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Weltreporter-Forum 2016 – hier ist das Programm!

Das Programm des Weltreporter-Forums 2016 in Raiding/Burgenland steht!

Wir freuen uns mit unseren internationalen Gästen auf einen spannenden Sommer-Nachmittag auf dem Land. Das Programm des Weltreporter-Forums 2016 in Raiding/Burgenland steht!

 

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Frühkindliche Erziehung in der Manege

Spanien kommt aus der Bluthochdruckzone gar nicht mehr raus. Ein Skandal jagt den anderen, Oberthema: Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Klingt schrecklich langweilig, ist aber ein echter Aufreger, zumindest wenn die Protagonisten ein Stierkämpfer und eine Podemos-Abgeordnete sind.
Fran Rivera, genannt Paquirri, hat ein Foto von sich und seiner jüngsten Tochter gepostet. Es zeigt ihn beim Training, in der heimischen Arena, mit einer Jungkuh, und zwar in dieser Pose:

Daneben der Text: “Carmens Debüt – Sie gehört zur fünften Generation einer Stierkämpferfamilie. Mein Großvater zeigte das gleiche meinem Vater, mein Vater mir, ich meinen beiden Töchtern…”
Innerhalb weniger Stunden war die Debattennation zweigeteilt, in den Talkshows liefen die Mikrofone heiß, Verfechter (“Tradition”, “Weitergabe von Werten”) und Gegner (“Angeber”, “unverantwortlich”, “Tierquälerei”) warfen sich alle Nettigkeiten zwischen “Banause” und “Mörder” an den Kopf. Und natürlich wurde sogleich die Parallele zu diesem Skandal gezogen:

Podemos-Abgeordnete Carolina Bescansa hatte doch tatsächlich zur ersten Parlamentssitzung ihr Baby mitgebracht. Die Parlamentspräsidentin höchstpersönlich wies die Neue darauf hin, dass es auch eine KiTa im Parlament gäbe und ließ sich dann lang und breit in einer Talkshow darüber aus, ob ein “geschlossener Raum mit 400 Erwachsenen” tatsächlich das richtige Ambiente für einen Säugling wäre. Auch da verliefen tiefe Fronten zwischen Befürwortern (“Biologie ergo Mutter-Kind-Bindung”, “Zeichen setzen für arbeitende Eltern”) und Gegnern (“Populismus”, “unverantwortlich”). Man könnte jetzt lang und breit tatsächliche und mutmaßliche Gesundheitsrisiken für die jeweiligen Säuglinge analysieren oder untersuchen, wo denn nun genau die diskursiven Unterschiede zwischen Tradition/Biologie einerseits und Populismus/Angeberei einerseits liegen, interessant bei der Debatte ist, dass diejenigen, die sich über Bescansas Baby echauffierten Paquirris Baby beklatschen. Und umgekehrt natürlich.
Eine ganz ähnliche Debatte gab es übrigens zum Oberthema Angemessene Bekleidung.

 

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Freedom Rocks – Berliner Mauer Fragmente in Los Angeles

Berliner Mauer Los Angeles

Der längste zusammenhängende Mauerstreifen außerhalb von Deutschland ist – in Los Angeles, auf einer Wiese neben dem Wilshire Boulevard, einer Hauptverkehrsstrecke zwischen West und Ost, gegenüber vom Los Angeles County Museum of Art. Mittags parken hier ein halbes Dutzend Food Trucks, oft sind einer mit Bratwurst und die Currywurst-Konkurrenz dabei.
Die zehn Originalsegmente aus Berlin hat das Wende Museum zum 20. Jahrestag des Mauerfalls nach Los Angeles gebracht. Inzwischen gab es davor Demonstrationen und Picknicks, Konzerte und Hochzeiten.
Viele Fragmente der Berliner Mauer sind in Nordamerika gelandet. Zwei kanadische Künstler haben es sich zur Aufgabe gemacht, zumindest einen Teil von deren Geschichte aufzuspüren und zu dokumentieren. Ihr Projekt heißt Freedom Rocks. Letzte Woche haben Vid Ingelevics und Blake Fitzpatrick dafür Station im Goethe Institut von Los Angeles gemacht.
Vor schlichter Kulisse von Klappstuhl und Tisch mit schwarzer Decke stellten sie Kamera und Scheinwerfer auf. Dann kamen die Besitzer von Mauerfragmenten und erzählten ihre Geschichten.
Die Künstler stellen immer dieselben Fragen: Wie heißt Du? Wo wohnst Du? Woher hast Du die Mauerstücke? Wo bewahrst Du sie auf? Was bedeuten sie heute für Dich?
Sie filmen nur Hände, die die Fragmente halten und haben festgestellt, dass die meisten Geschichten weniger mit dem Kalten Krieg als mit persönlichen Erinnerungen zu tun haben.
fragment rebecca
In Los Angeles erzählt ein Deutschprofessor, wie er 1990 mit Studienkollegen in einer Regennacht Stücke selbst abklopfte. Ein Künstler berichtet, wie er einen Teil der Mauer in Kreuzberg 1987 bemalte, ganau zwei Jahre bevor die Grenze geöffnet wurde. Eine Teilnehmerin ist nicht sicher ob ihre Teile echt sind. Sie hat sie in einem Baumarkt für 20 Dollar gekauft. Einer Germanistin aus Dresden steigen Tränen in die Augen, als sie erzählt wie sie eine Woche nach dem Fall der Mauer zum ersten Mal im Leben durch das Brandenburger Tor ging und von dort Mauerstücke mit nach Los Angeles nahm.

“Solange die Fragmente in Bewegung ist wird sich ihre Geschichte verändern,” fassen die Künstler zusammen. “Wie wir uns an Geschichte erinnern und ihr Denkmale setzen bleibt nie gleich.”

Meine Geschichte für den Deutschlandfunk können Sie hier nachhören: Freedom Rocks

 

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Basteln an Frankreichs Karte

 

Frankreichs Landkarte war in den vergangenen Wochen oft in den Zeitungen und im Fernsehen zu sehen. Sie war unterlegt mit Farben für die Regionen, versehen mit Pfeilen, die in verschiedene Richtungen zeigten. Der Grund: Staatspräsident François Hollande hätte die Karte gerne ein wenig anders.

Der Präsident kritisiert die Verwaltungsstruktur im Land mit ihren drei Gebietskörperschaften: Im Mutterland existieren 22 Regionen, 96 Departements und über 36700 Gemeinden. „Die Organisation der Verwaltung ist zu kompliziert, zu schwer, zu teuer“, sagte der Präsident. Seine Kritik ist nicht neu. Immer wieder verweisen Experten auf den aufgeblähten Verwaltungsapparat. Die Bürger wüssten längst nicht mehr, wer für was zuständig sei. Nicht selten kommt es vor, dass sich Kommune, Departement und Region um dasselbe kümmern – etwa beim Tourismus oder bei der Wirtschafts- und Kulturförderung.

Ziel der französischen Regierung ist es nicht nur, das Wirrwarr an Kompetenzen zu beenden. Die Krise, in der das Land steckt, verlangt auch, bei den öffentlichen Ausgaben zu sparen. Fusionieren die Regionen, gibt es weniger Abgeordnete und weniger Beamte. Gleichzeitig geht es aber auch darum, die Regionen fit zu machen. Sie bräuchten mehr Gewicht in Europa, heißt es immer wieder. Sie litten an Kompetenzschwäche und an zu wenig Mitteln, um ihre wirtschaftliche Entwicklung vorantreiben zu können. Frankreich brauche eine Art „Deutsche Bundesländer à la française“.

Tatsächlich haben die französischen Regionen viel weniger Kompetenzen als die deutschen Länder. Sie sind zum Beispiel verantwortlich für Raumplanung, Berufsausbildung, den regionalen öffentlichen Schienenverkehr oder für die Finanzierung, den Bau und den Unterhalt der Gymnasien. Für die Collèges (Sekundarstufe I) allerdings sind die Departements zuständig, für die Grundschulen die Kommunen. Ein verwirrender Unsinn, sagen Kritiker.

Noch ist kein konkretes Datum für Fusionen gefallen, und vor den Regionalratswahlen im kommenden Jahr wird man sowieso noch abwarten mit genauen Plänen. Allerdings ist eine Zahl im Gespräch: Aus den 22 Mutterland-Regionen könnten 15 werden.  Auch diese Zahl ist nicht neu. Immer wieder gab es Berichte und Arbeitsgruppen. Bereits Präsident Nicolas Sarkozy wollte Änderungen bei den Gebietskörperschaften und beauftragte Edouard Balladur im Jahr 2009, Vorschläge zu unterbreiten. Die Planer skizzierten eine Landkarte, die unter anderem so aussah: Eins wurden die beiden Regionen der Normandie (Haute-Normandie  und Basse-Normandie), die Bourgogne und Franche-Comté sowie die Departement Loire-Atlantique und die Bretagne. Auch das Elsass und Lothringen sollten zusammengehen wie Aquitaine mit Poitou-Charentes. Zudem war eine Aufspaltung der Picardie in der Diskussion. 600 Millionen Euro sollten dadurch jährlich gespart werden.

Viele Franzosen haben Vorbehalte gegenüber diesen Gebietsehen – nicht nur wegen der Mentalitätsunterschiede. Eine Fusion der Bretagne und des Departements Loire-Atlantique dürfte einen Hauptstadtstreit zwischen Rennes und Nantes auslösen, eine Fusion der beiden Normandien eine Debatte, ob die Präfektur in Rouen oder Caen sitzen soll. Und natürlich werden Abgeordnete um ihre Posten kämpfen: „Die Barone halten an ihren Hochburgen fest“, kommentierte die Zeitung Le Parisien. Deswegen soll das Prinzip der Freiwilligenheirat gelten. Allerdings wird überlegt, fusionswillige Regionen mit Boni zu belohnen.

Eine Fusion kann nicht einfach von oben entschieden werden: Ein Gesetz zur Dezentralisierung von 2010 verlangt, dass die Bürger befragt werden. Mindestens 25 Prozent der im Wahlverzeichnis eingetragenen Wahlberechtigten in beiden Gebietskörperschaften müssen an dem Referendum teilnehmen. Damit es zur Fusion kommt, braucht es mehr als 50 Prozent der Stimmen.

Manche fordern inzwischen, die Departements ganz abzuschaffen und mit den Regionen zusammenzulegen – so der Vorsitzende der konservativen Partei UMP, Jean-Francois Copé. Statt 6000 Abgeordnete für die General- und Regionalräte zu bestimmen, könnten es in Zukunft dann nur noch 4000 Regionalräte sein. Mit diesem Schritt könne man Milliarden sparen, behauptet Copé.

Präsident Hollande sprach sich bereits gegen die Abschaffung der Departements aus: Die Departements, vergleichbar mit den Kreisen in Deutschland, dienten dem sozialen Zusammenhalt, sagte er. Tatsächlich haben sie die Gesamtverantwortung für die Gewährleistung staatlicher sozialer Hilfen. Gerade für die ländlichen Gebiete sind sie wichtig, denn sie unterstützen die Gegenden, die weit entfernt sind von den Wirtschaftszentren.

„Eine Abschaffung der Departements wäre ein großer historischer Fehler“, sagt der Demograph Hervé Le Bras. Sie seien sehr sorgfältig und wohl überlegt bereits in den Jahren der Französischen Revolution zugeschnitten worden. „Fährt man raus aus der Region Ile-de-France, sind die Departements Teil dessen, wie die Franzosen ihr Land verstehen“, sagt Le Bras. Dass die Franzosen an ihnen mehr hängen als an den Regionen, hätte die Einführung der neuen Autokennzeichen gezeigt. Als bekannt wurde, dass die Departement-Nummer in Zukunft fehlen würde, gab es fast einen Aufstand. Daraufhin wurde beschlossen, dass auf dem Schild ein Eck für das Departement bleiben durfte.

 

 

 

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Sama Wareh – Hoffnung und Kunst für syrische Kinder

Sama liest Brief der Flüchtlingskinder

Sama liest Brief der Flüchtlingskinder

Ich fahre durch die Dunkelheit in ein schmales Tal in den Bergen südlich von Los Angeles: Silverado Canyon. Die Wegbeschreibung endete mit einem Hinweis auf eine große rote Scheune. Ohne Straßenbeleuchtung sind Größe und Farbe der wenigen Gebäude am Straßenrand kaum zu erkennen. Endlich finde ich die Scheune, im Haus gegenüber leuchtet hinter einem Fenster warmes Licht. Ich bin bei Sama Wareh angekommen: Künstlerin und Aktivistin, Kalifornierin mit Wurzeln in Syrien. Bis zum Kriegsausbruch hat sie regelmäßig Familie und Freunde in Damaskus besucht.
Der Krieg hat sie so beschäftigt, dass sie einmal auf eigene Faust an die türkische Grenze reiste, um Flüchtlingen mit Decken, Heizkörpern, Medizin und Mietzahlungen zu helfen. Ein Jahr später machte sie sich wieder auf den Weg, diesmal mit der Mission, ein nachhaltiges Projekt zu initiieren und dabei ihre Stärken zu nutzen: Kunst und Pädagogik. Sie entwickelte ein Curriculum: “Kunsttherapie für Kinder in Kriegsgebieten” und zog los. Vor ein paar Wochen kam sie zurück und erzählt mir nun, was sie erlebt hat.

