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Neue Heroinwelle erfasst Amerika

Es begann damit, dass ein Nachbar 311 wählte und sich über Lärm beschwerte.

Zwei Polizisten klingelten darauf hin an der Haustür von Frank Giardina. Der Mann empfing sie freundlich, eine schmauchende Pfeife in der Hand. Den Gesetzeshütern kam der Geruch verdächtig vor. Was in der Pfeife drin sei, wollten sie wissen. Die freimütige Antwort: „Ach, das ist Gras“ – Marihuana. Nun fanden es die Uniformierten an der Zeit, die Personalien des Mannes festzustellen. Der blieb ein Gentleman und bat die Polizisten in die Wohnung, während er seine Papiere suchte. Auf dem Küchentisch: ein Berg von Heroin. Über fünf Pfund waren es, wie die Wägung später ergab, mit einem Marktwert von mehr als 400 000 Dollar. Mr. Giardina war offenbar so high, dass er geglaubt hatte, die Polizisten würden das Pulver höflich übersehen.

Als Szene in einer Kriminalkomödie ließe sich über den tumben Drogenhändler kräftig lachen. Doch die Geschichte hat sich nach einem Bericht der New York Times vergangenen Woche tatsächlich zugetragen, im New Yorker Stadtteil Queens, in einem Viertel, das die Polizei bis dato für drogenfrei gehalten hatte. Sie steht, leider, für einen beunruhigenden Trend: Heroin ist in den USA wieder auf dem Vormarsch. Und das, nachdem es lange Zeit so schien, als seien die Gefahren der Droge so bekannt, dass sie dauerhaft zur Randerscheinung würde.

Als am 2. Februar der Schauspieler und Oscar-Preisträger Philip Seymour Hoffman an einer Überdosis starb, nachdem er über 25 Jahre clean gewesen war, machte das Schlagzeilen. Doch für den steigenden Konsum von Heroin sind weniger rückfällige Alt-Junkies verantwortlich. Vielmehr sind es junge Leute, die die 1970er und 1980er Jahre höchstens noch aus Filmen kennen und verheerende Suchtfolgen wie Verelendung, Prostitution und Tod verdrängen. Das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft hat, was den Konsum harter Drogen angeht, nachgelassen.

Ein Bericht des Weißen Hauses von diesem Februar nennt alarmierende Zahlen: 2006 gaben Amerikaner für Heroin schätzungsweise 21 Milliarden Dollar aus, 2010 bereits 27 Milliarden (neuere Zahlen liegen nicht vor). Die Zahl der Junkies wuchs im gleichen Zeitraum von 1,2 auf 1,5 Millionen. Auch die Menge des – vor allem an den südwestlichen Grenzen der USA – beschlagnahmten Heroins stieg steil an, von 1867 Kilogramm im Jahr 2007 auf 3291 Kilogramm 2010.

Es ist nicht nur ein Problem der Großstadt. In  ländlichen Gebieten ist Heroin auf dem besten Weg, die illegalen Schmerzmittel abzulösen, die die dortige Drogenszene lange dominiert haben. Der Gouverneur des Bundesstaats Vermont, Peter Shumlin, widmete dem Problem Anfang Januar seine komplette Neujahrsansprache. Er sprach von einer „ausgewachsenen Heroin-Krise“, die Einwohner „in jeder Ecke des Bundesstaats“ bedrohe. Die Zahl der Drogentoten steige kontinuierlich und habe sich 2013 gegenüber dem Vorjahr verdoppelt. Fast 80 Prozent aller Gefängnisinsassen seien süchtig. Jede Woche werde Heroin im Wert von zwei Millionen Dollar nach Vermont geschleust.

Es kommt vor allem aus Mexiko und wird zu Preisen gedealt, bei denen der Einstieg leicht fällt: In Großstädten kostet ein Beutelchen rund sechs Dollar. Auf dem Land lässt sich mehr verlangen, weshalb ein regelrechter Dealer-Tourismus nach Neuengland eingesetzt hat. Dass die Droge billig ist, ist freilich nicht der einzige Grund für ihre Renaissance. „Wer Drogenabhängigen zuhört, weiß, was viele in die Sucht treibt: Hoffnungslosigkeit und ein Mangel an Chancen“, sagt Gouverneur Shumlin. Die zunehmende Ungleichheit und die Rezession der vergangenen Jahre, für viele mit Arbeitslosigkeit und Zwangsversteigerung verbunden, haben der Drogenmafia neue Kundschaft beschert.

In Vermont will der Gouverneur nun mehr Geld für Prävention und frühzeitige Behandlung von Abhängigen zur Verfügung stellen. Vor allem aber rief er seine Mitbürger auf, Drogenkonsum nicht in erster Linie als Verbrechen, sondern als Krankheit zu sehen. Eine neue Erkenntnis ist das eigentlich nicht, doch vielleicht gilt auch hier, dass das kollektive Gedächtnis nach Jahrzehnten eine Auffrischung braucht. Für Frank Giardina allerdings, den Gentleman-Dealer aus Queens, kommt sie wohl zu spät.

Christine Mattauch

 

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Los Angeles – soviel mehr als Hollywood

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Jedes Jahr am 31. Dezember wandere ich mit Freunden auf eine Hügelkuppe in den Bergen von Los Angeles. Von dort schauen wir beim Picknick vom glitzernden Pazifik im Westen über Wolkenkratzer von Downtown bis zu schneebedeckten Bergen im Osten. Es ist immer eine gute Gelegenheit, mich an Menschen und Orte zu erinnern, die ich im vergangenen Jahr getroffen und entdeckt habe. Wieviel ich selbst nach zehn Jahren in Los Angeles noch zu entdecken habe wurde mir bei meinem letzten Interview im Jahr 2013 mal wieder sehr bewusst. Für Reporter Corps, ein Projekt der USC Journalismus Schule ging ich mit einer Studentin durch das Viertel, in dem sie aufgewachsen ist: Watts. Im Süden der Wolkenkratzer gelegen, ist es vor allem bekannt für die Rassenunruhen, die dort 1965 ausbrachen, Bandenkriege und Schießereien über die die Abendnachrichten berichten. In alternativen Reiseführern werden außerdem die Watts Towers erwähnt, das Kunstwerk eines italienischen Einwanderers, der in jahrelanger Arbeit aus Fundstücken Türme schuf, die sich bis heute dem blauen Himmel entgegen strecken.
Shanice, die Studentin, zeigte mir ein anderes Watts: einen Park, in dem Pärchen auf Bänken sitzen, Mütter ihre Kinder auf Schaukeln und Rutschen beobachten und Teenager Baseball spielen; daneben eine Bibliothek und ein Beratungszentrum für Jugendliche, zwei Künstler, IMG_3708 die eine Wand des Jugendzentrums mit bunten Symbolen für Freundschaft und Verständigung verschönern und ein stolzer hispanischer Vater, dessen Kinder in Watts aufgewachsen sind und ihren Uniabschluß gemacht haben.
“Ich lebe gerne in Watts” sagt die 22 jahre alte Shanice. “Hier ist immer etwas los, die Leute sind meistens freundlich und helfen einander. Viele hier haben es nicht leicht und erreichen trotzdem viel! Viele starke Menschen leben in Watts!”
Shanice über das Leben in Watts

Es gibt so viele Geschichten zu erzählen, die zeigen: Los Angeles hat unendlich mehr zu bieten als Hollywood. Ich freu mich schon auf die Entdeckungsreisen im neuen Jahr!

 

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Zerstörte Träume und schlaflose Nächte – die US-Haushaltsblockade

Gerade habe ich im Radio gehört, dass weltweit kein großes Interesse am schlechten Schauspiel der Haushaltsblockade von Washington besteht. Kein Wunder. Ich kann auch kaum noch die Stimmen der üblichen Verdächtigen ertragen, die sich gegenseitig die Schuld zu schieben. Die müssen doch mindestens genausoviele Geschichten von Betroffenen gehört haben wie ich!

Ich habe Touristen am Flughafen von Los Angeles getroffen, die ihren gesamten Ferienplan umstellen mussten weil sie nicht in Nationalparks kommen. Eine Rentnerin war auf dem Weg zum Trip ihres Lebens mit Schulfreundinnen – Wildwasserrafting im Grand Canyon. Aus der Traum!
Ich traf einen Vater, der die Hypothek für sein Haus und Studiengebühren für seine Töchter nicht bezahlen kann, weil er im Zwangsurlaub ist. Irgendwann soll er sein Gehalt bekommen. Bis dahin stapeln sich unbezahlte Rechnungen und Verzugsgebühren. Er schläft nicht gut.

Am meisten beeindruckt aber hat mich die Geschichte von Shanice, einer Studentin aus dem nicht gerade idyllischen Viertel Watts in Los Angeles. Das ist berühmt vor allem für Rassenunruhen in den 60ern und für die Türme aus Recycle-Material. “Ich weiss nicht, was derzeit unser größtes Problem ist – Gangs oder Teen-Mütter,” erzählte sie mir. Shanice will den Kreislauf durchbrechen und hat ein Studium angefangen. Sie schrieb sich ein für Soziologie und Kommunikation an einem relativ preiswerten College. 1000 Dollar zahlt sie im Jahr für Studium und Studienmaterial. Das stieß bei Freundinnen auf großes Unverständnis. “Warum wirst du nicht einfach schwanger, dann bekommst Du Geld für Essen und Wohnung?” haben die gefragt.
Die 21 jährige lebt bei ihrer Großmutter. Sie hat sechs Geschwister. Die leben bei der Mutter. Der Vater hat sich nie um sie gekümmert. Shanice bekommt etwa 10 tausend Dollar im Jahr aus verschiedenen Töpfen des Bundeshaushalts. Mir ist es ein Rätsel, wie man mit so wenig Geld in Los Angeles leben und studieren kann! “Ich bin total von finanzieller Hilfe abhängig. Ich zahle alles davon – das Busticket, die Bücher, mein Essen, die Gebühren, meine Kleidung, Zuschuss zur Miete.” erzählte sie mir. Und das ist die Verbindung zur Haushaltsblockade.
Vor gut acht Wochen wäre eine Zahlung an Shanice fällig gewesen, etwa 1500 Dollar. Wegen Kürzungen an den Unis noch vor der Blockade hat sich die Zahlung verzögert. Wegen der Streits in Washington wurden nun zusätzlich Stellen am College gestrichen und Shanice fürchtet, dass sie das Geld gar nicht mehr bekommt. Bei der Beratungsstelle sind die Schlangen endlos. Dort arbeiteten einmal drei Angestellte, nur eine Stelle ist geblieben. “Wenn ich am Ende des Monats keine Überweisung bekomme, kann ich mir den Bus nicht mehr leisten. Wenn ich nicht zur Schule komme, kriege ich schlechte Noten. Mit schlechten Noten bekomme ich keine finanzielle Förderung mehr.” Shanice will ein Vorbild sein, ihren Geschwistern zeigen, dass auch Kinder aus Watts einen Collegeabschluss machen können. Momentan fürchtet sie, dass die Schulfreundinnen recht behalten und es einfacher ist, eine Teen-Mutter zu sein als zu studieren.

