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Weltreporter-Forum 2016 – hier ist das Programm!

Das Programm des Weltreporter-Forums 2016 in Raiding/Burgenland steht!

Wir freuen uns mit unseren internationalen Gästen auf einen spannenden Sommer-Nachmittag auf dem Land. Das Programm des Weltreporter-Forums 2016 in Raiding/Burgenland steht!

 

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“Ein Tag der Freude”

Der Holocaust Gedenktag sollte als “Tag der Freude” gefeiert werden, fordert Yoram Kaniuk, der Schriftsteller und Querdenker, am heutigen Yom haShoah in der Zeitung “Haaretz”. Und begründet diese Provokation damit, dass “zehntausende Menschen die Shoah überlebten, zum Leben zurückkehrten, Kinder und Enkel großzogen.” Kaniuk hier gedanklich zu folgen, tut weh. Weil er die Trauer über die millionenfachen Qualen und das unfassbare millionenfache Hingeschlachtet-Werden der europäischen Juden der Freude über das Überleben der wenigen Tausend nachordnen will. “Macht aus dem Holocaust Gedenktag einen Tag der Helden”, appelliert er. Nicht um den Preis der Trauer, die in jeder israelischen Familie mit europäischen Wurzeln lebe. Sondern, um dem Leben die Ehre zu geben, so wie es dem Judentum entspreche.

Anders dagegen klang, was Benjamin Netanjahu gestern Abend beim offiziellen Staatsakt zum Gedenken an die Opfer des Holocaust in Yad Vashem zu Protokoll gegeben hat: “Am Holocaust Gedenktag müssen wir unserer heiligsten Pflicht nachkommen”, sagte Netanjahu. “Und die besteht nicht nur in der Erinnerung an das Vergangene, sondern sie verpflichtet uns dazu, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und sie auf die Gegenwart anzuwenden, um die Zukunft unseres Volkes zu sichern.” Die Existenz Israels werde heute von einem atomwaffenfähigen Iran bedroht. Aber heute habe Israel eine Armee, fuhr Netanjahu fort. “Wir haben die Fähigkeit, Verpflichtung und Entschlossenheit, uns zu verteidigen.” Im Zweifel auch alleine gegen den Rest der Welt. So klang es zwischen den Zeilen aus der Rede Netanjahus.

Der israelische Ministerpräsident scheint gefangen in einer Gedankenwelt, die von der Angst beherrscht wird. Die nur den scharfen Kontrast zwischen dem “Wir” und den “Anderen” kennt. Seine Rhetorik stilisiert Israel und das jüdische Volk als Ganzes zu einer Entität, die mit nichts und niemandem wirklich und verlässlich verbunden ist. Auch1967 schon hätten die Israelis ihrem Feind alleine gegenübergestanden, sagte Netanjahu gestern. “Das israelische Volk ist nicht in Panik verfallen, sondern hat gemeinsam den Gefahren die Stirn geboten. Wir waren nicht von Furcht paralysiert, sondern haben getan, was notwendig war, um uns selbst zu verteidigen.”

Was bedeutet das, wenn wir es auf die Gegenwart übertragen? Netanjahu versuchte gestern seiner Hörerschaft zu insinuieren, dass Israel schon wieder und einmal mehr in seiner Geschichte einer existenziellen Bedrohung allein und verlassen von allen Freunden gegenübersteht. Aber diese Verlassenheit Israels und des jüdischen Volkes ist heute eine bloße Behauptung. Eine gefährliche noch dazu. Sie ist gewissermaßen eine Gegenwartsklitterung. Und sie hält der Wirklichkeit nicht stand. Glücklicherweise. Aber sie wird konstruiert, um den Unilateralismus der israelischen Politik zu legitimieren.

Vielleicht ist aber Eines aus Yoram Kaniuks Kommentar in der heutigen Ausgabe von “Haaretz” doch konsensfähig: Nämlich die eindringliche Warnung mit der er – die gestrige Rede Netanjahus gleichsam antizipierend – geradezu flehentlich ausruft: “Lasst nicht zu, dass der Holocaust als politische Waffe benutzt wird!”

Hier noch ein Video von der Dizengoff Straße in Tel Aviv im Moment der Sirene zum Gedenken an die Opfer der Shoah: http://www.youtube.com/watch?v=vEZjssVhRGA&feature=youtu.be

 

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Alle reden vom Krieg

Alle reden vom Krieg. Auch Ido, der Besitzer des Palais des Thés, auf der Ecke Dizengoff Gordon. Er hat schon 5000 Dollar Bargeld bereitgelegt für den Ernstfall. Denn im Kriegsfall ist “cash king”, sagt Ido. Auch Cracker und Dosennahrung auf Vorrat hat er eingekauft. Flugtickets bucht er aber erst, wenn die Sache konkreter wird. Ido rechnet damit, dass es im Mai, Juni los geht mit dem israelischen Präventivkrieg gegen den Iran. Und in der Zwischenzeit “yom yom”. Der Alltag geht weiter.

Die Israelis sind erfahren in Kriegsdingen. Sie reagieren gelassen auf das Säbelrasseln ihrer politischen Klasse. Was sein muss, muss sein, höre ich oft.
Mein Freund Shay, ein politisch sehr engagierter Mensch und Filmemacher, denkt darüber nach, mit seiner Tochter und seiner Frau an einen sicheren Ort zu gehen. Es geht jetzt darum, das Land rechtzeitig zu verlassen sagt er. “Ich will nicht, dass meine Tochter mir in zehn Jahren die politischen Analysen in den Zeitungen dieser Tage unter die Nase hält und mich fragt, Papa, wie konntest Du all diese Vorwarnungen ignorieren und den richtigen Zeitpunkt für eine Flucht verpassen?” Shay hat immer eine kleine Schachtel mit seinen kostbarsten Fotos, seinen Filmen und seinen zwei Pässen, einem israelischen und einem polnischen, in einer Ecke seiner Wohnung bereitstehen – für den Fall, dass es plötzlich schnell gehen muss.

In der Zwischenzeit geht alles einfach wie gewohnt weiter. Am Shabbat gehen die Jogger joggen, die Surfer surfen und die Wanderer wandern. In diesen Tagen sind alle mit den heftigen Regenfällen befasst, der Kältewelle und dem Schnee, der an diesem Wochenende im Golan gefallen ist. Ido und Shay sind immer noch da. Bis auf weiteres.

 

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Israel: Kampfplatz Bildung

Im Konflikt mit den Palästinensern ist die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu noch nie um einen destruktiven Vorschlag verlegen gewesen. Die neueste Idee zur nachhaltigen Vergiftung der Beziehungen mit den Palästinensern kommt aus dem Hause von Bildungsminister Gideon Sa’ar. Der Parteifreund Netanjahus vom Likud hat angekündigt, mehrere Millionen Schekel für ein Programm zur Stärkung der jüdischen und zionistischen Werte lockermachen zu wollen. Unter der Überschrift “Heritage Tours” sollen Schüler künftig Ausflüge zu den Gräbern der Patriarchen in Hebron und in die Siedlung Shiloh machen.

Jetzt hat eine mutige Gruppe von 260 Lehrern dieses Projekt in einem offenen Brief scharf kritisiert: “Das Bildungssystem wird von extremistischen politischen Kräften bedroht, die versuchen Bildung durch Indoktrination zu ersetzen”, heißt es in dem Brief. “Dieses Programm ist dazu angetan, Lehrer und Schüler zu politischen Zwecken zu missbrauchen. Unser Gewissen erlaubt es uns nicht, uns zu Agenten einer solchen Politik machen zu lassen”, schreiben die Lehrer und riskieren damit Sanktionen. Udi Gur, ein Literaturlehrer aus Jerusalem sagte gestern gegenüber der Tageszeitung Haaretz: “Möglicherweise sind wir jetzt in einem Stadium angelangt, in dem Bürger einen persönlichen Preis bezahlen müssen, um den Nationalismus zu stoppen.” Ofra Goldberg unterrichtet in Jerusalem jüdisches Denken und kritisiert das Programm von Minister Sa’ar als gefährliche politische Lüge: “Die Patriarchen haben nie in Hebron gelebt. Sie wurden hier nur bestattet. Die Stadt, mit der Abraham am ehesten identifiziert werden kann ist Be’ersheva. Warum sollten wir nach Hebron fahren? Hebron ist eine tote Stadt von Extremisten. Lasst uns die jüdische Identität um einen lebendigen und kreativen Mittelpunkt herum aufbauen, nicht um Gräber herum.” Bemerkenswert ist in jedem Fall, dass Minister Sa’ar Mittel lockermachen kann, wenn er nur will. Für gewöhnlich heißt es, dass es an allen Enden an Geld fehlt. In Israel herrscht Bildungsnotstand. In manchen Stadtteilen Tel Avivs liegt die durchschnittliche Klassenstärke in den Grundschulen bei 42 Kindern. Dieser Missstand war auch eines der zentralen Themen der sozialen Proteste des vergangenen Sommers. Eine mutige Gruppe von Lehrern knüpft jetzt mit ihrem Brief daran an. Und verteidigt die Freiheit der Bildung.

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Hebron liegt etwa 30 Kilometer südlich von Jerusalem. Hier leben ungefähr 30.000 Palästinenser und 800 militante jüdische Siedler, die rund um die Uhr von israelischen Soldaten geschützt werden. In der Höhle Machpela in Hebron sind die Erzväter Abraham, Isaak und Jakob zusammen mit ihren Frauen Sara, Rebekka und Lea begraben. Die Patriarchengräber gelten nach dem Tempelberg in Jerusalem als zweitwichtigste heilige Stätte des Judentums in Israel.

 

 

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Ich lebe im Eruv

Religion ist schon eine kuriose Sache. Ich beispielsweise bin (trotz 9 Jahren auf einer Klosterschule) eher unreligiös, wohne aber in einer für gläubige Juden ausgesprochen wichtigen Gegend: Mitten in einem Eruv (eine Art Sabbath-Erlaubniszone, erkläre ich gleich).