“Möchtest Du Linsensuppe?” fragt sie mich zur Begrüßung. Die köchelt vor sich hin, füllt die kleine Wohnung mit Wärme und dem Duft einer starken Gewürzmischung. Wir setzen uns auf ein niedriges Sofa und Sama beginnt zu erzählen.
Im November reiste sie zu einer Schule im Libanon, nördlich von Tripolis. Dort hatte sie nach langer Recherche einen Direktor gefunden, der Schülern die selben Werte vermitteln wollte wie sie: Teamwork, Kreativität und Gleichberechtigung über Religion, Geschlecht, Herkunft, Alter und Rasse hinweg – ein Vorbild für die Zukunft Syriens. Die Schüler hatten den Namen der Schule selbst gewählt: Vögel der Hoffnung.
Sama kaufte von Spenden, die sie in Kalifornien gesammelt hatte und vom Einkommen aus dem Verkauf ihrer Bilder Material und begann ihr Kunstprogramm: Sie ließ die Kinder ihre Träume und Hoffnungen malen und gestaltete mit allen Schülern, Lehrern und dem Direktor ein Wandgemälde. Die steckten der kalifornischen Künstlerin jeden Morgen Briefe und Zeichnungen zu: Blumen und Herzen, Monster, Bomben, blutende Bäume und zerstörte Städte.
“In Kunst drücken Kinder aus, worüber sie nicht sprechen können,” erzählt Sama von ihrer Zeit mit den 350 ‘Vögeln der Hoffnung’. Ein Junge sang jeden Morgen vor Unterrichtsbeginn auf der Schultreppe ein Lied von der Schönheit Syriens und von Trauer um die Zerstörung des Landes. Der Abschied fiel ihr schwer, weinend ermutigte sie die Kinder, weiter zusammen zu arbeiten, zu reden und Konflikte ohne Gewalt zu lösen.
Die gesammelten Spenden finanzieren nun einen Kunstlehrer, der ihr Projekt fortführt. Er schickt ihr Videos von den Fortschritten. Sie zeigt mir eines auf dem Computer und holt aus ihrem Schlafzimmer Briefe und Zeichnungen der Kinder. Sie erinnern sie an traurige und glückliche Momente in der Schule. “Nichts kann mich mit so viel Glück und Freude füllen, wie das Lächeln der Flüchtlingskinder und die Konzentration und Ruhe auf ihren Gesichtern während sie zeichnen.”
Aus Videoaufnahmen ihres Abenteuers an der Schule produziert sie einen Dokumentarfilm. Einnahmen aus Vorführungen werden direkt zu den ‘Vögeln der Hoffnung’ geschickt. “Jeder kann etwas Positives bewirken in der Welt,” sagt sie während wir Linsensuppe löffeln. “Ich bin Künstlerin, ich hab nicht viel Geld aber jetzt haben die Kinder diese neue Freude im Leben, nur weil ich mich angestrengt habe. Das ist das beste Gefühl der Welt!”

 

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Gayet-Gate: Alle reden drüber aber kaum jemand ist beeindruckt

Seit Tagen berichten alle Medien drüber: Präsident Hollandes angebliche Affaire mit der Schauspielerin Julie Gayet. Derzeit ist sie eines der beliebtesten Klatsch-Themen in Frankreich. Nicht, dass sich jemand wirklich darüber aufregte. Denn eine gelegentliche Affaire gehört für den französischen Mann eigentlich zum guten Ton. Zumindest ist sie nichts moralisch Verwerfliches. Aber es ist eben eine „histoire de cul“. Darüber tratscht man gerne. Drum konnte das People-Magazin „Closer“ mit der Geschichte seine verkaufte Auflage seit vergangenen Freitag glatt verdoppeln.

Hollande hat sich entrüstet über die Einmischung der Medien in sein Privatleben, dementiert hat er die Affaire nicht. Einer Umfrage des „Journal du Dimanche“ zufolge hat die mutmaßliche Affaire für 84% der Befragten ihre Meinung über den Präsidenten nicht verändert. 77% der Franzosen halten es für seine Privatangelegenheit. Damit würde die Story vermutlich schnell im Sande verlaufen. Hätten wir nicht bald Kommunalwahlen in Frankreich. Und natürlich versuchen die Opposition und die ihr nahestehenden Medien die Nummer auszuschlachten. Hat der Präsident für seine sexuellen Begierden seine Sicherheit aufs Spiel gesetzt? Oder hat er sich mit einer Bande von Mafiosi eingelassen, weil er deren Wohnung als Liebesnest benutzt hat?

Während sich die regimetreuen Medien Gedanken machen, ob es sich hier nicht um ein politisches Komplott gegen François Hollande handeln könnte. Hat vielleicht ein immer noch Sarkozy-treuer Sicherheitsmann des Elysée die Geschichte durchsickern lassen?

Eigentlich leid tun kann einem nur Valérie Trierweiler, Hollandes offizielle Partnerin. Sie wird in einem Pariser Krankenhaus wegen eines nervösen Schocks behandelt. Ihr Pech ist es, dass sie nie eine große Sympathie-Trägerin war. Sonst würden sich jetzt zumindest ihre Fans aufregen. So erhält sie von nur wenigen sehr verhaltenes Mitleid. Dass ihr diese ganze Medienkampagne sehr viel mehr zusetzt als Mr. Le Président, darüber scheint sich niemand Gedanken zu machen. Ob man sie nun mag oder nicht, ich stelle es mir schrecklich vor, wenn man erst als gestandene Journalistin plötzlich „première dame“ wird und sich deshalb vom Protokoll und den Pressekollegen gründlich zurecht stutzen lassen muss. Und nachdem sie das mit mehr oder weniger Haltung überlebt hat, erfährt sie nun eine öffentliche Degradierung und Schmach, weil „le président normal“ eben ganz normal war und sie betrogen hat.

Schon zerreißen sich die Klatschspalten die Mäuler darüber, ob sie jetzt auch ganz normal sein darf und ihn in den Hintern treten darf. Oder ob sie staatsfraulich mit Hollande nach Washington reisen muss, um sich beim Damenprogramm von Michelle Obama bemitleiden zu lassen.

Während die französischen Medien weiter schmutzige Wäsche waschen, hat die Mehrzahl der Franzosen ganz andere Sorgen. Um die sollte sich der Präsident kümmern. Nicht um Croissants für seine Geliebte, wenn es sie denn wirklich gibt (und vieles deutet darauf hin). Oder um die Verteidigung seiner Privatsphäre. Da darf man sich nicht wundern, dass das jüngste Stimmungsbarometer des Forschungszentrums Cevipof herausfand: 87 % der Franzosen sind der Ansicht, die politischen Verantwortlichen kümmerten sich nicht um sie und ihre Belange. Und 69 % der Franzosen meinen, die Demokratie funktioniere nicht mehr richtig.

Das sollte den Politikern und den Medien in Frankreich zu denken geben. Wenn sie es ernst nähmen, hätten sie vermutlich gar keine Zeit mehr für Affairen dieser Art.

 

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Hollande / Gayet: Eine Maitresse ist total normal

In Frankreich beherrscht gerade ein Thema die Medien: Francois Hollande angebliches Liebesverhältnis zur Schauspielerin Julie Gayet. Das Gerücht, Ende letzter Woche vom People-Magazin Closer aufgeworfen, aber bereits seit Monaten ein Thema auf Blogs in Frankreich, hat zum Rauschen im Blätterwald geführt.

Was immer auch dran sein mag am Gerücht, interessant ist, wie die Diskussion in den Medien geführt wird. Denn das ist schon sehr französisch. Das recht angesehene Magazin Le Nouvel Obs hat die People-Expertin Viginie Spies zu Wort kommen lassen, die in einem nicht ausdrücklich gekennzeichneten Kommentar ihre ganz persönliche Meinung zum Besten gibt unter der Überschrift: “Francois Hollande, Julie Gayet und Closer: jetzt prominent, der Präsident endlich normal”. Weiter unten heißt es dann: “Francois Hollande ist ein normaler Mann, der Präsident der Küsschen.” He? Soll das heißen, dass es völlig normal für französische Männer ist, eine Maitresse zu haben. Oder heißt das, dass es völlig normal ist für den französischen Staatspräsidenten, eine Maitresse zu haben?

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Blicken wir kurz zurück: Über Nicolas Sarkozy und Carla Bruni braucht man kein Wort mehr zu verlieren. Jacques Chirac hat ein uneheliches Kind in Japan. Am Grab von Mitterand poppte auch plötzlich eine neue Tochter auf. Selbst dem immer sehr distinguierte Giscard d’Estaing wird eine recht eigenartige Beziehung zu Lady Di nachgesagt und bei den Pompidous ging nbicht er, sondern sie fremd – im Porsche des Mannes, der nur mit seinen Autos fremd ging und sich weigerte, ein französisches Automobil zu fahren.

Also alles ganz normal im Hexagon. Business as usal. Warum regt sich eigentlich noch irgendjemand darüber auf? Das ist halt so in Frankreich.

Besonders gerne nimmt man sich in der Präsidentenetage Damen aus dem Showbiz: Gayet, Bruni, Sagan, etc. Wie kommt’s? Valérie Trierweiler, inzwischen aufgrund einer Depression rund um das Skandalgerücht  im Krankenhaus, konnte nie wirklich die Herzen der Franzosen gewinnen. Zu streng, zu intelligent. Auch Madame Chirac trat eher auf wie eine eiserne und meist eher schlecht gelaunte Lady an der Seite eines geborenen Charmeurs. Im Vergleich dazu dann Carla Bruni: Das Ex-Top in ihren schicken Dior-Kostümchen und den Louboutin-Kitten-Heels-Sonderanfertigungen für große Frauen an der Seite kleiner Männer: Sie plapperte in fünf Sprachen und gab auf Fragen wie “Was steht denn bei dem Weltwirtschaftgipfel gleich auf dem Programm? so hinreizend banale Antworten wie “Oh, ein Cocktail!”. Sprachs, lachte ihr 10 Mio.-Euro-Top-Model-Lächeln und winkte, bevor sie zum Cocktail entschwand. Frage ist: Wollen das die Franzosen? Vielleicht.

Julie Gayet ist keine Carla Bruni. Die Schauspielerin, die eigentlich nur im französischen Kino eine Rolle spielt, aber gerne ab und an bei dem Chanels Show in der ersten Reihe glänzt, hat inzwischen Klage eingereicht. Closer musste das Gerücht von der Website nehmen, was das Ganze aber nicht mehr ungeschehen macht. Der PR-Effekt ist längst erledigt: Der Präsident gilt nun als “normal” gilt, was er vorher scheinbar nicht war, und reiht sich ein die Reihe seiner Vorgänger. Kein Grund zur Sorge. Sie alle blieben im Amt. Die medialen Wellen werden sich legen und irgendwann beim nächsten Staatsempfang ist dann eben eine Neue am Arm des Präsidenten.

Foto; Screenshot Le Nouvel Obs

 

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Der neue erste Mann von New York

New York kennt in diesen Wochen vor allem ein Thema: den Wechsel im Bürgermeisteramt, der am 1. Januar stattfinden wird. Nach zwölf Jahren tritt der konservative, parteilose Milliardär Michael Bloomberg ab, der für einen Dollar Jahreslohn arbeitete. Sein Nachfolger ist der linke Demokrat Bill de Blasio, der noch im Sommer als chancenloser Außenseiter galt. Vor zwei Wochen aber wurde der 52jährige, fast zwei Meter große Weiße mit einer spektakulären Mehrheit von 73 Prozent der Stimmen gewählt. Das lag nicht zuletzt daran, dass de Blasio seine ungewöhnliche Familie – Ehefrau Chirlane McCray trat in jungen Jahren öffentlich als schwarze Lesbe auf – in genialen Fernsehspots vermarktete. Besonders populär war ein Spot mit Sohn Dante, der einen riesigen Afro trägt.

