KAIRO, Montag, der 28. Dezember 2009
Jürgen Stryjak
Yussuf Al-Qaradawi ist so einflussreich wie umstritten. Der populäre muslimische Gelehrte hat Terroranschläge wie die von New York, Madrid oder London verurteilt, aber gleichzeitig palästinensische Selbstmordattentate gegen Israelis als Akt der Selbstverteidigung gebilligt. In der weiblichen Genitalverstümmelung sieht er keinen islamischen Brauch, sondern ein »Werk des Teufels«. In einem islamischen Rechtsgutachten (Fatwa) erklärte er zum Beispiel den Genuss geringer Mengen von Alkohol für statthaft – und wurde dafür von Predigerkollegen gescholten. Seine wöchentliche TV-Show auf Al-Dschasira erreicht Millionen in der arabischen Welt, wird aber, so hört man es aus dem Sender, im Hause selbst von nicht wenigen mit großer Skepsis beurteilt.
Bettina Gräf vom Zentrum Moderner Orient in Berlin beschreibt den schillernden Prediger als »moralisch-konservativ und missionarisch, aber nicht dogmatisch«. Als sicher kann wohl gelten, dass Al-Qaradawi erzkonservativ ist, in einer Art, die man auch bei Katholiken findet (z. B. Ablehnung der Homosexualität).
Aber will Al-Qaradawi jetzt Weihnachten verbieten? Kurz vor dem Fest tauchte bei ‘Spiegel Online’ eine entsprechende Meldung auf, die durch die deutschsprachigen Medien irrlichterte und bei der ‘Welt’ zum Beispiel als »Hetze gegen Christentum« landete.
Einmal mehr kann das Eigenleben bewundert werden, das Meldungen dieser Art mit atemberaubender Geschwindigkeit entwickeln. Tarafa Baghajati von der Initiative muslimischer ÖsterreichInnen hat das in einer Rundmail gut beschrieben. Nach Rücksprache mit dem Autor möchte ich hier seine Mail veröffentlichen:
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Eingehend ist festzuhalten, dass jeder jeden kritisieren kann und soll. Das ist in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit. Muslimische Persönlichkeiten sind davon natürlich nicht ausgenommen. Allerdings sollte eine kritische Meldung, insbesondere wenn sie von Qualitätsmedien kolportiert wird, auf überprüften Quellen basieren. Insbesondere was Islam und Muslime betrifft, gehören falsche Übersetzungen und aus dem Zusammenhang gerissene Zitate zu den beliebtesten Instrumenten, um Muslime und ihre Religion zu diffamieren. Der Übersetzungsdienst MEMRI ist in diesem Zusammenhang bereits auffällig geworden und kann nicht als seriöse und objektive Quelle angesehen werden. Darauf hat Brian Whitaker bereits im August 2002 in seinem im ‘Guardian’ veröffentlichten Artikel Selective MEMRI aufmerksam gemacht.
Ausgerechnet zur besinnlichen Weihnachtszeit haben nun zahlreiche Medien die Meldung verbreitet, dass der islamische Gelehrte Yussuf Al-Qaradawi ein Verbot des Weihnachtsfestes fordere. Ursprungsquelle dieser Zeitungsente ist der Übersetzungsdienst MEMRI. ‘Die Welt’ beispielsweise schreibt: »Der einflussreiche islamische Gelehrte Yussuf al-Qaradawi hetzt gegen die Christen. In der islamischen Welt müsse das Weihnachtsfest verboten werden, fordert der 83-Jährige in einer Fatwa, einem islamischen Rechtsgutachten. Die Hassrede des Predigers ist in einem Video auf YouTube zu sehen.«
APA, Standard, ORF und viele andere Medien haben ungefähr den gleichen Inhalt wiedergegeben. (‘Der Standard’ hat sich inzwischen korrigiert. – J.S.) ‘Der Spiegel’ titelte mit »Heiligabend-Attacke«, BILD wusste von einem »Angriff auf Heiligabend« zu berichten. Wer die Originalrede auf Arabisch hört, findet allerdings keinerlei Hinweis darauf, dass Qaradawi Christen das Weihnachtsfest verbieten möchte. Scheich Qaradawi kritisiert in seiner Predigt die lokalen muslimischen Geschäftsleute, die »die Geburt Jesu, Friede sei mit ihm, genannt Christmas zelebrieren […] mit ihren vier bis fünf Meter hohen Weihnachtsbäumen« nur um des Kommerzes willen (»nur für den Gewinn, für Geld«). Dies sei für Muslime unstatthaft und unpassend (»ein Fest einer Religion zu feiern, die nicht die Eure ist, währenddessen andernorts der Bau von Minaretten Muslimen verboten wird.«). Der Zusammenhang von Minarettverbot in der Schweiz und der Kritik an der Verbreitung von kommerziellem Weihnachtskitsch in der muslimischen Gesellschaft, erschließt sich auch mir nicht recht. Von einer »Hassrede« kann allerdings keine Rede sein, irgendwelche verbale Attacken gegen Christen fehlen gänzlich. Qaradawis Kritik ähnelt der Kritik an Halloween oder Santa Claus (im Gegensatz zum Christkind), wie sie bei uns immer wieder laut werden. Interessant ist, dass in der MEMRI-Wiedergabe das Lob Jesus mit den Worten »Friede sei mit ihm« durch Qaradawi zur Gänze fehlt, warum wohl?
