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Zeitkapsel im Küchenkamin

   Das Schaf lebt noch, der Kamin nicht mehr

Dass ich vor zwei Wochen ein Erdbeben – was denn: überlebt, erlebt, durchstanden, noch lange nicht verdaut? – habe, wird hier in Zukunft hoffentlich nicht wieder erwähnt. Hoch und heilig versprochen! Will keiner mehr hören. Dass ich zu viel rede und gereizt bin, dass ich niemandem länger als fünf Minuten zuhöre, der nicht bei einem Vulkanausbruch, Tsunami oder dem Einsturz des World Trade Centers dabei war, dass mein Gehirn seit den Nachbeben wie in Watte wabert: diese Spätfolgen meiner kleinen Katastrophe legen sich hoffentlich bald. Ist ja auch nicht zum Aushalten unter diesen Umständen, vor allem für andere. Meine Umgebung hat’s so schon schwer genug. Mitmenschen hängen in verschlammten Vierteln ohne Strom, Wasser und Dixie-Klo fest, oder an der Flasche. Beziehungen zerbrechen, selbst Videotheken sind geschlossen. Ab in die Ecke und dann beim Freischaufeln der Straßen helfen, Pseudo-Opfer! Und dann noch Japan.

Aber eines muss ich noch loswerden, und diesmal ist es auch kein Seelenstriptease, sondern etwas Surreales. Davon hat man ja in Krisenzeiten viel. Jeder schiebt gerade Panik, weil ein wichtigtuerischer Wahrsager anhand des Mondes, der Gezeiten und seines Kaffeesatzes oder schwarzen Raben ein neues schweres Beben für den 20. März angekündigt hat. Je weniger über den Scharlatan in den Medien berichtet wird, weil man Erdbeben nun mal nicht präzise vorhersagen kann, desto hartnäckiger pflanzt sich seine Prophezeiung selbst in rationalen Psychen fort. Aber will man die Einzige sein, die auf Übersinnliches pfeift, und dann dumm aus der Wäsche oder den Trümmern gucken?

Unheimliche Parallelen zu den Geschehnissen, die es aus meiner zerstörten Stadt doch noch in die Weltnachrichten schaffen, spielen sich in meinem Hause ab. Ja, das mit dem eingestürzten, aus alten Backsteinziegeln gemauerten Küchenkamin. Der obere Teil setzte sich einst im Dachstuhl und dann als Schornstein fort. Das alles liegt jetzt als Schutthaufen im Vorgarten. Kann man sicher hübsch begrünen und irgendwann als Skateboard-Rampe umfunktionieren.

Als vorige Woche vor der eingestürzten Kathedrale von Christchurch die Aufräumarbeiten begannen, fand man unter der umgekippten Statue des Gründungsvaters John Robert Godley zwei Zeitkapseln: Eine halb zerbrochene Glasflasche mit einer Pergamentrolle darin, die andere aus Metall, verplombt, ca. 1867. Geöffnet werden kann sie erst, wenn auch das Labor des Museums wieder steht.

Tja, was soll ich sagen – ich habe ja versprochen, mich nicht mehr auf Kosten von Not und Elend wichtig zu machen: Aber oben in unserem zerborstenen Kamin steckte auch eine Zeitkapsel. Es ist eine orangefarbene Plastikdose, so eine für Schulbrote. Darin liegt ein Foto der Familie, die vor uns im Haus wohnte. Einer der Teenager hatte noch ein MAD-Heft, eine kleine Comic-Figur aus Plastik und eine Kassette mit Elektro-Mix-Musik dazugelegt. Heute ist er DJ, heißt Insomniac, übersetzt: Schlafloser. Was ja den Zustand nach Erdbeben gut trifft. Ist doch alles kein Zufall, oder?

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