Anders als Bürgermeister-Milliardär Bloomberg, der an der vornehmen Upper East Side zuhause ist, lebt de Blasio in Brooklyn. Genauer gesagt, fünf Blocks von uns entfernt, im Stadtteil Park Slope. Mein Mann traf ihn mal im Weinladen, vor einigen Jahren. Da musste Bill noch persönlich Geschäfte abklappern, um für seine Wahl zum Bürgerbeauftragten („Public Advocate“) zu werben. Heute hat fast jeder Laden ein rotes „Bill de Blasio“-Schild unübersehbar aufgehängt – klar doch, wenn „einer von uns“ Bürgermeister wird. Atemberaubende 89 Prozent der Wähler von Park Slope haben für Bill gestimmt. Bei der Viertels-Halloween-Parade schritten er und Chirlane dem Zug voran und wurden mit Applaus und Jubelrufen begrüßt, als seien sie König und Königin.

Dabei weiß eigentlich keiner so recht, was Bill in seinem Amt als Bürgerbeauftragter bewegt hat. Davor saß er im Stadtrat. Das ist in seinem Heimatviertel schon deshalb unvergessen, weil er dafür sorgte, dass an einigen Straßenecken öffentliche Mülltonnen aufgestellt wurden.

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Er führte auch einmal einen Wahlkampf für Hillary Clinton. Dabei scheint er eine Menge gelernt zu haben. Trotzdem fragen sich viele, wie dieser Mann es schaffen soll, die schwierige Acht-Millionen-Metropole New York in den Griff zu bekommen. Seine Wahl erinnert an die von Obama, der ebenfalls von einer Woge persönlicher Sympathie ins Amt katapultiert wurde und dem sein Mangel an Erfahrung bis heute zu schaffen macht.

Einige unserer alteingesessene New Yorker Freunde befürchten eine Wiederkehr der Zustände in den berüchtigten 70er und 80er Jahren, als Korruption und Drogenkriminalität die Stadt fast lahmlegte. Andere prophezeien einen Auszug der Wohlhabenden, weil de Blasio New Yorkern mit einem Jahreseinkommen von mehr als 500 000 Dollar eine Zusatzsteuer abknöpfen möchte (bezeichnenderweise kann er das gar nicht selbst beschließen, sondern ist auf das Parlament des Bundesstaates New York angewiesen). Solche Ängste sind wahrscheinlich übertrieben. Klar ist indes, dass eine neue Ära in der Stadt anbrechen wird; es wird spannend sein zu sehen, wie „unser“ Bill sich schlägt. Vielleicht sorgt er ja dafür, dass auch der Hausmüll in ordentlichen Tonnen gesammelt wird anstatt in schwarzen Plastiksäcken, die über Nacht auf den Gehwegen gammeln und von Ratten angefressen werden. Das wäre ein echter Gewinn.

Foto: Christine Mattauch

 

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War mein Vater im Geheimdienst?

Seit der NSA-Snowden Affaire denke ich oft an meinen Vater. Er ist vor ein paar Jahren verstorben, hatte ein abenteuerliches Leben hinter sich – zumindest in seinen jungen Jahren als Fremdenlegionär in Afrika und Vietnam, zumindest, wenn ich ihm Glauben schenken darf, was er erzählte (als Beamter im österreichischen Innenministerium).

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Mein Vater liest uns vor: Zumindest könnten die Geschichten wahr sein

„Zumindest“ begleitet alle Erinnerungen an ihn. Es ist ein Schlüsselwort, auch von Geheimdiensten, wenn sie Zweifel sähen wollen, wenn Tatsachen ans Licht kommen, die angeblich nicht für uns, die Öffentlichkeit, bestimmt sind. Wir haben ja gewusst, dass unsere E-Mails gelesen und Telefonate abgehört werden – zumindest, so dachten wir, besteht die Möglichkeit dazu. Und wenn Julian Assange als Sexverbrecher dargestellt wird, könnte das eine Rache der NSA an Wikileaks sein – aber andererseits und zumindest könnte sich Julian auch wirklich vergangen haben. Rufmord im gleichen Stil funktioniert nicht zwei mal hintereinander. Aber hey, der Snowden-Affairen-Aufdecker Journalist Glenn Greenwald hat doch einen schwulen Partner. Präsentieren wir doch den der breiten Öffentlichkeit – zumindest könnte mit ihm was faul sein.

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Algerien, 1946: Mein Vater in der Fremdenlegion

Erzählungen von meinem Vater damals erklären heute, warum kein Politiker gegen Praktiken wie die der NSA vorgeht. („Nicht einmal faule Eier fliegen“ kommentiert ein Leser vom österreichischen Der Standard.)

„Alle Volksvertreter sind von diesen zwielichtigen Institutionen erpressbar,“ sagte mein Vater. „Die Agenten bezahlt das Volk, aber kontrollieren, zur Rechenschaft ziehen, kann es sie nicht. Im Innenministerium liegen von allen Politikern Geheimakte auf. Die Staatspolizei (Anmerkung: heute heisst dieser Geheimdienst Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung) lanziert Informationen nach Gutdünken und politischer Gesonnenheit. Sie sind nur einem kleinen, inneren Kreis vorbehalten, der keiner Aufsichtsbehörde untersteht. Sie dienen zum Selbstschutz der Geheimdienstler, zur Erpressung und für Geschäfte. Gibst du zum Beispiel den Israelis eine Information, bekommst du zwei gute zurück. Deshalb wird der Mossad geschätzt.“

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Pensioniert und vom Staat ausgezeichnet: Mein Vater beim Kasernenbesuch in den 90er Jahren

Ich weiss bis heute nicht, welche Funktion mein Vater im Innenministerium wirklich einnahm. Er tat geheimnisvoll, wissend, gewichtig und immer so, dass er zumindest auch ein Wichtigmacher hätte sein können, was wiederum auch nicht Sinn machte, da er ja zumindest einen der höchsten Orden der Republik erhalten hatte. Kurz vor seinem Tod erwähnte er, dass er aus seiner umfangreichen Büchersammlung noch ein paar Dokumente entfernen wollte, die er dort “zur Sicherheit” versteckt hatte. “Es wäre besser, wenn ich sie nicht finde.” Er kam nicht mehr dazu – und ich auch nicht, das heisst, tausende Seiten durchblättern, denn, zumindest könnte zwischen den Buchdeckeln ja wirklich etwas Interessantes zum Vorschein kommen.

 

 

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Im Zentrum der Macht

Unterirdische Gänge führen vom japanischen Parlament zu den Büros der 480 Abgeordneten . Einer von ihnen ist Hideki Miyauchi (52). Er vertritt die Anliegen von 350,000 Einwohnern und ist Mitglied der Liberal Democratic Party (LPD). Ich besuche den konservativen Politiker, passiere dabei unbedrohlich wirkende Sicherheitszonen.

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Anzug zurechtrücken im Granittunnel: Sauber und steril ist der Zugang und unscheinbar die Videoüberwachung.

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Unterstützung vom Boss: Mit dem Wahlsieg von Premierminister Shinzo Abe (rechts) ist Hideki Miyauchi im Dezember 2012 zum ersten Mal ins Parlament eingezogen. 25 Jahre hat er sich darauf vorbereitet – als Mitarbeiter von einem Abgeordneten. „Ich fliege jedes Wochenende in meine Heimatstadt Fukuoka, besuche Bauern und Geschäftsleute. Wir müssen auf Biegen und Brechen die japanische Wirtschaft ankurbeln!“ sagt Miyauchi.

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Bürogebäude der Abgeordneten: Ich passiere einen Metalldetektor. Die Wachen tragen hellblaue Uniformen, sind zuvorkommend, Waffen erkenne ich auf den ersten Blick nicht. Die Atmosphäre ist kühl, geschäftsmässig. Keine Spur von Überheblickeit, wie ich sie sonst bei Sicherheitskontrollen an deutschen oder österreichischen Flughäfen erlebe. Eine uniformierte Dame kontrolliert hinter Panzerglas meinen Ausweis. Vor mir ist eine kleine Kamerakugel aufgebaut, davor das Schild: „Sie werden nun im Büro, das Sie besuchen wollen, identifiziert“.

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Nach dem Security Check Hände desinfizieren: Ich besprühe meine Hände mit antiseptischer Flüssigkeit, hänge mir eine Magnetkarte um den Hals, passiere die zweite Absperrung. Sie sieht aus wie eine Fahrkartenschranke.

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Delegationen in Schwarz: Ich folge dunklen Anzügen zum Aufzug. Miyauchis Büro hat die Nummer 604 und liegt gleich neben dem des LDP-Granden Ichiro Ozawa.

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Abenomics: Mit Deficit spending und strukturpolitischen Reformen will Premierminister Abe dem Land auf die Beine Helfen. Seine LDP hat die absolute Mehrheit. Gefolgsleute wie Miyauchi predigen Verzicht (niedrigere Renten), Zusammenarbeit (Freiwilligenarbeit unterJugendlichen im Sozialbereich) und Mut (mehr Investitionen für Forschung und Ausbildung). Kritiker bezeichen den Abenomics-Kurs als leichtsinnig. Der Geldumlauf soll sich innerhalb von zwei Jahren verdoppeln.

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Marmelade und Nudeln: In seinem Büro hat Miyauchi Produkte aus seiner Heimat ausgelegt. „Die Leute aus meinem Wahlkreis sagen nicht direkt ‚wir wollen höhere Löhne‘. Sie sprechen indirekt, sagen zum Beispiel ‚Die Wirtschaft soll besser werden!‘ Als Abgeordneter muss ich die Wünsche herausfiltern, interpretieren. Meine Heimatstadt Fukuoka war immer schon Japans Tor zu Asien. Diesen Standortsvorteil sollten wir nützen.“

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Kühlen Kopf bewahren: „Militärisch gesehen bereitet uns die Nähe zu China keine Sorge,“ sagt Miyauchi. „Was immer in Zukunft passiert, Amerika bleibt unser Partner. Wir wollen einen sachlichen, konstruktiven Dialog mit unseren Nachbarländern.“

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Room with a view: Die Begrünung rund um das Abgeordentenhaus gleicht Wehranlagen aus alten Samurai-Zeiten.

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Auf Wiedersehen und alles Gute! Miyauchi empfängt Besucher und Delegationen im 30-Minuten-Rhythmus.

 

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Zerstörte Träume und schlaflose Nächte – die US-Haushaltsblockade

Gerade habe ich im Radio gehört, dass weltweit kein großes Interesse am schlechten Schauspiel der Haushaltsblockade von Washington besteht. Kein Wunder. Ich kann auch kaum noch die Stimmen der üblichen Verdächtigen ertragen, die sich gegenseitig die Schuld zu schieben. Die müssen doch mindestens genausoviele Geschichten von Betroffenen gehört haben wie ich!

Ich habe Touristen am Flughafen von Los Angeles getroffen, die ihren gesamten Ferienplan umstellen mussten weil sie nicht in Nationalparks kommen. Eine Rentnerin war auf dem Weg zum Trip ihres Lebens mit Schulfreundinnen – Wildwasserrafting im Grand Canyon. Aus der Traum!
Ich traf einen Vater, der die Hypothek für sein Haus und Studiengebühren für seine Töchter nicht bezahlen kann, weil er im Zwangsurlaub ist. Irgendwann soll er sein Gehalt bekommen. Bis dahin stapeln sich unbezahlte Rechnungen und Verzugsgebühren. Er schläft nicht gut.

Am meisten beeindruckt aber hat mich die Geschichte von Shanice, einer Studentin aus dem nicht gerade idyllischen Viertel Watts in Los Angeles. Das ist berühmt vor allem für Rassenunruhen in den 60ern und für die Türme aus Recycle-Material. “Ich weiss nicht, was derzeit unser größtes Problem ist – Gangs oder Teen-Mütter,” erzählte sie mir. Shanice will den Kreislauf durchbrechen und hat ein Studium angefangen. Sie schrieb sich ein für Soziologie und Kommunikation an einem relativ preiswerten College. 1000 Dollar zahlt sie im Jahr für Studium und Studienmaterial. Das stieß bei Freundinnen auf großes Unverständnis. “Warum wirst du nicht einfach schwanger, dann bekommst Du Geld für Essen und Wohnung?” haben die gefragt.
Die 21 jährige lebt bei ihrer Großmutter. Sie hat sechs Geschwister. Die leben bei der Mutter. Der Vater hat sich nie um sie gekümmert. Shanice bekommt etwa 10 tausend Dollar im Jahr aus verschiedenen Töpfen des Bundeshaushalts. Mir ist es ein Rätsel, wie man mit so wenig Geld in Los Angeles leben und studieren kann! “Ich bin total von finanzieller Hilfe abhängig. Ich zahle alles davon – das Busticket, die Bücher, mein Essen, die Gebühren, meine Kleidung, Zuschuss zur Miete.” erzählte sie mir. Und das ist die Verbindung zur Haushaltsblockade.
Vor gut acht Wochen wäre eine Zahlung an Shanice fällig gewesen, etwa 1500 Dollar. Wegen Kürzungen an den Unis noch vor der Blockade hat sich die Zahlung verzögert. Wegen der Streits in Washington wurden nun zusätzlich Stellen am College gestrichen und Shanice fürchtet, dass sie das Geld gar nicht mehr bekommt. Bei der Beratungsstelle sind die Schlangen endlos. Dort arbeiteten einmal drei Angestellte, nur eine Stelle ist geblieben. “Wenn ich am Ende des Monats keine Überweisung bekomme, kann ich mir den Bus nicht mehr leisten. Wenn ich nicht zur Schule komme, kriege ich schlechte Noten. Mit schlechten Noten bekomme ich keine finanzielle Förderung mehr.” Shanice will ein Vorbild sein, ihren Geschwistern zeigen, dass auch Kinder aus Watts einen Collegeabschluss machen können. Momentan fürchtet sie, dass die Schulfreundinnen recht behalten und es einfacher ist, eine Teen-Mutter zu sein als zu studieren.

