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Vögel fressen Schafe

Wenn der Reifen nach der Picknickpause in den Bergen plötzlich einen Platten hat oder die Zeltplane zerfetzt ist, dann war wahrscheinlich kein ländlicher Hooligan zugange, sondern die gefürchtetste Kreatur der Südalpen: der Kea. Dieser hübsch anzusehende Bergpapagei ist Touristenattraktion und Landplage zugleich. Auch in friedliebenden Menschen kitzelt er Tötungsgelüste hervor. Zum Beispiel dann, wenn man aus seinem Wanderstiefeln schlüpft und die Schuhe wenig später hunderte Meter weiter einen steilen Abhang herunter fallen sieht. Dort hat sie ein Kea fallen lassen, nachdem er zuvor auch noch sämtliche Gummiteile vom Auto gerissen und den Picknickkorb in Einzelteile zerlegt hat. Ja, ein putziges Tierchen.

Wer angesichts dieser Gefahr aus Flora und Fauna müde die Schultern zuckt und auf die Haie, Krokodile und anderen Fleischfresser Australiens verweist, der weiß nicht, was der Kea für ein Killer ist. Den armen Schafen auf den hochgelegenen Farmen der Südinsel hackt er gezielt in die Nierengegend, um dahinter ans Fett zu kommen. Die verwundeten Tiere sterben oft an Infektionen oder Blutvergiftung, bis zu 4000 im Jahr pro Hof. Im 19. Jahrhundert töteten wütende Bauern daher rund 150.000 Kea, um ihre Herden zu schützen. Jetzt leben gerade mal nur noch knapp 5000, und sie stehen unter Artenschutz, denn die Zeiten haben sich politisch korrekt geändert. Wer heute einen Kea erschießt, erwürgt, ertränkt oder vergiftet, kann sich 100.000 Dollar Geldstrafe oder sechs Monate Gefängnis einhandeln. Mit Naturschützern in Aotearoa ist nicht zu spaßen.

Mit den Kea-Jägern aber auch nicht. Zwei erschossene Papageien hingen vor ein paar Jahren festgetackert an einem Schild in Arthurs Pass, als Warnung an ihre dreisten Artgenossen. Man kann nur ahnen , welches Drama diesem Meuchelmord vorausging. An der wilden Westküste wurde ein Kea einem Beamten der verhassten Naturschutzbehörde DOC tot in die Einfahrt geschmissen. Jetzt kam es unfreiwillig zum Attentat am Skigebiet Porters nahe Christchurch. Ein Teenager, der mit seiner Schulklasse dort war, schmiss einem Kea einen Stein an den Kopf. Das Tier starb, die Polizei wurde alarmiert und das Opfer mitsamt den Schülern zurück zur Chisnallwood Schule gebracht, um den Leichnam DOC zu übergeben. Mit kleinem Zwischenstopp: „Im Moment bewahren wir ihn im Kühlschrank des Lehrerzimmers auf, neben unseren geschmierten Broten“, wusste Schulleiter Richard Paton zu berichten.

Der junge Attentäter muss zur Strafe Freiwilligenarbeit im Naturschutz verrichten. Und für die malträtierten Schafe findet sich auch bald eine Lösung: Neuseeländische Forscher entwickeln ein Spray, das die Keas vom Schafspelz fernhalten soll. Das würde langfristig auch das Überleben der Vögel sichern. Der ‚Kea Conservation Trust‘ hofft, dass sich Bekleidungsfirmen wie Icebreaker an dem Projekt beteiligen: „Wir haben Delfin-freundlichen Thunfisch. Wie wäre es mit Kea-freundlicher Merinowolle?“ Fehlen nur noch DOC-freundliche Menschen.

 

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Kissenschlacht für’s Radio

“Sie klingen manchmal wie aus der Tonne,” sagte mir die Redakteurin aus Deutschland, die gerade einen Beitrag in Auftrag gegeben hatte. “Können Sie vielleicht vor der Aufnhme eine Extra-Matratze ins Zimmer stellen?”

Sowas hört man natürlich nicht gerne. Ich muss leider zugeben: sie war nicht die erste, die mir zu verstehen gab, dass meine Beiträge manchmal so klingen als würde ich in einer mittelgroßen Bahnhofshalle stehen. Ich habe Teppiche an meine Wände genagelt, Samtvorhänge als Raumtrennung aufgehängt und stelle einen Paravent mit dicker Decke drüber hinter mich bevor ich meinen Text aufnehme. Und trotzdem gibt es manchmal Tonnen-Atmosphäre. Frust!

Da die Kollegin nett klang, ihr Vorschlag mit der Matratze außerdem Humor und Sachkenntnis ausstrahlte fragte ich nach. Sie sprach tatsächlich aus eigener Erfahrung. “Ich produziere meine Geschichten auch zu Hause oder unterwegs in Hotels.”  Ihre Tipps: riesige, super-weiche Sofakissen rund ums Mikrofon platzieren, ein Pappkarton drüber und zwischen die Polster sprechen. Ist sie unterwegs, stellt sie sich in einen Kleiderschrank.

Die Sache schien mir einen Versuch wert. Also erst Kissen 

Dann in den Schrank

Alles höchstens semi-optimal. Der Schrank taugt wirklich nur als absolute Notlösung. Aber mit Kissen und Decken habe ich eine Position gefunden, bei der ich gleichzeitig am Schreibtisch sitzen, mein Manuskript lesen und die Aufnahme aussteuern kann ohne einen Krampf in Hals oder Oberschenkeln zu bekommen. Die Kollegin bestätigte: viiiiieeeeel besser!

Jetzt müssen nur noch die Gärtner im Viertel aufhören, mit ihren Mega-Krach-Benzin-Stinkern Blätter von rechts nach links zu blasen und die Aufnahmebedingungen sind perfekt!

 

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Reif für die Insel – Backpacking damals und heute…

Die Gilis – drei kleine Inseln im Nordwesten von Balis Nachbarinsel Lombok –waren vor 15 Jahren mein ultimatives Ziel. Ich reiste zum ersten Mal mit dem Rucksack durch Indonesien und nachdem ich bereits zwei Monate in den Millionenstädten auf der Hauptinsel Java verbracht hatte, war das abgeschiedene Inselparadies genau der richtige Kontrast. Es gab keine befestigten Straßen, keine motorisierten Fahrzeuge, keine Geldautomaten, keine Post, eigentlich überhaupt nichts, was wir aus unserer so genannten zivilisierten Welt alles so kannten. Stattdessen gab es vor allem Sonne, Strand und Palmen, darunter kleine Bambusbungalows und Hängematten, Korallen und ab und zu sogar mal Schildkröten. Um dieses lebendige gewordene Klischee erleben zu können, war ich zwei Tage lang mit öffentlichen Bussen und Fähren von Bali aus unterwegs, stapfte mit meinem Rucksack durch nassen Sand und matschige Inselwege, duschte mit Salzwasser und aß jeden Tag gegrillten Fisch mit Chilisauce. Ich fand es großartig.

Als ich letzte Woche von Bali auf die Gilis übersetzte, war ich darauf vorbereitet auf der inzwischen zur Party-Insel avancierten Gili Trawangan nicht mehr viel Robinson-Feeling zu finden. Dennoch war ich geschockt: Auch der einst so unversehrte Oststrand der als „Familieninsel“ bekannten Gili Air war komplett zugebaut. Restaurants, Hotels, Tauchschulen reihen sich aneinander – allesamt auf befestigten Ufermauern. Erosion soll der Grund sein. Die kleinen Pferdekutschen verlangten fast zehn Euro um einmal um das winzige Eiland zu fahren, in Indonesiens Hauptstadt Jakarta kostet eine einstündige Taxifahrt von der Innenstadt zum Flughafen genauso viel. Der Kutscher erklärte mir während der Fahrt, dass praktisch alle unbebauten Grundstücke auf der Insel bereits aufgekauft seien, fast alle von Ausländern.

Doch nicht nur die Inseln haben sich verändert, auch die Reisenden. Vor allem die mit den Rucksäcken. Auf der gerade mal etwas mehr als einstündigen Fahrt mit dem Schnellboot von Bali (inzwischen gibt es mindestens acht Unternehmen, die täglich Hunderte von Touristen mit Hochgeschwindigkeitsbooten über einen der tiefsten Meeresgräben Indonesiens befördern) saßen zwei Backpackerinnen aus dem Ruhrpott neben mir, die sich bei den ersten Salzwasserspritzern unter einer Regenplane verkrochen, um ihr Make-up zu schonen. Dabei hatten sie sich extra die einzigen Außensitzplätze geschnappt, um ihre in Badeschlappen steckenden Füße in der Sonne zu bräunen. Natürlich sprang bei der Ankunft auch kein Passagier ins seichte Wasser, sondern alle warteten schön der Reihe nach, bis sie über einen beweglichen Steg auf den trockenen Teil des Strandes balancieren konnten. Als in meiner Unterkunft, ein einfaches Ressort mit Bambusbungalows und Strandbar, die WLAN-Verbindung ausfiel, war das für ein französisches Pärchen Grund genug, seine Sachen zu packen und in ein Ressort auf der anderen Seite der Insel zu ziehen – wo es ganz abgesehen davon auch warmes Wasser und Klimaanlage gab. Und nicht zu vergessen: „richtiges Essen“. Drei Tage mit Reis, Fisch und Gemüsecurry seinen ja nun wirklich genug.

 

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Diplomat ohne Ruhestand: Egon Bahr über Taiwan (Video-Interview)

Auch außerhalb Taiwans finden sich interessante Themen. Neulich in Berlin war es mir gelungen, den 90-jährigen Egon Bahr über seine Taiwan-Reise zu befragen.

Man nennt ihn „Tricky Egon“, weil er durch unermüdliches Verhandeln und geschicktes Taktieren immer wieder scheinbar Unmögliches erreicht hat: Egon Bahr prägte den Begriff „Wandel durch Annäherung“. Seine „Politik der kleinen Schritte“ führte in den 70er Jahren zur allmählichen Annäherung zwischen Ost und West und machte den kalten Krieg ein gutes Stück weniger gefährlich.

Egon Bahr

Mit 90 Jahren verfolgt Bahr heute noch immer gespannt, was sich in der Welt tut. So war er im Dezember 2011 eine Woche nach Taiwan gereist, auf Einladung der Regierung. Von dem Mann, der zur Zeit der deutschen Teilung so erfolgreich zwischen den Fronten vermittelt hatte, erhoffte man sich offenbar Anregungen fürs Verhältnis zwischen Taiwan und China.

In Berlin rief ich in der SPD-Parteizentrale an und schilderte einer Mitarbeiterin der Presseabteilung, die auch Bahrs Terminkalender verwaltet, mein Anliegen. Ergebnis: Obwohl Bahr gerade erst seinen Geburtstag und eine Reihe Empfänge und Ehrungen hinter sich gebracht hatte, saß ich ihm nur zwei Tage später an seinem Schreibtisch gegenüber, in einem hellen Büro irgendwo in den langen Korridoren des Willy-Brandt-Hauses.

In dem Gespräch ging es dann genauso um die große Weltpolitik (China vs. USA) wie um das kleine Taiwan. Das Interview mit Egon Bahr als Video:

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Ein Transkript des Gesprächs und weitere Informationen stehen hier: Egon Bahr über Taiwan

Was er denn als nächstes vorhabe, fragte ich den 90-Jährigen, während ich meine Sachen zusammenpackte. „Ein Buch schreibe ich noch darüber, was in der EU gerade passiert.“ Da laufe so unfassbar viel schief. „Und danach kann ich in Ruhe verblöden.“

Was macht Taiwan so besonders, und wie lebt es sich in der einzigen Demokratie, in der Chinesisch Landessprache ist? Über meinen ungewöhnlichen Alltag habe ich ein kleines Buch geschrieben und mit vielen Fotos garniert.

