Wir berichten aus mehr als 160 Ländern –
aktuell, kontinuierlich und mit fundiertem Hintergrundwissen.
Am Tag nach dem Sturm ist New York eine geteilte Stadt. Die eine ist von Sandy hart getroffen – mit Überschwemmung, Stromausfall und dem Schock, trotz High-Tech so verwundbar zu sein. Die andere hat gewaltigen Böen erlebt, aber sonst kaum unter dem Monstersturm gelitten – und probt Business as Usual.
Glücklicherweise wohne ich in einem wettertechnisch privilegierten Viertel an einem Hang in Brooklyn, Park Slope. Oder vielleicht sollte ich schreiben “sandy-privilegierten Viertel”. Denn Park Slope wurde im vergangenen Frühjahr von einem lokalen Tornado heimgesucht, der dutzende Bäume zu Fall brachte. Womöglich ist dies einer der Gründe, weshalb Sandy den Bäumen in unserer Nachbarschaft vergleichsweise wenig zusetzte. Ja, einige sind gefallen, aber doch viel weniger als wir erwartet hatten.
Insgesamt war die Stimmung in Park Slope heute geradezu fröhlich. Brooklyns Stadtteilpräsident Marty Markowitz hatte schon morgens kämpferisch die Parole ausgegeben: “Der Sturm hat sich die falsche Stadt ausgesucht, wir geben nicht auf!” Viele Leute gingen einkaufen – zwei von drei Läden hatten geöffnet -, und vor allem waren Restaurants und Kneipen dicht besetzt. Die Menschen feierten den zusätzlichen Feiertag – kaum einer konnte wegen U-Bahn-Ausfalls und gesperrter Tunnels zur Arbeit – und die Erleichterung, eine Katastrophe unvermutet gut überstanden zu haben.
Aber auch in Red Hook, einem Viertel in der Evakuierungs-Zone am East River, bewiesen die Leute Standfestigkeit und Humor.
Das zeigten nicht nur solche Graffitis, sondern auch die Atmosphäre in dem Viertel. Während die Keller ausgepumpt wurden, standen die Leute in Grüppchen zusammen, tauschten Tipps aus und Neuigkeiten. Und selbst in Downtown Manhattan ist die Lage weniger dramatisch als viele Fernsehbilder vermitteln. Wir mieteten heute nachmittag einen Wagen und fuhren durchs Börsenviertel. Das Wasser ist längst abgeflossen; der spärliche Verkehr läuft trotz ausgefallener Ampeln reibungslos. Während die Subway nach wie vor still steht, fahren schon wieder Busse – kostenlos. Sandsack-Barrieren wie hier vor Goldman Sachs werden abgebaut.
In den deutschen Medien ist das Unspektakuläre verständlicherweise nicht so interessant. Doch es entsteht auf diese Weise ein schiefes Bild. Wir erhielten viele Mails von Angehörigen und Freunden, die Angst hatten, dass wir einem kompletten Chaos zum Opfer gefallen wären. Manche mochten unsere beruhigenden Antworten kaum glauben. Es war ihnen nicht bewusst, dass zwar in 600 000 Haushalten der Strom ausgefallen ist – aber rund vier Millionen keine Probleme haben.
Fotos: Christine Mattauch