 

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Mindestlohn Japan: Hello Work, Robot Cafe und Tepco

First Lady Eleanor Roosevelt hatte recht: Verdammt, wenn du’s tust, verdammt, wenn nicht. Bleibt der Mindestlohn gleich, fressen ihn nächstes Jahr Mehrwertsteuererhöhung, steigende Energie- und Sozialkosten auf. Verteilt Premierminister Shinzo Abe die Brosamen am Ende der Nahrungskette zu grosszügig, riskiert er den Verlust seiner Power Base – Japans Wirtschaftskapitäne. Nun sind 2 Prozent Erhöhung angedacht. Der landesweite Durchschnitt (es gibt regionale Unterschiede) beträgt dann 763 Yen/5.80 Euro pro Stunde (Umrechnungskurs 1€=130Yen).

Wie lebt man in der Welt des Minimums? Yumi Kimura, 32, (Name gändert) erzählt:

Robot Cafe Tokyo

VIDEO: Roland besucht Robot Cafe (nicht ganz am Ende der Nahrungskette)

Ich bin ausgebildete Grafikerin, ledig und seit zwei Jahren arbeitslos. Der Boss meiner Firma war eines Tages verschwunden. Seitdem gehe ich regelmässig zu „Hello Work“, so heisst in Japan das Arbeitsamt. Dort sitzen viele, die selber einmal arbeitslos waren und zu Hello Work gegangen sind. Sie arbeiten für die Stadt und deshalb nur von acht bis fünf. Sind sie krank, können sie zu Hause bleiben. Bei Privatfirmen ist das schwierig. Zudem arbeitest du dort jeden Tag unbezahlt vier, fünf Überstunden. Fahrkosten übernimmt der Betrieb.

Nach jeder Jobvermittlung von Hello Work gibt es ein Vorstellungsgespräch. Die Fragen sind immer gleich. Was haben Sie studiert, wer sind Ihre Eltern, was haben Sie vorher gemacht, was ist Ihr Lieblingshobby? Nur einmal war ich überrascht, als der Personalchef fragte: „Was würden Sie tun, wenn neben Ihnen im Büro jemand ausflippt, agressiv wird, attackiert?“ Ich habe gesagt, ich war noch nie in so einer Situation, gehe aber oft zu Parties mit Ausländern, und mit denen komme ich immer klar.“ Der Personalchef hat wissend genickt. „Ach so, wenn Sie mit Ausländern umgehen können, ja dann…“

Die meisten Hello Work Berater engagieren sich, sind freundlich. Es gibt aber immer welche, die werfen dir ein Magazin mit Jobangeboten auf den Tisch. Und das war‘s. Die vermittelten Jobs zahlen etwas mehr als den Mindestlohn, dauern zwei, drei Monate. Für diese Teilzeitarbeit sagen wir alubaito, haben das Wort aus dem Deutschen übernommen. Eine Statistik behauptet, dass 40 Prozent der Japaner von arubaito leben. Ich denke dann an meine Freundinnen. Sie wohnen bei den Eltern oder bei den Eltern vom Mann und leben von deren Ersparnissen. Hello Work bietet auch Ausbildingskurse an: Massage, Kosmetik, Haarbehandlung, Blumenarrangieren – kannst du alles nicht brauchen, ausser zum Zeittotschlagen.

Einmal fragten sie mich bei Hello Work, wo ich die letzten drei Monate war. Und ich habe geantwortet, ich wollte über mein Leben nachdenken, wollte Ruhe. Die Beraterin hat geschwiegen, was sollte sie auch sagen, war sicher selber mit dieser Frage beschäftigt. Dass ich im Robot Cafe im Rotlichtviertel von Shinjuku aufgetreten bin, habe ich verschwiegen, obwohl das kein Sexklub ist, sondern ein Theater mit Manga-inspirierten Shows – für Angestellte nach der Arbeit, für Männer, Frauen und Touristen. Jeden Abend gibt es drei Vorstellungen, dauern insgesamt drei Stunden. Ich musste winken, tanzen, lachen, schlank sein – das war alles. Ich habe einen schillernden Bikini getragen, bin mit riesigen Robotern herumspaziert, auf einem Panzer gesessen und habe 76€ die Stunde erhalten. Gäste durften uns nicht berühren, Hande schütteln war Ok. Zum Abschluss sassen wir immer auf einem Sessellift und schwebten über den Köpfen der Besucher. Das hat mich etwas an eine Fleischfabrik erinnert, mit Haken am Fliessband. Nach drei Monaten kam ein jüngeres, schlankeres Girl, und so bin ich wieder zu Hello Work.

Für meine 20 Quadratmeter-Wohnung mit Dusche, Toilette und Kochnische zahle ich 650€. Ein ehemaliger Arbeitskollege übernachtet dagegen seit Monaten im Internet-Cafe. Es gibt dort Duschen, Computerkojen und du darfst unter dem Tisch schlafen. Sex ist aber nicht erlaubt.

Einmal vermittelte mir eine Privatagentur einen streng geheimen Job. Als er zu Ende war, ging ich zu Hello Work. Wie immer wollte die Beraterin wissen, wie das Arbeitsklima gewesen sei. „Streng geheim,“ habe ich gesagt. „ Ich musste im Regierungsviertel eine Geheimhaltungspflicht unterschreiben!“ Die Hello Workerin hat nicht weiter nachgefragt. Der Geheimjob war im Abrechnungszentrum der Tokyo Electric Power Corporation, wo ich Belege für Schadensansprüche überprüfte. 8 Uhr abends bis 6 Uhr früh. In der Halle sassen tausend Menschen. Unsere Mobiltelefone mussten wir in Schliessfächern deponieren, Privatsachen durften wir zum Arbeitsplatz mitnehmen – in durchsichtigen Plastiktüten. Die tausend Mindestlohnmenschen haben alle nicht gesprochen. Es war totenstill. Und wenn ich auf die Toilette wollte, bin ich aufgestanden, habe den Arm nach oben gestreckt und gewartet, bis der Grupplenleiter kam. Ich teilte ihm den Wunsch mit und durfte zur Toilette. Wir mussten Zahlungsquittungen der Atomflüchtlinge prüfen und speichern. Kühlschrank, Futon, Staubsauger, Decken, Kinderspielzeug – das war alles Ok, wurde rückerstattet, aber nicht 55-Zoll-Bildschirme.

Mein Gruppenleiter hiess Murata. Bei Fragen setzte er sich zu mir, mit einem abstehenden kleinen Finger, was mir zunächst nicht auffiel. Wenn er sich aber zum Bildschirm vorbeugte, drückte der Finger gegen meine Hüfte. Ich dachte, vielleicht ist er gelähmt oder so. Am nächsten Tag sass Murata wieder neben mir und legte die Hand auf meinen Oberschenkel. Ich habe ganz laut gesagt: „Murata-san!“ In der totstillen Halle haben alle tausend Menschen auf mich gestarrt. Murata ist aufgestanden und kam nie wieder.

Ein paar Monate später, ich war schon wieder woanders beschäftigt, bekam ich morgens einen Anruf von der Polizei. „Sind Sie Yumi-san?“ Das hat mich irritiert, denn in Japan wirst du nur mit Familiennamen angesprochen. Der Mann stellte sich als Inspektor vor. „Wir haben Ihren Vornamen gefunden mit Telfonnummer, im Notizbuch von einem Herrn Murata. Kennen Sie Herrn Murata? Und warum hat er Ihre Telefonnummer?“ Wieder habe ich gezögert. Wer ist Murata? Und dann fiel mir der Gruppenleiter ein. „Ja, er war mein Vorgesetzter bei Tepco. Für den Notfall haben dort alle die Telefonnummern der Angestellten“, habe ich gesagt, und dabei vergessen, dass die Sache streng geheim ist. Der Inspektor erklärte, dass Herr Murata in der U-Bahn verhaftet worden sei. „Hat er sich Ihnen gegenüber auffällig verhalten?“ wollte er wissen. „Chotto, ein wenig“, habe ich gesagt. „Sonst noch etwas?“ „Nein, sonst nichts“, habe ich geantwortet und dann hat er aufgelegt.

 

 

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Syrisches Frühstück im kalifornischen Canyon

Sama Wareh vor ihrem Studio

Sama Wareh vor ihrem Studio

Die Wegbeschreibung von Sama Wareh hörte sich nach einem wunderbaren Abenteuer an. Schon die Adresse klang verlockend: Silverado Canyon. Ich sollte über eine kleine Brücke fahren, vorbei an einem Fels mit vier Streifen und schließlich gegenüber einer großen rotgestrichenen Scheune parken. Ich verfuhr mich nur einmal auf dem Weg gen Süden von Los Angeles und wurde am Ziel mit einer warmherzigen Umarmung und einem wunderbaren Frühstück empfangen: Sama hatte einen Tomaten-Bohnensalat, Knoblauchkäse mit Minze und Olivenöl, Pitabrot und andere Leckereien zu einem kleinen Festmahl im Schatten einer großen Eiche ausgebreitet. Dazu servierte sie gesüßten Tee aus Glastassen. Die in Kalifornien geborene Tochter von syrischen Einwanderern erklärte mir, warum es so wichtig ist, den Tee zu sehen, das gehöre zum Genuss dazu. Ich konnte mich nicht gut konzentrieren: Samas brauner Cowboyhut über einem locker um Kopf und Hals gebundenen lila Palästinenserschal mit angehängter Feder und Perlen, ihre hohen Schnürstiefel über engen lila Jeans entsprachen nicht den Erwartungen, mit denen ich zu diesem Interview einer Künstlerin mit Familie in Damaskus gefahren war. Bis ich Sama sah war mir nicht einmal bewusst, dass ich Erwartungen hatte. Ich wusste nur, dass sie auf eigene Faust mit Rucksack, Erspartem und Erlösen aus dem Verkauf ihres Motorrads und ihrer Kunst in die Türkei geflogen war um dort Flüchtlingen aus Syrien zu helfen. Tränen treten der 30 Jahre alten Künstlerin in die Augen, wenn sie von den Begegnungen erzählt: vom Leben der Familien ohne Möbel und Heizung in Kellern ohne Fenster und von Gastfreundschaft unter ärmsten Umständen. Am stärksten ist ihr ein Fahrer in Erinnerung, der sie in ein Lager an der Grenze brachte. “Er hat seine tote Tochter aus den Ruinen seines Hauses geholt und pendelt nun zwischen Syrien und der Türkei, um Verletzte und Obdachlose über die Grenze zu bringen.” Das Foto seiner Tochter ist auf dem Handy immer dabei.
Samas Kunst beschäftigte sich bis zur Reise an die Grenze nicht mit Politik. Sie findet Gemeinsamkeiten zwischen alten Kulturen, zum Beispiel in ihrer Serie “Beduine trifft Indianer”. Jetzt ruft sie in Gemälden zu Frieden, Menschlichkeit und Vergebung auf. In Nachrichten auf facebook warnt sie Freunde und Verwandte in Syrien davor, in Hass, Rachelust und Animosität gegenüber anderen Sekten, Religionen oder Kulturen zu verfallen. Sie weiß, dass das aus der Entfernung leichter gesagt als vor Ort getan ist. Die aktuelle Politik macht sie ratlos und misstrauisch. Deshalb wird sie sich im November wieder selbständig auf den Weg machen, den Cowboyhut über dem Kopftuch, mit Rucksack und hohen Stiefeln. Um Spenden für die Reise zu sammeln wird sie im Gemeindehaus ihres Canyondorfes bei syrischem Frühstück ihre Kunst verkaufen. “Ich möchte den Flüchtlingen zeigen, dass sie nicht vergessen sind.”

 

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Attacke auf die Sommerferien

Ihr Ende naht, Anfang September ist Schluss. Aber noch dauern die Sommerferien in Frankreich an. Noch sind die Strände voll, die Campingplätze auch. Noch steht an den Türen vieler Geschäfte “Fermeture annuelle” wegen ihres wochenlangen Jahresurlaubs – und ein Hinweis an den Briefträger, was er mit der Post tun soll. Die „grandes vacances“ dauern in Frankreich so lange, dass Schüler anderer EU-Staaten neidisch werden können: zwei Monate. Doch viele Franzosen fragten sich in den vergangenen Wochen: Wie oft werden wir diesen großen Ferienblock noch erleben?

