Wir berichten aus mehr als 160 Ländern –
aktuell, kontinuierlich und mit fundiertem Hintergrundwissen.
2021: Ein 60 Jahre ungesühnter Mord

Vor sechzig Jahren wurde in Frankfurt am Main mit Salah Ben Youssef der schärfste Kritiker des damaligen tunesischen Präsidenten Bourguiba erschossen. Doch die Aufklärung des Verbrechens stockt bis heute, sowohl in Tunesien als auch in Deutschland.
Sarah Mersch für NZZ, 13. August 2021
Fast sechzig Jahre hat es gedauert, bis der Mord an Salah Ben Youssef vor Gericht gekommen ist. Der tunesische Politiker war am 12. August 1961, einen Tag vor dem Bau der Berliner Mauer, in Frankfurt am Main erschossen worden. Sein Sohn Lotfi Ben Youssef war damals zehn Jahre alt. Er ist sicher, dass der Auftraggeber des Mordes an seinem Vater der damalige Präsident Tunesiens, Habib Bourguiba, war. Heute kämpft er dafür, dass dies endlich öffentlich anerkannt wird und sich der tunesische Staat bei der Familie Ben Youssef entschuldigt.
Die tunesische Wahrheitskommission, die zwischen 2014 und 2018 die Menschenrechtsverletzungen in Tunesien unter den beiden Diktaturen aufgearbeitet hat, hat den Fall Ben Youssef rekonstruiert und in Tunis vor einen Sondergerichtshof der Übergangsjustiz gebracht. Mitangeklagt ist Hamida Ben Tarbout. Der heute 83-Jährige wird verdächtigt, vor sechzig Jahren an dem Mord an Salah Ben Youssef beteiligt gewesen zu sein. Er ist der einzige noch lebende mutmassliche Täter.
Doch Ben Tarbout erinnert sich nicht, will sich vielleicht nicht erinnern. «Ich fand mich einem Greis gegenüber, der offenbar seine geistigen Kapazitäten eingebüsst hatte», sagte Ben Youssefs Sohn Lotfi nach dem Ende des siebten Verhandlungstags im Februar. Als er ihn gesehen habe, habe er «gar nicht daran gedacht, dass er vielleicht einer der Letzten war, die meinen Vater lebend gesehen hatten. Dass er vielleicht die Kugel abgefeuert hat, die meinen Vater getötet hat.»
Zerwürfnis über die Rolle Frankreichs
Um die Hintergründe des Mordes zu verstehen, muss man in die Zeit der Unabhängigkeit Tunesiens im Jahr 1956 zurückgehen. Lange hatten Salah Ben Youssef und Habib Bourguiba Seite an Seite für das Ende der französischen Kolonialherrschaft gekämpft. Doch ein Jahr vor der Unabhängigkeit überwarfen sich die beiden wichtigsten tunesischen Politiker ihrer Zeit über die Frage, welche Rolle die frühere Kolonialmacht im neuen Tunesien spielen sollte.
Bourguiba, der autoritäre Pragmatiker, plädierte für eine schrittweise Loslösung und wollte Frankreich auch weiterhin eine Militärpräsenz in Tunesien erlauben. Ben Youssef war dagegen inspiriert von den antiimperialistischen Positionen gerade unabhängig gewordener Staaten in Asien und Südamerika und wollte einen klaren Schnitt mit Paris. Auch wollte er die Unabhängigkeit der noch von Frankreich besetzten Maghreb-Staaten Algerien und Marokko vorantreiben.
In einem Archivdokument aus dem französischen Aussenministerium berichtet der damalige französische Hochkommissar in Tunesien, Roger Seydoux, er habe Bourguiba bei einem Abendessen im Januar 1956, zwei Monate vor der Unabhängigkeit, vor die Wahl gestellt: Entweder er beende das Treiben Ben Youssefs, oder Frankreich lasse Bourguiba fallen. Der spätere tunesische Staatspräsident stimmte daraufhin der sofortigen Verhaftung seines Widersachers zu.
Letztes Treffen mit Bourguiba in Zürich
Doch Ben Youssef bekam Wind von der Sache und setzte sich noch in der Nacht über Libyen nach Ägypten ab. Zahlreiche Anhänger Ben Youssefs wurden in der Folge in Tunesien festgenommen, gefoltert oder zum Tode verurteilt. Ben Youssef aber führte von Kairo aus seine politische Arbeit weiter. Im Rahmen seiner Tätigkeit reiste er auch wiederholt in die Schweiz, wo er unter den wachsamen Augen der Schweizer Behörden schon in den 1950er Jahren aktiv gewesen war.
Im Bundesarchiv finden sich in der Akte über «Politische Umtriebe von Nordafrikanern» Dutzende Berichte und Schriftwechsel über den Tunesier. 1956 verhängte die Schweiz ein Einreiseverbot gegen Ben Youssef. Dennoch reiste er danach noch mehrfach unter falschem Namen ein, bevor er im März 1961 erkannt und festgenommen wurde. Bevor Ben Youssef erneut des Landes verwiesen wurde, traf er in Zürich ein letztes Mal seinen politischen Rivalen Habib Bourguiba.