Leser, die wissen, dass ich an dem Stück Sand wohne, das auch als “Australia’s most famous beach” vermarktet wird, mögen sich wundern: Das lasterhafte Strandparadies voller Bars, Cafés, unkosherer Tattoos und Bikinis – eine Glaubensoase? Ja, beides stimmt: Ich lebe am Bondi Beach und mitten in einem Eruv. Okay, okay, ich erklär’s:

Ein Eruv ist eine Zone, in der jüdische Mitbürger auch am Sabbath Dinge tun dürfen, die an dem Tag sonst nur in ihrem Heim erlaubt sind: Etwa Dinge (oder Babys) tragen, oder Dinge (oder Babys) bewegen, zb im Kinderwagen. Da der Sabbath unpraktischerweise meist auf den Samstag fällt, ist vor allem die Nichtbewegen-Regel lästig. Schon blöd: am freien Tag drinnen zu hocken weil man nicht mit Baby oder Rollstuhlfahrer in den Park darf. Clevere Rabbis haben daher weltweit überlegt: Wir machen die “Zuhause-Zone” einfach größer! Und sie haben herausgefunden, dass das talmud-technisch völlig in Ordnung ist, solange das “Zuhause” nur von genug festen Pfählen und Zäunen, Parkplatzmauern, Golfplatznetzen, Telegraphenmasten und -kabelsalat begrenzt wird. (Mal ehrlich: Gott muss sich da oben auf die Schenkel klopfen, oder…?).

Rund um Bondi (Foto oben, das Seil über dem Surfer) und Tamarama (Foto ganz oben) und Dover Heights sind daher all die ohnehin vorhandenen “baulichen Merkmale” eines Heims (wie Golfplatzzäune und Promenadengeländer) zu einer Erlaubnisgegend verbunden worden, viele Quadratkilometer groß, verknotet mit Kabeln und Drähten: Fertig ist der Eruv!

Den meisten Leuten fallen die kaum auf, aber für einige heißen sie: “Easy, alles wie Zuhause, Kinderwagen schieben erlaubt!”

Religion ist eine irre Sache, aber das erwähnte ich ja schon.

 

 

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“Rothschild, Ecke Tahrir”?

 

“Rothschild, Ecke Tahrir” steht auf dem Betttuch, das seit mehr als einem Monat zwischen zwei Ästen eines Baumes über einem rot getünchten Freiluft-Zimmer auf dem Tel Aviver Rothschild Boulevard aufgespannt ist. Das Rothschild-Protestcamp liegt heute verlassen da. Das Spruchband schaukelt geräuschlos im Wind hin und her.

Es ist der 1. September, das neue Schul- und Kindergartenjahr beginnen heute in Israel. Eltern kehren in ihre Büroetagen zurück, die großen Ferien und kleinen Ferienvergnügungen sind vorbei. Und die Regierung Netanjahu atmet vermutlich erleichtert auf und hofft, dass der israelischen Protestbewegung nun endlich die Luft ausgeht.

Aber für Samstag Abend ist ein “Marsch der Millionen” angekündigt. Zahlreicher denn je, so hoffen die Organisatoren der Protestbewegung, sollen die 7,7 Millionen Israelis an den Demonstrationen überall im Land teilnehmen. Sie sollen die selbstgerechte Netanjahu-Regierung und das gesamte Geld-Establishment des Landes, die vermeintlichen 18 Magnaten, die den israelischen Markt kontrollieren, hinwegfegen. Die soziale Protestbewegung in Israel beschwört den Geist des Kairoer Tahrir-Platzes. Aber das rote Parloir auf dem Rothschild Boulevard ist an diesem ersten Tag im September ganz verwaist und die Zelte sind menschenleer. Ob der Rotschild Boulevard tatsächlich an den Tahrir-Platz angrenzt, werden wir sehen. Vielleicht schon übermorgen.

Foto: Ruth Kinet

 

 

 

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Die Sehnsucht ist geweckt

Die westlichen Demokratien haben sich bei der tunesischen wie der ägyptischen Revolution gründlich blamiert. Sie hinkten hinter den Ereignissen her, wanden sich in Schmerzen mit vorsichtigen Statements. Ging es doch schließlich darum, den Diktatoren und Unterdrückern die Unterstützung zu entziehen, die sie seit Jahrzehnten in ihren Palästen gehalten hatte. Völlig ungeachtet der Tatsache, dass man in politischen Sonntagsreden immer mehr Demokratie im Nahen Osten forderte. Aber das versteht sich von selbst.

Als es gar nicht mehr anders ging, forderten US-Präsident Barack Obama und seine europäischen Mitläufer einen schnellen aber geordneten Übergang zu einer wirklich demokratischen Regierungsform. Aha. Damit behalten sie sich vor, darüber zu urteilen., was ‘wirklich demokratisch’ ist. Und im gleichen Atemzug drängt man auf die Einhaltung internationaler Verträge und Verpflichtungen. Da nämlich liegt, wenn es um den Nahen Osten geht, für die meisten westlichen Politiker der Hase im Pfeffer: Fast alles darf passieren, aber die beiden Friedensverträge mit Israel (mit Ägypten und Jordanien) dürfen nicht angetastet werden. Außerdem dürfen keine Islamisten an die Macht kommen, wobei am liebsten alle islamistischen Gruppierungen in einen großen Topf geworfen werden. Wie man es in Washington, Berlin und Paris damit hält, wenn demokratische Wahlen Islamisten an die Macht bringen, das haben wir beim Urnengang in den Palästinensergebieten 2006 gesehen. Als die Hamas den Sieg davon trug, brach man schlicht die Beziehungen mit der von ihr geführten Regierung ab.

Die westlichen Regierungen – nicht nur die amerikanische – haben in der arabischen Welt schon längst ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Die Menschen in der Region verstehen, dass es nicht um Werte wie Demokratie, Selbstbestimmung und Freiheit geht sondern um politische Interessen. Vornehmlich um solche, die sich mit israelischen Interessen decken. Auch wenn man in vielen Fällen trefflich darüber diskutieren kann, ob sich diese Interessen tatsächlich decken. Oder ob wir uns nicht selbst ins Knie schießen, gerade weil wir dazu tendieren, die Region ausschließlich durch die israelische Brille betrachten.

Auch deshalb können die Ägypter auf gute Ratschläge aus dem Westen derzeit verzichten. Ihnen ist nicht entgangen, dass Washingtons Lieblingskandidat für die Nachfolge Mubaraks sein Geheimdienstchef Suleiman war. Also jemand, der mit Leib und Seele für das alte System stand und steht. Die Armee ist nun die zweitbeste Wahl, arbeitet ihre Führung doch sehr eng mit amerikanischen Militärs zusammen, die eine Finanzhilfe von 1,3 Milliarden US-Dollar jährlich beisteuern. In dem Preis dürfte inbegriffen sein, dass keine Politik erlaubt wird, die den ohnehin kalten Frieden mit Israel einfrieren könnte.

Interessant wird es, wenn eine wirklich demokratische zivile Regierung in Kairo an der Macht ist. Ihr werden vermutlich die ägyptischen Moslembrüder angehören, auch wenn die Menschen auf dem Tahrir-Platz deutlich gemacht haben, dass die Islamisten keine Mehrheit im Land haben.Ein weiterer Schleier ist gefallen: Die Alternative zu autokratischen oder diktatorischen Systemen im Nahen Osten heißt nicht automatisch Chaos und Islamismus. Es dürfte den Regierenden in Washington und Berlin in Zukunft schwer fallen, mit dieser Gleichung zu argumentieren, wenn es um die Unterstützung repressiver Regime in der Region geht, die Menschenrechte verachten aber Stabilität und Kampf gegen Terrorismus versprechen.

Unsere westlichen politischen Moralapostel stehen plötzlich ohne Kleider da. Sieht ganz so aus, als stünden sie auf der Verliererseite nach den erfolgreichen Volksaufständen in Tunis und Kairo. Gemeinsam übrigens mit ihren Erz-Feinden, den islamischen Extremisten aus der Al Qaeda-Ecke. Denn der Sieg der friedfertigen Menschen gegen ein brutales, vom Westen unterstütztes System, nimmt diesen Terroristen den Wind aus den Segeln. Die Jugendlichen, die auf dem Tahrir-Platz in Kairo den Sturz Mubaraks gefeiert haben, haben es nicht mehr nötig, sich solchen Bewegungen aus Protest oder dem Gefühl der Ohnmacht anzuschließen. Sie haben sich selbst befreit und ermächtigt, sie haben ihren Stolz und ihre Menschenwürde zurück erobert.

Nachdem ich mehr 15 Jahre lang dem politischen Stillstand, der Demütigung und der Entmündigung der Menschen in der Region zugesehen habe, habe ich nun wieder Hoffnung. Auch wenn wir alle wissen, dass die Revolutionen noch nicht gewonnen oder vollendet sind. Aber es wäre schön, noch mehr solch befreite, lachende oder vor Freude weinende Gesichter in Arabien zu sehen. Die Sehnsucht ist geweckt, hoffentlich wird sie nicht in Blutvergießen ertränkt.

 

 

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Helden des Alltags: Mein Elektriker

 

Es reicht! Das ständige Flackern des Halogen-Strahlers in meiner Küche treibt mich in den Wahnsinn. Ich weiß nicht, ob der ungleichmäßige Stromfluss in Tel Aviv daran Schuld ist oder der letzte Stromausfall, ich weiß nur, dass es mir reicht. Ich rufe Nissim an. Nissim ist mein Retter. Er löst jedes noch so knifflige Elektrizitäts-Problem. Und darum gebührt ihm eine Hommage. 

Zunächst möchte ich die Glanzpunkte seiner Leistungsbilanz hervorheben: Nissim hat meinen Kühlschrank dazu gebracht, nach mehr als zwei Jahren das Ablassen penetranter Wasserlachen aufzugeben. Er hat meine uralte Spülmaschine so einfühlsam bearbeitet, dass sie nicht mehr überläuft. Auch die Klimaanlage überschwemmt nicht länger den Boden, wenn sie länger als eine halbe Stunde kühlt. Und ganz nebenbei hat Nissim noch ungezählte verkohlte Stecker und Steckdosen erneuert. 