 

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Gangster, Gelder, Gammastrahlen

Nach meiner Konfrontation mit einem Yakuza bin ich sicher: An der Fukushima-Katastrophe bereichern sich Verbrechersyndikate.

Was ist passiert?

Drei markante Gebäude markieren die Yoyogi-koen Kreuzung im Herzen Tokios: Ein Glaskubus von Mode-Shogun Issey Miyake, ein Family Mart Convenience-Store und ein koban. Das Polizeihäuschen ist 24 Stunden geöffnet. Manchmal sitzt dort ein Polizist, manchmal stehen dort drei. In Japan gibt es weder Strassennamen noch Strassennummern. Deshalb liegen im koban Stadtkarten auf, wo Häuser des Viertels mit Familiennamen eingezeichnet sind. Die Polizei gibt Auskunft, besucht zudem einmal im Jahr alle Bewohner im Revier. Sie fragt, wie’s geht oder warnt Omas vor „ore-Telefonaten. Das sind Anrufe von angeblichen Enkelkindern in Not, die um eine Banküberweisung bitten. Jährlich erschwindeln Banden wie die Yakuza auf diese Art Milliarden.

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Yakuza im Manga: “Sorry. Ich habe kein Geld!”

Unweit vom Yoyogi-koban, beim Family Mart, will ich mein Fahrrad abstellen. Neben dem Eingang aber schreit ein bulliger, kurzbeiniger Typ. Vor ihm – zwei Teenager. Sie nicken reumütig. Hinter ihm – eine junge Frau. Der Rock ist kurz, die Absätze lang, der Blick trüb.

„Mit den Scheiss-Fahrrädern habt ihr der Frau das Knie verletzt!“

Mein Seitenblick streift ihre Beine. Schlank sind sie und weiss und unverletzt.

„Was ist? Zahlt ihr? Habt ihr Geld ? Einen Ausweis? Wo wohnt ihr?“

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Koban bei der Yoyogi Kreuzung

Einkäufer gehen an uns vorbei. Nur keinem Yakusa in die Augen schauen! Mir reicht’s, laufe rüber zur koban. „Da drüben werden Jugendliche attackiert!“ Drei Polizisten springen los, halten Pistolentasche, Stahlrute, Funkgerät und Schellen am Gürtel fest, damit sie nicht klappern. Wie ein kleiner Bruder, der Geschwister zur Verstärkung mitbringt, stelle ich mich vor den Ganoven.

„Das ist er!“ sage ich. Der Yakuza baut sich vor den Polizisten auf: „Dreckskerle. Habt ihr nichts besseres zu tun? Arschlöcher! Verschwindet!“

Die Polizisten verziehen keine Miene, fragen höflich, was das Problem sei.

„Geht euch einen Scheiss an. Erzähle ich eurem Boss. Verpisst euch,“ sagt der Wegelagerer.

„Ist doch klar, dass er die Teenager erpresst,“ sage ich.

„Alles OK,“ sagt ein Polizist.

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Fahndungsposter bei der koban

Der Yakusa tritt an mich heran und ich rieche seinen ranzigen Sake-Atem. Er brüllt und bellt und lässt das „R“ rollen, wie es sich nur unter seinesgleichen geziemt. Er zieht sein Handy. Er fotografiert mich. Er fotografiert die Polizisten. Er hält die Faust mit den Goldringen vor meine Nase. Und erst dann stellen sich die Polizisten dazwischen.

„Ich kriege euch alle. Eure Familien. Eure Kinder!“ In seiner Stimme – keine Spur von Heiserkeit. Auf der Strasse – keine Schaulustigen. Im Family Mart – kein Aufruhr – der Laden könnte nächstes Opfer sein. Hinter dem Rücken des Gelegenheitsparasiten deutet die schlanke Frau den Jungen, sie sollen weglaufen – doch sie rühren sich nicht vom Fleck. Denken sie, nun sei Hilfe gekommen? Denken sie, sie müssten sich dem Polizisten erklären? Denken sie, bei einem Yakusa hat auch die Polizei keine Chance?

Und dann sagt der ranghöchste Uniformierte: „Das hier ist eine Privatunterhaltung.“

“Wo ist die Verletzung am Knie?” wiederhole ich.

Die Polizisten drehen sich um und spazieren zurück zum koban. „Scheisskerle! Wird Zeit!“ schreit ihnen das Bronsongesicht nach und wendet sich zu mir und ich ergreife die Flucht und die Jungen tun mir deshalb heute noch leid.

Und was hat das mit Fukushima zu tun?

1000-Tonnen-Tanks mit radioaktivem Wasser sind miserabel zusammengeschraubt. Viele davon stehen schief. Arbeiter pumpen von einer Seite Wasser hinein, auf der anderen läufte es ab. Die Dummheiten werden auch in Zukunft nicht aufhören und ich habe dafür eine Erklärungen. Das Arbeiterfussvolk im AKW ist nicht geschult. Niemand will den Laden freiwillig aufräumen, sein Leben riskieren. Deshalb ist die Yakuza nun Job-Vermittler für den Energiebetreiber, rekrutiert Obdachlose, Arbeitslose, Hilflose. Das munkeln Japaner. Ich glaube es. Ich habe die Polizisten weggehen gesehen.

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Roland in Fukushima

 

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Der Tag, als sie Daddy abgeholt haben

“Rund 5000 Kinder leben in den USA ohne Eltern, weil die ohne Papiere ins Land gekommen sind und abgeschoben wurden.” Dieser Satz eines Aktivisten für Immigrationsrechte veranlasste mich, eine Familie zu suchen, auf die diese Beschreibung zutrifft. Sie zu finden war schwieriger als erwartet. Niemand wollte reden.

Der Pressesprecher einer Bürgerrechtsorganisation schlug mir schließlich vor, Norma und ihre Tochter Jessica zu treffen. Die Familie passe zwar nicht ganz in mein Konzept, Norma sei legal im Land, doch ihr Mann Jose seit mehr als einem Jahr im Gefängnis. Die drohende Abschiebung reisse die Familie auseinander, besonders die Tochter leide darunter, dass sie ihren Vater nur noch im Gefängnis sehen kann, umziehen musste und auf eine neue Schule geht. “Der Fall ist nicht einfach, nicht schwarz und weiß,” erklärte mir der Sprecher. Jose habe eine Drogenstrafe von früher und sei schonmal abgeschoben worden. Aber: Jessica und ihre Mutter seien bestimmt gute Interviewpartner und hätten eine eindrückliche Geschichte zu erzählen.

Er hatte Recht. Ich traf Jessica und Norma in ihrem neuen zu Hause – sie leben jetzt in einem kleinen Zimmer bei den Eltern von Norma. Zum Gespräch kam auch Joses Mutter dazu. Als der von den Immigrationsbeamten abgeholt wurde war es sechs Uhr morgens. Norma wollte ihn gerade zur Arbeit fahren. “Vier Streifenwagen haben uns eingekreist, Polizisten mit gezogenen Waffen sind auf uns zugerast, haben gebrüllt und auf die Windschutzscheibe geschlagen. Jose war angeschnallt, sie haben ihn aus dem Wagen gezerrt, ihm Handschellen angelegt und weggefahren”, erzählt sie. Jessica hat alles aus dem Fenster ihres Kinderzimmers beobachtet. Wenn sie davon erzählt, steigen ihr Tränen in die Augen. Sie vermisst es, mit ihrem Vater ans Meer zu gehen, zum See zu radeln, Pizza zu essen und am meisten, dass sie ihn nicht umarmen kann. Wenn sie ihn besuchen, ist eine Glasscheibe zwischen Jose und den Frauen. Norma und Jessica wissen, dass Jose vielleicht wieder abgeschoben wird. Zum ersten Mal geschah das 1994 nachdem er mit Drogen erwischt wurde, sagt Norma. Damals sei er noch am selben Tag zurück gekommen. Es sei leicht gewesen, die Grenze zu überqueren. 2010 wurde Jose bei der Arbeit aufgegriffen und abgeschoben. Diesmal war es schwieriger, zurück zu kommen, doch er schaffte es – und wurde ein paar Monate später wieder verhaftet. Jessica versteht bis heute nicht, warum ihr Vater nicht wie sie und ihre Mutter einen Pass bekommen und bei ihr bleiben kann.

Meine Nachfrage bei der Einwanderungsbehörde ergibt eine nüchterne Antwort: Die Behörde sei dazu da, illegale Einwanderer wie Jose so schnell wie möglich aus dem Land zu weisen. Mit Drogendelikt und mehrfacher illegaler Einreise sei er eine Priorität auf der Abschiebeliste. Ohne Erlaubnis ins Land einzureisen könne mit einer Haftstrafe von bis zu zwanzig Jahren bestraft werden.

Ich gebe diese Email nicht an Norma und Jessica weiter. Die Geschichte ist tatsächlich sehr kompliziert. Im Moment weiß ich noch nicht, wie ich sie am besten erzählen kann.

Hören Sie hier, wie die beiden beschrieben, wie Jose abgeholt wurde, was sie an ihm mögen und was sie für die Zukunft hoffen: Norma and Jessica

 

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Einladung nach Texas

Das Ereignis der Woche war, natürlich, die Amtseinführung von Präsident Barack Obama. Die Einwohner von New York beschäftigte daneben ein weiteres Thema: ein Aufruf des texanischen Generalstaatsanwalts Greg Abbott, ihre Heimat zu verlassen und nach Texas zu ziehen. Eine Liebeserklärung an die sonst so verhassten Yankees? Nicht ganz: Angesprochen waren ausdrücklich nur “Law abiding gun owners” – gesetzestreue Bürger, die eine Waffe besitzen.

