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Recherchieren in China – ein Interview mit Janis Vougioukas

Für das Buch “Echt Wahr! Wie Journalisten Wirklichkeit erzählen” haben Studenten der Hamburg Media School (inzwischen sind sie Absolventen!) auch Interviews mit Korrespondenten des Weltreporter-Netzwerks geführt. In diesem Werkstattgespräch erzählte Janis Vougioukas Christina Lachnitt von seiner – manchmal ganz schön schwierigen – Arbeit in China.

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Keine Transparente, keine Sprechchöre. Eine kleine Demonstrati­on, kaum als solche erkennbar. Nur ein paar Dutzend Menschen, die im Regen stehen. Selbst das ist zu viel: Die Journalisten auf dem Platz, darunter Janis Vougioukas, werden von der Polizei „einge­sammelt“, wie der Korrespondent es später ausdrückt. „Das zeigt, wie nervös das Regime ist.“ Vougioukas lebt seit 2002 in Shanghai, berichtet aus Südostasien für den Stern. Mit Christina Lachnitt sprach er über die schwierigen Arbeitsbedingungen für ausländi­sche Korrespondenten, mutige chinesische Kollegen – und warum er trotz allem gerne aus China berichtet: „Probleme machen die Arbeit für mich erst interessant.“

Herr Vougioukas, Sie sind im März 2011 in Shanghai bei einer Demonstration festgenommen worden. Was war da los?
Wenn Sie die Szene als Passant gesehen hätten, würden Sie vielleicht sagen: nichts. Vor einem Kaufhaus hatten sich etwa 50 Menschen ver­sammelt, ohne Transparente. Sie gingen in dem Trubel auf der Stra­ße fast unter, es war eine getarnte Demonstration. Dazu aufgerufen hatte eine Handvoll Aktivisten, die die Proteste aus der arabischen Welt nach China bringen wollten. Sie nannten das Jasminrevolution.

Wie sind Sie auf eine so dezente Meinungsäußerung aufmerksam geworden?
Die Polizei hatte alle ausländischen Journalisten angerufen und da­vor gewarnt, an dem betreffenden Wochenende in die Innenstadt zu gehen. Ich habe mit Kollegen gesprochen: Eigentlich war diese win­zige Demonstration kein Thema für uns, wir wollten gar nicht be­richten. Aber wenn die Polizei uns extra anruft, ist es unsere jour­nalistische Pflicht, hinzugehen und aufzuschreiben, was passiert.

Der große Bruder hat Sie also selbst darauf gestoßen?
Die Reaktionen auf die Jasminrevolution waren absurd. Die Polizei ging zu Tee- und Blumenhändlern und sagte: Ihr dürft keinen Jas­mintee, keine Jasminsträucher verkaufen! Es war wie bei Orwell: Die Regierung versuchte das Wort Jasmin zu eliminieren, um den Men­schen ihr revolutionäres Gedankengut auszutreiben. Schon lange kursierte im Internet ein lustiges Video von Premierminister Wen Jiabao, aufgenommen bei einer Afrikareise. Er sang ein Lied, in dem eine Jasminblume vorkam. Das wollte die Regierung dann löschen.

Wo haben die Polizisten Sie hingebracht?
In einen unterirdischen Bunker, der vermutlich extra für diesen Zweck eingerichtet wurde. Aber, in China festgenommen zu wer­den ist für uns Korrespondenten nicht so schlimm, wie es klingt. Mir wurden nicht mal Handschellen angelegt, ich bin auch noch nie gefoltert worden. Die Festnahme hatte auch keine spürbaren Konsequenzen. Ich kannte ja die meisten der Polizisten und mit mir wurden ein Dutzend andere Journalisten festgenommen.

Und die Demonstranten?
Einige sind zu langen Haftstrafen verurteilt worden. Darunter auch ein Anfang 20-Jähriger, der mit Twitter-Posts zu dieser De­monstration aufgerufen hatte.