Für Aufregung sorgte ein Interview des sozialistischen Erziehungsministers Vincent Peillon. Sechs statt acht Wochen Sommerferien seien genug, sagte der Minister, der selbst eine Lehrerausbildung hat. Peillon hat gerade eine Schulreform durchgesetzt. Sie sieht unter anderem vor, dass ab dem kommenden Schuljahr viele Grundschulen von der Viertage- zur Viereinhalbtage-Woche wechseln – der schulfreie Mittwoch gehört dann der Vergangenheit an. Als der Minister auch noch verkürzte Sommerferien ins Spiel brachte, ging das Gezeter los: Schüler, Lehrer, Tourismusbranche und Politiker, sie alle meldeten sich sorgenvoll zu Wort.

Les grandes vacances – die großen Ferien, sie sind aus dem Jahreszyklus kaum wegzudenken. Sie gelten als Teil des schönen Lebens in Frankreich. Das Land schaltet einen Gang herunter. Für Schüler sind diese Ferien eine richtige Auszeit. Ihr Ende ist eine Zäsur wie ein Sommersilvester: Kein Wunder, dass danach im September die „Rentrée“ ansteht, die Rückkehr in den Schul- und Arbeitsalltag. Schon gibt es in den Nachrichten die ersten Beiträge über die neuesten Trends der Schulranzen.

Diese lange Ferienzeit hat historische und wirtschaftliche Gründe im 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts, mit ihr wurde den Wünschen der Bevölkerung entsprochen. Denn die Landwirte brauchten für die Ernte auf den Feldern und in den Weinbergen jede helfende Hand, auch die ihrer Kinder. 1950 arbeiteten noch 49 Prozent der Franzosen in der Landwirtschaft. In den 1960er Jahren dauerten die Ferien noch zehn Wochen. Doch die Gesellschaft wandelte sich, die kleinen landwirtschaftlichen Betriebe wurden weniger. Anfang der 1980er Jahre verkürzte die Regierung die Sommerferien auf derzeit acht bis achteinhalb Wochen.

Warum jetzt noch mehr Tage streichen? Die Schüler müssten mehr Zeit fürs Lernen haben, sagt Peillon. Zurzeit stünden sie zu sehr unter Druck. Französische Schüler haben ein sehr kurzes Schuljahr, aber zu lange Schultage, kritisieren Experten schon lange. Nirgendwo in Europa sind die Schultage derart vollgepackt. In den meisten EU-Staaten gehen die Kinder durchschnittlich 180 Tage im Jahr zur Schule. In Frankreich sind es nur 144 Tage. Peillon ist übrigens nicht der erste Minister, der dieses heiße Eisen anpackt. Bereits der konservative Minister Luc Chatel setzte 2010 eine Kommission ein, die Vorschläge ausarbeiten sollte, wie der Schulrhythmus verbessert werden könne. Tausende Schüler gingen damals zum Demonstrieren auf die Straße. Es blieb letztlich bei den acht Wochen.

Auch Erziehungsminister Peillon musste nach seinem Interview erst einmal zurückrudern. Im Erziehungsministerium betont man auf Anfrage vehement, dass das Thema grandes vacances nicht Teil der aktuellen Schulreform sei. Aber Peillon hat bereits ein Datum fallen lassen: 2015 soll die Ferienreform debattiert werden. Während die Sechs-Wochen-Befürworter ein besseres Gleichgewicht im Jahresschulzyklus erhoffen, betonen Psychologen, wie sinnvoll diese lange Auszeit ist: Die Kinder könnten sich wirklich erholen von dem Schuljahr, neue Freunde finden und in der Freizeit andere wichtige Dinge lernen.

Immer mehr Franzosen können sich aber mit Peillons Vorstoß anfreunden. Nach Umfragen sind 43 Prozent den Verkürzungsplänen zugeneigt – vor allem die Eltern. Sie haben natürlich nicht so viel Urlaub. Viele können meist nur zwei Wochen mit den Kindern wegfahren – manche wegen der Wirtschaftskrise gar nicht. Sie haben damit zu kämpfen, ihre Kinder acht Wochen unterzubringen oder zu beschäftigen. Glück haben die Mütter und Väter, die ihre Kinder bei Oma und Opa abgeben können. Oder die genug Geld haben, um die Kleinen in ein Feriencamp zu schicken.

Von der langen Auszeit profitieren übrigens in Frankreich einige Verlage: Viele Eltern kaufen ihren Kindern Aufgabenhefte, die „Cahiers de vacances“. Darin können die Kinder Übungen machen, um den Lernstoff des vergangenen Jahres zu wiederholen. Die Hefte sind ein Renner: Sechs Millionen solcher Hefte werden jährlich verkauft.

 

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Katalanischer Sommerreigen

Da Barcelona ja immer noch der Ruf als stilprägende Metropole vorauseilt, fragen mich meine Redaktionen gerne nach neuen Trends. Bitte, hier kommt einer: Die katalanische Trendsportart des Sommers heisst Ringelpietz mit Anfassen.

Für den 11. September, den katalanischen Nationalfeiertag plant die Bürgerbewegung Assamblea Nacional Catalana eine 400 Kilometer lange Menschenkette entlang der Via Augusta. Mit der “Via Catalana” soll ein Zeichen gesetzt werden, für die Unabhängigkeit Kataloniens, natürlich. Die Organisation läuft auf Hochtouren. In Sportreportermanier werden triumphierend die letzten zu füllenden Meter getwittert, Exil-Katalanen posten Fotos von Soli-Ketten aus Rom und Wien und seit ein paar Tagen gibt es jetzt auch ein offizielles Lied, den Via-Catalana-Road-Song quasi.

Wer etwas auf sich hält, kleidet sich zum Ringelreigen ganz mit nationalen Emblemen ein: Die gelb-rot gestreifte katalanische Fahne wird als eine Art Superman-Umhang über die Schulter geworfen, dazu gibt es passend die Unterhose für Freiheit liebende Geschlechter und Sandalen, mit denen man dann in Riesenschritten Richtung Unabhängigkeit schlappen kann. Die Merchandising-Industrie boomt, von wegen Krise.

An diesem Wochenende wird landesweit geprobt. Also, liebe Touristen, wundern Sie sich nicht, wenn Sie auf Ihrem Weg von den Pyrenäen ans Mittelmeer von glücklich strahlenden, sich an den Händen haltenden Menschen im gelb-roten Dress begrüsst werden. Es handelt sich nicht um einen PR-Gag eines verzweifelt um Besucher buhlenden Tourismusamtes, sondern um den Testlauf für eine politische Demonstration.

 

P.S: Und bevor ich jetzt wieder bitterböse E-Mails bekomme, in der mir mangelndes Verständnis für katalanische Befindlichkeiten oder gar bezahlte Maulwurftätigkeiten für die Zentralregierung in Madrid unterstellt werden: Ich masse es mir nicht an, in irgendeiner Art und Weise ein Urteil über Sinn oder Legitimität der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung zu fällen… aber, déu n’hi do, so ein ganz klein bisschen karnevalesk ist dieser Sommerreigen doch schon…

 

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Vor Wahlen wird Islam zum Land …

Zu wenig dringt vom australischen Wahlkampf in den Rest der Welt vor. Was schade ist, denn wenn die nächsten 4 Wochen bis zur Wahl nur ansatzweise so skurril weitergehen, wie sie angefangen haben, wird’s zum Schreien. Kostprobe gefällig? Gern! Gestern zb gab eine junge Kandidatin der “One Nation” Partei (so eine Art australische Le-Pen- oder Sarah-Palin-Truppe) ein Interview und erklärte : Sie sei jetzt nicht generell gegen Islam als Land, aber deren Gesetze sollten lieber nicht in Australien gelten. Okay, ich verstehe, Sie brennen darauf, den Namen dieser politischen Wunderwaffe kennen zu lernen: Verständlich, denn Stephanie Banister, mit 27 Jahren das jüngste “poster girl” ihrer politischen Vereinigung, hat noch weitere Weisheiten in Sachen Religion parat. Da Skepsis in diesen schnellmedialen Zeiten angebracht ist, hören Sie sich den Beweis aus Australiens öffentlichem Fernsehen auf Youtube an. Es lohnt! Sarah, sorry Stephanie weiß auch: Nur 2 Prozent aller Australier etwa folgten dem Haram (sie meinte Koran, haram ist ein muslimischer Terminus für etwas das verboten ist )

http://www.youtube.com/watch?v=6_1SFf8t-ko

Dann belehrte sie noch: Juden hätten andere Diätvorschriften (nicht haram sondern kosher und steuerfrei), aber Juden hätten ja eh ihre “eigene Religion, welche nämlich Jesus Christus folge”. Autsch, ich glaube Stephanie muss wirklich muss noch mal zurück in Jahrgang 10, wo’s um “Religionen dieser Welt” ging. Denn Glaube und Gott sind ihr Lieblingsthema (sagt sie). Kaum nötig zu erwähnen, dass die aufstrebende Politikerin sich am nächsten Tag beschwerte und falsch zitiert fühlte… Die Beweise waren allerdings etwas zu erdrückend.

Mit etwas Glück bleibt Australien mehr Banister-Intelligenz eventuell erspart: im Moment wird gerichtlich gegen sie ermittelt weil sie angeblich Aufkleber verteilt hatte: “halal funds terrorism” brüllten die weiß auf rot, und ihre Anhänger hatten sie in Brisbanes Supermärkten auf Fleischwaren und andere Produkte geklebt. Das Verfahren steht noch aus, aber mit Vorstrafe darf sie nicht ins Parlament. phhhh.

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Dies waren Stephanie Banisters Aufkleber. Dank derer könnte Australien von ihr verschont werden.

 

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Von Freiheit, Glück und der Bombardierung Dresdens

Angela Thompson erzählt gerne aus ihrem Leben und aus dem ihrer Mutter. Über die hat sie sogar ein Buch geschrieben: “Bleib immer neben mir”. Es ist die Geschichte eines Frauenlebens im 20. Jahrhunderts mit eindrücklichsten Schilderungen unter anderen von der Bombardierung Dresdens, von überraschend wertvollen Päckchen die die in den Westen geflüchtete Familie von der in Dresden zurück gebliebenen Omi bekam, von im Rückblick verrückt erscheinenden Entscheidungen der Mutter, schwer zu ertragendem Verhalten des zurück kehrenden Vaters und Andeutungen des neuen Freiheitsgefühls der Autorin, als sie in Kalifornien ankommt und studieren kann.

In Deutschland haben viele längst genug von diesen Geschichten und ich dachte ich gehöre zu dieser Gruppe, die nichts mehr hören mag vom Krieg, von Flucht, von Hitler, von Bomben und dem Kampf ums Überleben. Bis ich Angela traf und sie mir mit Gefühl, Humor und Wissen aus ihrem Leben und dem ihrer Mutter erzählte. Besonders wichtig ist ihr dabei, dass US-Bürger diese Geschichten hören und lesen, um zu verstehen, was in den Menschen vorging, auf die die Bomben ihrer Helden fielen. Sie selbst hat sich in den 70er Jahren von Los Angeles aus für politische Gefangene in der DDR eingesetzt, unter anderen mit dem damaligen Gouverneur Ronald Reagan als Verbündeten. Sie fuhr mit dem Auto quer durchs Land um in Washington mit Kongressabgeordneten und Senatoren über Unterdrückung im Osten Deutschlands zu sprechen und machte heimliche Besuche bei den Familien der Gefangenen.

Für Radio/Audio-Enthusiasten-Truppe ‘Listen Up Los Angeles’ hat Angela einen Teil dieses interessanten Lebens erzählt. Weil heute der Jahrestag der Bombadierung von Dresden ist hier der entsprechende Ausschnitt aus meinem Interview.

 

 

 

 

 

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Mit Kleister und Trillerpfeife

Überlebensgrosse Portraits von Menschen, die kurz vor dem Verlust ihrer Wohnung stehen, Trillerpfeifenkonzerte und eine Postkartenaktion, bei der sich jeder Passant persönlich für einen “Hypothekengeschädigten” einsetzen konnte: So haben letzte Woche in Barcelona Hunderte gegen Zwangsräumungen und die schuldnerfeindliche Bankengesetze protestiert, hier vor der Zentrale der Sparkasse Caixa Catalunya.