Abbott, ein im Rollstuhl sitzender Republikaner, hatte die Anzeigen online auf diversen Nachrichtenseiten schalten lassen. Sie erschienen insbesondere bei Nutzern auf dem Bildschirm, die ausweislich ihrer Postleitzahl in Manhattan oder in der Staatshauptstadt Albany leben. Nun ist man in den USA einiges von dem Cowboystaat gewohnt und nimmt ihn, anders als er sich selbst, nicht immer ganz ernst. In den vergangenen Monaten zum Beispiel wurden in Texas mehr als hunderttausend Unterschriften für eine Petition gesammelt, die es dem Bundesstaat ermöglichen sollte, sich vom Rest der Republik abzuspalten. Auch den Unterzeichnern war freilich klar, dass Washington den Antrag rundweg ablehnen würde.

Abbotts Abwerbungsversuche sind ein anderes Kaliber. Hintergrund sind die strengen Waffengesetze, die der Gesetzgeber des Staats New York auf Druck von Gouverneur Andrew Cuomo in Rekordzeit verabschiedet hat. Es war die Reaktion auf das Blutbad an der Sandy-Hook-Schule in Newtown, bei dem ein 20jähriger Selbstmordattentäter mit halbautomatischen Sturmgewehren 20 Kinder und sechs Lehrer niedergemäht hatte. Der Schock war so groß, dass selbst das als lahm und notorisch korrupt geltende Provinzparlament in Albany in Bewegung kam und damit nach Ansicht der meisten New Yorker Menschen das Richtige tat. Nicht jedoch nach Ansicht der Gun-Lobby, die in mehr statt weniger Waffen das Rezept gegen Massenmörder sieht – damit sich der gesetzestreue Bürger verteidigen kann. Mit dieser Position hat sie an der liberalen Ostküste allerdings einen schweren Stand, ganz anders als im waffenvernarrten Süden der USA.

Für Abbott war es somit ein günstiger Zeitpunkt, um auf sich aufmerksam zu machen. Der 55jährige wolle die Amerikaner “vor reflexartigen und skurrilen Reaktionen der politischen Elite” bewahren, erklärte sein Sprecher. Ganz nebenbei will er im kommenden Jahr auch Gouverneur von Texas werden und kann die Publicity gut brauchen, die ihm seine provokative Aktion verschafft. Klugerweise ließen sich bisher weder der New Yorker Gouverneur noch Bürgermeister Michael Bloomberg zu einer Antwort hinreißen. Die in Manhattan erscheinende Wochenzeitung Village Voice allerdings nahm den Fehdehandschuh auf. Sie warnte ihre Leser: “Abbott lügt. Texas will dich nicht. Selbst wenn Du ein durch und durch republikanischer, Waffen tragender New Yorker bist, könntest du glauben, dass Schwule und Frauen Menschen sind. Das kommt da unten gar nicht gut an.”

 

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Schlägerei am Outdoor-Pool

Als Anfang des Monats die erste Hitzewelle über New York hereinbrach, beschloss ich, schwimmen zu gehen. Nicht an einem der Strände, die die Metropole umgeben, sondern in einem öffentlichen Outdoor-Pool. Wenige Tage zuvor war in Greenpoint, einem Brooklyner Stadtteil, das McCarren-Schwimmbad wieder eröffnet worden, und auf das war ich neugierig. 1936 erbaut, war die auf 1500 Besucher ausgelegte Anlage in den 70er Jahren zunehmend verfallen, bis sie 1984 dichtgemacht wurde. 28 lange Jahre blieb sie geschlossen, zum Ärger der Anwohner, bis sich Bürgermeister Michael Bloomberg erbarmte. Die Lokalpresse feierte die 50-Millionen-Dollar-Renovierung wie einen Sieg – die New York Times nannte sie „einen Meilenstein für eine neue soziale Dynamik in der Stadt“. Nun gut. In der Tat gehen die Millionäre, an denen es in der Stadt nicht gerade mangelt, am Wochenende nicht ins Freibad, sondern fliegen per Hubschrauber an die Strände der Hamptons. Und Greenpoint ist das, was man hier eine „mixed neighborhood“ nennt – ein raues Arbeiterviertel, das vor einigen Jahren von Intellektuellen und dann auch von jungen Familien entdeckt worden ist.

Da wir mit einem gewissen Andrang rechneten, suchten wir uns den strategisch günstigsten Zeitpunkt aus: Am späten Nachmittag, wenn die Familien zusammenpacken, um pünktlich zum Abendessen zuhause zu sein – die Abendbrotzeit in Amerika beginnt klassischerweise um 18 Uhr. Nach einer halbstündigen U-Bahnfahrt endlich angekommen, trauten wir unseren Augen nicht: Vor dem Eingang warteten ungefähr 300 Leute in einer Schlange, ordentlich eingefasst von Sperrgittern. Ins Bad eingelassen wurden jeweils nur so viele, wie heraus kamen. Das waren nicht eben viele.

Wir fragten eine Ordnungshüterin, wie lange es schätzungsweise dauern würde, bis wir hineinkämen, wenn wir uns einreihten. Sie wollte sich nicht festlegen: „Ich bin den ersten Tag hier.“ Dann sagte sie, dass wir noch Glück hätten, denn am Mittag habe sich die Schlange einmal um die komplette Anlage gewickelt. Unsere Strategie war also nicht ganz falsch gewesen, doch das half uns trotzdem nicht viel. Es ging auf 17.30 Uhr zu und war immer noch brütend heiß, und um 19 Uhr sollte das Bad schon wieder zu machen.

Wie gut, dass wir uns bereits zuhause über die gastronomische Infrastruktur von Greenpoint informiert hatten. Dort gibt es das „Radegast“, einen der seltenen Biergärten in New York – beziehungsweise was New Yorker unter einem solchen verstehen. So ganz unter freiem Himmel ist er nicht, schon gar nicht unter Bäumen, sondern in einer alten Lagerhalle mit Schiebeglasdach. Immerhin, es gibt deutsches Bier. Und so kühlten wir uns statt mit Poolwasser mit Radeberger naturtrüb ab.

Wir waren über die Entwicklung des Abends nicht ganz traurig. Am nächsten Tag bedauerten wir sie noch viel weniger. Da lasen wir in der New York Times, dass es in der Badeanstalt zu Randale gekommen war: Als ein Bademeister ein paar Halbwüchsigen untersagte, per Rückwärtssalto ins Becken zu springen, verprügelten sie den Mann kurzerhand. Die Polizei kam, die Jugendlichen wurden wegen Zusammenrottung, Körperverletzung und Ruhestörung festgenommen, und das Bad eine Stunde früher geschlossen. Soviel zur neuen sozialen Dynamik. Mir taten nur die Leute leid, die anders als wir geduldig in der Schlange ausgeharrt hatten – für nichts.

Fotos: Christine Mattauch (5), Nikolaus Piper (2)

 

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Ende mit Schrecken für Chief Justice Corona

Die Headline des „Inquirer“, der größten philippinischen Tageszeitung, hatte heute BILD-Zeitungsniveau. Nur ein Wort prangte in riesigen Lettern auf der Titelseite: GUILTY! Darunter nahezu seitenhoch das Foto des Missetäters namens Renato C. Corona. Der ist aber keineswegs ein Massenmörder oder der Chef eines üblen Verbrechersyndikats – im Gegenteil, bis gestern war Corona der oberste Richter des Landes. Nun ist er in Schimpf und Schande seines Amtes enthoben.

Was aber hat der ehemalige höchste Jurist des philippinischen Supreme Court auf dem Kerbholz? Eigentlich nichts, was in dem notorisch korrupten Land sonst einen Skandal auslösen würde. Der 63-jährige hat bei der für Staatsbediensteten obligatorischen Offenlegung seines Vermögens die Kleinigkeit von 2,4 Mio. USD und 80 Mio. Peso unter den Tisch fallen lassen. Eine Summe, für die er einige Leben lang arbeiten müsste, um sie zu ehrlich verdienen. Keine Frage, Corona ist mit seinen geheimen Woher-sie-auch-immer-kommen-Millionen kein Einzelfall, im Gegenteil. Die Sensation ist also, dass ein so hohes Tier tatsächlich mal zur Strecke gebracht wurde.

Wie aber war das möglich in einem Land, in dem die Gesetze das Papier nicht wert sind auf dem sie stehen? Ganz einfach, Corona ist dem seit zwei Jahren amtierenden Präsidenten Benigno Aquino in herzlicher Feindschaft verbunden. Denn der höchste Jurist des Landes wurde von Aquinos Vorgängerin Gloria Macapagal Arroyo in einer „Mitternachtsberufung“ zum Chief Justice erklärt, als die Frau eigentlich schon nichts mehr zu melden hatte. Damit hatte Arroyo einen loyalen Freund an der Spitze des Supreme Court – der perfekte Schutz vor der erwarteten Aufarbeitung ihrer skandalträchtigen neunjährigen Amtszeit. In der Tat hätte Corona es fast geschafft, Arroyo die als notwendiger Arztbesuch getarnte Flucht ins Ausland zu ermöglichen. Erst in letzter Minute wurde die des Wahlbetruges und der illegalen Bereicherung Angeklagte am Flughafen abgefangen und verhaftet. Eine Kriegserklärung an Präsident Aquino, der vor seiner Wahl versprochen hatte, mit der Korruption aufzuräumen und Arroyo zur Rechenschaft zu ziehen.

Es braucht also nicht viel Fantasie, um sich auszurechnen, wer dafür sorgte, dass ausgerechnet Corona auf der Anklagebank landete. Keine Frage, das Amtsenthebungsverfahren gegen den obersten Juristen war auch ein politisch motivierter Prozess. Es war aber vor allem ein dringend notwendiges Signal, dass eben nicht mehr jeder in diesem Staat in die eigene Tasche wirtschaften kann und ungestraft davonkommt. Zumal nicht, wenn es der oberste Rechtsprecher des Landes ist. So argumentierten die Befürworter des Amtsenthebungsverfahrens und dieser Sicht schlossen sich gestern 20 von 23 Senatoren an und plädierten auf „guilty“.

Man muss kein Prophet sein, um zu ahnen, wem die nächste fette „Guilty“-Schlagzeile gehören wird. Gloria Macapagal Arroyo, der kleinen Frau mit dem großen Ego, dürfte es seit gestern sehr mulmig zumute sein.

 

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Allah macht hart

Das »journalistische Desaster«, wie Jörg Lau von der ZEIT es in einem Gastvortrag nannte, begann am 5. Juni und nahm in den Wochen danach seinen ungebremsten Lauf. Es ist einer jener Wahrnehmungsunfälle, die im Stimmengewirr unserer postmodernen Medienwelt inzwischen leider all zu oft die Normalität sind. Den Anfang macht eine kurze, zweiseitige Zusammenfassung einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN). Ihr widmen sich an jenem 5. Juni zuerst die Süddeutsche Zeitung und dann die Nachrichtenagenturen.

