschasira ist, wie hartnäckig sich alle möglichen Urteile und Vorurteile über den Sender im Westen halten. Wenn ich in Deutschland bin, erlebe ich es bei Freunden und Bekannten immer wieder. Sie glauben, Al Dschasira sei extremistisch, fundamentalistisch oder irgendwas in der Art, ein Sprachrohr von Terroristen, mindestens. Donald Rumsfeld behauptete einst, Al Dschasira strahle Hinrichtungen von US-Soldaten aus. Der Sender dementiert: "…haben niemals, zu keiner Zeit, Hinrichtungen oder Köpfungen ausgestrahlt."

Der Sender ist kontrovers, auch polternd, gelegentlich jenseits der Limits von Sachlichkeit und Balance. Aber, so sagen die Macher, die Wirklichkeit sei halt nicht ausbalanciert, man könne sie sich nicht aussuchen, könne nicht einfach uggly voices ignorieren. Das Sendermotto lautet: Die Meinung und die Meinung des anderen. Legendär: die Talkrunden des Senders: Atheisten, Feministinnen, Fundamentalisten, Prediger, Säkulare – sie alle kommen auf Al Dschasira zu Wort. Das macht den Sender zu einem Medienpionier in der arabischen Welt. Eindrucksvoll die Liste der Kritiker: Al Dschasira sei anti-amerikanisch (so die US-Regierung), zionistisch-israelisch (so Al-Qaida – weil auch israelische Politiker wie Ariel Sharon zu Wort kommen), aufrührerisch (so die arabischen Regime, die immer wieder Büros des Senders schließen) usw. usf.

Wer Al-Dschasira-Korrespondenten begegnet, trifft leidenschaftliche, engagierte Journalisten. Manchmal gehen die Ambitionen mit ihnen durch, aber das scheint mir angesichts der schaumgebremsten Berichterstattung vieler etablierter Medien ein eher kleines Übel zu sein. Für die zwei Dutzend prominenter westlicher TV-Köpfe, die nun zu Al Dschasira English gingen, sei genau das, so hört man, der Grund für ihren Schritt gewesen. Zu ihnen gehören David Frost ("der wohl bekannteste britische Journalist" – F.A.Z.), der preisgekrönte Dave Marash von ABC sowie Riz Khan, eine Hausmarke von CNN. Dave Marash erklärt hier seinen Schritt.

Was habe ich nun heute gesehen? Ein hochprofessionelles Programm, schnell, reich, aufwändig, mit eindrucksvollem Studio- und Stationendesign, eine herausragende Reportage aus Liberia von der grandiosen Juliana Ruhfus, ein (seltenes) Interview mit Kongos Präsident Kabila, eine Liveschaltung aus Darfur usw. Man darf gespannt sein.

Al Dschasira English ist auch in Deutschland zu empfangen, über Satellit und in einigen Kabelnetzen.

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