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Staub, Trümmer, Angst und Leid – Weltreporter Martin Zöller berichtet aus L'Aquila

 Seit Dienstag nachmittag ist Martin Zöller wieder vor Ort in L'Aquila. Hier sein Bericht vom Montag

 

Der Staub ist überall. Er liegt dort auf den Motorrollern, die auf wundersame Weise heil geblieben sind; er liegt auf der Rinde der Bäume, die oben in L´Aquila, inmitten der bergigen Abbruzzen, noch viel winterlicher aussehen, als die unten in Rom, eineinhalb Stunden von hier. Er liegt auf Trümmern, faustgroßen Steinen, mannshohen Brocken, die aus zerstörten Häusern herausgebrochen sind und auf dem cremefarbenen Mini  Cooper mit dem Kennzeichen DM 2255EV; er liegt auf den Gesichtern der Verletzten und der Toten dieser Nacht.

Alles begann um 3 Uhr 32 tief unter der Erde unter dem kleinen Örtchen Paganica, einem Vorort von L’ Aquila. 20 Sekunden bebte hier die Erde, von hier breiteten sich jene Erdstöße aus, die im italienischen Fernsehen mit roten  Kreisen dargestellt sind und in der Kürze der Zeit Orte zerstörten, die doch eigentlich so sorgenfrei klingende
italienische Namen haben: Santo Stefano di Sessanio, Castelvecchio Calvisio, San Pio, Villa Sant'Angelo. Doch seit  gestern stehen diese Namen auch für bislang über 90 Tote, die in den Trümmern ihrer Städte ums Leben gekommen sind. Der Schrecken hatte sich angekündigt: Bereits am Vorabend, gegen 23 Uhr am  Palmsonntagabend, waren viele Bewohner der nun betroffenen Orte nach einem leichten Beben auf die Straßen geströmt. Doch die meisten kehrten in ihre Häuser zurück, nicht ahnend, was noch folgen würde.

Montagmittag in L’Aquila: Schaut man gerade nach oben, dann wirkt alles friedlich, die Frühlingssonne fällt aus einem blauen Himmel in die Stadt hinunter. Doch blickt man geradeaus, sieht man eine junge Frau, Clara, rosa Schlafanzug, darüber eine Jacke. Die Jacke hat sie sich schnell noch übergezogen, als sie aus dem Haus stürzte, ein paar Sekunden nach „tre e trentadue“, 3 Uhr 32, jener Uhrzeit, die minütlich in den Nachrichtensendungen wiederholt wird und schon jetzt im kollektiven Gedächtnis der Italiener eingebrannt zu sein scheint. “Alles ist zerstört", sagt die junge Frau auf die Frage, was mit ihrem Haus passiert sei, „es war wie im Film, aber es war echt.“ Gerade noch habe sie sich mit ihrem Verlobten retten können, doch selbst Stunden nach dem Beben kann sie das Zittern ihrer Hände noch immer  nicht kontrollieren. "Was uns gerettet hat, ist ein großer  Schrank in
unserem Schlafzimmer, der die umstürzende Mauer gehalten  hat. Sonst wäre alles über uns zusammengebrochen.“

Halb Italien spürte das Beben, es war so stark, dass selbst in Rom Regale und Lampen wackelten und viele Menschen mitten in der Nacht ihre Häuser verließen. Dass man es in Rom spüren konnte, war wie eine Vorhersage  dafür, welches Grauen der Tag bringen würde. Morgens um 7: 47 melden die Nachrichten noch 17 Tote, um 9.40  Uhr sind es 27, um 11 Uhr 40. Zur Mittagszeit kommen die Zahlen aus den kleinen, schwer zugänglichen Dörfern,  es ist von 60 Toten die Rede, schließlich 92. Es hört nicht auf. Bis zum Abend sagen die Sprecher der Nachrichtensendungen immer denselben Satz: “Continua a salire il numero dei morti”, die Zahl der Toten steige noch an.

Gleichzeitig beginnt die Diskussion, ob es so kommen musste, wie es kam. Ob man gewarnt sein konnte. „Das ist ein Skandal, seit drei Monaten schon hat regelmäßig die Erde  gebebt, die Behörden wissen das genau!“, sagt Maria, eine junge Frau aus L’Aquila. Sie sitzt neben ihrem Auto, das mit zerdelltem Dach und  zerborstenen Scheiben am Straßenrand steht. Trotzdem schiebt Maria  ihre Koffer durch das Loch an der Stelle, wo einst die  Windschutzscheibe war – sie hofft, dass der Wagen noch fährt und  will "so schnell wie möglich" aus L'Aquila fliehen, weil sie Angst  vor Nachbeben hat. Beim Stand von 17 Toten berichtet die online-Augabe von  “La Repubblica” über den Erdbebenforscher Gioacchino Giuliani, der vor kurzem mit Hilfe eines von ihm entwickelten Messgerätes ein großes Beben in der Region um L´Aquila vorausgesagt hätte; Giuliani misst das radioaktive chemische Element Radon im Boden. Das “Institut für Geophysik und Vulkanologie” verschickt eine Presseerklärung: “Wir  unterstreichen, dass nach dem heutigen Wissenstand es nicht möglich ist, mit absoluter Sicherheit Erdbeben vorauszusagen.” Leser kommentieren: Sandy1965” ist empört über den Staat, der seine Bürger nicht schützt. “Luthvime” meint, es ginge jetzt nicht um Schuld. Es ginge um Trauer.   Der Chef des Instituts für Geophysik und Vulkanologie gibt am Nachmittag den betroffenen Bürgern selbst die Schuld. “Es ist nicht Teil unserer Kultur, in seismischen Zonen der Gefahr angemessen zu bauen.“ So seien Häuser eingestürzt, „die nicht dafür konstruiert  worden sind, einen solchen – nicht besonders heftigen – Erdstoß zu ertragen.“

Jene Stadt, Paganica, aus deren Tiefen das Unheil über die Abbruzzen kam ist mit am stärksten vom Erdbeben betroffen. „Wir wissen nicht wo wir heute übernachten, wir wissen nicht einmal, wo wir zu Abend essen“, sagt nachmittags eine Frau auf dem großen Platz vor der Kirche „Immacolata Concezione“. Die Kirche, in die am  Sonntag noch viele Gläubige mit Ölzweigen zur Palmsonntagsprozession hineinzogen, ist nun eine Ruine, mühsam  scheint sich die Fassade noch zu halten. Irgendjemand hat rote Plastikstühle in einem weiten Bogen um dieKirche gestellt. Sie sollen offenbar davor warnen, sich der Kirche zu nähern, akute Einsturzgefahr. Im Schatten der Kirche steht ein weißes Zelt. Hier liegen die Toten dieser Nacht. Es könnten noch mehr werden. Denn die  Nachrichtensprecher sagen immer noch: “Continua a salire il numero dei morti”, die Zahl der Toten steige noch an.

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