Reportage | Agnes Fazekas

Ausgestiegen

2021-03-29

Nach Monaten im Lockdown will unsere Autorin aufatmen. Frisch geimpft fährt sie von Tel Aviv ans Tote Meer: In eine Strandkommune

“Jetzt sind wir dem Mittelpunkt der Erde noch etwas näher”, sagt Eyal. Salzverkrustet wie eine Laugenbrezel hockt er neben mir in einer Schrunde am zerklüfteten Ufer des Toten Meers. Eigentlich sind die Sinklöcher um uns herum traurige Anzeichen dafür, dass das Tote Meer schrumpft. Doch gerade fühle ich mich eher wie auf einem kosmischen Abenteuerspielplatz. Was durchaus zur Umgebung passt. Mein Begleiter findet sogar, dass hier, auf diesen paar Tausend Metern Uferstreifen, die Verrücktesten der Verrückten zusammenkommen – und nimmt sich selbst nicht aus.

Der Israeli lebt seit Monaten in einer Aussteigerkommune am tiefstgelegenen Strand der Welt. Gerade bringt er mir seine Lieblingsbeschäftigung nahe: Kristalle pflücken! Perfekte Salzwürfelchen, die tief im Lehm stecken und in der Sonne blitzen wie Diamanten. Das macht mindestens so viel Spaß wie Muschelnsammeln. Anschließend waschen wir unseren Schatz im Meer, das eigentlich ein See ist. Ohne Ebbe und Flut. Das andere Ufer verschwimmt irgendwo unter der Bergkette am Horizont. Jetzt am Nachmittag schimmern die Felsen da drüben, auf der jordanischen Seite, rötlich. In den nächsten Tagen werden sie mich immer wieder überraschen, wenn sie sich erst milchblau aus dem Dunst schälen, gegen Abend plastischer werden und sich schließlich in absurdem Rosa im Wasser darunter spiegeln. Ich mache Foto um Foto. “Der Garten Eden. Jeden Tag aufs Neue”, seufzt Eyal: “lässt sich nicht einfangen, muss man er leben.” Deshalb wohnt er hier, wie ein paar Dutzend andere auch. Einige ihrer Zeltburgen, Tipis und Pavillons verstecken sich weiter oben, zwischen einem Tamariskenwäldchen und einem Schilfhain, dem einzigen Grün hier. Die anderen stehen direkt am Ufer, wo es felsiger ist. Kein fester Stromanschluss. Keine Dusche. Dafür der Blick über den stillen See: Salzkämme, die aus dem flachen Wasser ragen wie gefrorene Gischt – das Gefühl, aus der Zeit gefallen zu sein.

Eigentlich reisen Touristen ans Tote Meer, um einmal wie schwerelos im Wasser zu treiben. Ich sehnte mich nach Natur und freiem Himmel. Endlich geimpft, fuhr ich von meinem Wohnort Tel Aviv aus gen Osten. Kurvte vorbei an Beduinenlagern die Straße von Jerusalem hinunter in die Wüste, 400 Meter unter den Spiegel des echten Meeres. Immer tiefer in den Bauchnabel der Welt hinab. Die Strandbäder mit Bars und Bademeistern ließ ich links liegen. Nach den Lockdowns lockte mich der wilde Strand unterhalb der Klippen Matsukei Dragot. Die Gesellschaft von Leuten, die von der Pandemie kaum etwas mitbekommen haben.

Mit der Freiheit ist das allerdings so eine Sache: Die Straße hierher führt zwischen jüdischen Siedlungen und der palästinensischen Stadt Jericho hindurch zu einem israelischen Militär Checkpoint. Was für die Aussteiger Niemandsland ist, gilt in der Ober-Welt als heiß umstrittenes Gebiet: Der Uferabschnitt liegt im besetzten Westjordanland und sollte nach internationalem Recht also den Palästinensern gehören. Stattdessen wird er von jüdischen Siedlern und Soldaten verwaltet. Doch ich merke schnell: Unten am
Strand gelten eigene Gesetze.

