Artikel | Julia Macher

Willkommen in Guggenheim: Der Bilbao-Effekt bleibt einzigartig

2017-10-15

Vom Industriemoloch zur Kunstmetropole: Frank Gehrys Guggenheim-Museum hat Bilbao auf den Kopf gestellt. Andere Städte versuchten den Bilbao-Effekt zu kopieren – doch er bleibt unerreicht.

 

Das Guggenheim-Museum überstrahlt in Bilbao alles – und rückt die
Stadt ins richtige Licht: Tagsüber reflektiert der mit silbernen
Titanplatten überzogene Bau die Sonnenstrahlen. Nachts leuchtet er
majestätisch über dem Ufer des Nervión.

Die Silhouette des
geschwungenen Baus von Architekt Frank O. Gehry prangt auf T-Shirts,
Kaffeetassen, Kugelschreibern. Sie ziert Schaufenster und offizielles
Briefpapier.

 

Das Museum hat die Stadt in den letzten 20 Jahren so sehr geprägt, dass
man beides für deckungsgleich halten könnte. Bilbao ist das Guggenheim.
Das Guggenheim ist Bilbao. Willkommen also in Guggenheim!

«Dass wir das Guggenheim bekommen haben, halte ich immer noch für ein
Wunder», erzählt Ibon Areso. Der 73-Jährige war zunächst als
Stadtarchitekt und später als Bürgermeister massgeblich für die
«Operation Guggenheim» verantwortlich.

Er hatte von der Suche der Solomon Guggenheim Foundation nach einem
europäischen Standort gehört. Und von den gescheiterten Verhandlungen
mit Salzburg und Venedig. Dort hatten die Stadtverwaltungen zu lange
gezögert, sich eines so aufwändigen Projektes anzunehmen.

1991 flog Areso mit vier Kollegen nach New York, um die Kunstmäzene
von den Vorzügen Bilbaos zu überzeugen. Von den Vorzügen einer
heruntergekommenen, grauen Industriestadt mit einer Arbeitslosigkeit von
29 Prozent.

Aus Aresos Augen blitzt der Schalk. «Wir waren die
hässliche Braut, die Ja sagt, wenn die anderen abspringen. Aber unser
Plan für einen grundlegenden Wandel hat die Stiftung überzeugt.»

 

Er blickt aus dem Fenster. Aresos grossbürgerliches Wohnhaus liegt
ein paar Fussminuten vom Flussufer und vom Museum entfernt. Vor 20
Jahren verwaisten hier Stahlwerke und Werften. Heute flanieren Familien
in gepflegten Parkanlagen, Studenten plaudern vor dem
Bibliotheksgebäude, ein Kongresspalast lockt Geschäftsleute aus aller
Welt.

Es sind die sichtbaren Folgen des «Bilbao-Effekts»: des
gelungenen Strukturwandels von einer Industrie- zu einer
Dienstleistungsstadt, mit der Kultur als wichtigem Motor.

 

Avilés, Santander, Santiago de Compostela und ein halbes Dutzend
andere spanische und europäische Städte haben seither versucht,
Ähnliches zu erreichen. Mit mässigem Erfolg. Was macht den Bilbao-Effekt
so unwiederholbar?

Areso nimmt auf einem ausladenden Sessel
Platz, unter der Reproduktion eines Ölgemäldes, das ihn in Amt und
Würden zeigt. Er setzt zu einem ausführlichen Vortrag an, erklärt
Zusammenhänge.

Er erzählt, wie der Industriehafen in den
1990er-Jahren vom innerstädtischen Flussufer ans Meer verlegt, der Fluss
gereinigt wurde. Berichtet, wie die kriselnde Schwerindustrie langsam
einer Technologiebranche wich, wie Jobs im Dienstleistungssektor
entstanden.

 

Erst dann kommt er auf das Guggenheim zu sprechen, das zum Symbol
dieses Wandels werden sollte. «Das Fundament des Strukturwandels stand
bereits. Das Guggenheim war lediglich die Kirsche auf dem Kuchen.» Aber
was für eine Kirsche!

Mit über 1,3 Millionen Besucher im ersten
Jahr – doppelt so viele wie geplant – übertraf Gehrys Bau alle
Erwartungen. Auch finanziell. 133 Millionen Euro hatte das Museum
gekostet, inklusive des Ankaufs von Kunstwerken.

 

Bereits im Jahr darauf wuchs Bilbaos Bruttosozialprodukt um 140
Millionen Euro, in erster Linie wegen Gehrys Prachtbau. Fünf Jahre nach
Eröffnung hatte die baskische Verwaltung die Kosten für das ganze Museum
allein über die gestiegenen Steuereinnahmen wieder erwirtschaftet.