Wenn ich nicht mehr weiter weiß, rufe ich Nissim an. Es dauert zwar manchmal ein paar Tage und meist viele Telefonate bis es soweit ist, er aus Petah Tikva hierher ins Tel Aviver Zentrum kommt und am Ende auch einen Parkplatz für seinen Pickup vor meiner Haustür gefunden hat, aber er kommt. Und wenn Nissim kommt, kann ich sicher sein, er geht nicht, bevor sich nicht all meinen Sorgen in Wohlgefallen aufgelöst haben. Und wenn es darüber halb zehn abends wird.

Nissim ist nicht einfach nur Elektriker. Nissim ist leidenschaftlich. Er will jedes Problem bis auf den Grund durchdringen und gibt nicht auf bevor ihm das gelungen ist. Ich habe in meinem Leben noch nie so ausführliche und detailreiche Vorträge über Spannung, Wechselstrom und Fehlerstromschutzschalter gehört, mich bislang – wie konnte ich so ignorant sein! – auch nie besonders dafür interessiert.

Nissim ist aber nicht nur leidenschaftlich, er ist auch empathisch: Er hält Vorträge über die Welt der Kontakte und Leitungen, die ein schlichtes Drähtchen als eigenständige Persönlichkeit mit guten und weniger guten Charaktereigenschaften erscheinen lassen. Dank Nissim ist mir jetzt klar, dass diese Art von Empathie unerlässlich ist, wenn man Kontaktstörungen dauerhaft heilen will.

Nissim ist ein leuchtender Stern am Tel Aviver Handwerkerhimmel, der ansonsten ziemlich verhangen ist mit wirren Gestalten, die souverän hohe Rechnungen schreiben, aber wenig mehr als Ratlosigkeit zurücklassen. Zum Beispiel Eran. Nissims Vorgänger im Amt. An den denke ich heute nur noch mit Kopfschütteln: Wenn Eran zu mir kam, hatte er zwar immer seine Pistole im Gürtel, den Schraubenzieher aber lieh er sich von mir. 

 

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Sommer ade!

 

In Israel hat der Winter begonnen. Das Thermometer zeigt tagsüber in Tel Aviv zwar noch immer 30 Grad an und 27 Grad in der Nacht, aber formal ist hier jetzt Winter. Auf Wunsch der religiösen Parteien im Lande wurde wenige Tage vor dem Versöhnungsfest Jom Kippur der Sommer offiziell beendet. In der Nacht vom 11. zum 12. sind die Uhren eine Stunde zurückgestellt worden. Die Winterzeit soll den religiösen Juden helfen, die Stunden des Fastens am Jom Kippur leichter zu ertragen, da sie eine Stunde länger schlafen und später in die Synagoge gehen dürfen. Überall auf der Welt, von Kuba bis zum Libanon beginnt die Winterzeit frühestens Ende Oktober. In Israel aber haben sich vor fünf Jahren die ultra-orthodoxen und religiösen Abgeordneten in der Knesset mit ihrem Wunsch nach einem subjektiv kürzer empfundenen Fasten durchgesetzt.

Die an der jetzigen Regierungskoalition beteiligten religiösen Kräfte bemühen sich mit Nachdruck und Erfolg, die jüdische Identität des Staates Israel beständig zu schärfen und Staat und Religion immer enger mit einander zu verflechten. Innenminister Eli Yishai von der ultra-orthodoxen Shas-Partei hat in dieser Woche seine Verwaltung angewiesen, die Webseite des Ministeriums so umzugestalten, dass Online-Bezahlungen für Ausweise, Pässe und  Arbeitserlaubnisse nicht länger am Shabbat und während der jüdischen Feiertage ausgeführt werden können. Der ebenfalls ultra-orthodoxe Gesundheitsminister Yaakov Litzman von der Partei Vereinigtes Thora-Judentum hat inzwischen bekannt gegeben, dass er sich der Entscheidung seines Kollegen vom Innenministerium anschließen will. Die Online-Überweisungen auf Regierungs-Webseiten, die am Shabbat und an Feiertagen getätigt werden, machen glatte 3,2 Prozent des gesamten Online-Zahlungsverkehrs auf den ministeriellen Seiten aus.

Was für ein Segen, dass sich wenigstens die religiösen Mitglieder der Regierung Netanjahu während der „Friedensgespräche“ mit Palästinenserpräsident Abbas um die wesentlichen Belange des Landes kümmern!

 

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Kleine Spende für die Armee

Hätten Sie vielleicht ein paar Euro übrig? Es dürfen auch Dollar sein. Für einen guten Zweck, versteht sich. Zum Beispiel dafür, dass sechs libanesische Soldaten nicht bei nahezu 40 Grad Celsius am Straßenrand stehen und auf Hilfe warten müssen, weil ihnen wieder mal der Sprit ausgegangen ist. Oder weil ein Truppentransporter auf den holprigen Strassen im Südlibanon oder an der Grenze zu Syrien zusammengebrochen ist. Die libanesische Armee sucht dringend großzügige Unterstützer. 

Zu dem Zweck hat Verteidigungsminister Elias Murr kürzlich ein Spendenkonto eingerichtet, in das libanesische Patrioten und andere Gewogene jede denkbare Summe einzahlen können, damit die Streitkräfte endlich kampftauglich ausgerüstet werden können. Ob es Spendenquittungen geben wird, ließ der Minister offen. Er appellierte vor allem an die zahlreichen Libanesen, die im Ausland arbeiten, ihren Beitrag zur Landesverteidigung zu leisten. Murr selbst hat gemeinsam mit seinem Vater bereits 665.000 Dollar eingezahlt, quasi als Ermunterung für potentielle Nachahmer. 

Im Verteidigungsministerium zerbrechen sich nun die Strategen sicher den Kopf darüber, wie viele private Spender man durchschnittlich benötigt, um einen modernen Militärhubschrauber zu kaufen. Oder Luftabwehrraketen, die in der Lage wären, die den Libanon ständig überfliegenden israelischen Kampf- und Aufklärungsmaschinen ernsthaft abzuschrecken.

Diese dramatische Maßnahme des Verteidigungsministers folgt einer Ankündigung von US-Kongressmitgliedern, eine zugesagte militärische Unterstützung in Höhe von 100 Millionen US-Dollar zunächst einmal auf Eis zu legen. Die Begründung: Man wolle der libanesischen Armee nicht dabei helfen, gegen die israelischen Streitkräfte vorzugehen. Die Vorgeschichte: Libanesische Soldaten hatten am 3. August bei einem Zwischenfall an der Grenze zu Israel zur Waffe gegriffen, um israelische Soldaten an einem vermeintlichen Grenzübertritt zwecks einer Baumentwurzelung zu hindern. Es kam zum Schusswechsel, bei dem ein israelischer Offizier, zwei libanesische Soldaten sowie ein libanesischer Journalist ums Leben kamen.

Seither heißt es in pro-israelischen Kreisen in Washington, der libanesischen Armee könne man nicht mehr trauen. In Israel spricht man gar von einer „Hisbollahisierung“ der libanesischen Armee. Stellt sich die Frage: Wozu ist eine Armee denn gut, wenn nicht zur Verteidigung ihrer Landesgrenzen? Ok, die Frage, ob die israelischen Soldaten tatsächlich auf libanesisches Territorium vorgedrungen waren, bleibt unbeantwortet. Denn an genau der Stelle ist der Verlauf der so genannten „Blauen Linie“, welche die Rückzugslinie der israelischen Armee im Jahr 2000 definiert, umstritten. Die internationale Grenze zwischen beiden Ländern ist ohnehin nicht festgelegt. Aber Israel hatte sich nicht an die mit der Blauhelmtruppe UNIFIL vereinbarte Regelung zu Gärtnerarbeiten im grenznahen Bereich gehalten, was die Libanesen als Aggression interpretierten. Übereifrig und nicht korrekt, kann man im Nachhinein sagen. Ebenso verhält sich die israelische Marine häufig an der nicht demarkierten Seegrenze, wenn libanesische Fischer ihr auch nur nahe kommen. Doch die Fischer antworten nicht mit schwerem Geschütz und kaum jemand verliert ein Wort darüber.  

Nun muss die libanesische Armee also wieder um die westliche Hilfe bangen. Im Westen sollte man sich wirklich überlegen, was man will: Will man die libanesische Armee stärken und zu einer ernstzunehmenden Streitmacht heranbilden, damit endlich das Hisbollah-Argument nicht mehr zieht, nur die Schiitenmiliz könne den Libanon verteidigen? Oder will man die Dinge lieber so lassen wie sie sind, dann ist es auch leichter der Hisbollah als von den USA und Israel gebrandmarkter Terrororganisation den schwarzen Peter im Konfliktfalle zuzuschieben.

Die libanesische Armee benötigt dringend eine adäquate Ausrüstung sowie entsprechendes Training  – und zwar nicht nur leichtes Gerät, Maschinengewehre und ein bisschen Munition. Sondern moderne Panzer, Truppentransporter, die nicht bei jeder Gelegenheit zusammenbrechen, Kampfhubschrauber, ein ernstzunehmende Luftabwehr und hochseetaugliche Schiffe, die auch im Winter die Patrouillen der Küste sicherstellen können. Einer Studie des amerikanischen „Center for Strategic and International Studies“ zufolge braucht die Armee mit ihren knapp über 50.000 Soldaten mindestens 1 Milliarde US-Dollar, um ein Minimum an Einsatzbereitschaft zu erlangen. Da müssten sich schon sehr viele private Patrioten zusammenfinden, um die aufs Spendenkonto zu bringen. Andernfalls hat sich auch schon Teheran angeboten. Vermutlich ein Bluff, aber wer weiß. 

 

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Ultra-Orthodoxe feiern Abschiebung von “Fremdarbeiter”-Kindern

 

Weite Teile der ultra-orthodoxen Community feiern in diesen Tagen die Abschiebung von 400 Kindern so genannter Fremdarbeiter als „Schritt in die richtige Richtung“. Die drei Zeitungen der nationalreligiösen Allianz in der Knesset, Vereinigtes Torah Judentum, sind erleichtert darüber, dass der „jüdische Charakter Israels“ nicht länger von Fremdarbeiter-Kindern in Gefahr gebracht wird.

