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Wenn der Muezzin die “Traviata” trifft

Die Nacht ist sternenklar, eine leichte, kühle Brise weht durch die römischen Ruinen von Baalbeck. Mehrere tausend Libanesen und Ausländer blicken gebannt von den Zuschauertribünen auf die ungewöhnlich große Bühne, direkt am Fuße der 19 Meter hohen Steinsäulen, die den gewaltigen Bacchustempel aus dem 2. Jh vor Christus umgeben. Violetta, die Titelheldin von Guiseppe Verdis „La Traviata“ besingt im vollem Sopran gerade ihre Liebe zu Alfredo – da setzt er ein, der Muezzin in der Nachbarschaft. „Allahu akbar“. Nicht nur einer! In Abständen von Minuten beginnt eine ganze Kakophonie der Gebetsrufe in Baalbeck, der Hochburg der schiitischen Hisbollah im libanesischen Bekaa-Tal. Könnte ich sie aus der Ferne der eher günstigen Sitzplätze so genau sehen, ich bin mir sicher, ich könnte bei Ermonela Jaho, die die Violetta singt, nicht einmal ein Wimpernzucken bemerken. Die Töne perlen ihr aus dem Mund, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen. Bei mir hingegen zucken nicht nur die Wimpern sondern auch die Ohren. Ein paar Minuten später, als dieses ungewöhnliche Duett – oder ist es vielmehr ein Sextett? – nach dem Motto „Islam meets Opera“ zu Ende ist, geht ein fast hörbarer Seufzer der Erleichterung durchs Publikum. Doch zu früh gefreut: Der Muezzin erhebt erneut seine Stimme, und damit nicht genug. Eine Weile später beginnt in einem Restaurant auf dem Nachbarhügel eine libanesische Hochzeitsfeier, deren laute arabische Musik in Wellen vom Wind zu uns getragen wird. Dazu ein gelegentliches Hupkonzert aus dem Dorf (es wurde sicher irgendetwas gefeiert) sowie mehrere Salvos Freudenschüsse und ein kleines Feuerwerk – als Opernfan, der sich seit Monaten auf seine „Traviata“ gefreut hat, muss man schon sehr viel kulturelle und akustische Toleranz mitbringen, um sich davon nicht irritieren zu lassen. Die Kulisse ist dennoch atemberaubend schön, der jahrhundertealte, majestätische Tempel, die blinkenden Sterne im dunkelblauen Nachthimmel… Aber vielleicht muss ich doch erkennen, dass der Libanon mit seinen lärmbesessenen Menschen (ich glaube fast, sie haben gar kein Empfinden für Lärm, das dem des durchschnittlichen Europäers auch nur nahe käme), sich trotz magischer Konzertorte einfach nicht für Aufführungen klassischer Musik mit sanften Tönen eignet. Jedenfalls sicher nicht Baalbeck, wo die Tempel in unmittelbarer Nähe der Stadt stehen. Natürlich unken ein paar libanesische Zuschauer, die Hisbollah-Anhänger in Baalbeck inszenierten diese Störmanöver extra, weil sie das als dekadent empfundene „International Baalbeck Festival“ boykottieren wollten. Das glaube ich gar nicht. Die Hisbollah macht ihren Punkt auf ganz andere Weise deutlich: Mit einer kleinen Ausstellung zum islamischen Widerstand in den Tempelruinen. Hisbollah-Fähnchen und die Hochglanzbroschüre „Warum widerstehen wir?“ bekommt man als Geschenk. Immerhin ist der Zugang, direkt neben dem Eingang zum Festival, fakultativ. Wenn man sich hinein begibt, steht man vor blutigen Bildergalerien aus dem Krieg vom Juli 2006 mit Israel, einem Raum  voller Märtyrerbilder und am Ende eines kleinen Ganges vor dem Nachbau des „Büros“ von Imad Mughniyeh, einem Ex-Hisbollah-Sicherheitschef und international gesuchten Terroristen, der im Februar 2008 in Syrien bei einem Bombenanschlag ums Leben kam. Ob Guiseppe Verdi, der schließlich nicht nur Künstler sondern auch ein sehr politischer Mensch war, sich diese Nachbarschaft gewünscht hätte, wage ich zu bezweifeln. Aber wer hätte ihn fragen sollen.

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