In der KFN-Studie geht es auch und unter anderem um den Zusammenhang zwischen der Religiosität junger Muslime in Deutschland und ihrer Bereitschaft zu Gewalt. Die zweiseitige Zusammenfassung behauptet: »Für junge Muslime geht … die zunehmende Bindung an ihre Religion mit einem Anstieg der Gewalt einher.«

Wenn das keine Schlagzeile ist! »Die Faust zum Gebet«, überschreibt die Süddeutsche Zeitung ihren Beitrag, gefolgt vom Chor anderer Boulevard- und Qualitätszeitungen: »Allah macht hart«, »Jung, muslimisch, brutal«, »Junge Muslime, je gläubiger, desto brutaler« usw. usf. Im Artikel der Süddeutschen behauptet Christian Pfeiffer, Direktor des KFN, zwischen muslimischer Religiosität und Gewaltbereitschaft gebe es einen »signifikanten Zusammenhang«.

Es ist das Verdienst von bildblog.de, den kompletten Text der Studie einfach mal ganz gelesen zu haben. Dort findet sich nämlich dieser »signifikante Zusammenhang« von muslimischer Religiosität und Gewalt gar nicht. Er ist allenfalls sehr klein, und die Studie begründet ihn mit allem möglichen, nur nicht mit Religion. Im Gegenteil: Sie belegt, »dass diese (leicht – J. S.) erhöhte Gewaltbereitschaft weitestgehend auf andere Belastungsfaktoren zurückzuführen ist.« Es sei, heißt es in der Studie weiter, »bei isla­mischen Jugendlichen von keinem unmittelbaren Zusammenhang … zwischen der Religiosität und der Gewaltdelinquenz auszugehen.«

Bildblog.de weist auf diesen Widerspruch am 13. Juni hin und lässt sich von Pfeiffer erklären, er sei falsch zitiert worden. Zu spät, die Schlagzeilenmaschine lief da bereits seit einer Woche rund, siehe oben. Schwer zu sagen, woran diese mediale Entgleisung nun genau lag, ob zum Beispiel Pfeiffer so sehr nach Publicity für sein Institut giert, dass es ihm »offenbar lieber ist, falsch zitiert zu werden als gar nicht« (Jörg Lau). Darüber kann nur spekuliert werden. Sicher ist: Die deutsche (Medien-) Öffentlichkeit scheint auf den Kurzschluss »junge Muslime gleich Gewalt« nur gewartet zu haben. Wer muss da schon ganze Studien lesen.

Soweit ich weiß, haben sich die meisten Blätter später nicht nur nicht korrigiert, sondern basteln auch weiterhin an diesem Stigma, noch Wochen danach, wie etwa der Wiesbadener Kurier oder Spiegel Online. Eine Ausnahme bildet die österreichische Zeitung Die Presse, die sich für den Beitrag »Gewissenloses Islam-Bashing« die Mühe macht, auch mal in den ersten Teil der KFN-Studie aus dem Jahre 2009 zu gucken. Dort werde belegt, dass muslimische Migranten gar nicht gewalttätiger seien als Migranten aus anderen Kulturkreisen.

Aber solch eine Schlagzeile wäre leider längst nicht so sexy wie »Gläubige Muslime sind deutlich gewaltbereiter«.

 

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Wer hat Angst vorm schwarzen Facebook-Mann?

Am 7. Juni wurde in Alexandria der 28jährige Khaled Said von Polizisten aus einem Internetcafé gezerrt und zu Tode misshandelt. Brutale Polizeiwillkür ist in Ägypten keine Seltenheit. Wie bei anderen Anlässen zuvor, zeigt auch diese Tragödie, dass das Land zu jenen auf der Welt gehört, in denen Facebook als zentrales Protestmedium kaum noch wegzudenken ist. Die Gruppe »Wir alle sind Khaled Said« hat jetzt – nicht mal zwei Wochen nach dem tragischen Tod – 112.000 Mitglieder. Die Gruppe »Ich heiße Khaled Muhammad Said« bringt es auf fast 200.000.

Das Web 2.0 als Plattform des Widerstandes ist kein Novum in Ägypten. Über die Facebook-Gruppe »Mohamed ElBaradei« werden 252.000 Mitglieder in Echtzeit über die Aktionen der Reformkampagne des früheren Chefs der Atomenergiebehörde informiert. Im Fall Khaled Saids konnte der öffentliche Druck übers Web 2.0 bereits einen ersten Erfolg erzielen. Schwierig bleibt es trotzdem, in einem Polizeistaat wie Ägypten den Protest aus dem Internet ins wirkliche Leben zu tragen.

Die Sicherheitsdienste lesen ebenfalls Facebook. Wann immer ein Straßenprotest angekündigt wird, sind sie zur Stelle und ersticken die Aktion im Keim. Wie auch am Freitag um 17 Uhr. Die Facebook-Gruppe »Wir alle sind Khaled Said« hatte zu einem Schweigespaziergang an die Uferpromenaden gerufen – in Kairo an die Corniche am Nil, in Alexandria an jene am Mittelmeer. Aus Protest und Trauer sollten die Leute in in schwarzer Kleidung kommen.

Pünktlich um fünf stand in Kairo auch die Bereitschaftspolizei am Nilufer. Beamte in Uniform oder in Zivil und mit Sprechfunkgeräten schlenderten die Promenade hoch und runter. Viel Resonanz erzeugte der Aufruf nicht, schätzungsweise einhundert junge Leute liefen, schwarz gekleidet, das Ufer entlang oder standen an Brückengeländern und lasen im Koran.

Für die Polizisten eine absurde Situation. Wer protestierte, wer spazierte hier ganz normal an seinem arbeitsfreien Freitag? Immerhin sind schwarze T-Shirts, Jacken oder Abayas in Kairo nicht unüblich. Das Spektakel war an Lächerlichkeit kaum zu überbieten. Wie auf einem Kegelklubausflug zogen Gruppen ziviler Beamte in Bundfaltenhosen und vollgeschwitzten Herrenoberhemden die Promenade entlang und versuchten nervös, alle schwarzgekleideten Menschen wegzuschicken. Wie viel Zeit bleibt einem Regime noch, das solche lächerlichen Szenen produziert? Vieles in Ägypten erinnert mich derzeit an die späte DDR.

 

 

 

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Kleine Hindernisse räumen wir selbst weg

Es ist kurz nach Mittag. Ich habe mir gerade eine Tasse Tee gekocht und versuche, mich auf meinen Artikel zu konzentrieren. Draußen auf der Straße höre ich die Müllabfuhr. Sie kommt ungefähr sechs Mal täglich. Das ist gut so, bei dem Abfall, den das Viertel ständig in den drei grünen Containern an der Straßenecke ablädt. Nicht so gut ist die Dezibelstärke dieser Uralt-Mülllaster. WBei offenem Fenster versteht man sein eigenes Wort nicht mehr.

Plötzlich geht ein ohrenbetäubendes Hupkonzert auf der Strasse los. Es steigert sich zum Crescendo. Und will gar nicht mehr aufhören. Schließlich gehe ich etwas ungehalten auf den Balkon, um zu sehen, was da los ist. Lärm ist ja normal, aber das… Es ist wieder einmal so weit: Ein superschlauer Autofahrer – oder war es eine Autofahrerin? – hat seinen Kleinwagen neben einer improvisierten Absperrung geparkt, die eigentlich dazu da ist, ein Parkverbot zu signalisieren. Weil nämlich sonst die Müllwagen nicht mehr vorbeikommen. Genau das ist das Problem. Und zwar nicht zum ersten Mal.

 

Das geparkte Auto steht also fast mitten auf der Fahrbahn, auf der anderen Straßenseite parken selbstverständlich noch mehr Autos. Und nun kommen die fleißigen Mitarbeiter der Beiruter Müllreinigungsfirma Sukleen mit ihrem superlauten Laster nicht mehr weiter. Hinter ihnen staut sich inzwischen der Verkehr, die Fahrer werden sauer und drücken ohne Unterlass auf die Hupe. Der Fahrer von Sukleen hupt nun auch – um den Übeltäter zu seinem Auto zu bewegen, damit er es aus dem Weg fährt. Aber: Fehlanzeige. Da hilft nur Selbsthilfe.

 

Der kleine Wagen wird kurzerhand von den Sukleen-Mitarbeitern zu Seite gehievt.

So, dass der Mülllaster schließlich ganz knapp vorbei passt.

 

Es ist schon hart, bei der Beiruter Müllabfuhr zu malochen. Aber die Sukleen-Männer in ihren grünen Anzügen sind Kummer gewohnt. Zu erwarten, dass die Polizei an solch prekären Stellen Knöllchen verteilt, ist völlig vergeblich. Das tun Polizisten in den seltensten Fällen. Von wegen „Dein Freund und Helfer“. Die Libanesen sind es gewohnt, sich selbst zu helfen, denn auf den Staat können sie sich nicht verlassen. Das nimmt mitunter groteske Formen an oder auch verabscheuenswürdige. So zum Beispiel kürzlich in einem Dorf im Chouf-Gebirge. In Ketermaya wurde ein älteres Ehepaar mit seinen beiden Enkeln auf schreckliche Weise ermordet. Der Mörder, ein Ägypter, wurde gefasst und von der Polizei zurück an den Tatort gebracht, um den Tathergang zu klären. Kaum tauchte er dort auf, fiel der Mob über ihn her, lynchte ihn und hängte ihn anschließend mit einem Metzgerhaken an einem Strommast auf. Die Polizei stand untätig daneben. Gegen diese wütende Meute traute sie sich nicht vorzugehen. Selbstjustiz ist keine Seltenheit im Libanon – wenn sie auch nicht immer so bestialische Züge annimmt. Dass der libanesische Staat ein sehr schwacher ist, ist bekannt. Aber ich denke, die Behörden müssen sich sehr bald entscheiden, ob sie zumindest versuchen wollen, die Dinge unter ihre Kontrolle zu bringen. Oder ob sie das Land sich selbst überlassen wollen. Denn die Anzeichen mehren sich, dass die Libanesen selbst zu Tat schreiten. Ob es nur um das Wegräumen störender Fahrzeuge geht oder um die Rache an tatsächlichen oder mutmaßlichen Mördern.