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Spanien hält einen traurigen Rekord: Über 126.000 Zwangsvollstreckungen wegen nicht bedienter Kredite wurden im letzten Jahr verhängt. Und wer aus seiner Wohnung geworfen wird, ist deswegen noch lange nicht schuldenfrei. Im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern wird die Schuld in Spanien nicht dadurch getilgt, dass die Wohnung an die Bank zurückfällt. Nachdem im letzten Jahr eine Reihe von Selbstmorden die Öffentlichkeit erschütterte, hat die Regierung Rajoy Zwangsräumungen in besonders prekären Fällen zwar gestoppt, an der Situation an sich hat sich allerdings kaum etwas geändert.

Die landesweiten “Plattformen der Hypothekengeschädigten” (P.A.H., Plataforma de Afectados por la hipteca) haben daher für kommende Woche zu Protesten aufgerufen. Am 24. Januar wollen Vertreter dem Parlament 750.000 Unterschriften für eine Gesetzesänderung übergeben, für den 16. Februar sind Grossdemonstrationen geplant.

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Zumindest die Plakataktionen scheinen ihr Ziel zu erreichen: Nachdem vor einer anderen Filiale wochenlang das Portrait eines Schuldners prankte und Aktivisten unter den Passanten Postkarten mit der Kurzfassung seines Falls verteilten, rückte die Bank von der Zwangsvollstreckung ab und hat die Rahmenbedingugnen des Kredits geändert. Die Plakatkampagne ist eine Initiative des Künstlerkollektivs Enmedio, über dessen Arbeit ich am Sonntag im Neonlicht von Deutschlandradio Kultur berichte.

 

 

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Neujahrsansprachentheater

Ganz Dänemark schaut zu, wenn am 31.12. um 18 Uhr die Neujahrsansprache der Königin gesendet wird. Die meisten Sylvesterfeiern beginnen mit dem kollektiven Sehen ihrer Rede.

Am Tag drauf spricht dann die Premierministerin – der Eventcharakter ist da nicht gegeben, das mag am Kater liegen. In den Medien jedenfalls werden beide Reden en detail analysiert. Und vorab wird spekuliert, was denn wohl gesagt werden könnte und Journalisten, andere Politiker sowie “der gewöhnliche Bürger” sagen, was sie meinen, was genau gesagt werden sollte. Ein Riesenvergnügen also. Und moralischer Anspruch. Denn natürlich muss die Regierungschefin genau die richtigen Probleme genau richtig ansprechen. So gab es vorab jede Menge gute Ratschläge.

Vorab? Ganz so vorab war das, was Politiker und Journalisten da von sich gaben, gar nicht. Denn die hatten die Rede, die gehalten wurde schon gelesen, da war sie noch gar nicht gesendet. Staatstragend sagten also Politiker und Journalisten, was sie sich von der Regierungschefin Helle Thorning-Schmidt an Aussagen wünschen würden – und wußten doch schon, was sie sagen würde. Jeder Oppositionspolitiker, der sie dumm aussehen lassen wollte, hatte also die Möglichkeit, einfach nur Dinge zu fordern, die sie ohnehin nicht erwähnen würde. Dänische Mediendemokratie 2013? Hoffen wir lieber, dass das eine Ausnahme war.

Zum weiterlesen dazu hier ein Artikel von Jyllands-Posten (auf Dänisch natürlich).

 

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Los Angeles: Häuserkampf gegen die Deutsche Bank

Ich wusste, dass die Deutsche Bank mir bei der Suche nach der Wahrheit im verworrenen Geflecht um Zwangsausweisungen nicht wirklich helfen wollte, als ich die Mail des Bank-Sprechers aus New York öffnete. Er hatte mir versprochen, der Text werde alles erklären, was ich wissen wollte. Er ist zwölf Seiten lang, hat reichlich Fußnoten und beginnt mit der Geschichte des US-Eisenbahnbaus im 19. Jahrhundert.

Ich konnte mir nun sehr gut vorstellen, welche Erfahrungen die kaum englisch sprechende Margarita Lucero gemacht hatte, als sie aus ihrem Haus geworfen wurde, erfuhr, dass die Deutsche Bank ihr Haus laut Besitzurkunde besitzt und der Sache auf den Grund gehen wollte. Bis dahin hatte Margarita nie etwas mit der Deutschen Bank zu tun gehabt. Jetzt wollte sie eine Erklärung und den neuen Hypothekenvertrag, den man ihr versprochen hatte. Sie erfuhr über Umwege, dass Deutsche Bank als Treuhänder Investoren vertritt aber nicht für Zwangsausweisungen zuständig ist. Diese unerfreuliche Arbeit erledigt Dienstleister Carrington Mortgage Service für das Geldinstitut.

Margarita Lucero hat 15 Jahre ihre Hypothekenraten pünktlich bezahlt. Vor zwei Jahren bat sie um niedrigere Raten. Sie bekam über Carrington Mortgages zweimal einen Übergangsvertrag mit dem Versprechen, wenn sie die Raten dafür pünktlich zahle würde sie eine neue Hypothek bekommen. Der zweite Übergangsvertrag lief aus. Eine neue Vereinbarung gab es nicht. Die Sheriffs kamen und warfen die Familie aus dem Haus. Margarita Lucero erfuhr, dass die Deutsche Bank ihr Haus besitzt – und dass niemand mehr mit ihr verhandeln will.

Sie wandte sich an die Occupy-Bewegung. Die prüfte den Fall und schaltete sich ein. Seit acht Wochen besetzen sie mit Mama Lucero Grundstück und Haus. Ihre Kinder, Bruder und Schwägerin sind bei Freunden und Verwandten untergebracht. Die Besetzer fordern von der Bank, dass sie der Familie Lucero, die nichts geschenkt haben will, ihr Haus mit einem fairen Vertrag zurück gibt. Sie demonstrieren, schreiben Briefe, rufen Politiker, Staatsanwälte, Banken und Konsulate an. Bisher haben sie keine Antwort bekommen. Jetzt bereiten sie eine Sammelklage gegen die Deutsche Bank vor. Familie Lucero ist nur einer von vielen ähnlichen Fällen in den USA.

Ich fragte die Deutschen Bank, ob die Familie Lucero lügt, wenn sie behauptet, dass die Bank ihre Zwangsausweisung veranlasst habe. Der Sprecher wich mit ausschweifenden Formulierungen voller Fachwörter aus. Dasselbe passierte auf die Frage, ob die Bank die Zwangsausweisung stoppen könnten. Danach bekam ich die Mail, die alles erklären sollte. Beides sind Fragen, die mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten sind. Kein Wunder dass Mama Lucero ihre Hoffnung auf ein Weihnachten zu Hause mit ihrer Familie in die Hände der Besetzer legt, die mit Schlafsäcken, Zelten und Sofas in ihrem Garten leben.

 

 

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Das große Fressen – abgespeckt

Aus irgendeinem Grunde ist Weihnachten zur Zeit des Überflusses geworden, es wird geschenkt, was das Zeug hält und gegessen bis es nicht mehr geht – nicht überall im so genannten Westen, doch auffallend häufig. Das große Fressen nicht nur zur Weihnachtszeit führt dazu, dass die Menschen immer dicker werden, wie internationale Statistiken über den BMI (Body Mass Index, aber das weiß mittlerweile wohl jeder). Zwar ist es da um Dänemark noch nicht so schlimm bestellt, aber es geht aufwärts. Vor allem aber haben die Dänen eine vergleichsweise niedrige Lebenserwartung – in Europa ist diese nur im Osten noch geringer.

Also, so dachte man sich in guter sozialdemokratischer Manier (auch wenn der Vorschlag von der eigentlich liberalen Partei Venstre kam), lasst und über Steuern steuern und fettes = ungesundes Essen teurer machen.

Im Herbst 2011 wurde deshalb eine Fettsteuer eingeführt (hier ein Text, den ich darüber mit Selina Marx für Die Gesundheitswirtschaft schrieb). Die aber war inskonsequent und nicht hoch genug, um wirklich das Konsumverhalten zu ändern und erfüllte letztlich nur einen Zweck: Haushaltslächer zu stopfen. Das widerum passte nach einigen Monaten und einer Wahl niemanden mehr. Auch nicht den Unternehmen, die meinten es sei zu viel Aufwand, die Steuer zu berechnen und außerdem würden die Kunden nun vermehrt in Schweden oder Deutschland einkaufen. Also beschloss die nunmehr sozialdemokratisch gelenkte Regierung vor kurzem die Steuer wieder abzuschaffen. Ein paar mehr Informationen dazu auch in meinem Artikel für das Wall Street Journal, den es hier im Original gibt und hier in deutscher Übersetzung.

 

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Scheidung noch mal verschoben?

Viele Journalisten lieben markige Statements oder eine holzschnittartige Darstellung der Welt. Schwarz und Weiß. Als wären Grautöne unverdaulich. Da Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Hollande nicht als politisches Liebespaar bekannt sind, ist dann schon mal schnell von einer bevorstehenden Scheidung die Rede. So auch gestern wieder in den Hauptnachrichten des französischen Fernsehsenders France 2. Da wurden ernste Gesichter aus Brüssel gezeigt, Merkel und Hollande hätten nicht einmal ein höfliches Lächeln füreinander übrig gehabt. „Steht nun die Scheidung bevor“, fragte daraufhin der Moderator den Brüssel-Korrespondenten.

Die Überzeichnung der inhaltlichen sowie der persönlichen Differenzen zwischen Hollande und Merkel sind in Deutschland wie in Frankreich bei einigen Medien besonders beliebt. Von einem tiefen Einblick in die deutsch-französischen Beziehungen zeugt das nicht. Denn die vor knapp 50 Jahren von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle formal besiegelte deutsch-französische Freundschaft hat inzwischen eine Tiefe und institutionelle Verwebung auf ganz unterschiedlichen Ebenen erreicht, sie würde überleben auch wenn Merkel und Hollande sich abgrundtief hassten und sich politisch überwärfen. Für letzteres sind beide viel zu klug und viel zu diplomatisch.

Dass Berlin und Paris immer mal wieder in politischen Fragen ganz unterschiedlicher Meinung sein werden, tut beiden Seiten und Europa gut. Denn es trägt zu einer fruchtbaren Kompromisskultur bei. Auch zum Innehalten und Überdenken der eigenen Position – falls man dazu Zeit findet. Dass die politischen Überzeugungen selbst bei einer diplomatischen Annäherung der Positionen in Brüssel im Grunde mitunter sehr weit von einander entfernt bleiben, ist schon aus historischen Gründen nicht überraschend. Das staatliche Selbstverständnis und damit auch die Staatsräson Deutschlands und Frankreichs sind keineswegs identisch. Das gilt sowohl für innen- wie außenpolitische Aspekte. Aber es gibt genügend gemeinsam Interessen, die eine Annäherung in der Politik immer wieder lohnend machen.

Bei jedem politischen Schlagabtausch oder jeder Missstimmung zwischen Kanzler(in) und Präsidenten (auf eine französische Präsidentin brauchen wir leider in absehbarer Zeit noch nicht zu hoffen) die „Scheidung“ heraufzubeschwören, ist deshalb reine Effekthascherei, dumm und ermüdend.

 

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Dänemark wird weiblich

Selbst ohne Frauenquote ist Dänemark auf dem Weg zu Frauen dominierten Regierungsparteien. Vergangenes Jahr wurde mit der Sozialdemokratin Helle Thorning-Schmidt erstmals eine Frau an die Spitze der Regierung gewählt (als Dänemark zum 1.1.2012 die EU-Ratspräsdentschaft übernahm, erschien von mir ein Porträt in Die Welt). Sie ist außerdem Parteichefin. Der sozial-liberale Koalitionspartner RV hat schon lange eine Frau als Vorsitzende. Nun hat Außenminister Villy Sovndal seinen Rückzug als Chef der Linkspartei angekündigt. Nachfolgen wird ihm am 13.10. in jedem Fall eine Frau: es kandidiert die erst 29-jährige Sozialministerin Astrid Krag und die einfache Abgeordnete Annette Vilhelmsen, 52.
Im Vergleich zu Norwegen und Schweden hinkt Dänemark beim Anteil von Frauen in der Spitze von Wirtschaft und Politik bisher hinterher. Zumindest in der Politik wird das ab Mitte Oktober anders aussehen.
Die rechtspopulistische DF allerdings hat gerade die weibliche Vorsitzende durch einen Mann ersetzt.

