Weltreporter.net ist ein globales Korrespondentennetz für deutschsprachige Medien. Diese Website präsentiert einen Ausschnitt unserer Arbeit.

Spanien und die ETA – Zehn Jahre Waffenstillstand

 

Die Buchhandlung “Lagun” ist in der baskischen Metropole San Sebastián eine Institution. 1968 gegründet, zeigten die Besitzer der Franco-Diktatur die Stirn und verkauften sogenannte “verbotene Literatur”. Später, als sie sich in der Demokratie wähnten, wurden sie wieder angegriffen, dieses Mal von der linksseparatistischen baskischen Untergrundorganisation ETA.

Mitgründer Ignacio Latierro ist stadtbekannt. Der rüstige, schlaksige Mann Anfang 70 bekam die Gewalt der ETA erstmals 1983 zu spüren. Nachdem ein Terrorist beim Manipulieren mit Sprengstoff ums Leben gekommen war, forderte die ETA den lokalen Handel auf als Zeichen der Solidarität in Streik zu treten und zu schließen. Doch Latierro und seine Kollegen weigerten sich.

“Nachdem das Kommando die Buchhandlung beschmiert hatte, kam die Anführerin auf mich zu und drohte: ‚Ihr seht, was wir tagsüber machen. Passt auf, was Euch nachts passiert.’ Ich antwortete: ‚Das ist ja genauso wie damals unter Franco, als die ultrarechten ‚Guerrilleros de Cristo Rey’ erst die Wände beschmierten und dann nachts Bomben legten'”, erzählt er.

“In diesem Augenblick kam ein Priester hinter einer Säule hervor und flüsterte der Frau etwas ins Ohr. Daraufhin ging sie. 1983 war es für die ETA noch unpassend, gegen eine Institution vorzugehen, die wie die Buchhandlung Lagun ganz eindeutig auf der Seite des antifranquistischen Widerstands gekämpft hatte.”

 

Zertrümmerte Schaufenster, verbrannte Bücher

 

Aber die Zeiten änderten sich schnell. Richteten sich die Anschläge der ETA zunächst überwiegend gegen die Guardia Civil, gerieten in den 1990er-Jahren auch Lokalpolitiker und Journalisten ins Visier. Grundsätzlich konnten Autobomben und Brandanschläge jede öffentliche Person treffen, die sich nicht eindeutig hinter die Organisation stellte – so wie die Betreiber der Buchhandlung Lagun, die in ihrem Sortiment zwar jede Menge baskische Bücher hatten, den Terror der ETA aber offen kritisierten. Weihnachten 1996 klingelte eine Nachbarin Ignacio Latierro aus dem Bett. Alle Schaufenster des Ladens waren zertrümmert, alle Bücher beschmiert worden. Er räumte auf. Nachts gingen die Krawalle weiter.

Wie viele Anzeigen er damals gestellt habe, wisse er nicht mehr. Dennoch hat Latierro diese Tage in guter Erinnerung: Wegen der Solidarität seiner Kunden.

“Bis Mitte Januar kauften tagsüber Hunderte Menschen die beschmutzten Bücher, Glasscherben, alles was wir hatten. Und nachts kamen die Randalier wieder – bis sie dann tatsächlich Bücher hier auf dem Platz verbrannten. Da haben endlich auch die Behörden reagiert und eine Polizeistreife für uns abbestellt.”

 

Baskische Solidarität mit ETA-Häftlingen

 

Auf der Plaza de la Constitución erinnert nur ein Transparent an die jüngste Vergangenheit. Darauf wird die Verlegung aller baskischen Häftlinge ins Baskenland fordert. Nach wie vor sind 190 ETA-Mitglieder in Haft.

In der Calle Juan de Bilbao gleich nebenan ist die Solidarität mit ihnen groß. Vor den Kneipen weht die Ikurriña, die baskische Fahne mit einem weißen und grünen Kreuz auf roten Grund, an den Wänden kleben Aufrufe zu Demos. Früher standen Solidaritätskassen auf dem Tresen, die guten Kontakte mancher Kneipenbesitzer zur ETA waren stadtbekannt.

Ainara Esteran, 46 Jahre alt, war Mitglied der ETA. Wenn sie von ihrem Weg in die Terrororganisation erzählt, bleibt sie allgemein.

“Es war in meinem Lebenslauf vorgezeichnet: Ich fühlte mich als Teil der Arbeiterklasse und wollte für ein gerechteres Land kämpfen. Die 1980er-Jahre waren sehr gewalttätig. Auf dem Weg zur Schule habe ich Blutlachen gesehen, bei den Demonstrationen hat die Polizei auf alles geschossen, Nachbarn von mir sind umgekommen. Das prägt natürlich.”

Wegen der Vorbereitung von Attentaten und Mitgliedschaft in einer Terrorvereinigung hat Ainara Esteran neuneinhalb Jahre im Gefängnis verbracht, den Großteil davon wie fast alle ETA-Terroristen unter Bedingungen “ersten Grades”, den härtesten des spanischen Strafvollzugs: 90 Prozent der Zeit verbrachte sie allein in der Zelle, Gespräche, Briefe, Besuch wurden überwacht.

Den größten Teil der Strafe saß Esteran in Alicante ab, 800 Kilometer von ihrem Zuhause entfernt. ETA-Mitglieder wurden jahrzehntelang grundsätzlich in Gefängnissen untergebracht, die so weit wie möglich vom Baskenland entfernt waren: So sollte die Organisation zerschlagen werden.