Beim Nachrichtenmagazin ‘Der Spiegel’ ist einem Redakteur die Phantasie gänzlich durchgegangen. Dort heißt es: »Und auch jenseits von Weihnachten sähe der einflussreiche Prediger die Rechte der Christen gern beschnitten: ‘Kirchen dürfen keine Kreuze mehr tragen. Kirchenglocken dürfen auch nicht mehr läuten’, forderte er weiter.« Das ist eine reine Erfindung und findet sich nicht in der MEMRI-Übersetzung und schon gar nicht in der Originalrede.
Es ist äußerst bedauerlich immer wieder feststellen zu müssen, dass negative Schlagzeilen zum Islam sich von Medium zu Medium wie ein Lauffeuer verbreiten, ohne dass die vielen beteiligten verantwortlichen Redakteure auf die Idee kommen würden, ihrer journalistischen Sorgfaltspflicht nachzukommen. Stattdessen wird die Geschichte auch noch ausgeschmückt und angereichert. Es gibt auch im deutschsprachigen Raum genügend arabischkundige Menschen und Experten ohne ideologische Mission, für die es ein leichtes wäre, derartige Meldungen zu verifizieren bzw. zu falsifizieren.
Zum Schluss möchte ich noch anmerken, dass ich Scheich Qaradawis Ansicht nicht teile. Der Islam wird durch ein paar Weihnachtsbäume nicht gefährdet. Im Gegenteil; die Länder mit muslimischer Mehrheitsgesellschaft können bei aller berechtigten Kritik an der Kommerzialisierung religiöser Anlässe stolz darauf sein, dass christliche Feste sich in ihrem Straßenbild widerspiegeln. Das Fernsehprogramm vieler arabischer Sender liefert ein spezielles Weihnachtsprogramm. Es ist ein Zeichen dafür, dass religiöse Gruppen nicht nur friedlich nebeneinander existieren können, sondern darüber hinaus auch in der Lage sind, ein harmonisches Miteinander zu finden. So überflüssig die »Islamisierungsdebatte« in Europa ist; so unnötig wäre es vice versa eine »Christianisierungsdebatte« in der muslimischen Welt vom Zaun zu brechen.
In diesem Sinne besinnliche Feiertage und ein schönes neues Jahr 2010, aber auch ein schönes Jahr 1431 nach Islamischem Kalender, das am 18. 12. 2009 begann.
Tarafa Baghajati, Wien 26. 12. 2009
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Ich habe diesem Thema eigentlich kaum Beachtung geschenkt. Doch im Nachhinein ertappt man sich irgendwie dabei, dass man eine solche falsch wiedergegebene Kritik als normal empfindet. Dass man selbst nicht stutzig wird, dass ein islamistischer Gelehrter Weihnachten abschaffen wolle oder sich so ausgedrückt habe. Von daher Danke für die Richtigstellung.
Doch dass Qualitätsmedien nun die Zeche zahlen müssen für entlassene Redakteure und schnelles unreflektiertes Hinschmieren von irgendeinem Hörensagen, das ist nichts Neues und bei weitem Nichts, was sich nur auf religiöse Themen beschränkt.
Gerade durch Blogs wie diesen oder ebend den Bildblog (wo dies hier dankenswerter Weise verlinkt war) wird aufgezeigt, wie wenig heutiger Journalismus noch Qualität bietet. Und immer mehr ehemals qualitativ hochwertige Redaktionen rutschen insbesondere bei ihren Online-Auftritten in diese Qualitätslosigkeit um das Tempo des Internets und der Aktualität der Meldungen gerecht zu werden.
Etwas, was uns als mündigen Bürger zu denken geben sollte, da die Medien uns täglich massiv beeinflussen.
In diesem Sinne: Danke für diesen Blog-Eintrag.
Etwas verwirrt bleibe ich dennoch zurück, was diesen widersprüchlichen Mann betrifft.
Der verlinkte Wikipedia-Eintrag lässt Al-Qaradawi die Genitalverstümmelung bei Mädchen als "erlaubt" ansehen, mit Quelle von 2006 und Rüdiger Nehberg gegenüber ist es plötzlich ein Werk des Teufels.