Buch von Klaus Bardenhagen: Tschüß Deutschland, Ni hao Taiwan

Sie können einen Blick in mein Buch über das Leben in Taiwan werfen und es bestellen – gedruckt oder als e-Book im EPUB-Format für weniger als vier Euro.

berichtet seit 2009 aus Taiwan. Erfahren Sie mehr unter taiwanreporter.de oder folgen Sie ihm per Facebook und Twitter.

 

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Tanzende Transen

Die Kathedrale ist eine Ruine, die Straßen haben Risse, die Fassaden sind schief – viel steht im demolierten Christchurch nicht mehr gerade. Bald werden auch Straßenschilder und Laternenmasten einen Knick haben. Nicht, weil uns ein weiteres Erdbeben droht. Sondern weil der Straßenstrich hier demnächst floriert wie auf der Reeperbahn. Und der, so wird aus dem Sündenpfuhl Auckland berichtet, führt in diesen Breitengradenzum Verschleiß der öffentlichen Beschilderung: zerstört durch aggressives Pole-Dancing.

Hunters Corner im Stadtteil Papatoetoe ist ein berüchtigtes Pflaster in Aucklands Süden. Dort bieten sich die Damen der Nacht an, die eigentlich Männer sind – meist ‚fafafine‘, polynesische Transsexuelle. Der Sex-Betrieb stößt den Ladenbesitzern im Viertel seit langem auf. In einer Broschüre der Stadtverwaltung ziehen die Anwohner über die Prostituierten her: Sie würden Kunden anbetteln, in den Geschäften klauen und die Straße als Toilette benutzen. Jeden Morgen sei die Gegend mit Kondomen und Fäkalien versaut. Zustände sind das!

 

Aber es kommt noch schlimmer. Im Februar rammte eine Transe angeblich um acht Uhr morgens mit einem leeren Einkaufswagen das Auto einer Frau und legte sich dann auf deren Kühlerhaube. Einen Monat später mussten unschuldige Kinder aus einem vorbeifahrenden Schulbus mit ansehen – falls sie denn gerade hinguckten und nicht auf ihren Handys in YouPorn vertieft waren – , wie sich eine der Ladies im Freien umzog. Was bei der knappen Gaderobe wirklich nicht lange gedauert haben dürfte. „Wir werden zu Unrecht als Störenfriede dargestellt“, beklagt sich eine Sexarbeiterin namens Jay Jay.

Dass es sich bei den Bordsteinschwalben genetisch bedingt eher um kräftige Truthähne handelt, belegt ein weiterer schockierender Fakt: Rund 40 Parkverbotschilder rund um Hunters Corner sind in den letzten 18 Monaten dem anstößigen Treiben zum Opfer gefallen. An den Stangen wird geschaukelt, geräkelt und gerutscht, dass es nur so eine Sünde ist. Das gehört zur Werbung. Was mittlerweile jede bessere Fitnessmutti kann, die nach Aerobic, Zumba und Yoga beim wöchentlichen Stripper-Sport angelangt ist, können die Prostituierten in Papatoetoe erst recht. Nur sind sie um einiges schwerer. Und die Mäste auf der Straße machen nicht ganz so mit wie die Stangen im Pole-Dancing-Studio.

Was das alles mit Christchurch zu tun hat? Da der Wiederaufbau der Innenstadt demnächst auf Hochtouren laufen soll, werden Bauarbeiter aus der ganzen Welt eingeflogen. Für Tausende von Männern, ein Großteil davon Iren, wird gerade ein provisorisches ‚Workers‘ Village‘ errichtet. Eine Art Lagerstadt, vielleicht sogar aus Zelten – so wie damals während der Goldgräberzeit, als Neuseelands wilder Westen vor Bars und Bordellen strotzte. Damit die Lagerhuren nicht ähnlichen Schaden anrichten wie ihre tanzwütigen Schwestern in der Metropole, sollte man gleich von Anfang an dafür sorgen, dass die Zeltstangen besonders stabil sind. Christchurchs Stadtverwaltung ist gewarnt.

 

 

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Wer das Beste will, steht Schlange

Casa Hernanz gehört zweifellos zu den el mejor sitio, den “Best of” von Madrid. JedeR kennt diese Geschäfte, die sich mit ihrer Spezialisierung seit Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten einen Namen gemacht haben. Die Altstadt ist, trotz ständig zunehmender globalisierter Ladenketten, noch immer voll davon. Gleich neben Hernanz werden bei Calzados Toledo Lederschuhe von Hand gefertigt. Das Besondere: Als Sohle wird Gummi von Autoreifen benutzt. Und wer eine besondere Kopfbedeckung sucht, der geht zu Casa Yustas, dem besten Hutgeschäft der Stadt. Doch was wäre Madrids Best-of-Route ohne kulinarische Genüsse? Natürlich sind auch sie nicht ohne Schlangestehen zu haben. An Weihnachten geht, wer auf sich hält, zu Casa Mira unweit des Parlaments. Hier wird der turrón, die typische Weihnachtssüßigkeit, handgemacht. Den Rest des Jahres beglückt Mira die Kunden mit Teigschälchen, gefüllt mit Innereien.

An Drei König gibt es gleich um die Ecke bei El Pozo den besten Roscón de Reyes, einen mit Sahne gefüllten Hefering. Er ist so gut, dass die Kunden telefonisch vorbestellen. An Drei König morgens stehen sie dann Schlange, um ihre reservierte Kalorienbombe abzuholen. Wer übrigens einen Tag früher hingeht, muss nicht anstehen. Doch Tradition ist Tradition. Und die verlangt, dass der Hausherr am Drei-König-Morgen das Gebäck ersteht.

Zu Weihnachten und Drei König verlost die staatliche Lotterie ihre größten Preise. Was ein richtiger Spieler ist, der kauft seine Lose nicht irgendwo, sondern bei Doña Manolita. Von der Dame, die dem Laden an der Puerta de Sol, dem Platz, an dem alle spanischen Nationalstraßen beginnen, den Namen gab, ist längst nur noch ihr Ruf übrig. Dennoch gilt: Wer bei Doña Manolita kauft, dem ist das Glück holder. Und kommen Sie jetzt nicht mit Statistik und wer mehr verkauft, hat mehr Chancen, dass ein Gewinnlos dabei ist!

Freilich eint die Frage nach dem “Besten Platz für” die Madrilenen nicht immer. Auch wenn es bei Casa Mira, Doña Manolita und El Pozo keine Diskussionen gibt, scheiden sich bei anderen Genüssen die Geister. Ständig führt einen ein Freund in die Kneipe, die seiner Ansicht nach dies oder das am besten kann. Der Gesprächsstoff ist vorgegeben. Zwar ist die Kneipe nicht schlecht, oft sogar hervorragend, aber die Kneipe zu Hause, gleich um die Ecke, ist natürlich um Längen besser. Bei kulinarischen Touren empfiehlt sich übrigens ein gesunder Magen, der die traditionellen Raciones von orejas – gebratene Schweinsohren – oder gallinejas – auf eine Astgabel gewickelte gegrillte Lammdärme verträgt.

 

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Schlägerei am Outdoor-Pool

Als Anfang des Monats die erste Hitzewelle über New York hereinbrach, beschloss ich, schwimmen zu gehen. Nicht an einem der Strände, die die Metropole umgeben, sondern in einem öffentlichen Outdoor-Pool. Wenige Tage zuvor war in Greenpoint, einem Brooklyner Stadtteil, das McCarren-Schwimmbad wieder eröffnet worden, und auf das war ich neugierig. 1936 erbaut, war die auf 1500 Besucher ausgelegte Anlage in den 70er Jahren zunehmend verfallen, bis sie 1984 dichtgemacht wurde. 28 lange Jahre blieb sie geschlossen, zum Ärger der Anwohner, bis sich Bürgermeister Michael Bloomberg erbarmte. Die Lokalpresse feierte die 50-Millionen-Dollar-Renovierung wie einen Sieg – die New York Times nannte sie „einen Meilenstein für eine neue soziale Dynamik in der Stadt“. Nun gut. In der Tat gehen die Millionäre, an denen es in der Stadt nicht gerade mangelt, am Wochenende nicht ins Freibad, sondern fliegen per Hubschrauber an die Strände der Hamptons. Und Greenpoint ist das, was man hier eine „mixed neighborhood“ nennt – ein raues Arbeiterviertel, das vor einigen Jahren von Intellektuellen und dann auch von jungen Familien entdeckt worden ist.

Da wir mit einem gewissen Andrang rechneten, suchten wir uns den strategisch günstigsten Zeitpunkt aus: Am späten Nachmittag, wenn die Familien zusammenpacken, um pünktlich zum Abendessen zuhause zu sein – die Abendbrotzeit in Amerika beginnt klassischerweise um 18 Uhr. Nach einer halbstündigen U-Bahnfahrt endlich angekommen, trauten wir unseren Augen nicht: Vor dem Eingang warteten ungefähr 300 Leute in einer Schlange, ordentlich eingefasst von Sperrgittern. Ins Bad eingelassen wurden jeweils nur so viele, wie heraus kamen. Das waren nicht eben viele.

Wir fragten eine Ordnungshüterin, wie lange es schätzungsweise dauern würde, bis wir hineinkämen, wenn wir uns einreihten. Sie wollte sich nicht festlegen: „Ich bin den ersten Tag hier.“ Dann sagte sie, dass wir noch Glück hätten, denn am Mittag habe sich die Schlange einmal um die komplette Anlage gewickelt. Unsere Strategie war also nicht ganz falsch gewesen, doch das half uns trotzdem nicht viel. Es ging auf 17.30 Uhr zu und war immer noch brütend heiß, und um 19 Uhr sollte das Bad schon wieder zu machen.

Wie gut, dass wir uns bereits zuhause über die gastronomische Infrastruktur von Greenpoint informiert hatten. Dort gibt es das „Radegast“, einen der seltenen Biergärten in New York – beziehungsweise was New Yorker unter einem solchen verstehen. So ganz unter freiem Himmel ist er nicht, schon gar nicht unter Bäumen, sondern in einer alten Lagerhalle mit Schiebeglasdach. Immerhin, es gibt deutsches Bier. Und so kühlten wir uns statt mit Poolwasser mit Radeberger naturtrüb ab.

Wir waren über die Entwicklung des Abends nicht ganz traurig. Am nächsten Tag bedauerten wir sie noch viel weniger. Da lasen wir in der New York Times, dass es in der Badeanstalt zu Randale gekommen war: Als ein Bademeister ein paar Halbwüchsigen untersagte, per Rückwärtssalto ins Becken zu springen, verprügelten sie den Mann kurzerhand. Die Polizei kam, die Jugendlichen wurden wegen Zusammenrottung, Körperverletzung und Ruhestörung festgenommen, und das Bad eine Stunde früher geschlossen. Soviel zur neuen sozialen Dynamik. Mir taten nur die Leute leid, die anders als wir geduldig in der Schlange ausgeharrt hatten – für nichts.

Fotos: Christine Mattauch (5), Nikolaus Piper (2)

 

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Auf den Ramblas: Still gestanden!

Barcelona ist eine schizophrene Stadt: Einerseits will man weltoffene Metropole sein, andererseits gibt es immer wieder absurde Beispiele eines doch sehr kleinstädtischen Besitzstandsdenken. Besonders gern zeigt sich das in der schon seit Jahren und quer durch alle Parteien grassierenden Regulierungswut. Jüngstes Beispiel: Die lebenden Statuen auf der Ramblas, die neben Sagrada Familia wohl inzwischen zu den meist fotografierten Tourismus-Ikonen der Stadt zählen.