In einem Leitartikel der Zeitung „Hamevaser“ heißt es: „Die Geschichte lehrt uns, dass ausländische Elemente, die in Länder kommen, die ihnen Arbeit anbieten, dazu vorherbestimmt sind, entweder das Land zu zerstören, das sie aufnimmt, oder es zu übernehmen“. Die „hunderttausenden christlichen, buddhistischen, muslimischen und hinduistischen Fremdarbeiter (zusammen mit hunderttausenden nicht-jüdischen Immigranten)“ seien eine Gefahr für den „jüdischen Charakter“ des Staates.  Die Kritiker der Abschiebungen bezichtigt das Blatt eines „abgrundtiefen Hasses gegen das Judentum“. Das habe sich in der Vergangenheit vor allem an den politischen Entscheidungen zur „nicht halachischen Konversion, dem Rückkehrrecht und der jüdischen Identität“ gezeigt. Nicht nur die so genannten Fremdarbeiter also, nein, sämtliche säkulare Zionisten, werden als Feinde der Orthodoxie, ja des Judentums insgesamt betrachtet.

Die Zeitung “Yated” schreibt, es gebe „für gewöhnlich eine Entsprechung zwischen diesen sympathischen Leuten“, die sich gegen eine Abschiebung aussprächen, „und denen, die den Hungertod von Haredi-Kindern“ (ultra-orthodoxen Kindern) förderten.

In der Zeitung “Hamodia” schließlich werden die Kritiker der Abschiebungen als „Demagogen“ tituliert. Aufgrund der Haltung dieser Leute würde Israel künftig nicht mehr als jüdischer Staat betrachtet werden können, sondern als Land „mit vereinzelten religiösen Inseln“. Die zionistische Bewegung sei von einem „Stein überrollt und ohne Sarg beerdigt“ worden, heißt es weiter. „Sogar der wahnhafteste Zionist hätte sich nie träumen lassen, dass Sudanesen, Russen, Thailänder, Ukrainer, Etritreer und Rumänen die israelische Staatsbürgerschaft erhalten.“

Netanjahus Kabinett hatte Anfang der Woche mit großer Mehrheit dafür gestimmt, 400 von insgesamt 1200 Kindern, die mit ihren Eltern um der Arbeit willen nach Israel eingewandert sind, innerhalb der nächsten drei Wochen abzuschieben. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu begründete die Entscheidung damit, er wolle keinen Anreiz dafür schaffen, dass hunderttausende Arbeitsmigranten ins Land kämen. 

Die Hetze von in Israel lebenden ultra-orthodoxen Juden gegen alles “Un-Orthodoxe” und “Nicht-Jüdische” wird immer hemmungsloser. Die Kluft zwischen säkularen und religiösen Juden wächst.

 

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Israels illegale „Aliens“

 

Im liberalen Tel Aviv machen Rabbiner in diesen Tagen gegen illegale Einwanderer mobil. Sie warnen israelische Bürger in Zeitungsannoncen davor, Wohnungen an Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung zu vermieten. Nach jüdischem Recht sei es verboten, Wohnraum an derlei „aliens“ zu vergeben. Wer gegen dieses Recht verstoße, bringe sich in Gefahr, dräuen die Autoren des Anzeigentexts. Sie setzen sich aus einer Nachbarschaftsinitiative und 25 orthodoxen Rabbinern zusammen, die sich hinter dem Stadtrat Binyamin Babayof sammeln. Der gehört der religiös-sephardischen Shas-Partei an.

In ihrem Aufruf ermutigen die Rabbiner die israelischen Bürger Tel Avivs, dazu beizutragen, den „jüdischen Charakter“ der Stadt zu bewahren. Die illegalen Einwanderer trieben die Kriminalitätsrate in die Höhe, heißt es weiter. Außerdem belästigten die „Eindringlinge unsere Mädchen“, sagte einer der unterzeichnenden Rabbiner der Internetzeitung Ynet. Und betonte, es müsse der Gefahr von „Mischehen“ vorgebeugt werden. 

Widerspruch kam bislang nur von der Stadträtin Yael Dayan, der Tochter des früheren Verteidigungs- und Außenministers Moshe Dayan. Sie bezeichnete die Kampagne von Babayof als „rassistisch und illegal“.

Babayof aber hat starke Verbündete. Unter anderem Eli Yishai höchstpersönlich. Dem Ressort des Innenministers der Shas-Partei obliegt die Gestaltung der Einwanderungspolitik. Eines der zentralen politischen Projekte des Ministers sieht vor, zwei Drittel der in Israel geborenen Kinder so genannter Fremdarbeiter in ihre „Herkunftsländer“ zu deportieren. Für nicht-jüdische Arbeitsmigranten weht zurzeit ein scharfer Wind in Israel. 

 

 

 

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Von wegen Meinungsfreiheit

Der Anfang Juli in Beirut verstorbene schiitische Großajatollah Mohammed Hussein Fadlallah hat uns über seinen Tod hinaus noch einige Lehren mit auf den Weg gegeben. Nicht zuletzt, dass es mit der Meinungsfreiheit auch im Westen nicht sehr weit her ist, wenn es um eine berühmte und umstrittene Figur wie Fadlallah geht. Zudem eine, welche die israelische, die amerikanische und die britische Regierung als „Erz-Terroristen“ gebrandmarkt haben.

Die amerikanisch-libanesische CNN-Nahost-Spezialistin Octavia Nasr hat ihr Tweet zu Fadlallahs Tod ihren Job gekostet. Die britische Botschafterin Francis Guy, die den Großajatollah in ihrem diplomatischen Blog aus Beirut würdigte, erhielt eine schroffe Rüge aus London. Ihr Blogeintrag wurde aus dem Netz verbannt. 

Nun kann man den beiden ausgezeichneten Nahostkennern keine Naivität vorwerfen. Vielleicht hätte Nasr nicht gerade einen Tweet mit 140 Zeichen-Begrenzung wählen sollen, um ihren Gefühlen über den Tod einer so komplexen Person wie Fadlallah Ausdruck zu verleihen. Dächte man auch nur einen kurzen Moment nach, könnte man darauf kommen, dass das nicht gut gehen kann. Andererseits wissen wir auch, wie hoch der Druck einiger großer Medienunternehmen auf ihre Mitarbeiter ist, vor allem im TV-Bereich, zu tweeten und zu bloggen. Bei manchen ist es schon Einstellungsvoraussetzung, hört man. Der Wahnsinn in dieser Welt hat viele Gesichter!

Beiden Äußerung zu Fadlallahs Tod ist eines gemein: Sie drückten Respekt für den verstorbenen schiitischen Großajatollah aus, der in vielen Medien weiterhin fälschlich als geistlicher Führer oder ehemaliger geistlicher Führer der Hisbollah beschrieben wird.  Das kann man sicher so nicht sagen, obwohl Fadlallah Sympathien und teilweise offene Unterstützung für einige politische Sichtweisen und Taten der Hisbollah geäußert hat und beide sicherlich den Kampf gegen Israel und eine feindliche Gesinnung gegenüber den USA teilten. Die einzig wirklich gut recherchierte Würdigung Fadlallahs, die ich gelesen habe, stand übrigens im US-Magazin Foreign Policy.

Octovia Nasr musste ihre 20jährige Karriere bei CNN beenden wegen des Satzes: Fadlallah ist einer der Hisbollah-Giganten, die ich sehr respektiere. Darauf erhielt sie sofort wütende Reaktionen, unter anderem vom Simon Wiesenthal Center in den USA, das sie aufforderte, sich sofort bei all jenen Hisbollah-Opfern zu entschuldigen, deren Angehörige ihre Trauer über den Tod des Hisbollah-Giganten nicht teilen könnten. Kurz darauf entschied CNN, dass Nasrs Glaubwürdigkeit kompromittiert war, obwohl sie sich entschuldigt hatte und ihren eigenen Tweet als Fehleinschätzung zurückgezogen hatte. So schnell kann eine Karriere zu Ende gehen. Das besorgniserregende daran ist – ganz egal ob man Octavia Nasrs Einschätzungen zum Nahen Osten teil oder nicht – dass sie für CNN unhaltbar wurde, obwohl ihre Vorgesetzten wussten, dass sie eine durchaus differenzierte Einstellung zu Fadlallah und zur Hisbollah hatte, die sie immerhin 20 Jahre lang über den Sender gebracht hatte.

Der Fall der britischen Botschafterin Francis Guy liegt ganz ähnlich – obwohl sie glücklicherweise nicht gleich aus Beirut abgezogen wurde und ich hoffe, das wird auch so bleiben. Denn sie gehört zu den großen Kennern der Region in der westlichen Botschafterclique hier, sie wohltuend ist ehrlich, aufrichtig und nicht immer so entsetzlich diplomatisch. Guy hatte in ihrem Blog geschrieben, der Tod des Ajatollahs habe den Libanon ärmer gemacht. „Wenn man ihn besuchte, konnte man sicher sein, eine ernsthafte und respektvolle Auseinandersetzung zu erleben und man wusste, dass man sich als bessere Person fühlen würde, wenn man ihn verließ. Das ist für mich der Effekt eines wirklichen religiösen Mannes, dass er einen tiefen Eindruck bei jedem hinterlässt, der ihn trifft, ganz egal welchen Glaubens diese Person ist.“ Ein Sprecher der israelischen Regierung schrie „Skandal“ und das britische Außenministerium wand sich in Schmerzen. Es sei eine persönliche Meinung gewesen, hieß es aus London, die nicht der Regierungseinschätzung entspreche. Während das Foreign Office Fadlallahs progressive Ansichten zu Frauenrechten und dem inter-religiösen Dialog begrüße, gebe es auch tiefe Meinungsverschiedenheiten, vor allem wegen seiner Befürwortung von Attacken gegen Israel. Guy schrieb einen Entschuldigungsblog, in dem sie ihre Äußerungen zu Fadlallah mutiger Weise nicht zurücknahm. Aber, in dem sie sich klar von jeder Form (sic!) des Terrorismus distanzierte und in dem sie bedauerte, dass sie möglicherweise die Gefühle einiger ihrer Leser verletzt habe. Das sei nicht ihre Absicht gewesen.