Hat er in den drei Jahren seine Meinung geändert, oder gibt es wieder Stille-Post-artige Fehler, die sich -wo auch immer- eingeschlichen haben?
Mit Grüßen.
Dankeschön für die Kommentare. Es gibt einiges, dass bei Al-Qaradawi zu recht Verwirrung auslöst. Wie ich es in meinen einleitenden Sätzen schrieb: Er ist umstritten. Etliche seiner Auffassungen erregen Widerspruch, und das sollten sie auch, wie ich finde. Es ist unbedingt richtig, sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen — etwa was seine Bischof-Dyba-ähnliche Auffassung zu Homosexualität betrifft.
Aber ich denke, dass es darum in diesem Falle gar nicht geht. Es ging mir nicht um Al-Qaradawi, sondern um die Stille Post, die sich (mal wieder) in unseren Medien abspielte.
Eine kritische Auseinandersetzung macht ja nur dann Sinn, wenn sie präzise und redlich ist. Was wir aber vor Weihnachten erlebt haben ist, dass es Redakteure bei der Steilvorlage "Moslemprediger hetzt gegen Weihnachten und /oder Christen" wohl zu sehr in den Fingern gejuckt hat, als dass sie sich diese Vorlage entgehen lassen konnten.
Hier hören kritsche Auseinandersetzung und Widerspiegelung auf, und Stimmungsmache beginnt.
Was die weibliche Genitalverstümmelung (FGM) betrifft, vermute ich erstens, dass Wikipedia in diesem Punkt einfach nicht aktuell ist, und zweitens, dass Al-Qaradawi da womöglich tatsächlich einen Gesinnungswandel vollzogen hat. Noch 2004 erläuterte er etwas unentschlossen, dass es keinen Beleg dafür gebe, dass die weibliche Beschneidung obligatorisch sei im Islam. Gleichwohl sei sie erlaubt, sollte aber auch verboten werden können, wenn sich herausstelle, dass sie Schaden verursache etc. etc. 2006 dann unterstützte er eine Erklärung, die formulierte, dass FGM ein Missstand sei, der bestraft werden müsse. Al-Qaradawi wurde mit den Worten zitiert: "Ich bin auf der Seite jener, die die FGM abschaffen wollen." Die Erklärung war 2006 in Kairo von prominenten islamischen Religionsgelehrten aus über einem Dutzend Länder Afrikas, Europas und der arabischen Welt unterschrieben worden.
2009 veröffentlichte Al-Qaradawi dann ein sog. Rechtsgutachten (Fatwa), in dem er schreibt, dass die weibliche Beschneidung "nach islamischen Recht verboten" sei, weil sie "ein Eingriff in Gottes Schöpfung" darstelle, der "ein Werk des Teufels" ist.
Zum arabischen Originaltext hier entlang: http://www.target-nehberg.de/pressematerial/pdf/Qaradawi-02.03.2009-Doha-Fatwa.pdf
Ägyptische Reaktionen hier: http://www.thedailynewsegypt.com/article.aspx?ArticleID=20618
Irgend ein Gerücht über unterdrückte Religionsanhänger zu verbreiten ist eigentlich eine Spezialität arabischer Medien. Die Mär des vom Christentum unterdrückten Islam wird arabischen Kindern praktisch schon mit der Muttermilch eingetrichtert.
Und seit 2001 kopieren offenbar die westlichen (christlichen) Medien dieses Verhalten.
…und es geht weiter. Gerade hat Alexander Schuller im Deutschland Radio Kultur die Gelegenheit ergriffen, die Lüge vom Muslim, der Weihnachten verbieten möchte, zu verfestigen. Ein dümmlicher Kommentar insgesamt, aber der Mythos wird dadurch weiterleben!
Hier der Link:
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/politischesfeuilleton/1112601/
Grüße.
KAIRO,
Jürgen Stryjak
Nun kam heute der MEMRI-Beitrag bei mir an, weil ich das wohl irgendwann mal abonniert habe – und zumindest in den Untertiteln war nichts davon zu lesen, dass Friede mit Jesus sein möge. Aber das waren die MEMRI-Untertitel, und ich versteh kein Arabisch… Immerhin spricht der Mann, auch wenn man ihn nicht versteht, um einiges interessanter als die meisten christlichen Bischöfe, die man so zu hören bekommt…
http://www.memri.org/clip/en/0/0/0/0/257/0/2300.htm
Trotzdem: Auch in der MEMRI-Übersetzung sagt er sinngemäß: Weihnachtsbäume (4-5 Meter hoch) in Städten der Moslems, das sei ja so, als könne man in Europa den Ramadan feiern…!