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Selbstversorgung deluxe

Vergangene Woche war ich zum Abendessen im feinen Londoner Westen eingeladen. Der Gastgeber servierte ein deftiges Rüben-Risotto und verkündete, dass er das Wurzelgewächs selbst anbauen würde. Offenbar war ich Zeuge einer neuen Form von Selbstversorgung. Überlebenskunst de luxe! Oder will man hier einfach nur ein bisschen Arbeitermilieu nachspielen? Bis vor wenigen Monaten konnte dieser Bekannte nicht einmal seine allabendliche Take-Away-Bestellung vom Thai nachwürzen. Nun gehörte er plötzlich zu jenen Londoner Gutverdienern, die das Abenteuer Selbstversorgung zu ihrem neuen After-Work-Hobby ausbauen und sich auf die Penthouse-Terrasse oder den akkurat verwilderten Garten zurückziehen. Und wer die jahrelangen Wartezeiten mit einer größeren Spende bestechen konnte, sitzt jetzt sogar im eigenen Schrebergarten, mitten in der Stadt und von den Quadratmetern so groß wie die Toilette in einem Wohnmobil. Und tatsäclich herrscht um diese urbane Unterwelt des kleinen Mannes momentan ein Interesse wie vor fünfzig Jahren. Nur sind es nun IT-Experten, Designerinnen oder Betriebswirte, die im Erntesegen eine verwachsene Kartoffel nach der anderen ans Licht befördern, wie kleine Gehaltserhöhungen.
Diesen Neo-Landwirten geht es beim hemmungslosen Gärtnern nur am Rande darum, in Zukunft den Gang zum Biomarkt zu sparen. Die Befriedigung gedeiht tief im Kartoffelbeet: In Zeiten, in denen Londons Unternehmen eine Kündigungsrunde nach der anderen einläuten, ernten Citybanker vielleicht keine Boni mehr, dafür nun aber die Früchte der realen Arbeit. Hier ist der Schmutz ehrlich. Dünger und Saat als Wertanlage, die Ernte als bodenständiges Ereignis in Form gut gewachsener Schlangengurken, Tomaten, edler Salate und eben auch der guten, alten Rübe, Heldin der harten Zeiten. Krisenkochshows und Aufmacher in Guardian bis Times zeigen, wie man das Retro-Gemüse raffiniert verarbeitet, ohne ihren Arme-Leute-Charme gänzlich auszukochen. Zum Rüben-Risotto gab es an erwähntem Abend übrigens Rosé-Champagner, und mein Bekannter war auf seine inszenierte Klassen-Mélange ziemlich stolz. Auch halten im Augenblick angeblich über eine halbe Millionen Haushalte in Großbritannien eigene Hühner, und in vielen der neuen Rezessionsgärten stehen stromlinienförmige Hühnerhäuser, die aussehen wie das Gehäuse eines ausrangierten iMac. Das Design-Gehege wurde entworfen von einer britischen Firma und wird seit Monaten tausendfach ausgeliefert, samt zwei glücklichen Hühnern und Futter.
Das Rüben Risotto schmeckte übrigens etwas erdig, doch auf dem Heimweg kam mir eine geniale Idee. Ist die Schrebergartenparzelle am Ende sogar Londons Immobilienlösung? Zentral gelegen, dennoch mitten im Grünen, bodenständig und beruhigend. Wenn sich gut verdienende Briten demnächst dazu entschließen sollten, die neue Bescheidenheit nur noch von ihren aufgemotzten Schrebergartenparzellen aus zu zelebrieren, stehen plötzlich viele, edle Immobilien leer. Und ich komme doch noch an mein exklusives Stadtappartement im gediegenen South Kensington.

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