 

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Große Politik aus der Provinz

Einer zog aus, um die Welt zu verändern – und die Welt hilft ihm dabei: Die Geschichte des Joko Widodo, genannt Jokowi, klingt tatsächlich ein bisschen wie im Märchen. Als Möbelhändler kandidierte der heute 51-Jährige in seiner zentraljavanischen Heimatstadt Surakarta 2005 für den Bürgermeisterposten und wurde trotz aller Zweifel an seinen politischen Fähigkeiten gewählt. Die Zweifler verstummten bald: Der Forstingenieur erregte national wie international Aufmerksamkeit für seine volksnahe Politik und die unkonventionellen Methoden, mit denen er gegen korrupte Bürokraten, Umweltverschmutzung und soziale Ungerechtigkeit in seiner Stadt vorging – nicht gerade eine Selbstverständlichkeit in Indonesien. Nach fünf Jahren im Amt wurde Jokowi mit überwältigender Mehrheit wiedergewählt. Allerdings nicht für lange: Auf der Suche nach Kandidaten für die Gouverneurswahl in der problembeladenen Landeshauptstadt Jakarta richteten sich die Augen schnell auf den Politaufsteiger aus der Provinz. Er ließ sich überzeugen, kandidierte und gewann: Statt Batik oder Anzug in ein schlichtes kariertes Hemd gekleidet – sein zum Kult gewordenen Markenzeichen – gewann der Außenseiter am 20. September 2012 in sämtlichen Wahlbezirken der Zwölfmillionenstadt gegen den als arrogant und korrupt geltenden, amtierenden Gouverneur. Nur die vorgelagerten Inseln blieben ihrem alten Regenten treu. Auf die Frage, ob sie wirklich glauben, dass Jokowi Jakartas scheinbar unlösbare Probleme wie Verkehrskollaps, Überflutungen und Armut in den Griff bekommen könne, antworten die meisten Wähler: keine Ahnung, ob er sich gegen das bestehende System durchsetzen könne oder darin untergehen werde. Aber wenn es einer schaffen könne, dann er. Das Wichtigste sei die Hoffnung auf eine radikale Veränderung. Und die Bewohner von Surakarta? Anstatt ihrem scheidenden Bürgermeister den Umzug in die Hauptstadt übel zu nehmen, feiern sie ihn – in der Hoffnung, dass er sie irgendwann als Präsident Indonesiens vertreten werde.

 

 

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Zurück zur Monarchie

Bedienstete am Sultanspalast

Die indonesische Stadt Yogyakarta gilt als Zentrum der freien Künste und der modernen Erziehung, als globaler Schmelztiegel verschiedenster indonesischer und internationaler Kulturen. Die Sultansstadt war außerdem ein entscheidender Schauplatz des Unabhängigkeitskriegs gegen die Holländer und vorübergehend Hauptstadt der jungen Republik Indonesien.
Und nun das: Die Bevölkerung hat den Weg zurück zur Monarchie gewählt. Nach jahrelangem Ringen mit dem indonesischen Nationalparlament in Jakarta hat die Stadtprovinz einen Sonderautonomiestatus zugebilligt bekommen, der den amtierenden Sultan automatisch als Gouverneur vorsieht. Der größte Teil der Einwohner steht hinter der Entscheidung, die der Sultansfamilie weitgehende Bestimmungsrechte über öffentliche Gelder und Ländereien verschafft. Offensichtlich ist das Vertrauen in den alternden Monarchen größer als in die von Korruption und Chaos geprägte demokratische Regierung in Jakarta.
Ein Problem allerdings regelt das neue Autonomiegesetz nicht: die Nachfolge. Die fünf Töchter des 66-jährigen Sultans Hamengkubuwono X sind nicht zur Thronfolge berechtigt.

 

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Besuch beim Militär

Mit der US-Army verbindet mich eigentlich gar nichts. Doch als ich  erfuhr, dass es möglich ist, in die Herzkammer der nationalen Verteidigung vorzudringen, ging ich mit. Es war keine Tour für Journalisten: Die Militärakademie West Point lädt jeden zur Besichtigung ein, der gewillt ist, 13 Dollar zu zahlen. Die Formalitäten waren, gemessen an den Sicherheitskontrollen eines durchschnittlichen New Yorker Bürogebäudes, geradezu lächerlich: Ein Wachmann warf einen kurzen Blick auf meinen Personalausweis.

Dabei gibt West Point ein perfektes Feindbild für Antiimperialisten. Jährlich treten in der Ausbildungsstätte 80 Kilometer nördlich von New York rund 1300 Kadetten an und lassen sich für Führungspositionen des US-Militärs ausbilden. Gleichzeitig studieren sie Geschichte, Wirtschaft oder Ingenieurwesen. Die Ausbildung dauert vier Jahre und ist, anders als die meisten Universitäten, kostenfrei. Im Gegenzug verpflichten sich die jungen Männer und Frauen – letztere stellen rund 15 Prozent der Kadetten – zu einer mehrjährigen Karriere bei der Army. Für die meisten Deutschen wäre das wohl nicht sehr attraktiv, doch die US-Kaderschmiede ist überlaufen: Auf einen Platz kommen fast zehn Bewerbungen. Und schon das Bewerben ist gar nicht so leicht, denn man braucht eine Empfehlung eines Kongressabgeordneten oder des US-Vizepräsidenten.

Gegründet wurde die Akademie bereits 1802. Die düsteren, wie eine neugotische Trutzburg gestalteten Hauptgebäude wurden allerdings erst hundert Jahre später gebaut. Sie stehen in einem eigenartigen Kontrast zu der lieblichen Umgebung – das Gelände liegt auf einer Anhöhe am Hudson und bietet atemberaubende Panoramen.

Das Areal ist riesig: 65 Quadratkilometer. Deshalb fuhren wir auch mit dem Bus. Erster Haltepunkt war – eine Kirche. Ein neugotischer Prachtbau, in dem jeden Sonntag ein evangelischer Gottesdienst gehalten wird. „Die Teilnahme ist nicht obligatorisch, aber die meisten kommen trotzdem“, erklärte Jane, unsere Führerin. Es gibt auf dem Gelände auch eine katholische Kirche und eine Synagoge.

Überhaupt ist West Point ein ziemlich komplettes Gemeinwesen. Nicht nur die Kadetten wohnen dort, in studentenwohnheimähnlichen Baracken (jeweils zwei teilen sich eine Stube). Auch der Akademieleiter und  Lehrkräfte sind dort untergebracht, in hübschen kleinen Villen. Besucher können im luxuriösen Thayer Hotel absteigen, für 200 Dollar die Nacht. Es gibt neben den Lehrgebäuden ein Offizierskasino mit Aussicht auf den Hudson, ausgedehnte Sportfazilitäten samt Baseballstadium, und, natürlich, einen Exzerzierplatz. Straßen, Zäune, Mauern – alles ist in tiptop in Ordnung, ein krasser Gegensatz zur zivilen Infrastruktur der Vereinigten Staaten.

Drei Mal dürften wir aus dem Bus aussteigen: bei der Kirche, an einem Denkmal mit vielen Kanonen und am Exerzierplatz. Fotografieren war ausdrücklich erlaubt. Kadetten indes sahen wir nur von Ferne und vom Bus aus. Sie trugen ausnahmslos Uniform und wirkten sehr ernsthaft. Die Wirtin unseres B&B erzählte später, dass das Pensum so anstrengend ist, dass die jungen Leute nur eines wollen, wenn sie etwa wegen Elternbesuchs Ausgang erhalten: schlafen.

Die Offenheit von West Point war mir sympathisch. Was mir nicht gefiel, waren die Texte zur Militärgeschichte im hauseigenen Museum. Zum Ausbruch des amerikanischen Bürgerkriegs fand sich ein einziger Satz: „Die Ursachen waren äußerst komplex und beinhalteten verfassungsrechtliche, ökonomische, politische und moralische Themen.“ So lässt sich der Kampf gegen die Sklaverei also auch beschreiben. So verständlich es ist, dass sich das Militär scheut, politische Positionen zu beziehen – ein Bekenntnis zu bestimmten Grundwerten erwarte ich von einer Armee in einem demokratischen Staat schon.

Zum Abschluss der Tour ging ich ins Visitor Center, das einen riesigen Souvenirladen beherbergt. Ich überlegte, ob ich eine schwarze Küchenschürze mit „Army“-Aufdruck kaufen sollte, Servietten mit „Army“-Logo oder lieber einen „Army“-Regenschirm. Am Ende entschied ich mich für Socken. In Zukunft kann mir also keiner vorwerfen, dass mich nichts mit der Army verbindet. Auch wenn ich sie, streng genommen, mit den Füßen trete.

Fotos: Christine Mattauch

 

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Am liebsten wieder de Gaulle

Les bons citoyens von Betchat haben gewählt. Mit überwältigender Mehrheit links. Das hatte ich auch nicht anders erwartet. Und doch hat auch hier Marine le Pen die Zahl der Stimmen des rechtsradikalen Front National FN im Vergleich zu 2007 fast verdoppeln können – auf 31. Das entspricht 12,55% der abgegebenen Stimmen. Direkt hinter Nicolas Sarkozy, der 37 Wähler überzeugte.

Wer also sind diese 31, die auf dieser gefährlich erscheinenden Marine-Welle schwimmen? Nur wenige geben in einer so übersichtlichen Gemeinde mit rund 290 Wahlberechtigten, wo jeder jeden kennt, gerne offen zu, FN zu wählen. Von einigen weiß ich es: Zum Beispiel ein älteres Ehepaar, ganz durchschnittliche, freundliche Leute, die einen zweiten Wohnsitz in Toulouse haben. Dort in einem Viertel, in das über die Jahre immer mehr Nordafrikaner oder Franzosen mit maghrebinischer Herkunft gezogen sind. Sie sagen, das Leben dort habe sich total verändert. Die Kriminalitätsrate sei drastisch gestiegen, wenn es dunkel werde, trauten sie sich nicht mehr auf die Straße. Dieses Rentnerpaar sehnt sich nach den guten alten Zeiten, als man überall in Toulouse noch zu jeder Tages- und Nachtzeit sorgenfrei herumspazieren und in den Straßencafés sitzen konnte. Deshalb gehören sie zur Fraktion „Ausländer raus – Frankreich den Franzosen“.

Diese Fraktion verkörpern inzwischen sowohl Marine Le Pen als auch Nicolas Sarkozy. Doch Le Pen spricht die Sprache des einfachen Volkes, Sarkozy nicht. Wenn ich mit meinen Nachbarn über Alltägliches rede, Probleme die sie haben, ihre Wünsche, Sehnsüchte, dann denke ich oft in diesen Tagen: Könnte gut sein, dass sie Le Pen wählen. Dabei sind sie weder besonders radikal, noch wollen sie einen Polizeistaat. Auch gegen Juden haben sie in der Regel nichts. Wenn es um Araber und Muslime geht, haben sie allerdings größere Vorbehalte. Die Medien machen ihnen Angst vor diesen Leuten. Sie verstehen sie nicht. Irgendwie wäre es schon gut, wenn die alle wieder nach Hause gehen könnten.

Einige der Pensionäre hier auf dem Land haben auch persönlich schreckliche Erfahrungen im Algerien-Krieg machen müssen. Das haben sie nicht vergessen, selbst wenn sie auf Nachfrage zähneknirschend zugeben, dass auch die Franzosen dort entsetzliche Gewalttaten verübt haben. Es war halt Krieg, heißt es dann unter einem tiefen Seufzer. Und Kriege sind immer schmutzige Angelegenheiten. Oder? Das Misstrauen ist geblieben. Auf diesem fruchtbaren Boden werden von der politischen Rechten sowie von zahlreichen französischen Medien Ängste gesät. Mit Erfolg.

So ist die Ausländer- oder vor allem die Araber-feindlichkeit – wie in Deutschland auf dem Lande auch – weit verbreitet in der Ariège. Die Mordserie von Mohamed Merah in Toulouse und Montauban hat dieses Gefühl noch verstärkt. Doch dies ist noch nicht die ganze Erklärung für die Sympathien für Le Pen in einem Teil Frankreichs, der traditionell rot ist. Viele Leute hier müssen hart für wenig Geld arbeiten. Sei es in der Landwirtschaft oder in der spärlich vorhandenen Industrie. Die meisten sind bescheiden, haben Angst vor einer unsicheren Zukunft, sie sehen, wie die staatlichen Sicherheiten, auf die sie sich mal verlassen konnten, zusammengestrichen werden.

Das prägt, bei aller Gelassenheit, die in dieser Gegend tonangebend ist, ein Lebensgefühl. Rückwärtsgewandt muss man es wohl nennen. Warum kann das Leben nicht mehr so sein wie es früher mal war? Als die Welt der Ariègois noch in Ordnung war. Als Betchat noch mehrere Handwerksbetriebe hatte, Geschäfte und ein Café. Heute gibt es nur noch eine Post, ein Bürgermeisteramt und eine Schule. Naja, und die Kirche mit Friedhof. Manchmal, aber nicht regelmäßig, wird hier noch eine Messe gelesen.