 

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Unschuldige Sprengstoffkuriere

 Das muss erstmal jemand der slowakischen Polizei nachmachen: Bei einer Sicherheitskontrolle am Flughafen schmuggelten Beamte den nichts ahnenden Passagieren kleine Sprengstoffpakete ins Gepäck, um mit ihren Spürhunden zu üben. Sieben von den acht Paketen fanden die Hunde. Nummer acht reiste unentdeckt im Linienflugzeug nach Irland. Als die Slowaken ihre Panne kurz darauf meldeten, sperrte die irische Polizei den ganzen Wohnblock um das Appartment des vermeintlichen Sprengstoff-Kuriers, riegelte Straßen ab und nahm sich den Verdächtigen drei Stunden lang in einem Verhör vor.

Es ist zum ersten Mal seit längerer Zeit, dass die Slowaken international in die Schlagzeilen geraten sind. Dass es ausgerechnet eine solche Tragikomödie ist, verwundert ebenso wenig wie die Hauptrolle der Polizei: Seit Jahren gibt es einen Skandal nach dem anderen in den Reihen der Polizei – vom örtlichen Polizeichef, der nach einem Streit angeblich den Ehemann seiner Geliebten von einem Sondereinsatzkommando abführen ließ bis zu den Streifenbeamten, die Romakinder zwangen, sich gegenseitig zu schlagen und auszuziehen. Ans Licht gekommen ist der Skandal nur wegen eines Videos, das die Beamten dabei zu ihrer eigenen Belustigung drehten.

Die Politik zieht aus der Häufung solcher Fälle keine Konsequenzen. Der Innenminister verkündet, es handele sich um menschliches Versagen, für das er keine Verantwortung trage. Seine Partei, die linkspopulistische Gruppierung Smer (die in einer bizarren Koalition mit der slowakischen Rechtsaußen-Partei regiert), dürfte bei den Wahlen im Sommer mit großem Abstand gewinnen.

 

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Prost Australien oder: Die Angst vor Alkohol und Alkverboten…

Schon fast zwei Wochen vor dem “Australia Day” zittern Ordnungshüter vor dem Nationalfeiertag. Denn für viele Bewohner des Fünften Kontinents ist der 26. Januar eher nationaler Trinktag. Statt sich an die Anfänge weißer Besiedlung zu erinnern wird gesoffen, und zwar gern bis es kracht.

Heute früh diskutierten Politiker und Polizei wahrhaft darüber, ob es eventuell helfen könnte, wenn Bottleshops erst ab 14 Uhr harte Sachen (mit über 4 Umdrehungen) verkaufen dürften…

Der Strandstadtteil Coogee hat sich kurzfristig zur booze-free zone erklärt, an den Nachbarstränden Bondi, Tamarama und Bronte darf eh seit ein paar Jahren nicht mehr open air gepichelt werden.

In Perth wird der dürre Rasen beim Riesenfeuerwerk ebenfalls mit Bier getränkt, sobald sich eine Uniform nähert – Absolutes Alkverbot. Denn Australier, die sich selbst gern augenzwinkernd als “nation of functioning alcoholics” bezeichnen, kennen leider ihre Grenzen nicht. Viele funktionieren eben nach zehn Bier dann doch nicht mehr so gut.

Sie trinken zu viel, zu ausdauernd, und mit wenig charmanten Folgen: 70 Prozent aller Polizeieinsätze im Bundesstaat New South Wales sind alkoholbedingt. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: drei von vier Sirenenheulern verursacht ein randalierender Pisspot oder betrunkener Autofahrer. Oder anders: Fast 3 von 4 Polizisten wären ohne Alkohol arbeitslos… (komischerweise bringt das bisher keiner der Kollegen hier mit dem boomenden Arbeitsmarkt in Verbindung … 😉

Australia Day ist traditionell heiß und durstig da mitten im Sommer, für viele der letzte Ferientag, kurz: ein kontinentalübergreifender Partymoment. Allein die Ureinwohner fanden den Anfang weißer Besiedlung noch nie wirklich feiernswert. 

Die anderen trinken, grillen, baden und trinken noch etwas mehr. Schon jetzt wittern Boulevardblätter in den angedachten Alkoholbeschränkungen einen Angriff auf die kulturelle Identität. Der Telegraph sieht die “Tradition einiger Biere oder Gläser Wein zum OZ-Day Barbeque in Gefahr“. Ach ja, wenn es nur um “einige Biere” ginge, wäre vermutlich die ganze Aufregung nicht nötig …

 

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Schwarzer Peter im Glashaus

Als ich am Morgen des 6. Juli, einem Montag, ins ARD-Hörfunkstudio Kairo kam, fragte mich eine ägyptische Mitarbeiterin, ob ich von dem Mord an Marwa El-Sherbini im Dresdner Landgericht gehört hätte und warum die deutschen Medien und deutsche Politiker die Tat immer noch verschweigen würden. Tun sie sicher nicht, erwiderte ich und schaute später in den Archiven nach. Ich wollte der Kollegin das Gegenteil zu beweisen. Es gelang mir nicht, sie hatte recht. In den fünf Tagen nach dem Mord an der Ägypterin, der am Mittwoch zuvor stattfand, waren Meldungen außerhalb der Vermischtes-Seiten oder des Polizeireports die Ausnahme, vom Tathintergrund ganz zu schweigen.

Noch am selben Tag produzierte ich einen Hörfunkbericht mit O-Tönen, der die Reaktionen in ägyptischen Talkshows, Zeitungen und von Passanten auf Kairos Straßen zusammenfasste. Eine knappe Woche nach der Tat meldete sich dann endlich auch die Bundesregierung in Gestalt des Regierungssprechers zu Wort, mit enttäuschend hinhaltender Rhetorik: Sollte es sich herausstellen…, so werde man… aufs Schärfste verurteilen… usw… Andrea Dernbach fragte im Berliner »Tagesspiegel«: »Warum ist der Tod einer Kopftuchträgerin, die nicht Opfer eines Ehrenmords wurde, eine Woche lang nur eine kurze Meldung in den Nachrichtenagenturen und für die politischen Institutionen kein Grund, auch nur zu zucken?«

Ebenso Stephan J. Kramer, Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland, der bestürzt wissen wollte, warum es keine »Solidaritätsadressen von Vertretern der deutschen Mehrheitsgesellschaft« gegeben habe. Immerhin sei der Mord »ganz offensichtlich das Ergebnis der beinahe ungehinderten Hasspropaganda gegen Muslime von den extremistischen Rändern der Gesellschaft bis hin in deren Mitte«. Sind etwa die Protestnoten deutscher Politiker nach antisemitischen Straftaten, so könnte Kramer sich weiter gefragt haben, womöglich nichts anderes als ein hohles, pflichtbewusstes Routineritual?

Der Täter ist inzwischen zu lebenslanger Haft verurteilt worden, am Ende eines Prozesses, den der »Spiegel« zu Recht als Sternstunde des deutschen Rechtsstaates bezeichnet, ein Prozess, der die besondere Schwere der Schuld feststellte und auch in ägyptischen Medien gelobt wurde. Leider zu selten wurde allerdings die Frage gestellt, ob der Mord an Marwa El-Sherbini nicht Ausdruck einer Atmosphäre des Islamhasses ist, der bis in die Mitte der deutschen Gesellschaft reicht. Auch scheint es kaum jemanden zu beunruhigen, dass die deutsche Öffentlichkeit in diesem Fall reagiert hat, wie ich es normalerweise von der ägyptischen gewohnt bin.

Da waren zum einen die späten deutschen Reaktionen, die von der arabischen Presse als Todschweigen oder, schlimmer noch, gelegentlich als heimliche Komplizenschaft gedeutet wurden. Wenn Ihr nicht alle Terroristen seid, fragt der Westen seit 9/11 die muslimische Welt (zu Recht), wo sind dann Eure kritischen und gemäßigten Stimmen? Nun mussten sich dieselbe Frage die Deutschen gefallen lassen: Wenn Ihr nicht alle Rassisten seid, wo blieben dann Eure Verurteilungen und Solidaritätsnoten?

Wie in der arabischen Welt nach Terrorattentaten, so suchte man auch in Deutschland die Schuld bei anderen. Warum soll die Tat für uns relevant sein, wo Alex W. doch erst 2003 aus Russland nach Deutschland kam? Nicht ungelegen kamen offenbar die emotionalen Reaktionen in der muslimischen Welt, die Proteste und Drohungen. Brennen bald deutsche Botschaften, fragte ZEIT Online. Dass in Ägypten Protestaktionen die Ausnahme waren, spielte keine Rolle. 2000 Ägypter beim Trauerzug in Alexandria hinter Marwas Sarg, bei dem einige Hitzköpfe »Nieder mit Deutschland« grölten, drei Dutzend stumme Transparenteträger vor der Deutschen Botschaft in Kairo, ein Mordaufruf im Internet, der dort allerdings von Durchschnittsusern kaum gefunden werden konnte und von einem Wirrkopf stammte. All das reichte aus, um die anderen schlecht, fanatisch oder, besser noch, als Täter dastehen zu lassen.

Wie praktisch auch, dass es unter Muslimen (aber nicht nur unter ihnen) Ehrenmorde gibt. Diese Retourkutsche ließ man sich nicht entgehen. Laut Bundeskriminalamt wurden zwischen 1996 und 2005 pro Jahr im Schnitt fünf Frauen Opfer eines Ehrenmordes in Deutschland – jeder einzelne eine grausame Tragödie. Dennoch ist es an Geschmacklosigkeit kaum zu überbieten, angesichts der Proteste gegen den Mord an Marwa El-Sherbini zu fragen, wo denn die Proteste gegen Ehrenmorde bleiben? So geschehen in Kommentaren und Berichten in den letzten Monaten. Das erinnert mich daran, wie man in arabischen Ländern den Schwarzen Peter zurückgibt, indem nach Terrorattentaten gern auf Guantanamo, den Krieg gegen den Irak, die zivilen Opfer in Afghanistan oder den Palästinensergebieten verweist.

Besonders nervös wiesen die Deutschen in der Berichterstattung zum Marwa-Mord, in Leserbriefen und in Kommentarspalten den Generalverdacht von sich, dem man sich ausgesetzt sah. DIE Deutschen sind natürlich keine Rassisten, auch wenn das manche ägyptischen und arabischen Medien in den Wochen und Monaten nach dem Mord suggerierten. Aber ist der Generalverdacht nicht ein Instrument, das weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit bekannt vorkommen müsste, weil sie es jahrelang auf Muslime angewandt haben?