Seit 2011 müssen sich die Straßenkünstler einem Casting mit strikten Regeln unterziehen: Das Kostüm muss handwerklich gut gemacht und selbst gestaltet sein, sollte künstlerischen Wert haben und die Statue muss – wenig überraschend – tatsächlich die meiste Zeit bewegungslos da stehen. Die Vereinigung der Lebenden Statuen Barcelonas hat die Initiative seiner Zeit begrüßt, denn tatsächlich war die Lage auf den Ramblas angespannt bis unerträglich: teils drängte sich ein Dutzend Statuen auf einer Strecke von 30 Metern und stellte dem Publikum mit teils penetranten Bettemethoden nach. Den Vogel schoss ein rosa Plüschbär ab, der Passanten gerne von hinten umarmte. Etwas Regulierung tat also not. Nun hat die Stadtverwaltung in diesem Jahr die Regeln verschärft. Neben aktueller Bühnenerfahrung wurden unter anderem diverse Fortbildungen in Sachen Schauspiel und Performancekunst eingefordert und den Künstlern nahegelegt, sich doch bei der Kostümwahl an repräsentativen historischen Persönlichkeiten Barcelonas oder Kataloniens zu inspirieren. Resultat: Keiner bewarb sich. Die Stadt ruderte zurück, beharrte nur noch auf dem Punkt mit den „repräsentativen Figuren“ und erteilte den üblichen Verdächtigen die Still-Steh-Genehmigung – allerdings an einem neuen Ort, am unteren Abschnitt der Ramblas, nahe der Kolumbusstatue.

Dort traf ich auch Fabián López, den goldenen Seemann, der mir die Geschichte erzählte – mit Schweissperlen auf der Stirn und jeder Menge Wut im Bauch. Denn am Fuße der Kolumbusstatue ist die Rambla nicht nur besonders breit, so dass kaum Touristen stehen bleiben, sondern auch besonders sonnig, so dass das Gewerbe noch schweißtreibender ist als ohnehin. Seine Einnahmen wären am neuen Standort um die Hälfte zurückgegangen,und das zur Hauptsaison, in der es doch für den Winter vorzusorgen gelte, schimpfte Fabián. Seine Vermutung: Die Stadt möchte das Geschäft mit den lebenden Statuen gern selbst übernehmen und Kostümgestaltung und Performance dem städtischen Theaterinstitut übertragen, zwecks besserer Kontrolle. Das klingt zwar nach Verschwörungstheorie; einer Stadt, die Ballspielen,im Stadtzentrum Bikini tragen und den Einkauf beim (illegalen) fliegenden Händler mit teils saftigen Geldstrafen handelt, wäre das durchaus zuzutrauen. Kann also gut sein, dass an den Ramblas mittelfristig als Kolumbus, Sant Jordi (der heilige Georg ist offizieller Schutzpatron Kataloniens) oder Pep Guardiola (der sakrosankte Ex-Barça-Trainer ist inzwischen fast so etwas wie der inoffizielle Schutzpatron Barcelonas) verkleidete Schauspielstudenten Spalier stehen. Praktischerweise könnten die dann gleich auch als Fremdenführer fungieren. Eine Münze in die Kappe werfen und schon weist der ausgestreckte Zeigefinger zur nächsten Sehenswürdigkeit.

 

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Journalismus und Technologie

Was ist wichtiger: Tempo oder Genauigkeit? In Zeiten von Twitter etc. pp. ist das eine nicht unerhebliche Frage für Medienschaffende. Aktueller Anlass, sie zu stellen, gibt die Verkündung des Urteils zur Gesundheitsreform von Präsident Barack Obama, aufgrund der am Donnerstag anscheinend die ganze Welt nach Washington geschaut hat. (Behaupten jedenfalls die Journalisten.)

Um 10:09 Uhr verschickte der Nachrichtensender CNN die folgende Meldung: “The Supreme Court has struck down the individual mandate for health care – the legislation that requires all to have health insurance.”

Das war schnell, aber leider falsch, und beruhte auf einer falschen Auslegung des dicken Urteils. Neun Minuten später folgte deshalb die Korrektur: “The Supreme Court back all parts of President Obamas signature health care law, including the individual mandate that requires all to have health insurance.” Autsch. 

Besonders peinlich an diesem Fehlgriff, der übrigens auch Konkurrent Fox News unterlief: CNN täuschte selbst Präsident Obama, der die atemlose TV-Berichterstattung vom Oval Office im Weißen Haus aus verfolgte. Autsch.

 

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Ab in die Tiefe

Fußball hin, Halbfinale her – gestern fand ein großes Jubiläum statt. Ein Gedenktag, damit die wahren Heldentaten der Menschheit nicht in Vergessenheit geraten. Denn vor einem Vierteljahrhundert erschütterte ein Schrei Europa, der noch immer nachhallt. Erstmals stürzte sich ein Bungy-Springer vom Eiffelturm.
Der da am Seil baumelte, war AJ (kurz für „Alan John“) Hackett. Der gut abgehangene Tausendsassa ist für Neuseeland und den Extremsport das, was Reinhold Messner für Tirol und die Yeti-Jagd ist: eine Ikone , von übermäßiger Adrenalinausschüttung gezeichnet. Testosteronbrüder im Geiste: Den einen zog’s in die Höhe, den anderen in die Tiefe.
Hackett, der antipodische Pionier des kommerzialisierten Wahnsinns, hatte sich von Südseeinsulanern in Vanuatu inspirieren lassen, die an Lianen gebunden von wackeligen Türmen springen. Zum Glück hielt er sich von einer anderen vanuatischen Tradition, dem berauschenden Kava-Trinken, fern. Sonst hätte Hackett seitdem den Extremsport Kaving exzessiv betrieben und nur breit in der pazifischen Sonne gelegen. Was er mittlerweile hoffentlich tut, denn der Bungy-Mann hat längst ausgesorgt.
Was AJ Hacket und seine Mannen für den großen Eiffelsprung am 26. Juni 1987 ausheckten, stellt „Ocean’s 11“ an Konspiration in den Schatten. Wochenlang hatte die Bungy-Crew den Turm ausspioniert, Kameras platziert und die Ausrüstung nach oben geschmuggelt. Im Morgengrauen ließ sich Hackett dann verknoten. Die exakte Länge des Seils war mit Angelschnur gemessen worden. Als die Sonne über Paris aufging und die Polizei am Boden mitbekam, was vor sich ging, spazierte AJ in die Luft. „Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein verdammt großer Sprung für den Abenteuertourismus“, beschreibt er es flott in seinen eigenen Worten. „Jeden Tag soll man sich daran erinnern, das man noch lebt.“
Wir wissen alle, was dann passierte. Auf jeder Kirmes im Rheinland, auf jedem besseren Parkplatz zwischen Polarkreis und Dubai stand fortan ein Kran mit Gummiseil. Es wurde gesprungen und geschrien und gebaumelt, selbst aus Hubschraubern, dass es eine Zumutung war, von all den Zerrungen ganz zu schweigen. Total überteuerter Schwachsinn, natürlich – aber ach so geil, wenn man es denn doch tat. Ich bekam einen Freisprung vom Fernsehturm in Hamburg geschenkt und überwand mich in einem Anflug von Todesmut und Angeberei. Von sowas zehrt man im Alter, wenn man es nicht mal vom Fünfmeterbrett geschafft hat.
Das ist alles lange vorbei, aber nicht in Queenstown auf der Südinsel Neuseelands: Von dort aus hat das AJ Hackett Imperium die Welt erobert. Einen Bungy-Tempel haben sie dort errichtet, mit wummernden Beats und athletischem Personal. Noch immer wird dort von der Brücke über der Kawarau-Schlucht im Minutentakt gesprungen, als gäbe es keine Schwerkraft. Unten im Fluß liegen viele Schlüsselbunde, aus all den Hosentaschen. Wenn vorbeifahrende Touristen glotzen, karambolieren sie oft in ihren Wohnmobilen und erinnern sich daran, dass man noch lebt.

 

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“Ich weiß, was ein Publikum braucht”

Bomm, bomm, bomm … hallt es bei den Spielen der spanischen Nationalelf durchs Stadion. “Manolo – el del Bombo” trommelt wieder. Vor ein paar Jahren hatte ich die Gelegenheit den heute 63-Jahre alten, bekanntesten Fan der “Roja” zu interviewen. Ein kleines Schmankerl in diesen Fußball verrückten Tagen.

Wie kamen Sie zur Trommel?

Ich stamme aus Aragón, und da ist die Trommel ein weitverbreitetes Instrument. Vor 28 Jahren fing ich an, bei Regionalklubs in meiner Heimatregion zu trommeln. Dann begann ich bei Real Zaragoza, einem Klub aus der ersten Liga. Schließlich landete ich bei der Nationalmannschaft. Seither reise ich durch die Weltgeschichte.

Verlangt das große Opfer?

Ich habe für den Fußball alles aufgegeben, meine Familie, mein Geschäft. Die kleine Bar gegenüber dem Stadion in Valencia ist das einzige, was mir geblieben ist. Wenn ich unterwegs bin, mache ich den Laden dicht.

Alles für den Fußball?

Ja. Denn bei der Trommelei merkte ich sehr schnell, daß mich das Publikum mag, und zwar überall auf der Welt. Das Publikum genießt es richtig, wenn ich trommle, und ich genieße es auch. Meine Familie wollte da einfach nicht mitziehen, und so haben wir beschlossen, uns zu trennen.

Mit der Trommel kann man in Ihrer Heimat ganz unterschiedliche Gefühle ausdrücken: Trauer am Karfreitag, aber auch Freude auf den Dorffesten. Hat Manolo auch verschiedene Rhythmen?

Je nachdem, wie das Spiel läuft, trommle ich verschieden. Ich laufe immer den Fanblock auf und ab. Dabei merke ich sehr schnell, was das Publikum braucht.

Haben Sie wegen der Trommel nie Probleme bekommen?

Doch. Einmal in Italien wollten die mich erst nicht ins Stadion lassen, aber das ist schon lange her. Jetzt kennt mich ja alle Welt.

Spielen Sie noch immer auf Ihrer ersten Trommel?

Nein, ich habe schon viele verbraucht. Und eine Trommel ist auf einem Rückflug von Costa Rica nach Madrid spurlos verschwunden. Ich bin dann extra noch einmal nach Costa Rica geflogen, aber es hat alles nichts genutzt.

Dann haben Sie also keine so enge Beziehung zu Ihrem Instrument wie zum Beispiel die Flamenco-Gitarristen?

Nein. Das einzige, worauf es ankommt, ist der Durchmesser von 75 Zentimetern – wegen der Tonhöhe und der Lautstärke.

Wenn Manolo el del Bombo ins Rentenalter kommt, was dann?

Ich mach’ weiter, solange es dem Publikum gefällt.

 

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Der «Fighting Sioux» entschwebt in die ewigen Jagdgründe

Zu einer der großen Überraschungen meines Korrespondentendaseins in den USA gehört, wie wenig sich Leserinnen und Leser (oder Redakteurinnen und Redakteure) für Indianer-Geschichten interessieren. Ich dachte immer, dass Berichte über das Leben der amerikanischen Ureinwohner in meiner Heimat auf besonders offene Ohren stoßen – obwohl ich in meiner Jugend nun wirklich kein Winnetou-Leser war.

Diese Geschichte beispielsweise: Kürzlich hat der konservative Bundesstaat North Dakota in einer Volksabstimmung entschieden, dass die staatliche Universität den Übernamen «Fighting Sioux» in den Ruhestand schicken darf. Dieser Übername, der vor allem bei Sportveranstaltungen der Universitätsmannschaften eingesetzt wurde, hatte angeblich Anspielungen auf die Widerstandskraft der Indianer geweckt. Solche (späte) Verbeugungen vor den «Native Americans  sind aber heutzutage verpönt. Nur wenige Sportteams – die Redskins in der NFL (Football) beispielsweise, oder die Cleveland Indians in der MLB (Baseball) – halten noch an ihnen fest. Die Vereinigung der College-Sportorganisationen NCAA hingegen hat einen Bann verhängt: Wer an seinem Indianer-Maskottchen oder -Übernamen festhalten will, der wird im Gegenzug von den nationalen Sportwettbewerben verbannt. Da dies finanzielle Folgen hätte, befolgen fast alle Unis den Ukas der NCAA.