Das ist hart.
Die harsche Reaktion zeigt, wie überrascht und besorgt die Regie­rung war. Kurz zuvor war ein Bloomberg-Kameramann kranken­hausreif geschlagen worden. Vermieter wurden gedrängt, keine Journalisten mehr einzuquartieren. Die Familie der Freundin ei­nes Kollegen wurde unter Druck gesetzt, damit er nicht über diese Demonstration berichtet. Das sind doch schon Gestapo-Methoden. Es gibt zwar auch sonst immer wieder Demonstrationen, aber sie richten sich gegen ein Chemiewerk oder einen korrupten Beamten. Nie gegen das System generell, das hat es seit dem Massaker auf dem Tian’anmen-Platz nicht mehr gegeben.

In Ihrem Pass steht auf Chinesisch „Journalist“ – gel­ten Sie dadurch als Staatsfeind?
Nein, nicht automatisch. Aber jedes Hotel, in das man eincheckt, muss das Visum kopieren und an die Sicherheitsbehörden faxen. Wir müssen sogar den Pass vorzeigen, um ein Zugticket zu kaufen. Man kann kaum unentdeckt reisen, fällt überall sofort auf. Ausländische Fernsehteams schicken deshalb oft Chinesen mit Kameras los.

Trotzdem gibt es immer wieder Festnahmen.
Ja, das passiert regelmäßig. Aber uns Korrespondenten kann ja nicht viel passieren. Die größte Gefahr besteht für unsere chinesi­schen Interviewpartner. Um die muss man sich am meisten sorgen.

Wie schützen Sie Ihre Interviewpartner?
Viele ahnen gar nicht, in welcher Gefahr sie sich befinden, wenn sie mit ausländischen Journalisten sprechen. Bauern oder Enteig­nete, zum Beispiel. Da ändern wir die Namen. Wenn man aber Ai Weiwei spricht, ist das natürlich etwas anderes.

Bekommen Sie Auflagen vom Staat? Oder gibt es unge­schriebene Gesetze?
Es gibt geschriebene und ungeschriebene Gesetze, die sich mit der Zeit geändert haben. Früher mussten wir jede Inlandsreise geneh­migen lassen. Das war absurd. Einmal wollte ich nach Südchina in einen Freizeitpark fahren, für eine Geschichte mit dem Arbeitsti­tel „Die Chinesen entdecken den Urlaub“. Nach zwei Wochen hatte ich noch immer keine Genehmigung. Damals habe ich beschlossen, diese Regel zu ignorieren. Doch genau das ist die Idee dahinter: Wer gegen Regeln verstößt, gegen den kann die Regierung jeder­zeit vorgehen. Seit den Olympischen Spielen brauchen wir für In­landsreisen keine Zustimmung der Regierung mehr und auch kei­ne Begleiter. Das ist allerdings die einzige Regel, die sich gebessert hat. Sonst ist vieles immer komplizierter geworden.

Was zum Beispiel?
Unsere chinesischen Mitarbeiter werden stärker unter Druck ge­setzt, öfter als früher von der Geheimpolizei zu Gesprächen ein­geladen. Wenn sie gegen Regeln verstoßen, kommen sie auf eine schwarze Liste und werden es schwer haben, einen anderen Job im Mediensektor zu finden. Und das Internet ist ohne Tricks für Re­cherchen eigentlich nicht mehr zu gebrauchen. Ohne Virtuelle Pri­vatnetzwerke, sogenannte VPNs, mit denen man Firewalls umge­hen kann, läuft gar nichts. Ausländische Webseiten wie Google oder Facebook hat China längst ausgehebelt, indem chinesische Plagiate gegründet wurden. Die haben eine moderne Webseite, zensieren sich aber selbst und stehen unter der Fuchtel der Regierung.

Werden Sie abgehört?
Manchmal bekommt man durch Zufall mit, wie viel die Sicher­heitsbehörden über einen wissen. Ich bin vor ein paar Jahren in Shanghai umgezogen und habe deshalb mit zwei, drei Maklern ge­sprochen. Dann bekam ich einen Anruf von dem Herrn, der sonst mein Visum verlängert. Er sagte mir: „Ich nehme an Sie wissen, dass Sie uns das melden müssen, wenn Sie umziehen.“ Um das zu wissen, muss er meine Telefonate mitgehört haben.