Was lernen wir daraus? Dass Meinungsfreiheit in unserer westlichen Welt bei manchen Themen ganz engen Grenzen unterworfen ist, selbst, wenn man sehr differenziert ist. Sympathie für einen umstrittenen Menschen, vor allem islamischen Glaubens, den Israel und die USA als Erz-Feind ausgemacht haben – sei das nun berechtigt oder unberechtigt – kann und darf man nicht ungestraft äußern. Solche Einschätzungen werden im Zweifelsfalle nicht einmal diskutiert. Wie im Falle Octavia Nasrs heißt es lieber gleich „Kopf ab“. Ob das der Kultur einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft, von der ich weiterhin träume, dient, wage ich zu bezweifeln.  

 

 

 

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Rechts-Links-Schwäche

 

Vor der israelischen Mittelmeerküste planscht in diesen Tagen ein Grauwal umher. Die israelische Öffentlichkeit ist berückt, die hiesigen Wissenschaftler fassungslos.

Aviad Scheinin, der Leiter des israelischen Meeressäugetierforschungszentrums, spricht von einem „unglaublichen Ereignis“ und „einer der bedeutendsten Beobachtungen von Meeressäugetieren überhaupt“. Im Nord-Atlantik sei die Population von Grauwalen schon seit dem 18. Jahrhundert ausgestorben. Im Mittelmeer seien noch nie Wale gesichtet worden.

Der Grauwal ist 12 Meter lang und 20 Tonnen schwer. Der Meeresriese scheint sich auf der Suche nach Futter vom kühlen Pazifik in das badewannenwarme Mittelmeer verirrt zu haben. Angeblich soll er sich im Oktober so langsam vom nordöstlichen Pazifik aus auf den Weg zum Golf von Kalifornien gemacht haben. Eigentlich hätte er dort links abbiegen sollen, erklärt das israelische Forschungszentrum. Stattdessen steuerte er auf die Straße von Gibraltar zu und bog dann ins Mittelmeer ab. Ein klarer Fall von Rechts-Links-Schwäche.

 

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“Mit fremden Augen”

 

Ausländische Reporter genießen in Israel kein hohes Ansehen. Zu unabhängig ist ihre Berichterstattung. Sie fahren nach Gaza und in die Westbank und berichten von der anderen Seite der Mauer. Das ist nicht im Interesse der israelischen Regierung, die alles in ihrer Macht stehende tut, damit Israelis und Palästinenser einander nicht wahrnehmen, einander nicht begegnen: Israelis dürfen die Städte des Westjordanlands nicht betreten, nach Gaza dürfen ohnehin nur noch Diplomaten, Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen und bei der israelischen Regierung akkreditierte Journalisten. So fällt das „othering“ leichter, das Kreieren eines Bildes vom Anderen als „Feind“, „Terrorist“ oder „Rassist“. Und umgekehrt dürfen nur handverlesene Bewohner des Westjordanlandes und des Gazastreifens nach langwierigen und unübersichtlichen Genehmigungsverfahren für kurze Zeit auf die israelische Seite. Solche zum Beispiel, die dringend eine medizinische Behandlung brauchen, die es nur in Israel gibt.

 

Ausländische Journalisten aber, die offiziell bei der israelischen Regierung akkreditiert sind, dürfen mit ihrem Pass und dem Ausweis des israelischen Presseamtes zwischen den Seiten hin- und herpendeln. Die Geschichten, die sie von der anderen, der auch für die israelischen Journalisten-Kollegen nicht zugänglichen Seite mitbringen, fließen in den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung über Israel in ihren Herkunftsländern ein. Und diesem Bild von Israel begegnen die reisefreudigen Israelis, wenn sie ihr Land verlassen. Die Leser, Hörer und Zuschauer in Frankreich, Italien und Deutschland konfrontieren die Israelis dann gerne unaufgefordert mit schlichten Theorien zur Lösung des Nahost-Konflikts. Und das geht vielen Israelis auf den Wecker.

Deshalb hat die israelische Regierung vor ein paar Wochen kurzerhand eine Kampagne zur Diskreditierung der ausländischen Presse gestartet. Sie hat die Bevölkerung aufgerufen, selbst aktiv dazu beizutragen, das Image Israels im Ausland zu verbessern. Auf der von der Regierung betriebenen Internetseite http://www.masbirim.gov.il/ ist zum Beispiel ein Video zu sehen, das eine französische Korrespondentin zeigt, die über schwere Gefechte in Israel berichtet, während im Hintergrund die prächtigsten Feuerwerke zu sehen sind. Ein anderes Filmchen zeigt einen britischen Reporter, der an der Seite eines Kamels durch den heißen Wüstensand stapft und mit Kennermiene erläutert, dass Kamele in Israel nach wie vor ein Haupt-Fortbewegungsmittel sind. Im Abspann heißt es dann jeweils: „Haben auch Sie genug davon, wie man uns im Ausland darstellt? Sie können dazu beitragen, das zu verändern!“

Die auflagenstärkste hebräische Tageszeitung, „Jedioth Achronoth“, hat inzwischen dagegen gehalten und eine umfangreiche Wochenend-Beilage herausgegeben. Auf 26 aufwändig gestalteten Seiten berichten neun Korrespondenten unter anderem aus Großbritannien, Italien, den USA, Frankreich und Deutschland vielseitig und kenntnisreich über ihre Arbeit in Israel und den Palästinensergebieten. „Mit fremden Augen“ lautet der Titel der Beilage. Es scheint, als traute die Redaktion des Massenblattes „Jedioth Achronoth“ ihren Lesern mehr kritisches Bewusstsein zu als den gewählten Volksvertretern lieb ist.

 

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Nahkampfzone H&M

 

Um sechs Uhr morgens brachten sich die Ersten in Stellung. Sie wollten ganz vorne dabei sein, wenn sich fünf Stunden später, an diesem historischen 11. März 2010, die Tore zum Tempel des schwedischen Billig-Chics öffnen würden, die Tore zum ersten H&M Flagship Store Israels. 2.000 Quadratmeter Europa, mitten in Tel Aviv, im dritten Stock des Azrieli Centers. 

Es ging nicht gerade vornehm zu an diesem 11. März im Azrieli Center. Die mitteleuropäischen Umgangsformen, die in Israel ohnehin eine prekäre Existenz fristen, wurden endgültig verabschiedet. Vor den Kleiderständern wurde geschubst, gestoßen, geboxt. An der Hauptkasse gab es mehrmals Tumult, es gab Wortgefechte und Handgemenge, Ohnmachten und Anfälle von Schwäche. Die israelischen Reporter beschrieben die H&M-Eröffnung als ein kriegerisches Ereignis, sie schrieben und sprachen von „Bombardement“, „Schlachtfeld“ und „Front“. Ihre Berichte über das kommerzielle Großereignis füllten am darauf folgenden Tag die Titelseiten der Zeitungen. Sogar Karl-Johan Persson, der CEO von H&M, der sich eigentlich hätte freuen müssen über die Kundenmassen am Eröffnungstag, war geschockt von dem Bild, das sich ihm bot. Er rief die israelischen Manager des Flagship Stores zu einer Dringlichkeits-Sitzung zusammen und fragte selbstkritisch, ob die PR-Kampagne im Vorfeld der Eröffnung vielleicht zu aggressiv gewesen sei. Über Wochen hatte H&M mit großflächigen Plakaten den Countdown bis zur Eröffnung zelebriert.

Während das israelische Innenministerium den Bau von 1600 neuen Wohneinheiten im Osten Jerusalems ankündigt und die israelisch-amerikanischen Beziehungen deshalb in eine ernste Krise geraten, Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ständig neue Bäume in jüdischen Siedlungen pflanzt, die israelische Regierung die Gräber Rahels und der Erzväter in Bethlehem und Hebron zu israelischem Nationalerbe erklärt und damit Unruhen in den Palästinensergebieten und Ost-Jerusalem provoziert, während Israels Regierung also weiter auf Konfrontations- und Isolationskurs fährt, blühen in der Bevölkerung Hedonismus und Konsumfreude. Die ganz normalen Israelis wollen nicht abgeschnitten sein von Europa und der Welt. Sie wollen H&M, GAP und Ikea. Das hat dieser 11. März 2010 gezeigt. Das Ergebnis des ersten Verkaufstags von H&M in Israel in Zahlen: 15.000 Kunden und 3 Millionen Schekel Umsatz, das sind knapp 600.000 Euro. 

(Foto: Titelseite der meist verkauften Tageszeitung Israels, Jedioth Achronoth, vom 12.3.2010; der Bericht über die H&M-Eröffnung findet sich auf der linken Seite in dem Kasten mit blauer Umrandung.) 

 

 

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Mein Verbündeter von der ‟Bank Hapoalim“

 

Vorgestern war ich am „Kikar Hamedina“. Der „Kikar Hamedina“ wäre gerne die „Place Vendôme“ von Tel Aviv. Hier haben Louis Vuitton, Prada und Yves Saint Laurent ihre Dependencen. Aber der „Kikar Hamedina“, der „Platz des Staates“,  ist nicht elegant. Er sieht eher aus wie ein Ort auf dem Mond. Die teuren Boutiquen gruppieren sich um ein riesenhaftes staubiges Rund auf dem ein paar Bäume verloren herumlungern. Der „Kikar Hamedina“ ist ein verwirrender Ort, ein überdimensioniertes Karussell, ein Ort des Schwindels.