«Das
hat selbst die Optimisten unter uns überrascht», sagt Areso. 4000
Arbeitsplätze schuf das Guggenheim in wenigen Jahren: für
Museumspädagogen und Kunstverwalter, Hotelangestellte und Köche. «Das
sind genauso viele Jobs, wie durch die Pleite der grössten baskischen
Werft verloren gingen.»

Der Stadtverwaltung von Bilbao ist es gelungen, den Motor Guggenheim am Laufen zu halten. Bis heute.

 

Als das Guggenheim eröffnet wurde, war Xabier Ochandiano gerade einmal
16 Jahre alt. Sein Schulweg führte über die Brücke am Nervión. Jeden Tag
blieb er für ein paar Minuten an der Baustelle stehen.

«Das Skelett sah aus wie eine riesige Achterbahn. Das fand ich als
Jugendlicher natürlich wahnsinnig aufregend», erzählt Ochandiano. «Das
Potenzial dieses Hauses erkannte ich damals natürlich noch nicht.» Heute
verwaltet er dieses Erbe als Stadtrat für Wirtschaftsentwicklung mit.

 

Der kulturelle Motor der Stadt ist allerdings nicht allein das
Guggenheim, sondern auch das Museo de Bellas Artes. Dessen Kunstsammlung
ist nach jener im Prado in Madrid die bedeutendste Spaniens. Es ist
auch die lebendige Galerielandschaft des Bilbao Art District.

Das
lockt eine betuchte lokale und internationale Klientel an, vor allem aus
Frankreich, Grossbritannien, den USA und Deutschland. 453 Millionen
Euro pro Jahr geben die Besucher im Schnitt in der Stadt aus, gut 32
Millionen davon im Guggenheim-Museum selbst. Der Rest fliesst ins
Hotelgewerbe – und die Gastronomie.

 

Davon profitiert auch Aitor Elzerri, Besitzer dreier
Edel-Restaurants. Frank Gehry soll bei seinem ersten Bilbao-Besuch von
der baskischen Küche mindestens so begeistert gewesen sein wie von den
Möglichkeiten seines Projekts, sagt Elzerri.

Er schwärmt vom Bilbao-Effekt für die Gastronomie: «Unsere Museen hatten
schon immer exzellente Restaurants, aber die Ankunft des Guggenheims
hat uns alle kreativer gemacht.»

Kunstvoll drapierte Pintxos – die typisch baskischen Häppchen –, ein
neues Empfinden für Ästhetik, mehr Experimentierfreude: Das alles bekam
durchs Guggenheim eine grössere Bedeutung. Und sorgte für einen
ordentlichen Schub Selbstbewusstsein.

«Nach der Katastrophe des
industriellen Niedergangs fassten wir alle wieder Vertrauen: in uns
selbst und unsere Stadt», erklärt Elzerri. «Weil wir eben alle mit
angepackt haben.»

Das Guggenheim wurde so zum Symbol des
Wiederaufstiegs aus der Industrieasche. Das sei ebenso wichtig für den
Bilbao-Effekt wie ein gut geplanter Strukturwandel.

 

Eine solche Verbindung zwischen Stadt und Museum hat man anderswo nie
erreicht. Auch nicht mit Peter Eisenmans 2011 eingeweihter Cidade da
Cultura in Santiago de Compostela, einem der grössten spanischen
Kulturprojekte des Jahrhunderts.

Der 142‘000 Quadratmeter grosse
Komplex aus sechs Gebäuden spielt zwar architektonisch anspruchsvoll mit
den Formen des Berges Gaià und der Jakobsmuschel, den Symbolen der
Pilgerstadt schlechthin.

Für die Einheimischen bleibt er aber mit
seinen unübersichtlichen Gebäudelandschaften abstrakt – und liegt zu
weit ausserhalb, um mal eben ins Alltagsleben integriert zu werden. 20
Minuten dauert die Autofahrt hoch auf den Berg.

 

Auch Gijóns Kunst- und Kreativzentrum Laboral in einem riesigen
umgenutzten Waisenhaus aus der Franco-Zeit liegt ausserhalb des
Stadtzentrums.

Ist Nähe unabdingbar für den Erfolg eines Projekts?
Ja, meint Bilbaos Stadtrat Ochandiano. Wichtiger als die geographische
Nähe sei jedoch die emotionale.

Neulich war Alain Juppé zu Besuch,
der Bürgermeister aus Bordeaux. Er will seine Stadt mit der
futuristischen Cité du Vin zum Zentrum der Weinkultur machen. «Das wird
klappen, weil sein Projekt tief in der Kultur des Ortes verwurzelt ist»,
meint Ochandiano.