Unterm Strich war zu erleben, dass die deutschen Reaktionen auf den Mord in Dresden zu oft aus Verdrängen, Verharmlosen, Relativieren und Dämonisieren bestanden. Im Grunde haben sich weite Teile der deutschen Öffentlichkeit verhalten wie die arabischen Gesellschaften in spiegelgleichen Situationen. Und das sollte, angesichts der Tatsache, dass wir in einer demokratischen Zivilgesellschaft leben, nun wirklich beunruhigen.

 

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Gewaltenteilung auf Libanesisch

Der libanesische Innenminister Ziad Barroud ist ein Mann der Praxis. Das mögen die Menschen an ihm. Er schwafelt nicht nur über hehre Ziele wie „Nationale Einheit“, „Sicherheit“ oder „Recht und Ordnung“, er setzt sie in die Tat um. Im Kleinen, aber mit Signalwirkung. So hat der Minister, Ex-Vorkämpfer der libanesischen Bürgerrechtsbewegung, parteilos aber eher dem pro-westlichen Lager zuzuordnen, unmittelbar nach der Bildung einer Regierung der nationalen Einheit in der vergangenen Woche eine zukunftsweisende Vereinbarung mit der Hisbollah geschlossen: Erstmalig seit dem Bürgerkrieg ist die libanesische Polizei in großer Zahl wieder in der überwiegend von Schiiten bewohnten Dahiyeh präsent.

Die Dahiyeh, das sind südlichen Vororte von Beirut. Früher einmal überwiegend von der christlichen Mittelschicht bewohnt, haben sich hier während des Bürgerkrieges 1975 – 1990 immer mehr Schiiten aus dem Süden des Landes angesiedelt. Die Hisbollah fasste ebenfalls Fuß und errichtete hier ihr politisches Hauptquartier. Weil der libanesische Staat jahrelang durch Abwesenheit glänzte, übernahm die Schiitenpartei infrastrukturelle Versorgungsfunktionen aber auch die Sicherheitskontrolle. Drum ist die Dahiyeh eine Welt für sich: Die Hisbollah-Polizei regelt den Verkehr, Hisbollah-Sicherheitsleute sorgen für Ordnung auf den Straßen und kümmern sich unmittelbar um Auffälligkeiten vor allem ausländischer Besucher.

So ist es erst kürzlich wieder zwei ahnungslosen deutschen Touristinnen passiert. Sie hatten sich regelrecht in die Dahiyeh verirrt, wussten nicht, wo sie waren, fanden die Umgebung aber reizvoll und so ganz anders als das Zentrum Beiruts, und packten ihre Kamera aus. Kaum hatten sie ein paar Schnappschüsse gemacht und den Fotoapparat wieder in ihrer Tasche verschwinden lassen, standen schon ein paar junge Männer vor ihnen. Die Personalien bitte. Und dann wollten sie wissen, warum um alles in der Welt die Damen hier Fotos gemacht hätten. Wo doch jedes Kind im Libanon weiß, dass die Dahiyeh Sperrgebiet für jede Art von Kamera oder Tonaufzeichnungsgerät ist. Es sei denn, man hat eine Ausnahmegenehmigung der Partei Gottes. Es entspann sich eine längere Befragung der jungen Frauen, nachdem die Hisbollahis sie zunächst zuvorkommend gebeten hatten, auf Plastikstühlen auf dem Gehweg Platz zu nehmen. Auch für das leibliche Wohl wurde gesorgt, man reichte Tee und Wasser, fehlten nur noch die Kekse.

Die Hisbollah-Sicherheitsleute erklärten den beiden Ahnungslosen, warum dies so sensibles Gebiet sei: Weil die Partei, deren Führer auf der Abschuss-Liste der Israelis stehen, Sorge vor israelischen Spionen habe, die kämen, um potentielle Ziele zu demarkieren. Das geht übrigens nicht nur auf Paranoia und Kontrollsucht zurück, denn tatsächlich wurden in den vergangenen Monaten im Libanon mehrere Dutzend israelische Spione enttarnt und vor Gericht gestellt. Die deutschen Spaziergängerinnen waren geschockt: „Um Gottes Willen, wir sind doch keine Spione!“  Bleich saßen sie auf den weißen Stühlen. Doch statt der befürchteten Verschleppung in dunkle Verliese erhielten sie ihre Kamera zurück sowie noch ein paar freundliche Tipps für den Heimweg und damit war der Fall erledigt. Kein Einzelfall übrigens.

Für Deutsche mag das schockierend sein, für Libanesen ist die Geschichte wenig überraschend. Wie so etwas in Zukunft ablaufen wird, bleibt abzuwarten. Ob dann vielleicht Hisbollah-Schutzleute gemeinsam mit der regulären Polizei operieren? Oder ob die Staatsordnungshüter nur den Verkehr regeln dürfen, während die Hisbollahis die Hoheitsaufgaben in ihrer Dahiyeh lieber weiter selbst in die Hand nehmen? Es wird spannend sein zu beobachten, wie diese ‚Gewaltenteilung’ in der Praxis aussehen wird. Aber eines steht fest: Innenminister Baroud, der Mann der leisen aber entschiedenen Töne, hat es wieder einmal geschafft, dort Pflöcke einzurammen, wo andere nur lautstark Slogans durch die Gegend posaunen von der Notwendigkeit, die Souveränität des libanesischen Staates auf das gesamte Staatsgebiet auszudehnen.   

 

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Wer zum Teufel ist Noripi?

Kann mir jemand sagen was 0.008 Gramm auf der Hand sind, unter dem Fingernagel oder sonst wo? Ich meine, wie sieht das aus, Mehl, Staubzucker, Tabak,Vitamine? Am Montag stand Noripi vor Gericht. Kerker, 18 Monate für 0.008 Gramm, “stimulierende Substanz”, aber was genau? 3000 Neugierige balgen sich um 21 Lotterie-Tickets für Plätze im Gerichtsaal. Erniedrigung, Reue, mitunter Nachlass – das alte japanische Spiel auf dem Weg zur Läuterung.  In einem Land, wo Galgen-Bodentüren genauso schnell fallen wie im Irak (mit einem Unterschied: japanische Angehörige erfahren von der geheimen Hinrichtung erst Monate später), in so einem Land verwundert ein Drama um 0.008 Gramm nicht. Begonnen hatte alles am 2. August. Die Polizei stoppt Ehemann Yuichi Takaso, findet “eine stimulierende Substanz”. Telefoniert dann mit seiner Frau. „Kommen Sie!“ Sie kommt sofort. Entschuldigt sich für das Verhalten ihres Mannes. Danach ist sie bis zum 8. August verschwunden. Sie habe die Zeit genutzt, um “stimulierende Substanzen” in der Wohnung zu entsorgen (ausser diese 0.008 Gramm). Das sei niederträchtig, gemein, verbrecherisch. Richter Hiroaki Murayama (übersetzt „Dorfberg“) lässt die Japaner wissen: Noriko Sakai (bürgerlicher Name) habe seit vier Jahren genau einmal pro Monat eine “stimulierende Substanz” zu sich genommen. Yuichi habe sie dazu animiert. Von der eigenen Sucht sei sie auch ein paar Mal getrieben worden. Ein Mal pro Monat. Woher die Information? Geständnis? Freiwillig? (Europäische Botschaftsangehörige wissen um die mittelalterlichen Zustände in den japanischen Gefängnissen, unterliegen aber der Schweigepflicht).

Der Richter schimpft. Stoesst kaum auf Widerstand, und wenn, dann ist das Auflehnen wattiert, verfloskelt, vage.  Kommen auf 10,000 Deutsche 15 Rechtsanwälte, sind es in Japan nicht einmal 2 (genau 1.8). Bei denen gilt die Faustregel: Besser sich als Unschuldiger schuldig bekennnen, als  sich unschuldig verteidigen. Die Polizei irrt nie. Die Verurteilungsrate nach Verhaftung ist 99 Prozent Komma nochwas.

Und dann schwenkt Richter Murayama plötzlich ein. Er wird Gnade walten lassen. Noriko Sakai habe ihn überzeugt, ihre Reue, ihr Wille zur Besserung, dass sie dem Show-Business für immer den Rücken kehren wird, den Krankenpflegeberuf erlenen will,  und vor allem, ihre Scheidung vom Nichtsnutz-Verbrecher-Ehemann, demnächst, irgendwann, wie versprochen. Noriko Sakai – Noripi — hat in ihrem Leben hunderte Millionen CDs verkauft. „18 Monate auf Bewährung!“ verkündet Richter Murayama und geniesst seine letzten Sekunden vor dem Star: „Ich will meine Worte aus Ihrem Mund hören, langsam und deutlich!“ Der Saal ist still. Noripi verbeugt sich tief, sehr tief und haucht: „18 — Monate — auf —  Bewährung.“

 

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Knochenarbeit

Mich beschäftigt ein junger Pirat namens Abdu Willy. Er ist etwa 18 Jahre alt und stammt aus Somalia. Anfang Oktober war er daran beteiligt, vor der dortigen Küste einen spanischen Thunfischfänger zu kapern. 48 Stunden später wurde er von Soldaten der Marine festgenommen und nach Spanien verbracht (das Schiff befindet sich immer noch in der Gewalt der Piraten). Und seitdem gibt es ein Heidentheater um jenes „etwa 18 Jahre alt“, denn für den Prozess gegen Abdu Willy ist es von entscheidender Bedeutung, ob er volljährig ist oder nicht. Je nachdem wäre ein anderer Richter zuständig, ein anderes Gericht, und auch das mögliche Strafmaß fiele jeweils deutlich anders aus. Weil dem so ist, wird Willy (der selbst behauptet, erst 16 zu sein) seit reichlich zwei Wochen von einer medizinischen Untersuchung zur nächsten geschleppt. Sieben zum Teil aufwendigen Tests hat er sich in den vergangenen zwei Wochen unterworfen. In der Zeitung „El País“ vom Donnerstag wurde sogar eine mehrteilige Grafik des Skelettaufbaus rund ums Schlüsselbein gezeigt, um die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, von welchen Knochen man sich diesmal Aufschluss über das wahre Alter des jugendlichen Piraten versprach.