Vorgestern wollte ich mir am „Kikar Hamedina“ die Haare schneiden lassen. Bei einem Friseur, den mir meine Freundin Tal empfohlen hat. „Geh’ zu Moshe!“ hat sie gesagt, „du wirst sehen, er ist großartig!“ Tal weiß von meinem Friseur-Trauma. Von meinem Horror vor den ambitionierten Haar-Designern, die einen mal so richtig verwandeln und das Beste aus einem herausholen wollen und einen dabei für die nächsten fünf Monate bis zur Unkenntlichkeit verunstalten. Tal hat Geschmack und ich vertraue ihrem Urteil. Also wollte ich auch Moshe eine Chance geben. Vorausschauend fragte ich sie, an welcher Ecke des Platzes sich der Salon befindet. Sie erklärte mir, er wäre direkt neben der „Bank Hapoalim“ auf der Ecke Weizmanstraße. Alles klar.

Als die Zeit gekommen war, fuhr ich zu ebendieser Ecke, suchte die Filiale der „Bank Hapoalim“ und sah zu ihrer Linken eine Boutique mit teuren Handtaschen, zu ihrer Rechten ein Café. „Das geht ja gut los“, dachte ich. Vor der Bank saß ein Sicherheitsmann mit Sicherheitsweste und Metalldetektor, eine gehäkelte, bunte Kippa auf dem Kopf. „Der kennt sich hier aus“, dachte ich und fragte ihn nach dem Friseur-Salon „Pure“. Der Sicherheitsmann kannte sich aus, aber vor allem eben auf seinem Herrschaftsgebiet: den fünf Metern Bürgersteig vor der Bank, deren Sicherheit er sicherstellte. Er hob zu einer Erklärung an und als er nach links zeigte, wandte ich mich schon zum Gehen. Ich hatte es eilig. Der Sicherheitsmann erhob seine Stimme und sagte drohend: „Schon in der Thorah steht, ihr sollt erst hören und dann handeln!“ Er hatte noch viel mehr zu sagen. Ich ging trotzdem schon mal los. Nach links, wie er mir geraten hatte. Und siehe da, da gab es auch einen Friseur. Aber er hieß nicht „Pure“, sondern „Avi Reisz“. Ich machte auf dem Absatz kehrt und ging wieder zurück, an dem Sicherheitsmann vorbei, der mich schon von Weitem fragte „Und?“ „Nichts“, sagte ich. „Es ist nicht der Richtige.“ „Hast Du denn in dem Salon nach dem anderen Friseur gefragt?“, prüfte er mich. „Nein“, sagte ich. „Es war so voll da.“ Der Sicherheitsmann konnte es nicht fassen. „Das ist doch kein Grund. Hier um die Ecke ist noch ein Friseur. Geh’ da hin und frag’ die!“ Ich war folgsam und fragte die. Sie schickten mich nach rechts. Ich gab meinem Sicherheitsmann aus der Ferne ein Zeichen, dass ich jetzt nach rechts gehen würde. Ich lief den nächsten Abschnitt des Platzes ab und fand zwei Friseur-Salons. Aber auch sie hießen nicht „Pure“. Bis vorgestern hatte ich keine Ahnung, dass es am „Kikar Hamedina“ so viele Friseure gibt.

Ich war verzweifelt und rief Tal an. „Tal“, flehte ich, „ich irre hier am Kikar Hamedina herum und kann den Salon von Moshe nicht finden. Ich habe auch seine Telefonnummer nicht dabei und kann ihn nicht anrufen“. Tal fuhr gerade Auto und ich konnte die Anweisungen, die sie über ihre Freisprechanlage gab, nur bruchstückhaft verstehen. „…Handtaschenladen… Café… 58 …33….46…“ Das half auch nicht weiter. Ich bekam Schweißausbrüche und wusste nicht was tun. Deshalb kehrte ich zurück zu dem Sicherheitsmann. Er schien mir mein einziger Verbündeter in dieser Situation. „Geh’ jetzt in den Salon dort!“, sagte er mit einer Bestimmtheit, die keinen Widerspruch duldete und zeigte wieder nach links, wie schon beim ersten Mal. Er setzte nach: „Frag’ dort!“ Ich konnte nicht mehr eigenständig denken und tat, wie mir geheißen. „‘Pure’ ist dahinten, noch ein ganzes Stück in diese Richtung“, sagte der coole Friseur mit den Jeans, die ihm fast in den Kniekehlen hingen, lässig. Er zeigte mit laufendem Fön nach Rechts. Ich, raus aus dem Salon, wieder an meinem Sicherheitsmann vorbei, „Er hat gesagt, in diese Richtung“, warf ich ihm im Vorübergehen atemlos zu. „Viel Glück“, sagte der. Fünf Minuten später stand ich wieder vor ihm. „Weißt Du was?“, sagte mein Sicherheitsmann, einer plötzlichen Eingebung folgend, und stand von seinem Stuhl auf. „Setz Dich einfach hier hin und ich schneide Dir die Haare!“ Ich habe Moshe und seinen Salon schließlich doch noch gefunden. Wie, weiß ich nicht mehr. Es hat sich jedenfalls gelohnt.

 

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Kampf dem Weihnachtsbaum

Im Geburtsland Jesu ist das Weihnachtsfest Anlass zum Kulturkampf. Denn im jüdischen Staat wird fast zeitgleich das jüdische Lichterfest Chanukka gefeiert. Mit einer Chanukkiah, die Platz bietet für acht Kerzen plus eine, einem Kreisel (Sevivon), auf dem die Buchstaben Nun, Gimel, Hej und Pej (für „ness gadol hajah poh“, „ein großes Wunder ist hier geschehen“) eingeprägt sind, und natürlich Sufganiot, süßen Schmalzkrapfen. Für Weihnachtszauber ist da kein Platz. Jedenfalls nicht im öffentlichen Raum.

Die „Lobby für jüdische Werte“ hat jetzt den Weihnachtsbäumen den Kampf angesagt. Sie hat Briefe an Restaurants und Hotels verschickt, in denen sie androht, jegliche Zurschaustellung christlicher Symbole mit dem Entzug des Kosher-Zertifikats zu ahnden. Eine Sanktion, die einen Hotelier oder Restaurant-Besitzer teuer zu stehen kommen kann. Außerdem verteilt die Werte-Lobby Flyer, in denen sie zum Boykott dieser Einrichtungen aufruft: „Das Volk Israel hat über alle Zeiten hinweg seine Seele dafür gegeben, die Werte der Torah und der jüdischen Identität zu bewahren. Sie sollten diesem Weg der jüdischen Tradition treu bleiben und sich nicht der närrischen Atmosphäre hingeben, die am Ende des säkularen Jahres um sich greift. Und vor allem sollten Sie nicht die Geschäfte unterstützen, die diese albernen christlichen Symbole verkaufen.“

Die Modekette Zara musste kürzlich ihre Schaufenster im ganzen Land umdekorieren. Kunden hatten sich über die vielen Weihnachtsbäume in den Auslagen beschwert. Hierzulande sei schließlich Chanukka angesagt und das könne Zara aus dem katholischen Spanien nicht einfach so ignorieren, hieß es. Daraufhin hat Zara eine interreligiöse Schaufensterdekoration kreiert: Friedlich glitzern jetzt die Lichter am Plastik-Weihnachtsbaum neben den elektrischen Flammen auf der Chanukkiah.

 

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Weihnachten kam mit einem Knall

Da saß ich gemütlich bei einer Tasse Tee mit einem Diplomaten zum Hintergrundgespräch in einem Café, als wir plötzlich von einem fürchterlichen Knall aufgeschreckt wurden. Es klang wie eine heftige Explosion – und mehrere weitere folgten. Bestürzt liefen die Kellner zur Tür, um hinauszusehen. Statten die Israelis uns zu Weihnachten einen unangekündigten Besuch ab? Oder sind irgendwelche Terroristen am Werk? Als die Kellner strahlend wieder rein kamen und Entwarnung gaben, wurde klar: Es war ein mächtiges Feuerwerk. Wenn der Krieg nicht zu uns kommt, dann sorgen die Libanesen eben selbst für entsprechenden Lärm. Es hat mich immer zutiefst verwundert, warum die Menschen in einem Land, das so viele Kriege ertragen musste, Knaller und Feuerwerke so sehr lieben. Sind wir sensiblen Ausländer die einzigen, die sich dann immer wieder erschrecken und an das Schlimmste denken? Ich kann es mir kaum vorstellen.

Doch sei es wie es ist. Wir hatten also gestern mal wieder das Vergnügen eines massiven Feuerwerks im Zentrum Beiruts. Es erleuchtete den Nachthimmel zwischen dem Märtyrer-Denkmal und der Mohammed el-Amine-Mosche, besser bekannt als Hariri-Moschee (weil Rafic al Hariri  diese überdimensionierte Moschee vor seinem Tod hatte errichten lassen – als Symbol der sunnitischen Macht im Libanon, heißt es) in allen denkbaren Farben und war wunderschön. Der Grund: Saad al Hariri, der Sohn Rafics und Libanons neuer Premierminister, eröffnete die Weihnachtssaison in Beirut. 

Der Märtyrerplatz ist nun dekoriert mit 86 kleineren Weihnachtsbäumen und einer Riesentanne, bestehend aus 500 eigens dafür abgeholzten Nadelbäumen. An dieser Stelle ein Gruß von Beirut nach Kopenhagen, wo gerade die weltweite Klimaveränderung beklagt und vielleicht sogar bekämpft wird. Hariri wird Anfang der Woche auch dorthin kommen und sicher besorgte Worte finden. Aber jetzt und hier zu Hause erfreuen wir uns der Weihnachtssaison, denn die Konjunktur soll ja auf Hochtouren laufen. Um das zu erleichtern brennen auch auf den Weihnachtsbäumen auf dem Märtyrerplatz 1150 Lampen während 20 Projektoren die Mega-Tanne mit verschieden farbigem Licht zusätzlich anstrahlen. Tag und Nacht versteht sich. Minus drei Stunden täglich, denn für diese Zeitspanne fällt in Beirut jeden Tag der Strom aus, weil die Electricité du Liban nicht genug Strom produzieren kann. Wie das alles zusammenpasst, fragt man sich im Libanon besser nicht. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Die Libanesen sind also ganz auf’s Fest eingestimmt, alle Geschäftsstrassen sind weihnachtlich dekoriert, übrigens auch im überwiegend moslemischen Westen der Stadt. In den Läden wimmelt es von Festtags-Schnäppchen – der Kommerz ist König! Sozusagen als vorweihnachtliches Präsent bekamen die Libanesen auch noch kurz vor Jahresende endlich eine neue Regierung – nur sechs Monate nach den Parlamentswahlen im Juni. Die neue Mannschaft der nationalen Einheit wurde vom Parlament nach einer Marathondebatte von knapp 99 Prozent der Abgeordneten bestätigt – ein Rekord.