 

Das ist auch beim Guggenheim der Fall. Skeptiker fürchteten zunächst
eine «Amerikanisierung der baskischen Kultur», sprachen abschätzig vom
«McGuggenheim».

Solche Zweifel sind längst verflogen. Das Museum
hält die lokale Kultur hoch. Den Bildhauern Chillida und Oteiza, den
beiden Weltstars der baskischen Kulturszene, ist im Museum ein Raum
gewidmet.

Das Haus leitet noch immer Gründungsdirektor Juan
Ignacio Vidarte, ein Sohn der Stadt. Und zum Geburtstag hat man jedem
Bewohner der Provinz Vizkaya, zu der Bilbao gehört, eine Eintrittskarte
spendiert – Anreise inklusive.

 

Ob nun ein Stararchitekt von Weltformat einen Bau entwirft, ob eine
prominente Stiftung ihren Namen hergibt: All das hält Ibon Areso für
zweitrangig.

«Dass Gehry ausgerechnet uns sein Meisterwerk
schenkte, war natürlich ein riesiger Glücksfall», sagt der pensionierte
Bürgermeister. «Aber Bilbao hätte den Wandel auch ohne ihn – und ohne
die Stiftung Guggenheim hinbekommen.»

 

Auch Architekturexperte Llàtzer Moix hält grosse Namen für
zweitrangig: «Exzellente Architektur muss mit exzellentem Inhalt gefüllt
werden. Leere Museen bringen keine Stadt voran.»

Berauscht vom
Bilbao-Effekt hätten Spaniens Politiker in den Nuller-Jahren einseitig
auf die ikonographische Kraft von Gebäuden gesetzt – und Unmengen von
Geld für Stararchitekten ausgegeben.

 

In Valencia kostete Santiago Calatravas Ciudad de las Artes y las
Ciencias satte 1,3 Milliarden Euro. Eisenmans Kulturstadt in Santiago de
Compostela verschlang mit gut 500 Millionen Euro mehr als das Dreifache
des geplanten Budgets.

Für das Ausstellungsprogramm blieb kaum
mehr Geld übrig. Und Ausstellungen über Sitzmöbel und Monographien
lokaler Künstler locken kaum Besucher auf den Monte Gaià.

 

Im nordspanischen Avilés scheiterten die Macher an politischen
Streitigkeiten. Ähnlich wie das Guggenheim sollte dort das
Oscar-Niemeyer-Zentrum einer degradierten Industriestadt 2011 neues
Leben einhauchen.

Der brasilianische Stararchitekt Oscar Niemeyer
entwarf einen eleganten weissen Rundbau. Sein erstes Werk in Europa
entzückte die Architekturkritik.

 

Doch ein halbes Jahr nach der glamourösen Eröffnung mit Woody Allen
wurde das Haus geschlossen. Die Verwaltungen waren sich über
Projektausrichtung und Finanzierung uneinig. Einer Bürgerinitiative
gelang die Weiterführung des Projekts, doch der Bilbao-Effekt blieb in
Avilés aus.

Altbürgermeister Ibon Areso wundert das nicht. Er hat auf der ganzen Welt dutzende Male über den Bilbao-Effekt referiert.

Die
entscheidenden Worte allerdings hätten die meisten Entscheidungsträger
überhört: «So ein Projekt kann nur funktionieren, wenn alle an einem
Strang ziehen und die Notwendigkeit so gross ist, dass sich Fehden von
selbst verbieten.»

Ohne die Industriekrise wären Bilbaos
Stadtoberen nie ein solches Grossprojekt angegangen, und ohne den
grundlegenden Strukturwandel wäre selbst ein Ausnahmebau wie Gehrys
Guggenheim nur Dekor geblieben.

Ohne
den grossen Namen der New Yorker Stiftung wiederum wäre ein so
schneller Imagewandel der Industriestadt unmöglich gewesen: Der
Bilbao-Effekt ist das glückliche Zusammenspiel mehrerer Faktoren.

Das
macht ihn so einzigartig – und unnachahmlich: Er ist genauso ein Unikat
wie die Kunstwerke, die in Gehrys futuristischem Meisterwerk jeden Tag
tausende Besucher begeistern.

Dann zückt Ibon Areso sein
Smartphone und zeigt den Spot zum 20-jährigen Geburtstag des Guggenheim.
Darin sind Frank Gehry, Jenny Holzer, Richard Serra und Jeff Koons zu
sehen, die lachend bekennen: «Ja, ich bin Bilbao». Ein PR-Stunt, der
zeigt, wie stolz man nicht nur in Bilbao auf das Guggenheim-Museum ist.

https://www.srf.ch/kultur/kunst/wochenende-kunst/weltkunst-in-der-provinz-willkommen-in-guggenheim-der-bilbao-effekt-bleibt-einzigartig

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