Als ich das Auto hinter dem Checkpoint abgestellt habe und, mein Igluzelt auf dem Rücken, die Böschung hinabsteige, ist mir noch etwas mulmig. Was erwartet mich, und vor allem wer? Einige Leute, habe ich gehört, sollen seit 20 Jahren hier leben und sich von Algen aus Süßwassertümpeln ernähren. Eyal, der Kristallschürfer, hat sein schwarzes Zelt auf halbem Weg zum Ufer platziert und winkt von Weitem. Bewehrt mit Bambusrippen gegen den Wind, ist es eine der ehrgeizigeren Konstruktionen. Eyal hat ein zweites Leben, in dem ist er Architekt und lebt in seinem Haus bei Jerusalem. “Mit toller Aussicht. Aber doch ein Gefängnis”, findet er. Deshalb wechselt er immer mal wieder zwischen seinen beiden Leben hin und her. Hier am Strand ist er eine Art selbst ernannter Pförtner: empfängt Neuankömmlinge, schätzt ab, ob jemand Probleme machen könnte, kennt alle. Über seinem Zelt flattert eine Fantasiefahne. Darunter baumelt ein Davidstern. Bevor Eyal Dutt trug, hatte er Schläfenlocken. Er zeigt auf einen der jordanischen Berge: “Der große Elefant.” Der Name sei ein Militär Code zur Orientierung. Aus Eyals Armeezeit stammt auch die Kugel in seinem Hintern: Bei einer Truppenübung schoss einer daneben. Im Winter spüre er das kalte Metall, sagt er. Der letzte war jedoch so mild, dass Eyal vor drei Monaten beschloss, erst mal hier draußen zu bleiben.

Am Strand, sagt er, sei die Orientierung einfach: Die Sehenswürdigkeiten lägen im Norden. Auch die Süßwassertümpel zum Baden. Hüten solle ich mich vor Dafna, dem Strandschwein. Das Schwein war ein Ferkel, als ein Aussteiger es mitbrachte. Nun ist es eine rabiate Sau und streift nachts durch die Zelte. Getauft wurde es in Erinnerung an eine Aussteigerin namens Dafna, die sich bei allen durchgefuttert hat. Durch die Blume vermittelt Eyal mir mit dieser Geschichte auch eine der wenigen Regeln am Strand: Schnorrer sind nicht erwünscht. Ich bin froh, dass ich doch noch die zweite Flasche Wein eingepackt habe. Nachdem Eyal mich eingeladen hat, mein Zelt bei seinem Fort aufzubauen, bringt ein Nachbar einen Rest Tofu mit Reis vorbei. Ich helfe beim Salat schnippeln. “Hände gewaschen?”, fragt Eyal streng. Keiner trägt hier Maske. Doch ein verdorbener Magen ist kein Spaß in der Salzwüste.

Erst als die Lichter hinter uns am Checkpoint angehen und auch drüben auf der jordanischen Seite, fällt mir wieder ein, dass wir gar nicht so weit weg sind von Zivilisation und Obrigkeiten. Die Mineralien aus dem Toten Meer sollen nicht nur gegen Schuppenflechte helfen. Wenn sich das Bromid aus dem Wasser mit dem Sauerstoff an der Oberfläche verbinde, steige es ins Gemüt wie ein Beruhigungsmittel, heißt es. Vielleicht schlafe ich deshalb so gut. Nur einmal bilde ich mir ein, Dafna grunzen zu hören. Eyal hat ihr die Essensreste vors erloschene Lagerfeuer gestellt.

Als mich die Sonne weckt, wuseln die Bewohner schon über den Strand. “In diesem Dschungel brauchst du eine feste Struktur”, sagt Eyal, der mit seiner indischen Flöte über die Lehmdünen wandelt. Zuvor hat er am Ufer Müll von Besuchern eingesammelt. Ein Junge mit Dreadlocks übt Handstand, am Ufer sitzt eine ältere Frau mit mondänem Hut. Ein Weißhaariger nähert sich ihr. “Der lädt sich immer Affären aus der Stadt ein”, sagt Eyal kichernd und flötet Love Is In the Air. Ein anderer zieht ein Handwägelchen hoch zum Checkpoint. Sein nackter Hintern leuchtet in der Sonne.

“Was der immer da oben will?”, sagt Eyal. Ich brauche definitiv erst mal keine Struktur und auch keine Menschen. Würde am liebsten kopfüber ins Wasser springen und weit hinauskraulen, karibikblau, wie es gerade ist. Es gibt nur zwei Haken: Im Toten Meer treibt man obenauf wie ein Korken und kann daher gar nicht richtig schwimmen. Und die Lake, zehnmal so salzig wie das Mittelmeer, juckt auf der Haut und brennt höllisch in den Augen, wenn man sich danach nicht rasch abduscht, was hier ja nicht geht. Dazu verläuft irgendwo da draußen die Grenze zu Jordanien. Am Strand erzählen sie sich, die sei unter Wasser elektrisch gesichert.