So weit, so gut. Die Geschichte in North Dakota – dem derzeit wirtschaftlich erfolgreichsten US-Bundessstaat übrigens – besitzt aber noch einen zusätzlichen Dreh. Der Stamm der Spirit Lake, ein Zweig der Sioux-Indianer, sprach sich nämlich ausdrücklich für die Beibehaltung des Übernamens aus. Und auch aus einem anderen lokalen Stamm waren positive Stimmen zu hören.

Eine spannende Geschichte, finde ich. Sie zeigt, wie stark sich die Beziehungen zwischen Einwanderern und Ureinwohnern verändert haben – und wie komplex sie immer noch sind, angesichts der wirtschaftlich desolaten Verhältnisse in vielen Indianer-Reservaten. Aber eben: Platz hat eine solche Geschichte derzeit in deutschsprachigen Tageszeitungen nicht. Ob es wohl daran liegt, dass die Winnetou-Fans langsam aussterben?

 

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Südafrikanischer (not so) Small Talk

„Glauben Sie auch, dass Jesus bald zurückkehrt?“ Vollkommen entgeistert schaue ich von dem Formular auf, in das ich gerade meine Adresse und Telefonnummer eintrage. Wie bitte? Doch die Frau auf der anderen Seite des Verkaufstresens lächelt nur freundlich zurück. Für sie scheint es ganz normal, eine Kundin, die gerade einmal vor 5 Minuten den Laden betreten hat, nach ihrer religiösen Überzeugung zu fragen. Meine Sprachlosigkeit nutzt sie aus, um mir lang und breit zu erklären, warum alles für die Rückkehr ihres Erlösers spricht.

Auch mein Automechaniker verwickelt mich nach der kurzen Unterhaltung über die Ergebnisse der Inspektion in ein langes Gespräch über Glaubensfragen. Ein auffälliger Blick auf die Uhr, alle Versuche seinen Monolog höflich zu beenden und wieder auf mein Auto zu sprechen zu kommen, ignoriert er einfach. Sein Thema ist nicht Jesus’ Rückkehr, sondern die heilende Wirkung der Meditation. Zum Abschied, nach einer gefühlten Ewigkeit, bekomme ich nicht nur die Rechnung mit auf den Heimweg, sondern auch ein Bild seines Gurus.

Südafrikaner reden gern über Religion. Auch mit Wildfremden. Dabei zeigen sie häufig einen, für mich immer wieder überraschend direkten, missionarischen Eifer. Was in Deutschland als Eindringen in die Privatsphäre empfunden würde, gehört am Kap zum erweiterten Small Talk. Und so kann man nie wissen, wie ein Gespräch nach dem ebenso obligatorischen wie harmlosen „How are you?“ endet.

 

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Rausschmiss aus dem Euro

Busfahren in Athen macht wieder Spaß. Nicht nur weil der Verkehr so ruhig dahinplätschert wie in einer bayerischen Kleinstadt, seit so viele Menschen ihre Autos wegen der Krise verkauft oder abgemeldet haben. Nein, was mich freut, ist, dass ich endlich wieder hoffnungsvolle Gesichter sehe. Glänzende Augen, stolze Mienen. Heute Morgen zum Beispiel: „Zwei zu eins“, sagt ein ansonsten eher unscheinbarer kleiner Herr und blickt fordernd in die Runde. Zufriedenes Nicken. „Drei zu zwei“ setzt sein Nachbar drauf. Das war gewagt, kommt aber gut an. Die Europameisterschaft. Deutschland gegen Griechenland. Aus griechischer Sicht das Spiel der Saison, des Jahrzehnts, des Jahrhunderts. Der Bus legt sich in die Kurve. „Wir kicken sie aus dem Euro“, trumpft der kleine, eher unscheinbare, auf. Breite Zustimmung. „Euro“ bezeichnet auf griechisch sowohl die gemeinsame Währung als auch die Europameisterschaft. Die Aussprache ist zwar nicht identisch, aber wen kümmert das schon. Die Griechen wittern ihre historische Chance, da ist man nicht kleinlich. Sie seien faul, mussten sie sich die letzten zwei Jahre anhören, sie seien nicht nur pleite sondern auch tief in Schuld verstrickt und könnten Absolution nur erlangen, wenn sie ihre Inseln verkauften oder besser gleich die Akropolis. Die Griechen revanchierten sich mit Fotomontagen, die Angela Merkel in Naziuniform zeigten. Half alles nichts. Die Staatsverschuldung stieg, die Simmung sank. Zuletzt in den Keller. Nun aber geht es aufwärts. „Am Freitag zeigen wir es den Deutschen“, hakt der eher unscheinbare kleine Herr im Bus nach. Jemand anders hat eine bessere Idee. Bombensicher sei sie: Man sollte auf eine haushohe Niederlage der eigenen Mannschaft wetten, die Deutschen gewinnen lassen – und Griechenland mit dem Wettgewinn freikaufen.

 

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Die EM in Australien

Ob wir “hier unten” (gemeint ist Australien) denn auch im EM-Fieber sind? werde ich dieser Tage häufig gefragt. Manche sind vorsichtiger und fragen: “Bekommt ihr von diesem Weltereignis viel mit?”
Auf beide Fragen antworte ich hier stellvertretend mit zwei Bildern, die ja bekanntlich mehr sagen als viele Worte. Oben Seite 10 aus der Sportbeilage vom Sydney Morning Herald von heute, 18. Juni 2012. Oben Damenhandball, dazwischen ein bisschen Cricket und, ja genau ganz unten rechts die Ergebnisse der European Championship im Football. (Genauer: es sind die Ergebnisse vom letzten Freitag und  Vortagen…). Naja, sagen Sie jetzt, wer braucht Ergebnisse, wenn er die Spiele ansieht? (Und jetzt jammert bloß nicht wieder über Zeitverschiebung und unchristliche Sendeplätze, denn die habt ihr euch selbst zuzuschreiben).
Auch dazu ein kurze Klarstellung: Niemand hier unten sieht die Spiele. Auf jeden Fall nicht in mir bekannten Fernsehsendern. Nicht zu komischen Uhrzeiten oder am nächsten Tag als Aufzeichnung, nein, das australische Fernsehen zeigte die Vorrunden-Spiele in diesem Jahr überhaupt mal gar nicht. Mag sein, dass sie auf irgendeiner teuren Bezahl-Station von Rupert Murdoch laufen. Aber Menschen mit normalem Fernsehkabel sehen den Fussball nicht. Nicht die Deutschen oder die Dänen oder die Griechen. Ja wir können Highlights auf Youtube angucken. Und sehen wie Jogi Löw einem Balljungen das Runde aus dem winkligen Arm stösst. Macht das Spass? Hm, Nein. Ach ja, Sie hatten gefragt, ob hier unten irgend jemanden die Europameisterschaft interessiert. Die Antwort ist: Njet, No, Nicht Die Bohne.

 

 

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Invasion der Maori-Mücken

Dass vom Erzfeind am anderen Ufer der tasmanischen See – also Australien – nur Schlechtes kommt, ist für einen Neuseeländer so selbstverständlich, wie dass die Sonne mittags hoch im Norden steht. Ein Naturgesetz quasi. Und die Natur ist es, die wir hier im schönen Aotearoa besonders schätzen und schützen, auch wenn nicht alles so rein und „100% pur“ ist, wie es die Tourismuswerbung vorbetet.
Aber an unseren knackigen Äpfeln zum Beispiel hängt nicht nur unser Herz, sondern auch die Wirtschaft: Wir exportieren pro Jahr Obst und Gemüse im Wert von über einer Milliarde Euro. Daher ist mit uns nicht zu spaßen, wenn das finstere Reich der Känguruhs (kurz: Oz), in dem es ja von giftigen Viechern nur so wimmelt und auch die Eingeborenen nicht viel zu lachen haben, uns eine Agrar-Pest beschert. Die letzte Attacke der Australier hat das halbe Land in Alarmbereitschaft versetzt: In Auckland wurde eine Fruchtfliege aus Queensland geortet.
Was dann auf dem Markt von Avondale passierte, stellte den spektakulären FBI-Helikoptereinsatz bei der Verhaftung des Megaupload-Millionärs Kim Dotcom in den Schatten. 30 Beamte patroullierten zwischen Gemüsekisten. 388 Fliegenfallen wurden rund um die Stelle platziert, wo die eingeschleuste Fruchtfliege ihre Invasion gestartet hatte. 200 Bio-Mülltonnen wurden aufgestellt, um gezielt verdächtige Obstabfälle abzufangen. Überreifes wurde auf Larven getestet.
Erst nach zwei Wochen wurde Entwarnung gegeben. Niemand musste diesmal evakuiert werden, so wie vor acht Jahren, als wegen der gemeingefährlichen Apfelmotte ganze Landstriche aus der Luft mit Pestiziden besprüht wurden. Nein, wir können uns wieder ganz sicher in unserem hart verteidigten Ökosystem fühlen, uns bequem im Fernsehsessel zurücklehnen und uns jede Woche genüßlich angucken, wie wir‘s den verdammten Ozzies heimgezahlt haben.
‚The GC‘ heißt die Rache der Kiwis. Das ist eine neue Reality-Soap und spielt an der ‚GC‘, also der Gold Coast – jene berüchtigte Ferienküste voller Vergügungsparks und schlechter Bars, gegen die der Ballermann wie Worpswede wirkt. Die seltene Spezies aus Neuseeland, die die Australier dort ertragen müssen, sind junge Maori. 130.000 von ihnen suchen südlich von Brisbane das schnelle Glück. Die Kamera begleitet Tame, Nate, Rosie und wie sie nicht alle heißen – ‚Möchtegern-Model‘, ‚angehender Rapper‘,‚Investor‘, ‚besorgte Mitbewohnerin‘ – bei ihren Streifzügen durchs Nachtleben, ins Tattoo-Studio, beim Fotoshooting und Friseur. Hanteln und Haarverlängerungen spielen tragende Rollen. Es wird viel gezofft, Sonnencreme aufgetragen und zerbrochenes Glas weggekehrt, immerhin.
Alle Protagonisten werden mit ihrer Herkunft vorgestellt, die meisten ‚Bros‘ sind vom Stamme ‚Ngati Porou‘. Daheim nennt man sie jedoch lieber ‚Ngati Skippy‘, so wie das Buschkänguruh, weil sie einfach „nach drüben“ gehüpft sind. An der Gold Coast haben die Kiwi-Prolls auch einen Namen: Mozzies, weil ‚Maori-Ozzies‘. Mozzie bedeutet Mücke. Die Invasion ist gelungen.

 

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Reich und Arm am Sunset Boulevard

“Während ich hier mit Ihnen sitze mache ich vermutlich 1500 Dollar mit dem Grundstück, das mein Großvater vor 70 Jahren für 1500 Dollar gekauft hat!” Der Mann, der das sagte ist Robert Anderson, Urenkel der ersten Managerin des Beverly Hills Hotels. Für ein Interview zu dessen hundertsten Geburtstag hat er mich in die Polo Lounge eingeladen, erzählt von großen Hollywood-Deals, die hier heute abgeschlossen werden, von Elizabeth Taylor, die in Bungalows des Hotels sechs von acht Flitterwochen verbrachte und von Marlene Dietrich, die an der Bar der Polo Lounge Hotelregeln brach: niemand konnte der deutschen Diva verbieten, Hosen zu tragen!

