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Knochenarbeit

Mich beschäftigt ein junger Pirat namens Abdu Willy. Er ist etwa 18 Jahre alt und stammt aus Somalia. Anfang Oktober war er daran beteiligt, vor der dortigen Küste einen spanischen Thunfischfänger zu kapern. 48 Stunden später wurde er von Soldaten der Marine festgenommen und nach Spanien verbracht (das Schiff befindet sich immer noch in der Gewalt der Piraten). Und seitdem gibt es ein Heidentheater um jenes „etwa 18 Jahre alt“, denn für den Prozess gegen Abdu Willy ist es von entscheidender Bedeutung, ob er volljährig ist oder nicht. Je nachdem wäre ein anderer Richter zuständig, ein anderes Gericht, und auch das mögliche Strafmaß fiele jeweils deutlich anders aus. Weil dem so ist, wird Willy (der selbst behauptet, erst 16 zu sein) seit reichlich zwei Wochen von einer medizinischen Untersuchung zur nächsten geschleppt. Sieben zum Teil aufwendigen Tests hat er sich in den vergangenen zwei Wochen unterworfen. In der Zeitung „El País“ vom Donnerstag wurde sogar eine mehrteilige Grafik des Skelettaufbaus rund ums Schlüsselbein gezeigt, um die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, von welchen Knochen man sich diesmal Aufschluss über das wahre Alter des jugendlichen Piraten versprach.

Einmal davon abgesehen, dass mittlerweile jedes Mitglied der staatlichen spanischen Krankenversicherung neidisch sein dürfte auf die Geschwindigkeit, mit der man Willy Termine beim Spezialisten zugeteilt hat, und abgesehen auch von der mutmaßlichen Gewissenhaftigkeit des ganzen Verfahrens – ich kann mir nicht helfen: Vor meinem geistigen Auge verdichtet sich der bisherige „Ermittlungsprozess“ zu einer halb gespenstischen, halb kafkaesken Szene, in der sich eine Reihe Doktoren über den Leib eines sehr jungen Menschen hermacht, mal diesen, mal jenen Knochen hervorzerrend, um letztlich festzustellen, ob man hinter bzw. jenseits all der Knochen wohl ein ausreichend ausgeprägtes Bewusstsein zu fassen kriegt. Ein paar Grad mehr an Knochenbildung können leicht einige Jahre mehr Gefängnis bedeuten. Das Verfahren scheint logisch, eine Grenzziehung nötig, und doch wirkt der Testreigen auf bizarre Weise unpassend. Man würde gern mehr über das ethische Skelett des Burschen wissen, über seinen Weg ins Piratengeschäft, und kann bisher nur in den Körper eindringen, das einzig Handfeste.

Zufällig stand in „El País“ neben Geschichte & Grafik zu Willys Knochenuntersuchung ein Artikel über ein, nun ja, entfernt verwandtes Thema. Nahe Granada wird gerade jener Fleck Erde umgegraben, an dem die Reste des Dichters Federico García Lorca liegen sollen. Der war am 19. August 1936 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion von Francos Truppen erschossen und gemeinsam mit einem Lehrer, einem Steuerbeamten und zwei Wegelagerern verscharrt worden. Einige Hinterbliebene kämpfen dafür, dass die Knochen ihrer Vorfahren identifiziert und ihnen übergeben werden. Lorcas Familie verzichtet dagegen ausdrücklich auf diese Identifikation und war auch bisher immer gegen eine Öffnung der mutmaßlichen Grabstelle. „Lorca waren alle“, steht auf dem vor Ort befindlichen Mahnmal (hier eine 360-Grad-Ansicht). Mit diesem Mahnmal, das Lorca hervorhebt und ihn zugleich einreiht unter die anderen Bürgerkriegsopfer, hat der Dichter womöglich in der Tat schon einen würdigen Grabstein. Andererseits bleiben noch weit mehr als 100 000 anonyme, verscharrte Opfer und Tausende Familienangehörige, für die das Auffinden und Bestatten der Ihren ein notwendiges Stück Trauerarbeit darstellt. Bisher müssen nichtstaatliche Organisationen die komplizierten Grabungsarbeiten übernehmen. Spaniens sozialistische Regierung hat in einem Gesetz zum „Historischen Gedächtnis“ nur begrenzt kommunale Mithilfe angeboten, und die konservative Opposition würde die Massengräber sowieso lieber alle geschlossen halten.

Ich weiß, eigentlich hat der junge Somalier Abdu Willy gar nichts mit den Toten des Bürgerkriegs zu tun. Aber trotzdem, so in der Zeitung nebeneinandergerückt, erscheint mir das wie ein verrücktes Missverhältnis: Die gesetzlich verfügte, wochenlang ausdifferenzierte Sorge um Willys Knochenbau auf der einen, die gesetzlich über Jahrzehnte vernachlässigte Sorge um die Knochen von mehr als 100 000 Opfern in der eigenen Erde auf der anderen Seite.

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