Einmal davon abgesehen, dass mittlerweile jedes Mitglied der staatlichen spanischen Krankenversicherung neidisch sein dürfte auf die Geschwindigkeit, mit der man Willy Termine beim Spezialisten zugeteilt hat, und abgesehen auch von der mutmaßlichen Gewissenhaftigkeit des ganzen Verfahrens – ich kann mir nicht helfen: Vor meinem geistigen Auge verdichtet sich der bisherige „Ermittlungsprozess“ zu einer halb gespenstischen, halb kafkaesken Szene, in der sich eine Reihe Doktoren über den Leib eines sehr jungen Menschen hermacht, mal diesen, mal jenen Knochen hervorzerrend, um letztlich festzustellen, ob man hinter bzw. jenseits all der Knochen wohl ein ausreichend ausgeprägtes Bewusstsein zu fassen kriegt. Ein paar Grad mehr an Knochenbildung können leicht einige Jahre mehr Gefängnis bedeuten. Das Verfahren scheint logisch, eine Grenzziehung nötig, und doch wirkt der Testreigen auf bizarre Weise unpassend. Man würde gern mehr über das ethische Skelett des Burschen wissen, über seinen Weg ins Piratengeschäft, und kann bisher nur in den Körper eindringen, das einzig Handfeste.

Zufällig stand in „El País“ neben Geschichte & Grafik zu Willys Knochenuntersuchung ein Artikel über ein, nun ja, entfernt verwandtes Thema. Nahe Granada wird gerade jener Fleck Erde umgegraben, an dem die Reste des Dichters Federico García Lorca liegen sollen. Der war am 19. August 1936 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion von Francos Truppen erschossen und gemeinsam mit einem Lehrer, einem Steuerbeamten und zwei Wegelagerern verscharrt worden. Einige Hinterbliebene kämpfen dafür, dass die Knochen ihrer Vorfahren identifiziert und ihnen übergeben werden. Lorcas Familie verzichtet dagegen ausdrücklich auf diese Identifikation und war auch bisher immer gegen eine Öffnung der mutmaßlichen Grabstelle. „Lorca waren alle“, steht auf dem vor Ort befindlichen Mahnmal (hier eine 360-Grad-Ansicht). Mit diesem Mahnmal, das Lorca hervorhebt und ihn zugleich einreiht unter die anderen Bürgerkriegsopfer, hat der Dichter womöglich in der Tat schon einen würdigen Grabstein. Andererseits bleiben noch weit mehr als 100 000 anonyme, verscharrte Opfer und Tausende Familienangehörige, für die das Auffinden und Bestatten der Ihren ein notwendiges Stück Trauerarbeit darstellt. Bisher müssen nichtstaatliche Organisationen die komplizierten Grabungsarbeiten übernehmen. Spaniens sozialistische Regierung hat in einem Gesetz zum „Historischen Gedächtnis“ nur begrenzt kommunale Mithilfe angeboten, und die konservative Opposition würde die Massengräber sowieso lieber alle geschlossen halten.

Ich weiß, eigentlich hat der junge Somalier Abdu Willy gar nichts mit den Toten des Bürgerkriegs zu tun. Aber trotzdem, so in der Zeitung nebeneinandergerückt, erscheint mir das wie ein verrücktes Missverhältnis: Die gesetzlich verfügte, wochenlang ausdifferenzierte Sorge um Willys Knochenbau auf der einen, die gesetzlich über Jahrzehnte vernachlässigte Sorge um die Knochen von mehr als 100 000 Opfern in der eigenen Erde auf der anderen Seite.

 

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Drogenerziehung auf Indonesisch

Gestern bekam ich eine ungewöhnliche SMS: „Drogen zerstören die Zukunft der jungen Generation. Hört jetzt auch auf, Drogen zu nehmen, damit Eure Zukunft nicht dunkel und hoffnungslos ist. Sender: Präsident der Republik Indonesien.“ Da ich mich als drogenfreie Langweilerin davon nicht angesprochen fühlte, werde ich diese fürsorgliche Nachricht heute einem Freund weiterleiten, der wegen eines Joints seine nähere Zukunft im Gefängnis verbringen wird. Dass er eines und nicht fünf Jahre im Knast verbringen wird, hat er übrigens den Ordnungskräften dieser fürsorglichen Republik zu verdanken. Für mehrere hundert Euro Bestechungsgeld hat die Polizei das zunächst völlig übertriebene Verhaftungsprotokoll in einen Bericht umgewandelt, der – zumindest in groben Zügen – der Realität entspricht. Für ein paar hundert Euro mehr haben sich Richter und Staatsanwalt dann auch noch erbarmt, ein normales Strafmaß anzusetzen. Ein anderer Bekannter hatte weniger Geld. Er hat nun vier Jahre Zeit, um sich wegen ein paar Gramm Hasch seine Zukunft im Gefängnis aufzubauen: Er holt seinen Schulabschluss nach, den er sich – ebenfalls wegen Mangel an Geld und staatlicher Unterstützung – „draußen“ nicht leisten konnte.

 

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Glauben, wissen, zweifeln

Seit ein paar Monaten versuche ich, mich für den World Youth Day zu akkreditieren. Akkreditieren heißt so viel wie “beglaubigen, bevollmächtigen”. Das hat mit Bürokratie zu tun und wird von Journalisten hin und wieder verlangt: vor Großereignissen oder brisanten Terminen wie Fashion Week oder G8-Gipfel. Ist lästig und nicht zu ändern, dauert meist ein bis zwei Stunden.

Die Akkreditierung für das Massen-Ereignis der Pilger – also called WYD – im Juli in Sydney hat mich bislang sieben Stunden gekostet. Die gigantische Medienmaschine, die hinter dem WYD steckt, will mich nämlich ganz ganz genau kennen lernen, ehe sie mir erlaubt, über das Ereignis zu schreiben.
Ich habe Formulare ausgefüllt und Beweise meiner Tätigkeit hochgeladen. Ich habe Fotos von mir runtergeladen (ohne Schatten auf dem Gesicht, weniger pixel bitte, mehr pixel, zu viel Arme, Nase mehr nach links). Ich habe Auftragsbriefe von Redaktionen verschickt, den WYD-Mediadamen meine Hobbies und mein bisherhiges Leben geschildert. Ich bin immer noch nicht akkreditiert. Und ich beginne zu zweifeln. Es fehlen: Das polizeiliche Führungszeugnis (mal im Ernst: was gehen den Jugendtag meine Vorstrafen an? Saß nicht sogar Jesus mit Sündern zu Tisch?). Und es fehlen: drei verschiedene, amtlich beglaubigte Identitätsnachweise. Drei. Mal unter uns: Wenn ich was richtig Böses vorhätte, und zu dem Zweck also eine ID fälschen würde. Würde ich dann nicht auch schaffen, drei Papiere zu fälschen… ?

Zum Glück wird die Welt notfalls auch ohne meine Akkreditierung über Massenmesse, Pilger und Papst erfahren: Denn wie berichtet kommen noch etwa 5.000 andere Journalisten aus aller Welt her (sind die wohl alle schon akkreditiert?). Das sind Kollegen, die daheim in den Redaktionen “Religion & Kultur” sitzen, oder in “Jugend & Welt” oder im Ressort “Ausland”. Und weil Sommer ist, kann Australien auch ausnahmsweise mal “Ausland” sein und fällt nicht wie sonst unter “Reise” oder “Vermischtes”. Zumal ja der Papst kommt, und der war schließlich Deutscher, ehe er in den Vatikan zog. Oder ist es immer noch. Keine Ahnung, wie das mit der doppelten Staatsbürgerschaft bei Päpsten ist. Auf jeden Fall ist der Bezug da und das Sommerloch auch, und da sollen dann ja gern ein paar Kollegen nach Sydney fliegen.

Wenn die Papstmesse vorbei ist, dann haben die meisten noch ein bisschen Zeit: “Wo ich schon da unten bin, geh ich noch kurz ans Reef und mach dann noch die Aborigines”, mailt der Kollege vom Regionalanzeiger und fragt nach Tipps. Er guckt Papst, taucht und ‘macht Aborigines’. “Drei Tage reichen da doch, oder?” erkundigt er sich noch, “für die Aborigines?” – “Ja sicher”, lüge ich beherzt. Kein Problem – Drei Tage für die Recherche eines Problems, an dem ein Kontinent seit Jahrhunderten nagt und dessen Zeitzeugen auf einem riesigen, weiten Kontinent verstreut leben – Drei Tage sind üppigst bemessen… Viel Spass und gutes Gelingen! Ich mach mich dann mal für zwei Wochen aus dem Staub. Ich schaff die WYD-Akkreditierung eh nicht.

Ps: Wissen Sie was der Werbeslogan des Jugendtages in Sydney ist? "WYD – the time of your eternal life". Da komm ich mir schon wieder kleinlich vor mit meinem Gestöhne über die sieben Stunden Formulare ausfüllen und Beglaubigungen beglaubigen lassen.

 

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Ein Brotbeutel gegen Freiheitsberaubung

Meiner belgischen Zeitung lag heute morgen ein Brotbeutel aus reißfestem Papier bei. Auf dem Beutel sind die zehn wichtigsten Rechte eines Angeschuldigten im Fall einer Verhaftung aufgedruckt, mit freundlichen Grüßen von der flämischen Anwaltskammer. Alles andere verlegt man irgendwann, meinen die Anwälte, den Brotbeutel hat man beim Frühstück am ehesten griffbereit – für den nicht unwahrscheinlichen Fall, dass man eines morgens unschuldig verhaftet wird.

Weil die Angst vor Terror und Kriminalität in der Bevölkerung ständig wächst, reagieren laut Statistik der Anwaltskammer auch Polizei und Justiz zunehmend rigoroser: Es wird immer schneller verhaftet und immer langsamer freigelassen. „Freiheitsberaubung scheint ein Automatismus geworden zu sein,“ klagen die Anwälte.

Ein Drittel aller belgischen Gefängnisinsassen sitzt ohne Urteil. Sie sind in Untersuchungshaft und bleiben oft jahrelang im Gefängnis, weil die Ermittler draußen die Beweise nicht finden, die für einen Prozess nötig sind. Das heißt, je länger sie in U-Haft sitzen, desto wahrscheinlicher ist, dass sie unschuldig sind, zumindest nie verurteilt werden, jedenfalls nicht von einem Richter. Umso mehr allerdings von den Nachbarn: Wer solange im Gefängnis war, hat ganz sicher irgendwas angestellt.

Zufall oder nicht, diese Woche wurde eine junge Frau nach genau 12 Monaten und elf Tagen aus dem Untersuchungsgefängnis in Hasselt entlassen. Vorläufig. Denn sie gilt weiterhin als verdächtig, ein Dreiecksverhältnis mit einem Fallschirmspringerpaar auf radikale Weise beendet zu haben. Die Polizei glaubt, sie habe der Rivalin die Reissleine des Fallschirms angeschnitten, was diese nicht überlebte. Nur: Beweise gibt es nicht. Dafür sind 12 Monate und 11 Tage doch sehr lang. In den letzten drei Jahren saßen in Belgien fast 600 Leute in U-Haft, die später freigelassen wurden, weil die Beweislage zu dünn war.