 

Am meisten beeindruckte mich allerdings die Geschichte von Andersons Urgroßmutter, der Gründerin des Hotelbetriebs.Margaret Anderson setzte in einer Zeit als Frauen noch nicht wählen konnten und Beverly Hills aus Feldwegen und Bohnenfeldern bestand auf Luxus. Die alleinstehende Mutter von zwei Kindern führte das Hotel zum Riesenerfolg. Ihr Sohn kaufte wenig später Immobilien in der aufstrebenden Stadt, unter anderem am Sunset Boulevard und dem heutigen Rodeo Drive. Daher das nette Einkommen von Margarets Urenkel Robert.

Nur wenige Tage nach meinem Mittagessen im Beverly Hills Hotel war ich einige Kilometer entfernt wieder am Sunset Boulevard, genauer gesagt an seinem Ostende, wo er Cesar Chavez Avenue heisst, benannt nach dem großen Kämpfer für Rechte der Landarbeiter in den USA. Im ältesten Viertel von Los Angeles, der heutigen Olvera Street traf ich den Nachkommen einer ganz anderen Familie:

Mike Mariscals Urgroßvater mietete einen der ersten Läden für mexikanische Souvenirs in der Fussgängerzone, die Touristen ins Pueblo anziehen sollte. Das Geschäft blieb in der Hand der selben Familie. Mike und seine Frau Rosa setzen sich von der Konkurrenz durch Poster, Postkarten, handbemalte Totenköpfe und handgeschnitzte Skulpturen von lokalen Künstlern ab. Die meisten Kunden sind Touristen ohne Blick für die Kunst. Sie kaufen Sombreros und Ponchos aus Massenproduktion. “Es ist schwer für uns, die Rechnungen zu bezahlen,” erzählt Mike. Die Häuser hier gehören der Stadt. Die hat vor einem Jahr angesichts von roten Haushaltszahlen die Miete um 300 Prozent erhöht.
Das Treffen dieser zwei Männer, die in vierter Generation an der selben Straße in Los Angeles wohnen, hat mir viel über die Geschichte der Stadt erzählt. Entscheidungen ihrer Urgroßeltern haben Los Angeles genauso wie die Leben von Robert Anderson und Mike Mariscal  geprägt. Ihre Geschichten könnten kaum unterschiedlicher sein.

 

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Mama Merkel

Meine Nachbarin begrüßt mich seit ein paar Tagen mit “Hallo Angela”. Der Grund: Dank der unvermeidlichen lautverstärkenden Funktion des spanischen Lichthofes bekommt die gesamte Nachbarschaft mit, wie ich versuche, ein Krabbelkind am Chaos stiften zu hindern. Und, leider, ähnelt meine Strategie der der deutschen Bundeskanzlerin: permanentes Nein sagen. Angela sagt Nein zu Euro-Bonds. Ich sage Nein zum Mülltonne ausräumen. Angela sagt: Nein, prinzipiell keine Abkehr vom Sparkurs. Ich sage: Nein, nicht das Handy ins Klo werfen. Der Unterschied: Merkels Wort hat Gewicht, meins nicht.

Tatsächlich ist die Frau im Krisen-Spanien omnipräsent. Kein Titelblatt, von dem nicht ihr Name prangt. Keine Nachrichtensendung, die ohne sie auskommt. In den Redaktionen stehen Spezialisten bereit, die jede neue Wendung deutscher Euro-Politik analysieren und kommentieren. Manchmal hat man den Eindruck, dass spanische Politik nicht in Madrid, sondern in Berlin gemacht wird.

Kein Wunder, dass inzwischen die ersten Ermüdungserscheinungen auftreten. Kein Wunder, dass das inzwischen zu erheblichen Ermüdungserscheinungen führt. Er leide unter „Ale-manía“, unter Deutschland-Manie, bekannte der Kolumnist Suso de Toro kürzlich in der katalanischen Zeitung La Vanguardia: Seine einstige Bewunderung für das Land verwandle sich langsam in eine Phobie.

Er ist nicht der einzige, der gegen Mama Merkel aufmüpft. Die Gratis-Zeitung Qué versucht es auf die Ätsch-Bätsch-Tour: „Merkel, Berlin hat keinen Strand“ titelte sie triumphierend über ein idyllisches Strandfoto. Die Rückbesinnung auf touristische Primärtugenden kommt nicht von ungefähr: Das Vertrauen in das Finanzsystem (Bankia steht vor dem Bankrott und unter dem Verdacht Bilanzen gefälscht zu haben), die Justiz (der Chef des Obersten Gerichtshofes verprasst Steuergelder auf Vergnügungsreisen und wundert sich über die Empörung) und die Politik (Amnestie für Steuersünder, Steuererhöhung für alle anderen) mag erschüttert sein, aber wenigstens aufs Wetter kann man sich verlassen. Und wem das zur Hebung des nationalen Selbstbewusstseins zu wenig ist, der hofft auf die EM.

 

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Rotschopftag

Ihr hattet alle schöne Pfingsten? Pah! Wir hatten in Neuseeland letzte Woche den Tag der Roten. Alle Jahre wieder ruft der Radiosender The Edge am 25. Mai die Parole ‚Hug a Ginga‘ aus – umarme einen Rotschopf. Denn wer obenrum feurig aussieht, hat’s schwer. Narkosärzte müssen einem stärkere Schmerzmittel geben, im Bett ist man angeblich unersättlich, und früher wurde man als Hexe verbrannt, vom Sonnenbrand ganz zu schweigen.
In England wurde vor fünf Jahren eine rothaarige Familie aus ihrem Haus geekelt, und die größte Samenbank der Welt nimmt keine Gaben von rothaarigen Spendern mehr an, weil die Nachfrage danach zu gering sei. Angesichts dieser Schieflage dürfen sich Rote als Randgruppe verstehen, die ihren Behindertentag braucht. Und wir anderen müssen die Karottenköpfe einmal im Jahr zwangsumarmen, ob sie das wollen oder nicht. Das macht die Integration in der Schule und am Arbeitsplatz sicher um vieles leichter. Der Begriff ‚Ginga‘, den ich erst dank des Plärrsenders gelernt habe, ist ja auch ungefähr so schmeichelhaft wie ‚Fettsack‘. Vielleicht sollte man den genetisch Benachteiligten direkt ein rotes Blinklicht auf den Kopf setzen? Und auch der geniale Vorschlag von ‚The Edge‘ wird die Diskriminierung sofort stoppen: In diesem Jahr sollte man am ‚Ginga-Day‘ einen freien Arbeitstag fordern – natürlich nur als ‚Ginga‘. Das Formular dazu konnte man sich runterladen.
Anfang nächster Woche steht uns dann „Queen’s Birthday“ ins Haus. Man hat frei, mehr auch nicht. Kein Kiwi, der im 20. Jahrhundert geboren wurde, würde ersthaft den Geburtstag der britischen Monarchin begehen, der übrigens im April war. Aber der erste Montag im Juni wurde einst als Feiertag von der Monarchie für den Beginn des englischen Sommers ausgerufen. Bei uns ist es jedoch Winter. Das ist alles so absurd wie die Tatsache, dass die Queen unser Oberhaupt ist, aber am anderen Ende der Welt lebt und nur alle Jubeljahre ihre Untertanen im Südpazifik besucht. Für die olle Elizabeth böllert die Regierung in Wellington am Montag brav 21 mal in die Luft. Das war’s. Lang lebe die Kolonie, äh, die Queen.
Seit langem kämpft die republikanische Bewegung Aotearoas nicht nur um eine eigene Flagge und die Unabhängigkeit von Mutter England, sondern auch darum, dass der peinliche Feiertag abgeschafft oder in Matariki umbenannt wird. Matariki ist die Neujahrszeit der Maori und feiert das Auftreten der Pleiaden am Firmament. Es geht um Wachstum und Pflanzzyklen, um Einkehr und Besinnung. In der Schule wird dazu gebastelt und gesungen. Viele Gemeinden machen ein Konzert oder garen was Herzhaftes im Hangi, dem Erdofen. Ein schönes Fest, politisch korrekt sowieso, und in seiner Bedeutung fürs Volk relevanter als die pastellfarbene Matrone im Buckingham Palast.
Dank einer neuen Feiertagsregelung kann man mit seinem Arbeitgeber regeln, statt dem Königinnengeburtstag lieber einen Matariki-Tag zu nehmen. Ja, das ist bikultureller Fortschritt. Die Blonden und Brünetten sollten das Gleiche mit dem Tag der Roten versuchen.

 

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Ende mit Schrecken für Chief Justice Corona

Die Headline des „Inquirer“, der größten philippinischen Tageszeitung, hatte heute BILD-Zeitungsniveau. Nur ein Wort prangte in riesigen Lettern auf der Titelseite: GUILTY! Darunter nahezu seitenhoch das Foto des Missetäters namens Renato C. Corona. Der ist aber keineswegs ein Massenmörder oder der Chef eines üblen Verbrechersyndikats – im Gegenteil, bis gestern war Corona der oberste Richter des Landes. Nun ist er in Schimpf und Schande seines Amtes enthoben.

Was aber hat der ehemalige höchste Jurist des philippinischen Supreme Court auf dem Kerbholz? Eigentlich nichts, was in dem notorisch korrupten Land sonst einen Skandal auslösen würde. Der 63-jährige hat bei der für Staatsbediensteten obligatorischen Offenlegung seines Vermögens die Kleinigkeit von 2,4 Mio. USD und 80 Mio. Peso unter den Tisch fallen lassen. Eine Summe, für die er einige Leben lang arbeiten müsste, um sie zu ehrlich verdienen. Keine Frage, Corona ist mit seinen geheimen Woher-sie-auch-immer-kommen-Millionen kein Einzelfall, im Gegenteil. Die Sensation ist also, dass ein so hohes Tier tatsächlich mal zur Strecke gebracht wurde.

Wie aber war das möglich in einem Land, in dem die Gesetze das Papier nicht wert sind auf dem sie stehen? Ganz einfach, Corona ist dem seit zwei Jahren amtierenden Präsidenten Benigno Aquino in herzlicher Feindschaft verbunden. Denn der höchste Jurist des Landes wurde von Aquinos Vorgängerin Gloria Macapagal Arroyo in einer „Mitternachtsberufung“ zum Chief Justice erklärt, als die Frau eigentlich schon nichts mehr zu melden hatte. Damit hatte Arroyo einen loyalen Freund an der Spitze des Supreme Court – der perfekte Schutz vor der erwarteten Aufarbeitung ihrer skandalträchtigen neunjährigen Amtszeit. In der Tat hätte Corona es fast geschafft, Arroyo die als notwendiger Arztbesuch getarnte Flucht ins Ausland zu ermöglichen. Erst in letzter Minute wurde die des Wahlbetruges und der illegalen Bereicherung Angeklagte am Flughafen abgefangen und verhaftet. Eine Kriegserklärung an Präsident Aquino, der vor seiner Wahl versprochen hatte, mit der Korruption aufzuräumen und Arroyo zur Rechenschaft zu ziehen.

Es braucht also nicht viel Fantasie, um sich auszurechnen, wer dafür sorgte, dass ausgerechnet Corona auf der Anklagebank landete. Keine Frage, das Amtsenthebungsverfahren gegen den obersten Juristen war auch ein politisch motivierter Prozess. Es war aber vor allem ein dringend notwendiges Signal, dass eben nicht mehr jeder in diesem Staat in die eigene Tasche wirtschaften kann und ungestraft davonkommt. Zumal nicht, wenn es der oberste Rechtsprecher des Landes ist. So argumentierten die Befürworter des Amtsenthebungsverfahrens und dieser Sicht schlossen sich gestern 20 von 23 Senatoren an und plädierten auf „guilty“.

Man muss kein Prophet sein, um zu ahnen, wem die nächste fette „Guilty“-Schlagzeile gehören wird. Gloria Macapagal Arroyo, der kleinen Frau mit dem großen Ego, dürfte es seit gestern sehr mulmig zumute sein.