Und das, obwohl die pro-westlichen Christenparteien allesamt gegen Paragraph 6 der Regierungserklärung waren, der besagt: Der Libanon, sein Volk, seine Regierung, seine Armee und sein Widerstand (d.h. Hisbollah) haben das Recht, das gesamte libanesische Territorium mit allen legitimen Mitteln zu befreien. Mit anderen Worten: Niemand rührt die Waffen der Hisbollah an. Das finden nicht alle im Zedernstaat klasse, aber das ist nun erneut Regierungspolitik. Die Zeichen stehen auf Ruhe und Ausgleich, vorerst jedenfalls. Nach Ansicht des Abgeordneten Fadi al-Awar ist die allgemeine Atmosphäre so gut, dass einer Arbeit im Interesse der Bürger eigentlich nichts im Wege steht. Na, das sollte einem schon ein lautes Feuerwerk wert sein.

 

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Pferde empfinden auch Schmerz

Die Tel Aviver Kinder lieben ihn: Den Trödler und sein Pferd. Andächtig bleiben sie stehen, wenn das klapprige, mit ausgemusterten Kühlschränken und den Eingeweiden ausrangierter Fernseher beladene Gespann durch die morgendlichen Straßen der Stadt klappert. „Alti Sachien!“, ruft der Araber aus Jaffa in sein Megaphon. Breitbeinig und stoisch geradeaus blickend sitzt er auf dem Kutschbock seines baufälligen Holzkarren. Jeden Tag aufs Neue durchkämmt er mit seinem matten Gaul die ruhigeren Nebenstraßen der Tel Aviver Innenstadt. Die Schrott-Sammler mit ihren Pferdewagen gehören schon seit Ende der 1920er Jahre zum Tel Aviver Stadtbild. „Alte Sachen, alte Schich“, riefen sie damals.

Eine Tierschützerbewegung wollte diesem Zauber nun ein Ende machen. Zehn Jahre lang hat die Organisation „Hakol Chai“, zu deutsch „Alles lebt“, dafür gekämpft, die Pferdekarren in Tel Aviv und im Rest des Landes zu verbieten. Sie haben demonstriert, mit Sitzblockaden den Zugang zum Rathaus versperrt und Flyer mit Fotos von gequälten und halb verhungerten Pferden verteilt. Vor ein paar Tagen dann hat der Bürgermeister von Tel Aviv, Ron Huldai, dem Druck der Tierschützer nachgegeben. Pferdewagen sind jetzt in Tel Avivs Straßen verboten.

Eine erstaunliche Entscheidung. Immerhin verfolgt die Knesset einen entgegen gesetzten Kurs. In einer Aussprache Ende Oktober haben die israelischen Volksvertreter erst befunden, Tiere hätten keine Rechte. Schließlich definiere sie das israelische Recht nicht als „Rechtspersonen mit Rechtsanspruch“.

„Pferde empfinden auch Schmerz“ überschrieb daraufhin ein empörter Redakteur der Tageszeitung „Haaretz“ seinen Kommentar zum Thema: „Nur zur Information der Regierung: Tiere haben Gefühle. Sie sind glücklich und traurig, genau wie Menschen“, fauchte Amiram Cohen.

Da sehen wir’s mal wieder: Tel Aviv ist dem Rest des Landes eben immer eine Nasenlänge voraus. Zumindest auf dem Papier.

Heute morgen erst, als ich beim Espresso saß, drang der vertraute Ruf „Alti Sachien“ an mein Ohr. Unterlegt vom Geklapper der Pferdehufe.

 

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Es lebe das Kollektiv!

Das Kollektiv lebt. Im Land der privatisierten Kibbutzim hat es die Idee vom geteilten Hab und Gut im Allgemeinen schwer. Aber dort, wo die Flächen knapp und Wohnraum atemberaubend teuer sind, im Zentrum von Tel Aviv, dort lebt das Kollektiv. Nicht das Betriebskapital und auch nicht die Mahlzeiten sind allen gemeinsam. Geteilt wird der optische Raum. Und der akustische.

Wenn ich morgens das Küchenfenster öffne und meinen Tee aufsetze, sehe ich, wie auch Fania den neuen Tag beginnt, die Milch aus dem Kühlschrank nimmt, sich einen Kaffee aufsetzt. Ich vermute, dass sie mich auch sieht. Dass sie hört, wie ich das Radio anmache, um die Nachrichten auf Reshet Bet zu hören.

Fania ist 72 und lebt im Haus nebenan, in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im dritten Stock. Allein. Zwischen meinem Spülbecken und ihrem Kühlschrank liegen kaum mehr als fünf Meter Luftlinie. Aber in diesem intimen Moment der morgendlichen Rituale sehen wir uns nie direkt ins Gesicht, grüßen uns nicht.

Dann, um viertel vor sieben, zerreißt ein ohrenbetäubender Klingelton die noch frühmorgendliche Ruhe. Fania braucht eine Weile, um aus der Küche ins Wohnzimmer zu laufen, wo das Telefon steht.

Ich atme auf, wenn ich sie endlich „ken?“ krächzen höre. „Ja?“ Jeden Morgen aufs Neue nimmt Fania diesen ersten Anruf des Tages mit gespannter Neugier entgegen. So als wüsste sie nicht, dass – wie auch an jedem anderen der 364 übrigen Morgen im Jahr – ihre Tochter aus Netanja sich nach ihrem Befinden erkundigen will. Es entwickelt sich ein kurzes, morgenschweres Gespräch über das Wetter und darüber ob Fania ihre Tabletten schon genommen hat.

Einmal in der Woche empfängt Fania drei Freundinnen zum Bridge. Sie setzen sich dann auf den Balkon, trinken Kaffee und sprechen Ladino, die Sprache der sephardischen Juden. Manchmal sitze auch ich gerade auf dem Balkon und trinke Kaffee. Ich winke dann hinüber und Fania fragt „Wie geht es Dir, meine Süße?“. Ihre Freundinnen winken zurück und rufen „Shalom! Wie geht es Dir?“ und wir klagen gemeinsam über die Hitze.  

Über Fania, im vierten Stock des Nachbarhauses, wohnt ein älteres Männerpaar. Auch ihre Lebensgewohnheiten sind mir inzwischen wohl vertraut. Sie stehen später auf als Fania und ich. Dafür sind sie abends länger wach. Sie fangen erst gegen halb zehn an zu kochen. Lange und aufwändig. Dabei hören sie am liebsten Free Jazz. Neulich haben sie sich heftig gestritten. Ich hörte, wie Geschirr zerbrach. Ich wollte die Einzelheiten nicht verstehen. Und war erleichtert, als ich kurz darauf hörte und sah, wie sie wieder auf ihrer Terrasse saßen, eine Flasche Wein öffneten und lachten.

Ich habe eine Schwäche fürs unfreiwillige Kollektiv. In Deutschland war der Weg zu meinen Nachbarn oft weit, verbarg sich ihre Geschichte hinter nur schwer zu druchdringenden Fassaden. Hier, in Tel Aviv, wo die Häuser sich eng an einander schmiegen, es auch im späten Oktober nachts noch schwül ist und alle Fenster Tag und Nacht offen stehen, kommt mir das Leben meiner Nachbarn näher. Das Kollektiv lebt. Es lebe das Kollektiv! 

 

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Frohes Fest!

«Osher ve briut!» wünscht mir Talia, bei der ich immer dienstags Biogemüse per Telefon nach Hause bestelle. Glück und Gesundheit.  «Chag sameach!», ruft mir Jossi nach, der Blumenverkäufer auf der Dizengoffstraße, als ich mich mit meinem Paket frischer gelber Lilien zum Gehen wende. Frohes Fest. Und Nissim, der Elektriker, sagt zum Abschied «kol tuv», nachdem er mir meinen verklemmten Rolladen wieder ins Laufen gebracht hat. Alles Gute.

Normalerweise sind sie nicht so zugewandt, die Israelis. Aber jetzt ist auch nicht «normalerweise». Denn das Jahr 5769 nach Schöpfung der Erde geht zu Ende. Ein Jahr, in dem Bibi Netanjahu zum zweiten Mal Ministerpräsident und Avigdor Liebermann zum ersten Mal Außenminister wurde. Ein Jahr, in dem die israelische Armee den Gazastreifen verwüstete. Ein Jahr, in dem der Kassam-Beschuss den Lebensrhythmus der Menschen in Sderot und Netivot bestimmt hat.

In den Hauptnachrichten klagt Noam Shalit die politischen Akteure an: «Bald ist Rosh Hashana und wir sehen immer noch nicht das Licht am Ende des Tunnels.» Sein Sohn Gilad wird seit 1179 Tagen von der Hamas festgehalten. Bibi lässt sich von George Mitchell, dem US-Sondergesandten für den Nahen Osten, nicht einschüchtern und besteht auf den Plänen seiner Regierung, 3000 neue Wohneinheiten für jüdische Siedler in der Westbank zu bauen.  Die Goldstone-Kommission der Vereinten Nationen weist der israelischen Armee und der Hamas in einem 547-Seiten-Bericht nach, während des Gaza-Krieges Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben.

Rosh Hashana, das ist auch die Zeit der «Slichot», der Buße. In den Synagogen wird das Widderhorn geblasen, der Shofar. Wer religiös ist, hat jetzt Gelegenheit, sich mit Gott und den Menschen auszusöhnen. Um Vergebung zu bitten. Das Angebot gilt bis Jom Kippur, dem Versöhnungstag, zehn Tage nach Rosh Hashana.