Es muss anders werden, wenn es besser werden soll. Am liebsten so wie früher. Aber wie? Wehmütig erzählt mir mein Nachbar Dede, der in der Wachmannschaft von Charles de Gaulle in den 60er Jahren gedient hat, dass man damals Politikern noch glauben konnte. Insbesondere de Gaulle natürlich. So ein Übervater, strammer Franzose mit Rückgrat, hervorgegangen aus dem Widerstand gegen Hitler und das Vichy-Regime, das wäre was. Auf den konnte man stolz sein. Aber Sarkozy, Hollande oder Mélenchon dagegen…

Und die Übermutter, Marine le Pen? Sie macht vielen noch Angst. Jedoch weniger als ihr Vater. Die Tochter hat den Front salonfähiger gemacht. Ein weiterer Grund für den Stimmenzuwachs. Und sie spricht eben tatsächlich die Sprache der einfachen Leute, die sich irgendwie von der aktuellen politischen Elite in Paris nicht wirklich vertreten fühlt. In ihren eigenen Werten und Traditionen tief verwurzelt und doch im heutigen politischen Zirkus orientierungslos – diese Beschreibung trifft wohl auf viele zu, die in Betchat am Sonntag Marine Le Pen gewählt haben. Ob sie am 6. Mai Hollande oder Sarkozy oder gar nicht wählen werden? Es werden noch Wetten angenommen.

 

 

 

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“Ein Tag der Freude”

Der Holocaust Gedenktag sollte als “Tag der Freude” gefeiert werden, fordert Yoram Kaniuk, der Schriftsteller und Querdenker, am heutigen Yom haShoah in der Zeitung “Haaretz”. Und begründet diese Provokation damit, dass “zehntausende Menschen die Shoah überlebten, zum Leben zurückkehrten, Kinder und Enkel großzogen.” Kaniuk hier gedanklich zu folgen, tut weh. Weil er die Trauer über die millionenfachen Qualen und das unfassbare millionenfache Hingeschlachtet-Werden der europäischen Juden der Freude über das Überleben der wenigen Tausend nachordnen will. “Macht aus dem Holocaust Gedenktag einen Tag der Helden”, appelliert er. Nicht um den Preis der Trauer, die in jeder israelischen Familie mit europäischen Wurzeln lebe. Sondern, um dem Leben die Ehre zu geben, so wie es dem Judentum entspreche.

Anders dagegen klang, was Benjamin Netanjahu gestern Abend beim offiziellen Staatsakt zum Gedenken an die Opfer des Holocaust in Yad Vashem zu Protokoll gegeben hat: “Am Holocaust Gedenktag müssen wir unserer heiligsten Pflicht nachkommen”, sagte Netanjahu. “Und die besteht nicht nur in der Erinnerung an das Vergangene, sondern sie verpflichtet uns dazu, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und sie auf die Gegenwart anzuwenden, um die Zukunft unseres Volkes zu sichern.” Die Existenz Israels werde heute von einem atomwaffenfähigen Iran bedroht. Aber heute habe Israel eine Armee, fuhr Netanjahu fort. “Wir haben die Fähigkeit, Verpflichtung und Entschlossenheit, uns zu verteidigen.” Im Zweifel auch alleine gegen den Rest der Welt. So klang es zwischen den Zeilen aus der Rede Netanjahus.

Der israelische Ministerpräsident scheint gefangen in einer Gedankenwelt, die von der Angst beherrscht wird. Die nur den scharfen Kontrast zwischen dem “Wir” und den “Anderen” kennt. Seine Rhetorik stilisiert Israel und das jüdische Volk als Ganzes zu einer Entität, die mit nichts und niemandem wirklich und verlässlich verbunden ist. Auch1967 schon hätten die Israelis ihrem Feind alleine gegenübergestanden, sagte Netanjahu gestern. “Das israelische Volk ist nicht in Panik verfallen, sondern hat gemeinsam den Gefahren die Stirn geboten. Wir waren nicht von Furcht paralysiert, sondern haben getan, was notwendig war, um uns selbst zu verteidigen.”

Was bedeutet das, wenn wir es auf die Gegenwart übertragen? Netanjahu versuchte gestern seiner Hörerschaft zu insinuieren, dass Israel schon wieder und einmal mehr in seiner Geschichte einer existenziellen Bedrohung allein und verlassen von allen Freunden gegenübersteht. Aber diese Verlassenheit Israels und des jüdischen Volkes ist heute eine bloße Behauptung. Eine gefährliche noch dazu. Sie ist gewissermaßen eine Gegenwartsklitterung. Und sie hält der Wirklichkeit nicht stand. Glücklicherweise. Aber sie wird konstruiert, um den Unilateralismus der israelischen Politik zu legitimieren.

Vielleicht ist aber Eines aus Yoram Kaniuks Kommentar in der heutigen Ausgabe von “Haaretz” doch konsensfähig: Nämlich die eindringliche Warnung mit der er – die gestrige Rede Netanjahus gleichsam antizipierend – geradezu flehentlich ausruft: “Lasst nicht zu, dass der Holocaust als politische Waffe benutzt wird!”

Hier noch ein Video von der Dizengoff Straße in Tel Aviv im Moment der Sirene zum Gedenken an die Opfer der Shoah: http://www.youtube.com/watch?v=vEZjssVhRGA&feature=youtu.be

 

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Verwechslungsgefahr mit echten Seeräubern? Keine Zulassung für Taiwans Piratenpartei

Statt an die Erfolge ihrer deutschen Schwesterpartei anzuknüpfen, sind Taiwans Piraten vorerst an der Bürokratie gescheitert. Das Innenministerium blockierte die Zulassung mit der Begründung, die Bezeichnung „Piratenpartei“ könne den Eindruck erwecken, die Mitglieder seien wirklich Seeräuber. Außerdem bemängelten die Beamten nach einem Bericht von Taiwans Nachrichtenagentur CNA, der Name widerspreche den genannten Zielen der Partei, und Piraterie werde strafgesetzlich verfolgt.

Ähnlich wie in Europa wollen Taiwans Piraten sich für eine Reform des Urheberrechts, mehr Freiheit im Internet und Transparenz in der Verwaltung einsetzen. Parteigründer Tai Cheh will sich noch nicht geschlagen geben. Er werde Beschwerde gegen die Entscheidung einlegen, sagte der Psychologie-Dozent. Die Regierung habe gar kein Recht, eine Parteigründung aufgrund des Namens abzulehnen. „Es geht hier um Redefreiheit. Die Regierung mischt sich ja auch nicht ein, wenn Eltern ihrem Kind einen Namen geben.“

Als wichtiger Standort der Computerindustrie könnte das fast komplett vernetzte Taiwan durchaus Wählerpotenzial für eine Piratenpartei bieten. Auch reagieren viele Taiwaner empfindlich auf mögliche Einschränkungen der Meinungsfreiheit, denn das Land war jahrzehntelang per Kriegsrecht regiert worden. Erst 1986 gründete sich die erste Oppositionspartei, freie Parlamentswahlen gibt es seit 1992.

Die Erfolgsaussichten von kleinen Parteien sind in Taiwan aber traditionell gering. Taiwans Grüne, die sich ebenfalls für gesellschaftliche Modernisierung einsetzen, haben im Zuge von Fukushima bei den Wahlen im Januar mit 1,7% zwar ihren Stimmanteil vervierfacht, aber erneut den Sprung ins Parlament verpasst.

Der Einzug der deutschen Piratenpartei ins Berliner Abgeordnetenhaus hatte auch in Taiwan Wellen geschlagen – zumindest bei den berüchtigten Animateuren von NMA.tv (Video):

Was macht Taiwan so besonders, und wie lebt es sich in der einzigen Demokratie, in der Chinesisch Landessprache ist? Über meinen ungewöhnlichen Alltag habe ich ein kleines Buch geschrieben und mit vielen Fotos garniert.

Buch von Klaus Bardenhagen: Tschüß Deutschland, Ni hao Taiwan

Sie können einen Blick in mein Buch über Taiwan werfen und es bestellen – gedruckt oder als eBook im EPUB-Format für weniger als vier Euro.
 
berichtet seit 2009 aus Taiwan. Erfahren Sie mehr unter taiwanreporter.de oder folgen Sie ihm per Facebook und Twitter.

 

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Am siebten Tage sollst du ruhen

Die New York Times hatte gestern auf der ersten Wirtschaftsseite eine Geschichte über Deutschland. Der Artikel begann so: „Torsten Emmel mag aussehen wie ein unschuldiger Florist, ein netter Typ mit Glatze und Schürze, der sorgfältig die Stiele seiner Freesien kürzt. Tatsächlich ist er ein Gesetzesbrecher. Sein Vergehen: Er setzte ein Schild auf den Gehsteig, auf dem er ankündigte, seinen Laden am Muttertag von 9 bis 16 Uhr zu öffnen.“ Das, erklärt die Times ihren Lesern, sei in Deutschland illegal – und ein Beleg für strukturelle Schwäche: „Es zeigt, dass die deutsche Wirtschaft unter der gleichen Überregulierung und Sklerose leidet, die typischerweise mit den Problem-Ländern Europas verbunden werden.“

Sonntagsruhe gleich verkalkte Strukturen gleich Griechenland – die Gleichsetzung ist kühn, vorsichtig ausgedrückt. Sicher enthält sie ein Körnchen Wahrheit über die deutsche Mentalität, doch sie sagt mindestens ebenso viel aus über die Amerikaner, beziehungsweise über den Stellenwert, den sie dem Konsum beimessen. Es ist in den USA unvorstellbar, am Sonntag nicht shoppen zu können. Der Tag ist für viele der wichtigste Einkaufstag – dann hat man endlich Zeit! Das Gleiche gilt für die wenigen Feiertage wie President’s Day oder Columbus Day, die 1968 per Gesetz auf einen Montag verlegt wurden. Wunderbar, ein langes Wochenende zum Einkaufen! Samstags- und Sonntagsausgabe der New York Times schwellen dank der vielen Reklamebeilagen auf das Doppelte, und ältere Semester wie ich erinnern sich wehmütig, dass so ein Umfang in der Hoch-Zeit der gedruckten Presse der Normale war.

Selbst in unserer Brooklyner Einkaufsstraße, für die die Bezeichnung Nebenzentrum eher hochtrabend wäre, haben sonntags nahezu sämtliche Läden geöffnet. Auch mein Zahnarzt macht Termine – nicht weiter erstaunlich: Da er Jude ist, ist sein Feiertag der Samstag. Doch auch mein Friseur hat sonntags geöffnet, und der ist aus Sizilien eingewandert und bekennender Katholik. Die einzigen, die aus irgendeinem Grund verlässlich geschlossen sind, sind Reinigungen.

In den ersten Monaten nach meiner Ankunft fand ich es irritierend, dass die Woche keinen natürlichen Rhythmus hat. Die äußere Uhr läuft einfach weiter und ich wurde nicht, wie in Deutschland, durch Stille beim Aufwachen an das Gebot erinnert „Am siebten Tage sollst du ruhen“. Inzwischen habe ich gelernt, mir meinen eigenen Rhythmus zu geben und eine Wochenendroutine zu entwickeln, indem ich zum Beispiel ausdrücklich am Samstag einkaufen gehe und nicht am Sonntag. Ob Amerikaner das verstehen würden?

Der Artikel in der New York Times enthält übrigens noch weitere interessante Breitseiten, etwa dass auch die Handwerksrolle die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands schwächt: „Jahre der Ausbildung sind erforderlich, um als Maler, Schornsteinfeger oder Fahrradtechniker zu arbeiten.“ Als Ökonomin, die an der liberalen Universität zu Köln studiert hat, hätte ich der Kritik vor meinem USA-Aufenthalt ohne weiteres zugestimmt. Inzwischen bin ich mir da nicht mehr so sicher. Die mit dicker weißer Farbe überstrichenen Lichtschalter und Türknäufe in unserer Altbauwohnung machen ebenso nachdenklich wie der verkehrt angeschraubte Überlauf in der Badewanne. Bizarr verlief unser Auftrag an einen Schreiner, der Umzugsschäden am Parkett beseitigen sollte und das Schleifen und Lackieren von zwei mexikanischen Tagelöhnern erledigen ließ, während er selbst den Lieferwagen um den Block fuhr, angeblich weil er keinen Parkplatz fand. Ein Freund aus London – auch dort ist das Handwerk liberalisiert – unterhielt monatelang eine ganze Facebook-Gemeinde mit der Horror-Story einer Dachreparatur.

Während ich dies schreibe, frage ich mich, was der Kollege der New York Times denken würde, wenn er meinen Blog lesen würde: „Ein typisch deutsches Lamento“? Vielleicht ist es an der Zeit, die kulturellen Unterschiede einfach zu akzeptieren und nicht in Schablonen zu packen. Zumal ich mir inzwischen in Deutschland zuweilen schon fast vorkomme wie eine Amerikanerin – ich vermisse Flexibilität und Improvisationstalent. Außerdem wäre es schön, den vergessenen Brokkoli auch am Sonntag noch schnell einkaufen zu können.

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