 

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Vivid Sydney – wie Disneyland, nur nachts & bunter

Australien ist ja mehr als Sommerland bekannt. Aber im kühleren Süden des Kontinents gibt es auch einen Winter, den Südhalbkugelwinter. Auch wenn das (vor allem deutsche) Reiseführer gerne ignorieren. Damit Besucher, die trotzdem nach Sydney kommen nicht traurig sind und Einheimische sich nicht sofapupend zu Winterschläfern entwickeln, gibt die Stadt sich im Mai/Juni immer besonders bunt Mühe: Mit Vivid Sydney einem Spektakel, das abends alles irre bunt macht, eine Lightschow auf Gebäuden, ein bisschen Disneyland aber auch wirklich nett. Mir haben’s vor allem die water ghosts angetan, Geister aus Licht, die im Hafen schwimmen. Und natürlich macht das Opernhaus was her, es wird angeleuchtet von urbanscreen aus Bremen, klar da oben kennt man sich mit langen Dunkelphasen aus.  Grund Genug auf jeden Fall hin und wieder hinterm Öfchen vorzuklettern und eine Runde durch die City zu drehen. Oder über die Filmseite zu klicken. Die bewegten Bilder  sind zwar im Zeitraffer und leicht Schwindel erregend, aber schön bunt.

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Krisenalltag

Die Krise schlägt den Spaniern auf den Magen. Die alte Hausfrauenkost ist plötzlich wieder in. Schluss mit feiner exotischer Küche, die in Spanien schon auf der anderen Seite der Pyrenäen beginnt. “El garbanzo”, die Kichererbse, und die Kroketten sind zurück. Die Presse würdigt diesen Wandel: Ein der großen Tageszeitungen, El Mundo, widmete der schwerverdaulichen Hülsenfrucht aus der die Spanier ihren berühmten Eintopf, “el cocido”, und andere deftige Gerichte fabrizieren, ein ganzes Sonntagsmagazin. Auch andere Hülsenfrüchte, wie Linsen und Bohnen finden wieder immer öfter den Weg auf den Tisch. Und die kostenlos verteilte 20minutos veröffentlichte eine Ode auf die Kroketten.

Die spanischen “croquetas” sind nicht mit den fritierten französischen oder deutschen Kartoffelpureebällchen zu verwechseln. Sie haben die gleiche Form sind allerdings wesentlich größer und werden aus einer dicken Bechamelmasse gemacht, die ihren Geschmack durch zuvor völlig ausgekochtem Hühnerfleisch, Gambas oder ganz einfach Reste des Bratens vom Vortag erhalten. Wo Schmalhans Küchenmeister ist, büßt allerdings der Geschmack. Denn in Zeiten der Krise verbannen viele Spanier das so gesunde und aromatische Olivenöl und ersetzten es durch … richtig befürchtet … durch Sonnenblumenöl.Von den sich wandelnden Essgewohnheiten wissen auch die Müllmänner zu berichten. Die Tonnen wiegen knapp ein Zehntel weniger als vor der Krise. Denn je einfacher die Produkte, umso weniger Verpackungsmüll fällt an.Auch die Wohnungseinrichtung leidet. Eines der unnötigsten Haushaltsgeräte hat Absatzprobleme. Es werden 40 Prozent weniger Wäschetrockner verkauft. Die Spanier erinnern sich plötzlich wieder an die gute alte Wäscheleine. Da es selten regnet und die Temperaturen fast das ganze Jahr über ihren Dienst tun, kommt die Wäsche wieder auf den Hinterhof. Vorbei sind die modernen Zeiten, in denen unnötig Strom verbraucht wurde.

Auch die Krankenhäuser haben plötzlich weniger zu tun. Wie bereits in den USA beobachtet, gehen jetzt auch in Spanien die Verkehrsunfälle zurück. Die Krise erreicht das, was weder durch ständig härtere Strafen und noch durch ein Punktesystem beim Führerschein gelang. Die Spanier fahren weniger und vor allem langsamer. Denn der Sprit ist teuer. Der Benzin- und Dieselkonsum geht deutlich zurück und es werden kaum noch Neuwagen verkauft.

Auch das Zwischenmenschliche scheint sich dank der Krise zu verändern. Immer weniger Paare lassen sich scheiden. Und das obwohl erst 2007 ein neues, schnelleres Scheidungsverfahren eingeführt wurde. Doch in Zeiten, in denen die Arbeitslosigkeit auf Rekordquoten steigt, ist eine Wohnung schon fast unbezahlbar, ganz zu schweigen von zweien. Als wäre dies nicht schon Strafe genug, muss das zerrüttete Paar jetzt auch noch enger zusammenrücken. Mehr als ein Fünftel der Kids, die sich mühsam von Mama und Papa emanzipiert hatten, kehren nach Hause zurück.

Nur ein Produkt erfreut sich eines ständig steigenden Absatzes: Der Lippenstift. Damit soll wohl die die Frustration übermalt werden. Und so manche möchte mit einem schönen Rot auch ihren Arbeitsplatzes sichern. Denn eine Statistik zeigt, dass attraktive Frauen leichter Arbeit finden bzw. später gekündigt werden, als ihre weniger hübschen Geschlechtsgenossinnen.

 

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Von Adam und Eva

In Manila braucht es nicht viel, um die devoten katholischen Gemüter zu erregen. Die Philippinen sind seit der mehr als 300 Jahre währenden Herrschaft der Spanier das einzige Land Südostasiens, in dem der Katholizismus die bestimmende Religion ist. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung bekennen sich dazu. Der Glaube bestimmt ihren Alltag, ihr Leben. Was die alten Herren in der Bischofskonferenz sagen, ist für die Massen Gesetz. Deswegen gelten Pille oder Kondome auch als Teufelszeug, Abtreibung wird mit Mord gleichgesetzt. Die Folge ist eine fatal hohe Geburtenrate (und eine beschämend hohe Mütter- und Säuglingssterblichkeit, zu der die Geistlichen nichts zu sagen haben), die dem armen Land eine nicht zu verkraftende Bevölkerungsexplosion aufbürdet.

Aber ich komme ein wenig vom Thema ab. Denn eigentlich wollte ich über Adam und Eva schreiben. Denn, so lernt jedes Christenkind, von den beiden stammen wir ab. Nun gibt es aber ein brandneues Museum in Manila (was in der an Kulturinstitutionen armen Millionenmetropole für mich die eigentliche Sensation ist), in dem es frevelhaft zugeht.

Die Köpfe, die hinter dem „Mind Museum“ stecken, so glaubt die katholische Kirche, sind wohl von allen guten Geistern verlassen. In dem futuristischen Bau in Manilas Boomzentrum Bonifacio Global City geht es um Wissenschaft, um das Universum, um Atome, um Lebensräume – und um  Evolution. Jene Lehre also, nach der der Mensch vom Affen abstammt. Für viele Einheimische, so erzählte die Kuratorin Maria Isabel Garcia neulich einem ausländischen Fernsehteam, sei diese Gedankenwelt völlig fremd, für manche schlicht ein Sakrileg. „Für einige unserer Besucher ist unsere Ausstellung zweifelsohne eine Herausforderung.“

Gestern habe ich mir das Corpus Delicti mal selber angesehen. O weia, da stehen unsere Vorfahren nackt und behaart oder mit Fellen behängt in Lebensgröße mitten im Raum. Skandalös, oder? Statt Adam und Eva im Garten Eden Lendenschurzträger mit einer Steinaxt und grimmigem Blick. Die erwachsenen Besucher scharrten sich gestern kichernd wie kleine Kinder, die nicht bei einem dummen Streich erwischt werden wollen, um Lucy, Neanderthaler & Co und lichteten sich gegenseitig ab.

The hominid exhibit at Manila's new science and natural history museum: "It is a big challenge to educate the public about evolution, but it's not that our people are so unaccepting," said Maria Isabel Garcia, curator of The Mind Museum.

Aber wem schenken sie nun Glauben, der modernen Wissenschaft oder dem Buch Moses? Garcia lacht und meint: „Ich will ja keinen bekehren. Aber was ich immer wieder beobachte, ist, dass viele Besucher verwundert darüber sind, dass an der Evolutionslehre etwas dran ist, dass sie Sinn macht.“ An der Macht der katholischen Kirche wird diese aufrüttelnde Erkenntnis sicher nichts ändern. Wahrscheinlich haben die Bischöfe das frevlerische Treiben der „Mind Mover“ (so nennt sich das Team des Museum) deshalb bisher noch nicht unterbunden. Denn das wäre für die einflussreichen Vertreter Gottes ein leichtes, kann auf den Philippinen doch kein bei der Kirche in Ungnade gefallener Politiker auf seine Wiederwahl hoffen.

 

 

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Besuch beim Militär

Mit der US-Army verbindet mich eigentlich gar nichts. Doch als ich  erfuhr, dass es möglich ist, in die Herzkammer der nationalen Verteidigung vorzudringen, ging ich mit. Es war keine Tour für Journalisten: Die Militärakademie West Point lädt jeden zur Besichtigung ein, der gewillt ist, 13 Dollar zu zahlen. Die Formalitäten waren, gemessen an den Sicherheitskontrollen eines durchschnittlichen New Yorker Bürogebäudes, geradezu lächerlich: Ein Wachmann warf einen kurzen Blick auf meinen Personalausweis.

Dabei gibt West Point ein perfektes Feindbild für Antiimperialisten. Jährlich treten in der Ausbildungsstätte 80 Kilometer nördlich von New York rund 1300 Kadetten an und lassen sich für Führungspositionen des US-Militärs ausbilden. Gleichzeitig studieren sie Geschichte, Wirtschaft oder Ingenieurwesen. Die Ausbildung dauert vier Jahre und ist, anders als die meisten Universitäten, kostenfrei. Im Gegenzug verpflichten sich die jungen Männer und Frauen – letztere stellen rund 15 Prozent der Kadetten – zu einer mehrjährigen Karriere bei der Army. Für die meisten Deutschen wäre das wohl nicht sehr attraktiv, doch die US-Kaderschmiede ist überlaufen: Auf einen Platz kommen fast zehn Bewerbungen. Und schon das Bewerben ist gar nicht so leicht, denn man braucht eine Empfehlung eines Kongressabgeordneten oder des US-Vizepräsidenten.

Gegründet wurde die Akademie bereits 1802. Die düsteren, wie eine neugotische Trutzburg gestalteten Hauptgebäude wurden allerdings erst hundert Jahre später gebaut. Sie stehen in einem eigenartigen Kontrast zu der lieblichen Umgebung – das Gelände liegt auf einer Anhöhe am Hudson und bietet atemberaubende Panoramen.

Das Areal ist riesig: 65 Quadratkilometer. Deshalb fuhren wir auch mit dem Bus. Erster Haltepunkt war – eine Kirche. Ein neugotischer Prachtbau, in dem jeden Sonntag ein evangelischer Gottesdienst gehalten wird. „Die Teilnahme ist nicht obligatorisch, aber die meisten kommen trotzdem“, erklärte Jane, unsere Führerin. Es gibt auf dem Gelände auch eine katholische Kirche und eine Synagoge.

Überhaupt ist West Point ein ziemlich komplettes Gemeinwesen. Nicht nur die Kadetten wohnen dort, in studentenwohnheimähnlichen Baracken (jeweils zwei teilen sich eine Stube). Auch der Akademieleiter und  Lehrkräfte sind dort untergebracht, in hübschen kleinen Villen. Besucher können im luxuriösen Thayer Hotel absteigen, für 200 Dollar die Nacht. Es gibt neben den Lehrgebäuden ein Offizierskasino mit Aussicht auf den Hudson, ausgedehnte Sportfazilitäten samt Baseballstadium, und, natürlich, einen Exzerzierplatz. Straßen, Zäune, Mauern – alles ist in tiptop in Ordnung, ein krasser Gegensatz zur zivilen Infrastruktur der Vereinigten Staaten.