Aus Angst um sein Leben bestand Ben Youssef bei dem Treffen auf Polizeischutz. Die Atmosphäre war angespannt, die Versöhnung der beiden Männer in Zürich blieb aus. Den Sommer 1961 verbrachte der tunesische Oppositionelle dann mit seiner Frau in Deutschland. In Wiesbaden liess er sich in den Thermalbädern wegen eines Ekzems am Fuss behandeln.
Unter falschen Angaben in ein Hotel gelockt
Am 12. August will Ben Youssef eigentlich auf Einladung des Präsidenten von Guinea nach Conakry fliegen. Im Hotel in Wiesbaden erhält der tunesische Dissident jedoch einen Anruf eines Tunesiers, wahrscheinlich von Ben Tarbout. Dieser bittet ihn um ein Treffen im «Hotel Royal» im Frankfurter Bahnhofsviertel. Tunesische Oppositionelle wollten ihm von der Auseinandersetzung mit den Franzosen um eine Militärbasis in Nordtunesien berichten, sagt der Anrufer zu Ben Youssef.
Zusammen mit seiner Frau fährt Ben Youssef nach Frankfurt. Im Hotel trifft er zwei weitere Tunesier und begibt sich mit ihnen auf ein Zimmer im ersten Stock. Soufia Ben Youssef wartet in einem Café gegenüber. Als ihr Mann sich verspätet, obwohl er längst zum Flughafen hätte fahren müssen, fragt sie im Hotel nach ihm. Sie findet ihn im Zimmer vor, mit einem Kopfschuss, blutüberströmt. Er verstirbt am Abend in der Uniklinik Frankfurt im Alter von 53 Jahren.
Etwa zu der Zeit, als Soufia Ben Youssef ihren Mann schwer verletzt im Hotelzimmer vorfindet, besteigen der Anrufer und die beiden Männer aus dem Hotel ein Flugzeug nach Zürich. Dort werden sie von Bechir Zarg El Ayoun, dem Vierten im Bunde, erwartet. El Ayoun ist ein enger Vertrauter Bourguibas und wird verdächtigt, der Drahtzieher des Mordes zu sein. Gemeinsam mit seinen drei Komplizen reist er am nächsten Tag von Zürich unbehelligt nach Tunesien zurück.
Politisch heikle Ermittlungen
Die Schweizer Behörden erfahren erst Tage später, dass sich Ben Youssefs mutmassliche Mörder im Land aufgehalten haben. In einem damals als vertraulich eingestuften Bericht des EDA heisst es: «Auffallend ist die Langsamkeit der deutschen Polizei, die die Mörder nicht nur unbehelligt ausreisen liess, sondern von Samstag bis Montag wartete, bis sie die Bundespolizei avisierte. Man wird den Verdacht nicht ganz los, dass dies vielleicht mit einer gewissen Absicht geschehen sein könnte.»
Inzwischen freigegebene deutsche Akten stützen diese Einschätzung. «Abrate dringend von Erlass Haftbefehls gegen El Ayoun. Haftbefehl würde deutsch-tunesische Beziehungen für die Dauer vergiften», telegrafierte die deutsche Botschaft in Tunis dem zuständigen Staatsanwalt in Frankfurt. In einer Aktennotiz der Staatsanwaltschaft heisst es zudem: «Der Wunsch, den geistigen Urheber dieses politischen Verbrechens zu entlarven, führt in bedenkliche Nähe einer Anklage gegen ein fremdes Staatsoberhaupt.»
Bis heute hat sich Deutschland nie um eine Auslieferung des mutmasslichen Tatbeteiligten Hamida Ben Tarbout bemüht. Der Grund sei, dass der Aufenthaltsort der Verdächtigen nicht ermittelt werden könne, teilt die Staatsanwaltschaft Frankfurt auf Nachfrage mit. Dabei stand Ben Tarbout erst im Februar in Tunis vor Gericht. Auch die Wahrheitskommission hatte sich im Rahmen ihrer Recherche an die deutsche Botschaft in Tunis gewandt.
Kein Interesse an Aufklärung
Immerhin hat Deutschland die Arbeit der Kommission finanziell mit einer Million Euro unterstützt. Doch auf ihre Bitte um Unterstützung bei dem Mordfall erhielt die Kommission nie eine Antwort. Dass aus Deutschland kein Interesse an einer Aufklärung gezeigt wird, sorgt bei den tunesischen Betroffenen für Verwunderung, Wut und Enttäuschung. Ein deutscher Menschenrechtsanwalt hat vor kurzem im Namen der Familie Ben Youssef in Deutschland Akteneinsicht beantragt.
Allerdings kommt nicht nur in Deutschland die Aufklärung des Falls nicht voran. Auch in Tunis stockt das Verfahren zum Mord an Ben Youssef, das im Mai 2019 eröffnet worden ist. Weder der Wahrheitskommission noch dem zuständigen Gericht in Tunis ist es gelungen, Zugang zu den Archiven des tunesischen Präsidialamtes oder der Innen- und Aussenministerien zu erhalten, die Aufschluss über den Mord geben könnten.
Von Tunesien verlangt die Familie immer noch Antworten. «Wenn es eine Anerkennung der Schuld und eine Entschuldigung gibt, dann könnten sich die beiden Teile des tunesischen Volkes versöhnen», hofft Ben Youssefs Sohn Lotfi. «Unser Ziel ist es, dass politische Differenzen in Zukunft nicht mehr durch Morde gelöst werden. Das ist alles, was wir fordern und uns für Tunesien wünschen.»