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Du bist nur eine Ameise

 

Die Kaffeetasse rappelt, der Tisch vibriert und ich bücke mich schon wieder, um jeden Moment darunter zu verschwinden: Noch eine Sekunde warten, ob der Tremor schwächer wird? Oder ist das doch das gefürchtete schwere Nachbeben, das uns die nächsten Stunden oder Tage bevorsteht? Seit dem schweren Erdbeben in Christchurch am Samstagmorgen fährt mir jede zarte Erschütterung von Boden und Wänden, wie sie sonst auch durch heftigen Wind oder das Vorbeifahren einer Straßenbahn ausgelöst werden kann, in die Glieder. Die Nerven werden zu Seismographen und melden sofort Alarm. Alle paar Stunden ein kleiner Adrenalinschub: Dann spüren wir in unserem Holzhaus am Hang, dass die Erde in Aotearoa sich noch keinesfalls beruhigt hat. Wächst sich das mittlerweile vertraute Gefühl nicht zur Panik aus, dann schleicht sich fast so etwas wie Gewohnheit ein. Also abwarten und aussitzen. Neben den großen Bildern, die wir alle von der Wand genommen haben, und den mit Klebeband versiegelten Schranktüren, aus denen hoffentlich keine Vasen mehr poltern.

 Immerhin wissen wir jetzt, wo die Taschenlampen griffbereit liegen. Vor der Tür steht ein Kanister Wasser, im Auto liegen Decken und Notproviant. Nur das alte Transistorradio in der Garage hat noch immer keine neuen Batterien – und wird sie, wie ich uns kenne, wohl nie haben. Seit den sieben Jahren, die ich mit meiner Familie an einem der erdbebenreichsten Orte der Welt lebe, rutscht auch die Notfall-Ausrüstung, wie sie sich für jeden anständigen Kiwi-Haushalt gehört, auf der „To do“-Liste immer tiefer. Typisch: Sie wird erst dann angeschafft, wenn der Ernstfall vorüber ist. Wir gehören zu den Glücklichen, die nur zerbrochenes Geschirr und einen Riss am Kamin zu vermelden haben. Unsere Straße ist noch befahrbar, alle Wände stehen, nach einem Tag ohne Strom und Wasser sind wir jetzt wieder am Versorgungsnetz – so schnell geht das Leben nach dem Beben wieder seinen gewohnten Gang. Die humanitäre Katastrophe ist nicht eingetreten, auch wenn es viele Menschen in und um Christchurch böse erwischt hat: Sie leben vorerst wischen Trümmern oder Kloake, viele sind verletzt. Doch die meisten, die ich kenne, sind in erster Linie psychisch gebeutelt. Sich fast eine Minute lang in einem gigantischen Zementmischer zu befinden, gegen den heftige Turbulenzen im Flugzeug ein Witz sind – das geht an die Substanz. Denn das Gefühl, den Naturgewalten ausgeliefert zu sein, weckt Urängste: Du bist nur eine winzige Ameise, ein Staubkorn auf der Erdoberfläche. Weggepustet, weggeschüttelt. Und da wir nicht mehr täglich wie die Neandertaler mit Mammuts ums Überleben kämpfen, kennen die meisten von uns – Bungy-Springer mal ausgenommen – nicht den Adrenalinschub, der mit dem Gefühl der Todesgefahr einhergeht. Es erwischt dich kalt.

Die Großstadtkämpfer sitzen heute in den wenigen Szene-Cafés, die offen haben, und reden sich das Wochenende von der Seele. Allein will niemand sein. Einige sehen mitgenommen aus, erschüttert in ihren Grundfesten. Die Kontrollierten und Starken hat das Gefühl des Ausgeliefertseins am heftigsten erwischt. Ihre Kinder scheinen das Ganze besser verkraftet zu haben, gehen staunend aufgeplatzte Straßen besichtigen und freuen sich, dass erst mal schulfrei ist.

Während die Gläser im Regal hinter der Theke sanft klirren – da war doch wieder ein kleines Nachbeben! – kursieren zwischen den Cafétischen Ratschläge, welche Position im Haus den besten Schutz bietet, wenn es wieder rappelt: Hände über den Kopf und an die Wand ducken? Unter den Esstisch kauern? Die lange favorisierte Tisch-Lösung ist umstritten. „Was ist, wenn die Beine wegbrechen und die ganze Platte dich erschlägt?“, fragt mich eine Freundin, die seit gestern nicht mehr im zweiten Stock schlafen kann. Der Urinstinkt sagt in solchen Situationen: Nach draußen laufen. Die Erbeben-Experten sagen: Bloß nicht, denn dann können Äste, Dachziegel, Mauern und zersplitternde Fensterscheiben auf dich stürzen. Als sicherster Standort galt bisher immer ein Türrahmen, egal wie schmal. Auch David, Vater von drei kleinen Kindern, hielt sich daran, als er nach den ersten Schrecksekunden endlich seinen Jüngsten aus dem Babybett ziehen konnte und sofort Schutz neben der Zimmertür suchte.  Die schlug dann prompt dem Kleinen heftig gegen den Kopf. „Also nur noch Türrahmen, wenn es sich um Schiebetüren handelt“, sagt David. Wir sind jetzt alle Survival-Experten. Unsere Kaffeetassen vibrieren. Da war wieder eins. Die Tischplatte sieht wirklich nicht sehr stabil aus.

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