Drei Mal dürften wir aus dem Bus aussteigen: bei der Kirche, an einem Denkmal mit vielen Kanonen und am Exerzierplatz. Fotografieren war ausdrücklich erlaubt. Kadetten indes sahen wir nur von Ferne und vom Bus aus. Sie trugen ausnahmslos Uniform und wirkten sehr ernsthaft. Die Wirtin unseres B&B erzählte später, dass das Pensum so anstrengend ist, dass die jungen Leute nur eines wollen, wenn sie etwa wegen Elternbesuchs Ausgang erhalten: schlafen.

Die Offenheit von West Point war mir sympathisch. Was mir nicht gefiel, waren die Texte zur Militärgeschichte im hauseigenen Museum. Zum Ausbruch des amerikanischen Bürgerkriegs fand sich ein einziger Satz: „Die Ursachen waren äußerst komplex und beinhalteten verfassungsrechtliche, ökonomische, politische und moralische Themen.“ So lässt sich der Kampf gegen die Sklaverei also auch beschreiben. So verständlich es ist, dass sich das Militär scheut, politische Positionen zu beziehen – ein Bekenntnis zu bestimmten Grundwerten erwarte ich von einer Armee in einem demokratischen Staat schon.

Zum Abschluss der Tour ging ich ins Visitor Center, das einen riesigen Souvenirladen beherbergt. Ich überlegte, ob ich eine schwarze Küchenschürze mit „Army“-Aufdruck kaufen sollte, Servietten mit „Army“-Logo oder lieber einen „Army“-Regenschirm. Am Ende entschied ich mich für Socken. In Zukunft kann mir also keiner vorwerfen, dass mich nichts mit der Army verbindet. Auch wenn ich sie, streng genommen, mit den Füßen trete.

Fotos: Christine Mattauch

 

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Piano-Konzert im Wald. Nur in der Ariège.

Die Vögel singen sich ein. Die letzten Sonnenstrahlen scheinen durch das satte Grün der Bäume auf die kleine Lichtung zwischen den beiden alten Steinhäusern. Noelle kommt uns lächelnd entgegen – sie hat Bordeneuve zum Leben erweckt und sich ihren Traum erfüllt: Ein Rückzugsort für Künstler aus aller Welt am Fuße des Schlosses Castelbon. Heute Abend eröffnet die amerikanische Pianisten Lisa Lanza, die zehn Tage in Bordeneuve zu Gast war, die Konzertsaisont. Der Beginn eines künstlerischen Sommers voller Überraschungen.

Es ist Noelle Thompsons Sieg, die Stunde ihres Triumphs, den sie sehr nachdenklich lebt. Mitunter mit Tränen in den Augen. Die Mittdreißigerin hat diesen wunderbaren Ort buchstäblich mit ihren eigenen Händen geschaffen. Jedenfalls in den letzten zwei Jahren, nach dem plötzlichen Krebstod ihres Mannes David 2009. Denn begonnen hatte David Thompson die Verwandlung einer Scheunenruine in ein aus Holz und Natursteinen gebautes Haus mit zwei großen, offenen Räumen. Nachdem Noelle den Schock seines Todes halbwegs überwunden hatte, widmete die mutige Flötistin sich wieder dem gemeinsamen Traum. Sie betonierte Böden, verlegte Fliesen, bepflanzte den Garten, kümmerte sich um jedes Detail. Kein Stein, kein Stück Holz, das nicht in ihren Händen gelegen hätte. Hände, mit denen sie sich oft den Schweiß von der Stirn wischte oder sich die blonden, wuschelig-krausen Haare raufte, wenn wieder einmal nichts wie geplant klappen wollte. Aber auch Hände, die elegant über Klaviertasten gleiten können und einer Flöte die süßesten Töne entlocken.

Lisa Lanza, eine kleine, etwas rundliche Frau mit dunklem lockigen Haar und lachenden Augen, spielt die Rolle des ersten Gastes in der Künstlerpension. Wenn auch nur kurz, denn schon nach ein paar Tagen gehört sie quasi hier her. Welch eine wunderbare Kombination! Zwei besondere Frauen, ein bemerkenswerter Ort und die Musik.

Im ersten Stock der ehemaligen Scheune sitzen rund 20 Gäste auf einfachen Holzstühlen. Durch die großen, offenen Fenster hören wir die Vögel zwitschern. Lisa trägt ein schwarzes Kleid, eine dünne schwarze Wolljacke, die von einem goldenen Schmetterling gehalten wird. Die Brosche ist ein Erbstück ihrer kürzlich verstorbenen Mutter. Einer der Gründe, warum Lisa sich 10 Tage in Bordeneuve gegönnt hat: Um sich von der Mutter zu verabschieden und sich auf eine Konzertserie in den USA vorzubereiten.

Lisas Mutter gehört zu denen, deren Anwesenheit deutlich zu spüren ist, obwohl sie für das Auge nicht sichtbar sind. „Ich freue mich sehr, heute Abend hier spielen zu dürfen“, sagt Lisa und geht mit entschlossenen Schritten auf den Steinway-Flügel zu. Liszt, Debussy und Brahms stehen auf dem Programm. „Und ich freue mich jetzt schon noch mehr auf den Rotwein und die selbstgemachten Tapas von Noelle“, flüsterte Lisa mir kurz vor Beginn des Konzerts Augen zwinkernd zu.

Die ersten Töne verzaubern die ehemalige Scheune. Noelle sitzt neben mir auf dem Holzboden in ihren hellen Shorts und weißer Bluse. Barfuß, wie meistens. Sie blickt versonnen aus dem Fenster, hält sich tapfer. Denn dass David bei uns ist, darauf weist nicht nur sein in weißer Farbe auf einen Notenständer gepinselter Name hin. Die Verstorbenen sind nicht tot, sie bleiben bei uns, solange wir es erlauben und ihnen Raum geben. Auf ganz subtile Weise ist dieser Piano-Abend, später noch von dem begabten katalanischen Cellisten Nabi Cabestany bereichert, eine Überwindung des Verlustes durch den Tod. Für Noelle und David wie für Lisa und ihre Mutter. Aber auch für die wenigen Eingeweihten, die gelegentlich feuchte Augen bekommen. Die übrigen Gäste spüren nur eine große Intensität, der weite, luftige Raum, der von dem schweren, hölzernen Dachgebälk überspannt wird, knistert vor Emotionalität.

Als Lisa und Nabi sich zum dritten Mal verneigen, verlangen die Zuhörer weitere Zugaben. Ich glaube, wir wollen alle nicht, dass der Zauber, den die beiden verbreiten – unterstützt von den Vögeln  – ein Ende findet. Lisa löst die Spannung mit einem witzigen Tango über verrückten französischen Käse. Danach will sie aber wirklich ihren Rotwein. Sie hat sich ihn mehr als verdient.

Bei Wein und exquisiten Häppchen perlen die Gespräche zwischen all diesen unterschiedlichen, sehr ungewöhnlichen Menschen, die es auf die ein oder andere Weise in die Ariège verschlagen hat, mit großer Leichtigkeit. Unterbrochen von dem ein oder anderen schallenden Lachen. Franzosen, Amerikaner, Briten, ein Israeli, eine Deutsche, eine spanische Familie – Lisa, Nabi und Noelle haben sie miteinander verbunden.

Wir tauschen Bruchstücke unserer persönlichen Geschichten aus. Und lachen über die banale Erkenntnis, wie klein die Welt ist. Es ist stockdunkel, als alle die gegangen sind, die noch eine lange Fahrt vor sich haben, um an ihre eigenen, weit entlegenen Heimatorte irgendwo in den Pyrenäen oder am anderen Ende der Ariège zu gelangen. Auch die Vögel schlafen schon. Aber der Rotwein ist noch nicht leer und ein paar Oliven glänzen verlockend in einer Tonschale. Ein paar Träume und Erfahrungen gilt es noch zu teilen.

Lisa will sich irgendwann endlich einen eigenes Grand Piano kaufen, auch wenn sie nicht weiß, wo sie es Zuhause hinstellen soll. Oder woher das Geld dafür kommen soll. Noelle weiß nicht, ob sie einer Klasse junger amerikanischer Flötisten – die nächsten Gäste – Wein zum Abendessen anbieten darf oder nicht. Legal sei das nämlich nicht, jedenfalls nicht in den USA. Und die Lehrer tränken auch nicht, wendet sie ein. Aber Südfrankreich und Noelles exzellente Küche ohne Rotwein – das geht gar nicht, entscheiden wir. Außerdem debattieren wir, ob die große, dunkle Schlange, die ich kürzlich im Gemüsegarten fand, eine giftige Viper war oder eine harmlose Blindschleiche.Und wir machen Pläne für weitere Konzerte.

Kaum zu identifizierende Tierschreie zerreissen die Stille der Nacht. Füchse. Noelle sagt, das sei normal, das seien Fuchskämpfe im Wald. Wie beruhigend. Mit einer Taschenlampe ausgestattet stapfen wir über einen dicht belaubten, kaum erkennbaren Pfad steil nach oben zum Schloss Castelbon. Dort steigen wir ins Auto und fahren in die Nacht. Immer noch verzaubert. Nur in der Ariège.

 

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Spenden vom Diktator

Das letzte Mal, als ich Sacha Baron Cohen sah, war er Brüno und ich im Paradiso. Das Paradiso ist ein winziges Kino im alternativ angehauchten Bergdorf Wanaka, tief in den Südalpen am See gelegen. Dort kann man auf alten Plüschsofas und in einem ausrangierten Morris Minor sitzen. Es gibt mitten in der Vorstellung eine Pause, dazu frische warme Kekse. Fehlt nur noch der kreisende Joint. „So sollte jedes Kino sein“, schwärmte sogar der britische Guardian. Dem kann man nicht widersprechen.
Soviel zu Brüno-Borat, an den ich also nur beste Erinnerungen habe, auch ohne Joint. Jetzt steht uns ein Wiedersehen bevor: Heute läuft ,Der Diktator‘ in Neuseeland an. Leider dauert die Fahrt bis zum Paradiso in Wanaka mindestens fünf Stunden. In Christchurch bleibt einem nur die schreckliche Westfiel Mall, ein riesiger nerv- und seelentötender Einkaufskomplex mit Plärrmusik und Plastikdeko. Seit all den schweren Erdbeben möchte man sich in solch einem Betonmonster nicht unbedingt länger als möglich aufhalten, und vorher wollte man es aus ästethischen Gründen eigentlich auch nicht. Aber im dünnen Freizeitangebot der Unglücksstadt ist selbst ein Mall-Besuch zum kulturellen Highlight geworden.
In seinem neuen Film spielt Cohen den bärtigen „Admiral General Aladeen“ – einen Nahost-Clown in Despotenkluft, der im nordafrikanischen Phantasiestaat Wadiya herrscht und Atomwaffen entwickelt. In einer Grußbotschaft, die jedem Al-Quaeda-Kommando alle Ehre machen würde, stellte der Hauptdarsteller sich vor dem Filmstart per Videoclip den neuseeländischen Zuschauern vor, flankiert von weiblichen Milizen im Minirock: „Hallo, neuseeländische Teufel!“ Sein in bester Hisbollah-Manier hervorgestoßenes Pseudo-Arabisch wird in Untertiteln übersetzt.
So erfahren wir, dass der General sich früher oft mit unserer bärbeißigen Ex-Premierministerin Helen Clark getroffen hat. „Wir pflegten eine wunderbare Beziehung, basierend auf gegenseitigem Vertrauen und Respekt, wie es nur zwei starken männlichen Führern möglich ist“. Ha! Der alte Testosteron-Witz – Cohen kennt sich inden abgelegenen Winkeln der Weltpolitik aus. Ob er auch weiß, dass Wellington damals ‚Helengrad‘ hieß?
„Heute bitte ich Euch, inne zu halten“, poltert Führer Aladeen weiter. „Stellt Euer Saufen ein, hört auf, Kiwis zu killen, um daraus leckere Früchte zu machen, und schafft diese dummen Gesetze ab, die den besten Rohstoff verbieten – Atomkraft.“ Heute sollen wir alle nur ins Kino gehen und uns ‚The Dictator‘ anschauen. „Alle Einnahmen werden in den Spendenfundus für das Erdbeben in Christchurch gehen und werden garantiert nicht verwendet, um mir einen neuen Palast in Wadiya zu bauen.“
Helen Clarks holde Weiblichkeit verhöhnen und uns alle Schluckspechte nennen? Das geht ja noch gerade. Zum Glück hat er keine sexuellen Übergriffe auf Schafe erwähnt. Aber über die größte Katastrophe im Lande spotten? Alles Satire, betonte der Filmverleih. Doch Christchurch fordert: Plündert die Kriegskasse des Diktators!