Am Freitag Abend also ist Neujahr. Dann versammeln sich die Großfamilien. Sie singen, beten, essen. Sie sitzen um einen großen Tisch, tauchen Apfelschnitze in Honig, auf dass das neue Jahr süß werde. Sie kauen Granatapfelkerne und nehmen sich vor, im neuen Jahr sämtliche in der Torah festgeschriebenen göttlichen Gebote zu halten. Sie kosten von einem Fischkopf in der Hoffnung, im neuen Jahr immer vorneweg und nie Schlusslicht zu sein.

Rosh Hashana, das ist die Zeit der guten Vorsätze. Es ist eine vielversprechende Zeit in einem Land, das guten Willen gut gebrauchen kann. In diesem Sinne also «chag sameach»!

 

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“Was wollen Sie mit dem Nagel?”

Wenn Sie manchmal denken, keiner Ihrer Freunde, keiner aus der Familie interessiert sich mehr für Ihr Leben, dann buchen Sie einen Flug nach Israel und sagen Sie bei der Passkontrolle, Sie seien Journalist und würden jetzt einige Tage das Land bereisen wollen. Sie können sich sicher sein, man wird sich für Sie interessieren. Und mehr, als Ihnen lieb ist.

Es war in der vergangenen Woche, als ich als Journalist eine kleine Gruppe einer Hilfsorganisation durch Israel begleiten konnte. Ich gebe zu, ich hatte es versäumt, mich zuvor, wie es wohl Journalisten tun müssen, beim israelischen Innenministerium als Journalist anzumelden. Deshalb hatte ich mich auch darauf eingestellt, vielleicht noch ein bisschen genauer erklären zu müssen, warum ich Tel Aviv, Jerusalem, Bethlehem und Ramallah besuchen wollte. Doch ich hatte nicht damit gerechnet, dass sich am Ende der Reise acht junge Sicherheitsleute mit mir beschäftigen würden und mir einer mit Tricks aus der psychologischen Giftküche unterstellen würde, ich wollte eine Waffe mit ins Flugzeug schmuggeln.

Im Flughafenbus hatte ich noch Postkarten geschrieben, die ich noch einwerfen wollte. Habe ja genug Zeit, dachte ich, drei Stunden, das muss selbst für das intensivste Verhör ausreichen. So war ich eher dankbar für die Ablenkung, als eine junge israelische Sicherheitsfrau nach meinem Pass fragte und sich für mich zu interessieren begann, zumal ich soeben gesehen hatte, dass mein Flug auch noch eine Stunde Verspätung haben sollte. Vier Stunden bis zum Flug. Na dann machen wir doch mal diesen besonderen israelischen Sicherheitscheck mit. Habe ja schon viel davon gehört.

Die junge Frau führte mich zu einer Art Tresen, auf die ich mein Gepäck legen sollte. "Die Jacke können Sie ruhig ablegen, das wird dauern", sagte sie. Dann begann sie ihre Fragen, während ein Kollege sie und mich beobachtete. Wo ich denn gewesen sei? Warum ich dort gewesen sei? Wann ich meinen Flug gebucht hätte? Warum ich in Rom arbeitete? Warum ich zu dieser Reise eingeladen worden sei? Warum ich, bevor ich nach Rom ging, in Indien gewesen sei? Fragen über Fragen. Der jungen Dame wurde nicht langweilig, ab und zu besprach sie sich mit dem Sicherheitsmann. Dann ging es wieder los: Warum ich dies? Warum ich das? Und überhaupt. Irgendwann: "It´s okay." Noch zwei Stunden bis zum Flug.

Nix okay. Jetzt wurde mein Gepäck geröngt, in Maschinen, in der ein junger Elefant geröngt werden könnte. Dann wurde ich in in einen besonderen Raum in der Abflughalle gerufen, der aussah wie eine Arztpraxis, alles weiß. Dass ich doch bitte mein Gepäck dorthin legen und alles öffnen solle. Und dass ich mich dort auf den Stuhl hinter dem Vorhang setzen solle. Einen Vorhang weiter saß eine Frau, die befragt wurde und irgendwann zu weinen anfing. Ihre Befragerin darauf, nicht sehr einfühlsam:"Why do you cry?", "Why do you cry?" Sie hörte nicht auf. Na das kann ja heiter werden, dachte ich.

Immer wieder öffnete sich der Vorhang und ein junger Mann kam herein um mir einen – aus meiner Sicht – völlig trivialen Gegenstand zu zeigen: Ein Ladegerät meines Computers. Ein Ladegerät meines Fotoapparates. Ich antwortete geduldig und belustigt. Besonderes Interesse weckten, verständlicherweise, die Visitenkarten von Palästinensern, die ich auf meiner Reise getroffen hatte.

Nach etwa einer Stunde kam dann wohl der Chef, blaues Sacko, zog den Vorhang zu, setzte sich mir gegenüber und sagte mit ernster Miene: "We found something very serious". Ich grinste, und: ob das ein Witz sei; nein, kein Witz. Und Sicherheitsmann machte die Hand auf. Darin: Ein fingerlanger Nagel. Die Spitze flach geschlagen, hinten um 90 Grad gebogen, gerade so, dass man den, meiner Phantasie nach, zwischen die Finger stecken, eine Stewardess bedrohen und ein Flugzeug entführen kann. Ich fragte nochmal: Ein Witz? "No, it´s not a joke". Und dann erlebte ich wirklich fünf sehr sehr unangenehme Minuten, in denen mich der Sicherheitsmann löcherte, was ich mit dem Nagel wolle und woher ich ihn hätte. Ich sagte: Keine Ahnung. Er: Woher hast Du den Nagel? Ich sagte: Keine Ahnung. Er: Woher hast Du den Nagel? Um diesem Auftritt einen Sinn zu geben, dachte ich schon wirklich nach, woher ich den Nagel hätte: Hatte ich diese Jacke mal bei irgendeiner handwerklichen Tätigkeit an? Habe ich sie jemandem geliehen? Mir fiel nichts ein. Aber wenn er sagt, der Nagel war in meiner Jacke, dann muss er doch…kurz bevor ich dachte, nur noch die Deutsche Botschaft könne mich vor zwei Jahren Haft in Israel retten, sagte er. "It´s okay". Und der Mann mit dem blauen Sakko war weg.

Es ging wohl um meine Reaktion. Wer weiß, wievielen Leuten dieser Nagel schon hingehalten wurde. Aber ich hatte wirklich einen kleinen Schock weg: Alleine mit acht Sicherheitsleuten und einer unterstellt, Du wolltest eine Waffe mit ins Flugzeug schmuggeln. Der Inhalt meines Koffers, der Fototasche und des Rucksacks war mittlerweile über mehrere hüfthohe Tresen verteilt. Zwei Sicherheitsleute kamen: Das Olivenöl würde in einem extra Pappkarton mitfliegen. Und das Netzteil meines Laptops – ungefähr 23489 Millionen Mal hergestellt – würde wegen weiterer Untersuchungen erst mit der nächsten Maschine fliegen. Ich könne es dann beim "Lost&Found"-Schalter an meinem Zielflughafen abholen. Ich nickte nur noch. Yes Yes. Nur noch hier raus.

 Ein Sicherheitsmann begleitete mich jetzt zur finalen Passkontrolle. Auf dem Weg fragte ich ihn: Was war das denn mit dem Nagel? Er: "What did you want with the nail?". Ich lachte nur und meinte sowas wie: "Ach, forget it". Soll er sein eigenes Märchen glauben, dachte ich mir. Soll er halt glauben, dass ich einen Nagel flachgeschlagen und umgebogen hatte, um was auch immer in diesem Flugzeug anzustellen.

 Die Postkarten, in denen in begeistert von seinem Land erzählte, konnte ich leider nicht mehr einwerfen.

 

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Vermeintliche Friedenstauben

Wenn Berichterstattung von Wunschdenken geprägt ist, wird es problematisch. Da ist im deutschen Blätterwald allenthalben zu lesen, dass Israel jetzt eine umfassende Friedensoffensive gestartet hat und, anscheinend völlig überraschend, Friedensfühler Richtung Libanon ausstreckt, sogar zu direkten Gesprächen über alle strittigen Punkte bereit sei. Hört, hört! Dass die Israelis seit Jahrzehnten nichts lieber getan hätten, als den kleinen Zedernstaat aus der arabischen Front heraus zu brechen, daran scheint sich niemand mehr zu erinnern. Dass die israelische Regierung 1982 nach ihrer Militärintervention sogar so weit ging, in Beirut einen pro-israelischen Präsidenten zu inthronisieren, der einen Friedensvertrag mit Jerusalem unterzeichnen sollte und dass Bashir Gemayel damals mit dem Leben dafür bezahlen musste, das scheint auch vergessen. Das Begehren, einen Separatfrieden mit dem Libanon abzuschließen und auf diese Weise die Nordgrenze zu konsolidieren, ist ein altes. Es ist aus israelischer Sicht verständlich. Dass die libanesische Führung das rundheraus ablehnt, weil es für sie undenkbar ist, solange die Frage des Verbleibs der rund 350.000 palästinensischen Flüchtlinge im Libanon nicht geklärt ist, ist nicht überraschend. Die meisten der Palästinenser sind sunnitische Moslems und die will hier so gut wie niemand haben, weil ihre Einbürgerung die konfessionelle Balance verändern würde. Außerdem ist angesichts der regionalen Machtverhältnisse klar, dass Beirut erst einen Friedensvertrag mit Jerusalem unterzeichnen kann nachdem Damaskus das vorgemacht hat. Und das bleibt abzuwarten. Also eine gute PR-Nummer des israelischen Premiers Ehud Olmert: Wenn man mit Syrien spricht, kann man doch auch gleich  Bereitschaft zu Gesprächen mit dem Libanon erklären. Klingt logisch, erhöht die moralische Friedensdividende im Westen und kostet nichts. Hat offensichtlich geklappt! Im Libanon hat das israelische Angebot niemanden beeindruckt, viele fanden es einfach nur unpassend. Die historische Perspektive hilft mitunter bei der Einordnung solcher Entwicklungen und macht sie zu dem, was sie sind: Randerscheinungen.

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