Haben Sie denn das Gefühl, in einer Diktatur zu leben?
China ist das anarchistischste Land überhaupt. Ein Kollege hat mal geschrieben: „Es gibt in China nicht einen Diktator, sondern Zehn­tausende!“ Das beschreibt die Situation ganz gut. Denn jeder Stra­ßenpolizist, jeder Dorfbürgermeister, jeder kleine Beamte hat eine ganz eigene Vorstellung von Gesetzen und Vorschriften. Viele den­ken vor allem an die eigene Tasche, nicht an das Wohl des Staates. Es gibt keine Rechtssicherheit. Man kann sich auf keine Vorschrift, auf kein Gesetz verlassen. Das hat wirklich anarchische Züge. Viele Europäer haben da ein ganz falsches Bild.

Sie beschreiben in Ihrem Buch „Wenn Mao das wüsste“ das neue China. Was darf Mao nicht wissen?
China ist aggressiver im Kapitalismus und in der Verfolgung von materiellen Zielen als die meisten anderen Länder der Welt. Mao wäre davon schockiert. Wobei er das wahre China ohnehin nicht kannte: Weil er Flugangst hatte, fuhr er mit dem Zug. Die Behörden sorgten dann gerne dafür, dass wohlgenährte Bauern und Bäue­rinnen mit Ährenbüscheln neben den Gleisen standen. So wie wir es von Propagandapostern kennen.

Wenn Sie Berichte über China in Deutschland lesen: Wird die Wirklichkeit so abgebildet, wie Sie sie erleben?
Ich glaube nicht, dass es die Aufgabe des Journalismus ist, die Wirklichkeit abzubilden. Nachrichten sind Abweichungen vom All­tag. Wenn ein Flugzeug abstürzt und wir berichten darüber, ist das nur ein Ausschnitt der Realität. Die meisten Flugzeuge kommen heil an. Als 2010 die Unruhen in Bangkok waren, haben wir über die Straßen berichtet, in denen geschossen wurde, in denen Men­schen in ihrem Blut lagen. Gleichzeitig konnte man an 99 Prozent der thailändischen Strände völlig unbehelligt Urlaub machen. Den Lesern ist oft nicht klar, dass sie nur einen Ausschnitt betrachten. Das gilt auch für China.

Inwiefern?
Es stimmt, dass viele Menschen in China unzufrieden sind. Sie är­gern sich vielleicht über Korruption, teure Lebensmittel oder Infla­tion. Aber die meisten wollen keine andere Regierung. Nur wenige träumen von einem Systemwechsel, von so etwas wie Montagsde­monstrationen. Sie wollen keine Demokratie, sondern einfach nur Verbesserungen in der Partei. Sie haben Angst vor Unordnung. Die Partei ist für viele noch immer ein Garant für Stabilität. Nicht pla­nen zu können, das ist für viele Chinesen eine Horrorvorstellung. Für mich ist aber wichtig, wie die Regierung die Menschen behan­delt, die sich gegen sie stellen. Es die Aufgabe der Journalisten, auf diese ein oder zwei Prozent der Bevölkerung zu schauen.

China steht auf Platz 171 des Pressefreiheits-Index der Organisation Reporter ohne Grenzen. Noch schlechter werden nur sieben Länder eingestuft, unter anderem Nordkorea und Iran. Wie kommen Sie denn an Ihre Informationen?
Das ist oft unglaublich schwierig, selbst wenn es nur darum geht, wie viele T-Shirts oder Feuerwerkskörper in China hergestellt wer­den. Man muss immer noch Faxe schicken. Diese Beantragungs­faxe sind oft länger als der Text, der am Ende gedruckt wird. Es gibt meist keine Pressesprecher. Und wenn es sie gibt, sehen sie ihre Rolle nicht darin zu kommunizieren, sondern zu verhindern. Ich habe mich bewusst für Shanghai als Wohnort entschieden, ob­wohl die Stadt nicht das politische Zentrum Chinas ist. Aber das ist letztlich egal, weil man in Peking genauso weit von der Politik entfernt ist. Das ist wie früher die Kreml-Astrologie in Moskau. Wir könnten auch den Kaffee- oder in China vermutlich besser den Teesatz lesen und uns überlegen, was die Regierung entscheidet. Immerhin denken inzwischen nicht mehr alle Chinesen: Oh, ein ausländischer Journalist, der ist sicher ein Spion! Sie haben sich ein bisschen an Korrespondenten gewöhnt.