“Ich bin ein staatliches Folteropfer”

 

Esteran ist heute Sprecherin von Egiari Zor, einer Stiftung, die die Interessen der Opfer der “staatlichen Gewalt” vertritt. Dazu zählen die etwa hundert Menschen, die von den staatlichen Todesschwadronen GAL in den 1980er-Jahren getötet wurden und ihre Angehörigen – sowie die, laut Studien, mehrere Tausend Häftlinge, Sympathisanten, Unbekannte, die von Sicherheitsbehörden misshandelt wurden. Auch sie habe man 2001 gefoltert, sagt Esteran. Wie, will sie nicht erzählen.

Finanzielle Entschädigung erhalten in Spanien derzeit nur Folteropfer der Jahre zwischen 1979 und 1999. Egiari Zor will, dass der Zeitraum bis in die Gegenwart ausgeweitet wird. Sie beurteilt die Vergangenheit wie viele im Baskenland: Es war ein Konflikt, für den beide Seiten gleichermaßen Verantwortung tragen, die ETA und die Regierung.

 

Noch heute haben die ETA-Terroristen vielerorts Heldenstatus

 

In Hernani, einer Kleinstadt zehn Zugminuten von San Sebastian entfernt, prangt an einer weißen Häuserwand ein Graffiti mit den Porträts aller verurteilten ETA-Häftlinge aus dem Ort. Mehrere Quadrate sind bereits geweißt, als Zeichen dafür, dass die Häftlinge frei und wieder “zu Hause” sind. Die “Ongi Etorris”, öffentliche Willkommensfeiern für Ex-Terroristen, werden in der spanischen Presse scharf kritisiert.

Von Unterstützervereinen wurden Besuchsreisen in die entlegensten Winkel Spaniens organisiert, wo man die ETA-Gefangenen inhaftiert hatte. Für Josune Dorronsoro gehören Gefängnisbesuche zum Alltag. Ihr Bruder José Mari war in Gefängnissen in Frankreich, Madrid, Cádiz inhaftiert – und sitzt jetzt, seit März, in Pamplona. Eine deutliche Verbesserung, denn so ist er seiner Familie viel näher.

Aber eigentlich sollte José Mari Dorronsoro längst in Freiheit sein. Nur ein Sonderstrafrecht, das Spanien speziell für ehemalige ETA-Mitglieder anwendet, macht eine quasi lebenslange Haftstrafe möglich. Dieses Sonderstrafrecht müsse sofort beendet werden, fordern Unterstützerverbände, weil sich die Organisation ETA 2018 aufgelöst hat, also keine Gefahr besteht, dass sie wieder straffällig werden.

 

Zarte Versöhnungsversuche

 

In Vitoria, der Hauptstadt der autonomen Region des Baskenlandes, hat die spanische Regierung im Sommer das “Memorial para las Víctimas del Terrorismo” eröffnet, eine Gedenkstätte für alle Opfer des Terrorismus. In einer Videoinstallation direkt am Eingang erzählen nicht nur Opfer der ETA oder anderer Terrorgruppen von ihrem Schmerz, sondern auch Menschen, die Angehörige durch staatliche Gewalt verloren haben. Themen wie Polizeifolter allerdings bleiben ausgespart.

Gorka Landaburu, Journalist, wurde 2001 Opfer der ETA. Eine Briefbombe zerfetzte ihm mehrere Fingerglieder an beiden Händen und das Trommelfell. Auch seine Sehkraft ist seitdem eingeschränkt. Landaburu bezeichnet sich als “privilegiertes Opfer”: Als Journalist hatte er die Öffentlichkeit auf seiner Seite. Der Mitinitiator von “Gesto por la paz” gehörte zu den wenigen, die bereits in den 1980er-Jahren für einen Gewaltverzicht eintraten.

“Wunden müssen vernarben, um zu heilen. Die beste Methode dafür ist der Dialog. Allerdings muss es dabei ein übergeordnetes Prinzip geben. Und das ist das Recht auf Leben. Zu töten, war ungerecht. Das anzuerkennen, ist Vorbedingung für alle zukünftigen Debatten. Und bei der Anerkennung dieses Prinzips hat das Umfeld von ETA mehr Hausaufgaben zu erledigen als andere”, sagt er.

Kurz vor dem endgültigen Waffenstillstand nahm der Journalist auch an Opfer-Täter-Begegnungen teil: Die Resozialisierungsmaßnahme sollte Ex-Terroristen, die der Organisation öffentlich abgeschworen hatten, den Weg in die Normalität erleichtern.

“Beim Abschied eines Gesprächs kamen zwei der Terroristen auf mich zu und sagten, sie hätten zu dem Kommando gehört, das mir damals die Briefbombe geschickt hat. Sie haben mich um Verzeihung gebeten. Das hat mich betroffen gemacht. Ich habe ihnen geantwortet: Das freut mich – für mich, aber auch für euch. Ich werde mich dafür einsetzen, dass ihr so schnell wie möglich aus der Haft kommt. Im Auto überkam mich dann ein Gefühl der tiefen Erleichterung – und Befriedigung: Ich habe mir gesagt: Genau das ist der Weg. Reden, reden, reden. Reden und erinnern.”

 

Newsletter

Es gibt Post!