Beim Europäischen Gerichtshof ist Belgien wegen der langen U-Haftzeiten ein Dauerkunde. Der Rekord liegt bei sechs Jahren. Ich esse zum Frühstück übrigens Joghurt mit Obst, den Brotbeutel der Anwaltskammer habe ich sicherheitshalber von innen an die Haustür genagelt.

 

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Kneipenabend mit Journalistin kostet Staatssekretärin die Karriere

Alkohol, ein männlicher Journalist und ein Kuss – im moralisierenden Schweden eine Mischung, die eine Politikerin die Karriere kosten kann. Nachdem sie am Dienstagabend vergangener Woche diesen Cocktail aus den drei pikanten Zutaten genossen hatte, trat Ulrica Schenström, Staatssekretärin unter dem schwedischen Regierungschef Fredrik Reinfeldt, gestern ab. „Schon die Bilder, die publiziert wurden und die Tatsache, dass ich mit einem Journalisten gesprochen und dabei Wein getrunken habe, sind bedauernswert“, schrieb sie in ihrem Rücktrittsbrief und verschwieg, dass es wohl mehr als ein Glas war und das sie an jenem Abend für die Krisenbereitschaft Schwedens zuständig war – zweiter Fehltritt.
Für umgerechnet rund 100 Euro sollen Staatssekretärin Ulrica Schenström und der Fernsehjournalist Anders Pihlblad am Dienstag vergangener Woche Wein und Bier getrunken haben. So hoch wie die Alkoholpreise in Schweden sind, nicht genug Geld, um sich besinnungslos zu besaufen, aber ausreichend, um die Zunge zu lösen. Zumal, so berichtet das Boulevardblatt Expressen, Schenström „Domaine Lalande Merlot” getrunken haben soll, der laut Weinkarte der Kneipe, die die beiden besuchten „die Leute gesprächig“ mache. Genau das, so wird gemutmaßt, habe der Journalist gewollt.
Damit haben die beiden Betroffenen gleich zwei empfindliche Stellen der Schweden getroffen. Zum einen haben sie den Eindruck erweckt, dass sich zwei, die beruflich eine Art Gegner sind, zu gut kennen und womöglich an der Öffentlichkeit vorbei Geheimnisse austauschen. Das gilt in dem nordeuropäischen Land als Korruption; entsprechende Anzeigen sind bereits eingegangen. Zum anderen ist die Krisenbereitschaft seit Ende 2004 in Schweden ein besonders heikles Thema. Damals kamen sehr viele Schweden bei der Tsunami-Katastrophe um und die Politiker traten – weil die Krisenbereitschaft nicht funktioniert hatte – erst spät an die Öffentlichkeit. Schon damals mußte ein Staatssekretär zurücktreten. Seither ist man in dem nordeuropäischen Land sehr darum bedacht, stets eine einsatzfähige Krisenbereitschaft zu haben. Nun hat Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt den Fehler gemacht, zu behaupten, es gefährde die nationale Sicherheit, wenn er bekannt gebe, ob Schenström Verantwortliche war und verschwieg eben genau jenes bis zum Rücktritt Schenströms. So ziemlich das Dümmste, was er nach nüchterner Betrachtung hätte tun können. Nachdem Reinfeldt gleich nach Amtsantritt im vergangenen Herbst schon zwei Ministerinnen verloren hatte, weil sie keine Fernsehgebühren bezahlt und Schwarzarbeit hatten ausführen lassen, sollte er eigentlich Übung im Hantieren von politischen Krisen haben. So war denn der Kuss des Journalisten, der schnell als rein freundschaftlich abgetan wurde, wohl vielmehr ein Judaskuss. Und die Geschichte geht weiter, denn die zwischenzeitlich eingesetzte Staatssekretärin hat ebenfalls Schwarzarbeit ausführen lassen.

 

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Leichenteile in meiner Nachbarschaft

 

 

 

 
Zeichnung von Toshio Saeki aus seinem Buch „The Earliest Work“, Seirin-Kogeisha-Verlag

„Kann sein, dass der Kopf auf meinem Rücksitz rumgerollt ist!“ sagt der Taxifahrer, „oder auch nicht! Wer merkt sich schon alle Gesichter!“ Und dann lacht er über seinen Versuch, dem Fahrgast näher zu kommen. In Tomigaya gegenüber dem Issey Miyake Headquarter geht überhaupt nichts weiter. Lastwagen der TV-Anstalten TBS und Fuji TV blockieren die Kreuzung. Zu Fuss zu meinem Studio wären es zehn Minuten – und jetzt sitze ich im Taxi fest, schon eine Viertelstunde, muss mir auf nüchternen Magen Kommentare zu Kaori Mihashi anhören. Die hatte am 12. Dezember ihren Mann Yusuke in drei Teile zersägt – weil er sich nicht bei ihr entschuldigen wollte (Affäre, betrunken nach Hause, was immer…). Und weil er sich nicht entschuldigt hat, komme ich nun zu spät zum Meeting. Gegenüber von Issey untersucht die Polizei die Wohnung des Ehepaars. Deshalb die TV-Transporter. Deshalb die Verstopfung.

„Das war nicht der Kopf,“ sage ich, „den hat sie zum Machida Park in der U-Bahn gebracht. Vielleicht der Oberkörper?“ „Sooo-des-neeee…!“ sagt der Taxifahrer, drückt damit wie alle Japaner aus, dass etwas so ist, sein könnte oder nicht so ist und nicht so sein könnte. „Wir fahren jeden Tag mit Plastiksäcken herum. Eine Frau wie Kaori, mit schwerer Plastiktüte? Sooo-des-neeee…..!“ In den Morgennachrichten hiess es, dass die schmächtige 30-jährige den Oberkörperklumpen von Yusuke, Spekulant bei Morgan Stanley, im Taxi nach Shinjuku geschleppt hat (Passanten dachten, da liegt ein Schaufensterpuppenteil am Gehweg.). Gesetz der Serie? Vor zehn Tagen verhaftete die Polizei den Studenten Yuki Muto, weil der seine Schwester gar zehnfach zerlegt hatte – nicht mitgezählt die abgeschnittenen Brüste. Auch dieses Opfer wollte sich nicht entschuldigen, diesmal für die verhängnisvollen Worte „Du bist ein hoffnungsloser Kerl und hast kein Lebensziel!“. Und auch das ist bei mir ums Eck passiert – in Hatagaya. Den Eltern, beide Zahnärzte, hat Yuki den Verwesungsgeruch im Wandschrank damit erklärt, dass ihm Freunde einen kleinen Hai geschenkt hatten, und der sei nun eingegangen.

Zugegeben, der Stadtteil Roppongi liegt etwas weiter entfernt als Hatagaya und Tomigaya, ca. 20 Minuten mit dem Auto. Berücksichtigt man aber die Weite Tokios, dann sind es auf Münchener Verhältnisse umgerechnet von meinem Studio aus 5 Minuten. In diesem Roppongi (bekannt für Nachtleben und Mori Museum) hat der 54-jährige Unternehmer Joji Obara ausländische Bardamen betäubt, vergewaltigt und angeblich mindestens eine in seiner Badewanne … was wohl? – zerstückelt!

„Jetzt einen direkten Bezug zu der makabren, japanischen Mangakultur herzustellen, wäre sicher zu banal,“ habe ich gestern noch via Skype-Video zur Kollegin Angela Köhler von der Wirtschaftswoche gesagt. In den wöchentlich erscheinenden, oft hunderte Seiten starken Comics spritzt Blut in alle Richtungen – mit Brutalsex als Begleiterscheinung. Dem Leseralter sind keine Grenzen gesetzt.

Angela hat mir darufhin das preisgekrönte Buch „Out“ empfohlen, von Kirino Natsuo (in Deutschland unter dem Karl-May-haften Titel „Umarmung des Todes“ erschienen). Das Thema klingt vertraut, fast telepathisch: Ehefrau in Tokyo bringt Mann um, zerstückelt ihn, plant Verteilung der Bodyparts. Wenn nicht Mangas, was könnte die rachsüchtigen, dunklen Täterseelen noch inspiriert haben? Jungsche Archetypen wie Samurais etwa? Jene Halsabschneider, die sich ihren Lebensunterhalt über Jahrhunderte mit dem Mutilieren von Menschen verdingt haben – und zwar nicht so ehrenhaft, wie es im Nachhinein der Mythos will?

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Filmdirektor und Schauspieler Takeshi Kitano, wo er mir trocken erklärt, dass er für seine Blutorgie Zatoichi tagelang geübt hat, wie man dem Gegner fachgerecht die Hand abhackt. „Details im Film sind alles!“ Und ich erinnere mich auch an den kaiserlichen Schwertschmied Yoshindo Yoshihara: „Meine Schneiden sind scharf,“ hat er gesagt, „so scharf, dass sie mit einem Streich auf Brusthöhe ihren Körper druchtrennen können.“ All das geht mir im Taxi durch den Kopf, während überhaupt nichts weiter geht.

„Aus Amerika?“ fragt der Fahrer. „Nein, doitsu!“ Ich sage immer Deutschland, weil ostoria (Österreich) klingt so wie ostoralia (Australien). „Ah, hitola!“. Es folgt ein Hitlergruss. „Deutschland und Japan. Zweiter Weltkrieg. Zusammen! Zusammen!“ Die Augen des Taxifahrers leuchten auf im Rückspiegel. Jetzt hat er doch noch Zugang gefunden zu seinem Fahrgast – glaubt er zumindest.

 

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Hälfte aller Medienprodukte in China sind gefälscht

Die Hälfte aller in China verkauften Bücher, DVDs und Computerprogramme sind gefälscht, berichtete die Nachrichtenagentur Xinhua. Die Meldung stützt sich auf einen Regierungsbericht, nach dem 45,5 Prozent aller im vergangenen Jahr verkauften Medienprodukte Raubkopien seien.

Nur 45,5 Prozent? Das kann nicht sein! Es ist in China leichter, Fälschungen zu kaufen als Originale. Gefälschte DVDs bekomme ich in Shanghai rund um die Uhr für 70 Cent an jeder Straßenecke. Echte DVDs – ich muss sagen: keine Ahnung, wo man die kaufen kann. Habe ich in vier Jahren noch nicht gesehen.

Die Xinhua-Meldung erwähnt nicht, dass in China auch die Hälfte aller Regierungsberichte gefälscht sind. Mindestens.

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