 

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Zeit zum Spielen

Vor Kurzem fuhr ich in eine trostlose Gegend im Osten von Los Angeles, machte mich zwischen Schrottplätzen und Autowerkstätten auf die Suche nach einem neunjährigen Jungen, der derzeit Kinder, Eltern, Lehrer, Künstler und überhaupt alle inspiriert, die das Video über ihn angeschaut haben. Es zeigt Caine, der in den Sommerferien im Laden seines Vaters für gebrauchte Autoteile ausgeklügelte Spiele aus Pappe, Papier, Klebeband, Schnur und ein paar anderen Utensilien baut, die im Geschäft rumliegen. Er begann mit einem Basketballspiel gebaut aus Pappe und dem Netz, das Caine in seiner Lieblingspizzeria bekommen hat. Sein Lieblingsspiel ist die Greifmaschine aus einem Haken, einer Schnur und einem oben eingeritzten Pappkarton mit Sichtfenster aus Klebeband und bunten Preisen, nach denen Kunden angeln können. Doch: in der Gegend gibt es keine Fußgänger und der Vater macht seine Geschäfte inzwischen fast ausschließlich online. Deshalb hatte Caine lange keine Kunden – abgesehen von der Sekretärin oder mitfühlenden älteren Brüdern.

Bis zu dem Tag als Filmemacher Nirvan Mullick auf der Suche nach einem Türgriff für sein altes Auto den Laden betritt. Er sieht die Spielhalle aus Pappe, fängt an zu spielen, ist an seine Kindheit erinnert und beschließt einen Kurzfilm über Caine’s Arcade zu machen. Als Nirvan hört, dass Caine keine Kunden hat schafft er einen Event auf facebook – und Dutzende kommen um zu spielen. Es wird Caines glücklichster Tag in seinem neunjährigen Leben. Nirvan filmt alles und erzählt die Geschichte in einem liebevoll produzierten Film, den er ins Internet stellt.

Damit ändert sich das Leben aller Beteiligten – Caine bekommt eine facebookseite mit inzwischen über 112 tausend Fans, wird an Unis, zur NASA und zu Unternehmerkonferenzen eingeladen. Seine Eltern haben keine Zeit mehr mit Autoteilen zu handeln und jedes Wochenende wollen Hunderte Caine

s Spiele spielen. Es gibt inzwischen zwei Stiftungen in seinem Namen. Die eine sammelt Geld damit Caine studieren kann, die andere fördert Kinder mit erfinderischem Unternehmergeist.

Caine bleibt bei alledem auf dem Teppich. Mein Interview mit ihm wurde ziemlich kurz. Caine hat keine Geduld für viele Fragen, er will sich um seine Spiele und seine Kunden kümmern!

Wie wunderbar, dass er das alles gebaut hat ohne an Geld und Erfolg zu denken und  dass sich Filmemacher Nirvan Zeit zum Spielen genommen hat!

 

 

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Der Schrei und sein Echo

60 Millionen? 80 Millionen? 100? 120? 200? 250? Dollar? Euro? Heute Nacht wissen wir es, wissen, ob die Pastell-Version von Edvard Munchs „Der Schrei“ die Taxe erreicht, überschreitet oder vielleicht gar darüber hinaus das teuerste Bild der Erde wird. 

Was viele aber nicht wissen, die Geschichte von der nun zur Versteigerung anstehenden Version von Edvard Munchs Pastell “Der Schrei” ist nicht unbedingt so glanzvoll wie es zunächst aussieht. Kurz vor Auktion habe ich einen Nachfahr von Hugo Simon in Brasilien aufgetan und für Die Welt interviewt. Er ist mit der Versteigerung nicht einverstanden, weil sein Urgroßvater – ein linker Jude – das Bild im Exil unter Zwang verkauft habe. Juristisch sieht er keine Probleme, wohl aber moralisch. Mehr dazu heute in der Welt (auch online und zwar hier) und zitiert in diversen Meldungen.

 

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Applaus für den Grillmeister!

Sollten Sie in Argentinien zum Grillen eingeladen werden:

– Auf keinen Fall ein eigenes Steak oder gar Würstchen mitbringen! Der Grillmeister (asador) kauft die Grillwaren für alle ein, beim Metzger seines Vertrauens. Die Gäste bringen Wein mit oder steuern ein paar Pesos bei.

– Finger weg vom Grill! Niemand außer dem Grillmeister darf das Fleisch wenden.

– Nicht gleich satt essen, egal wie lecker es ist! Denn: Das beste Stück kommt zuletzt! Die Speisenfolge ist streng. Zuerst gibt’s Blut- und Chorizo-Grillwürste, dann Innereien (wer’s mag…). Dann Rippchen und am Ende das Steak. Dann ist es an der Zeit, der Bewunderung für den Grillmeister Ausdruck zu verleihen: “Ein Applaus für den asador!”

Sollten Sie Vegetarier sein – keine Sorge! Selbst in einem Grillrestaurant werden Sie problemlos satt (ich esse auch so gut wie kein Fleisch):

Bestellen Sie eine provoleta – das ist ein extrem leckerer Grillkäse! Auch die typischen Beilagen sind meist fleischlos: Purée (Kartoffel oder Kürbis), Salate oder gegrilltes Gemüse.

 

 

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Am liebsten wieder de Gaulle

Les bons citoyens von Betchat haben gewählt. Mit überwältigender Mehrheit links. Das hatte ich auch nicht anders erwartet. Und doch hat auch hier Marine le Pen die Zahl der Stimmen des rechtsradikalen Front National FN im Vergleich zu 2007 fast verdoppeln können – auf 31. Das entspricht 12,55% der abgegebenen Stimmen. Direkt hinter Nicolas Sarkozy, der 37 Wähler überzeugte.

Wer also sind diese 31, die auf dieser gefährlich erscheinenden Marine-Welle schwimmen? Nur wenige geben in einer so übersichtlichen Gemeinde mit rund 290 Wahlberechtigten, wo jeder jeden kennt, gerne offen zu, FN zu wählen. Von einigen weiß ich es: Zum Beispiel ein älteres Ehepaar, ganz durchschnittliche, freundliche Leute, die einen zweiten Wohnsitz in Toulouse haben. Dort in einem Viertel, in das über die Jahre immer mehr Nordafrikaner oder Franzosen mit maghrebinischer Herkunft gezogen sind. Sie sagen, das Leben dort habe sich total verändert. Die Kriminalitätsrate sei drastisch gestiegen, wenn es dunkel werde, trauten sie sich nicht mehr auf die Straße. Dieses Rentnerpaar sehnt sich nach den guten alten Zeiten, als man überall in Toulouse noch zu jeder Tages- und Nachtzeit sorgenfrei herumspazieren und in den Straßencafés sitzen konnte. Deshalb gehören sie zur Fraktion „Ausländer raus – Frankreich den Franzosen“.

Diese Fraktion verkörpern inzwischen sowohl Marine Le Pen als auch Nicolas Sarkozy. Doch Le Pen spricht die Sprache des einfachen Volkes, Sarkozy nicht. Wenn ich mit meinen Nachbarn über Alltägliches rede, Probleme die sie haben, ihre Wünsche, Sehnsüchte, dann denke ich oft in diesen Tagen: Könnte gut sein, dass sie Le Pen wählen. Dabei sind sie weder besonders radikal, noch wollen sie einen Polizeistaat. Auch gegen Juden haben sie in der Regel nichts. Wenn es um Araber und Muslime geht, haben sie allerdings größere Vorbehalte. Die Medien machen ihnen Angst vor diesen Leuten. Sie verstehen sie nicht. Irgendwie wäre es schon gut, wenn die alle wieder nach Hause gehen könnten.

Einige der Pensionäre hier auf dem Land haben auch persönlich schreckliche Erfahrungen im Algerien-Krieg machen müssen. Das haben sie nicht vergessen, selbst wenn sie auf Nachfrage zähneknirschend zugeben, dass auch die Franzosen dort entsetzliche Gewalttaten verübt haben. Es war halt Krieg, heißt es dann unter einem tiefen Seufzer. Und Kriege sind immer schmutzige Angelegenheiten. Oder? Das Misstrauen ist geblieben. Auf diesem fruchtbaren Boden werden von der politischen Rechten sowie von zahlreichen französischen Medien Ängste gesät. Mit Erfolg.

So ist die Ausländer- oder vor allem die Araber-feindlichkeit – wie in Deutschland auf dem Lande auch – weit verbreitet in der Ariège. Die Mordserie von Mohamed Merah in Toulouse und Montauban hat dieses Gefühl noch verstärkt. Doch dies ist noch nicht die ganze Erklärung für die Sympathien für Le Pen in einem Teil Frankreichs, der traditionell rot ist. Viele Leute hier müssen hart für wenig Geld arbeiten. Sei es in der Landwirtschaft oder in der spärlich vorhandenen Industrie. Die meisten sind bescheiden, haben Angst vor einer unsicheren Zukunft, sie sehen, wie die staatlichen Sicherheiten, auf die sie sich mal verlassen konnten, zusammengestrichen werden.

Das prägt, bei aller Gelassenheit, die in dieser Gegend tonangebend ist, ein Lebensgefühl. Rückwärtsgewandt muss man es wohl nennen. Warum kann das Leben nicht mehr so sein wie es früher mal war? Als die Welt der Ariègois noch in Ordnung war. Als Betchat noch mehrere Handwerksbetriebe hatte, Geschäfte und ein Café. Heute gibt es nur noch eine Post, ein Bürgermeisteramt und eine Schule. Naja, und die Kirche mit Friedhof. Manchmal, aber nicht regelmäßig, wird hier noch eine Messe gelesen.

Es muss anders werden, wenn es besser werden soll. Am liebsten so wie früher. Aber wie? Wehmütig erzählt mir mein Nachbar Dede, der in der Wachmannschaft von Charles de Gaulle in den 60er Jahren gedient hat, dass man damals Politikern noch glauben konnte. Insbesondere de Gaulle natürlich. So ein Übervater, strammer Franzose mit Rückgrat, hervorgegangen aus dem Widerstand gegen Hitler und das Vichy-Regime, das wäre was. Auf den konnte man stolz sein. Aber Sarkozy, Hollande oder Mélenchon dagegen…

Und die Übermutter, Marine le Pen? Sie macht vielen noch Angst. Jedoch weniger als ihr Vater. Die Tochter hat den Front salonfähiger gemacht. Ein weiterer Grund für den Stimmenzuwachs. Und sie spricht eben tatsächlich die Sprache der einfachen Leute, die sich irgendwie von der aktuellen politischen Elite in Paris nicht wirklich vertreten fühlt. In ihren eigenen Werten und Traditionen tief verwurzelt und doch im heutigen politischen Zirkus orientierungslos – diese Beschreibung trifft wohl auf viele zu, die in Betchat am Sonntag Marine Le Pen gewählt haben. Ob sie am 6. Mai Hollande oder Sarkozy oder gar nicht wählen werden? Es werden noch Wetten angenommen.

 

 

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