Worüber würden Sie gerne berichten, bekommen aber keinen Einblick?
Kein Journalist hat je einen echten Einblick in das chinesische Weltraumprogramm bekommen. Genauso ist es völlig unmöglich, eine Hintergrundgeschichte zur Volksbefreiungsarmee zu ma­chen. Da kommt man einfach nicht weiter. Man merkt bei der jour­nalistischen Arbeit, dass China noch ein Entwicklungsland ist. Das sehen viele deutsche Firmen oft nicht, die hierher kommen.

Wie ist die Lage für chinesische Journalisten?
Sie sind angehalten, positiv zu berichten. Das macht die Medien hier ziemlich langweilig, die Fernsehnachrichten sind unerträg­lich. Mir tun die Leute leid, die diesen Job machen müssen. Doch auch die chinesischen Medien müssen Gewinne erwirtschaften – und das geht nur mit gutem Journalismus. Es wird langsam besser.

Das heißt, die Kollegen trauen sich inzwischen mehr?
Es gibt immer mehr mutige Journalisten, die die Grenzen des Sys­tems ausreizen, so weit es geht. Da gelten viele ungeschriebene Ge­setze. Eins der wichtigsten ist: Wenn du einen Skandal aufdeckst, überlege gut, wen du angreifst. Je näher eine Person an der Zent­ralregierung ist, desto schwieriger wird es, über einen Skandal zu berichten. Ein echtes Problem ist auch der vorauseilende Gehorsam vieler Medien, die Selbstzensur. Weil die Regeln nicht klar sind, versuchen sie, vorwegzunehmen: Was könnte zensiert werden?

Gilt das für alle Themen – oder nur für die Politik?
Vor zwei Jahren hat in Shanghai ein Hochhaus gebrannt, Dutzende von Menschen starben. Ich dachte wirklich, dass über ein solches Thema offen berichtet werden kann. Doch dann kamen viele Miss­stände ans Licht: Die Feuerwehr hat, obwohl die Innenstadt hier längst aussieht wie ein Bambuswald aus Hochhäusern, keine Pum­pen, mit denen sie über den 5. oder 6. Stock hinauskommt. Dann ist bekannt geworden, dass die ursprünglich vom Bauherrn beauf­tragte Firma den Auftrag an einen Subunternehmer weitergege­ben hatte. Der wiederum an einen anderen. Das Ganze ist sechs Mal passiert. Viele der Firmen waren mit dem Staat verbandelt. Deshalb hat die Regierung das Thema dann strikt kontrolliert.

Trotz allem scheinen Sie gerne aus China zu berichten. Sie leben dort seit mehr als zehn Jahren. Warum?
Bevor ich nach China kam, habe ich in der politischen Berichter­stattung in Bayern gearbeitet, das war oft frustrierend – und das genaue Gegenteil. Allein dieses Gefühl, an einem Ort zu sein, an dem Weltgeschichte geschrieben wird! Ich konnte in den letzten Jahren das größte Privatisierungsprogramm der Welt beobach­ten. Dabei zusehen, wie 250 Millionen Menschen aus der Armut gehoben wurden. Wie ein ganzes Land nach vorne drängt, an die Weltspitze. Und dabei versucht, seine Probleme in den Griff zu be­kommen. Mir gefällt das dynamische Chaos in China und Probleme machen die Arbeit ja auch interessant. Ich habe mich hier noch keinen einzigen Tag gelangweilt.

Echt wahr!
Wie Journalisten Wirklichkeit erzählen
Karen Naundorf, Ulf Grüner (Hg.),
edition journalismus multimedial, BoD
Kontakt zu Christina Lachnitt und den anderen Autoren:
redaktion@kursbuch-echtwahr.info

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