Stattdessen spaziere ich also gen Norden, um die »Sehenswürdigkeiten« zu suchen, die Eyal erwähnte. Ich laufe barfuß, weil Eyal meine Schuhe in ein Zelt geworfen hat (“Brauchst du nicht!”). Mal federt der Boden weich, mal knirscht er spröde und sesamfarben wie Halva. Bald komme ich in eine Gegend, in der sich Süßwasserquellen in sprudelnden Ärmchen zum Salzsee hin winden. Hier und da mit Stöcken und Tüchern provisorisch zu Teichen aufgestaut, mit Brücken aus Bäumen überbaut. Ich folge Fußspuren im Schlamm und finde versteckt hinter Schilf doch noch einen Badesee. Das Wasser ist azurblau und nur leicht salzig. Auf einem Plateau entdecke ich Ge stalten aus Zweigen und Lehm: Es scheint, als seien sie zu Salzsäulen erstarrt, während sie tanzten oder sich umarmten. Hier hat jemand einen Skulpturengarten geschaffen. Schließlich erreiche ich ein natürliches Becken aus Salz, das wie ein Infinitypool türkisfarben an den See grenzt. Am Rand sitzt ein Mann und guckt aufs Wasser. Er grüßt auf Hebräisch, aber an seinem weichen “P” erkenne ich ihn als Palästinenser.

Manchmal überrascht mich das Tote Meer mit Glucksgeräuschen. Einmal durchbricht eine Mundharmonika die Stille. Als ob die Natur die ausgewaschenen Farben mit Formen wettmachen wollte, finde ich Kolonien nagelgroßer Salztannen, von Vorsprüngen hängende Zäpfchen; und schließlich eine Couchgarnitur große Formation, die sie hier »den Pilz« nennen. Am Lagerfeuer erzählte Eyal von ihr – und davon, wie er auf seinem letzten LSD Trip Drachen und Reiter durch die Schluchten und Klüfte der Miniaturlandschaft preschen sah. Ich habe keine vergleichbaren Visionen. Dafür gelingt es mir, an diesem Strand ohne Palmen das erste Mal seit Monaten wieder richtig aufzuatmen. Färbt die Sorglosigkeit der Aussteiger bereits ab?

In der Kommune mögen sie nur lose verbandelt sein, aber wer sich einbringt, muss nicht von Algen leben, stelle ich nach meiner Rückkehr zum Camp fest. Eyal etwa tauscht seine Vorräte gern gegen einen Abwasch ein. Ein Nachbar repariert Strandgut und bringt es wieder in Umlauf, gegen Essen. Fürs Erste scheint auch mein Interesse als Tauschwert zu reichen. Als ich mich am Nachmittag von Zelt zu Zelt treiben lasse, habe ich bald das Gefühl, ein wenig zu viel. Bromid eingeatmet zu haben. Alles fühlt sich leicht und surreal an. Ich treffe den Mann wieder, der in der Früh mit dem Handkarren zum Checkpoint hochgelaufen ist. Er ist immer noch hosenlos und erzählt, dass er dort ein Camouflage-Netz geklaut hat, um sein Zelt zu verschönern. Das kommt mir besonders kurios vor, nachdem er gesagt hat, dass ihm seine Eltern mehrere Häuser vererbt hätten. Bei Kaffee mit Kardamom zeigt er mir Fotos auf seinem Smartphone. Er ist Israeli, war aber früher Fotograf in einem Fetischclub in London. Nun lebt er seit über einem Jahr nackt am Strand und teilt sich das Zelt mit seinem arabischen Freund.

“Weiter im Süden ist es noch ruhiger”, sagt Nachbar Ori, der mit seinem Kahlkopf und der Pluderhose wie ein nepalesischer Mönch aussieht. Er hat sein Zelt ums Eck unterhalb der Klippe aufgestellt, neben seinem privaten Süßwasserloch. Ori ist Lehrer für Acroyoga, eine Mischung aus Yoga, Thai Massage und Akrobatik, die paarweise geübt wird. Im Lockdown hat Ori via Zoom Meditationsunterricht gegeben. Jetzt will er die Gelegenheit und mich als Acroyoga-Partnerin nutzen. Dass ich keine Erfahrung habe, lässt er nicht gelten. Schon “fliege” ich, mit den Hüften auf seinen Fußsohlen balancierend, die er, auf dem Rücken liegend, gen Himmel streckt. Er gibt mir Anweisungen – “Hintern hoch”, “Beinestrecken” – und manövriert mich dabei durch die Luft. “Entspann dich!« Als ich die Augen öffne, steht der Salzsee kopf. Ein junges Paar schwebt in inniger Umarmung darin. Der Mond ist aufgegangen. Diesmal kann ich kein Foto machen. Will ich auch nicht, ich will den Moment so abspeichern, wie er sich anfühlt: weit! Vielleicht ist es das sterbende Meer, die Ahnung, dass alles seine Zeit hat: die irren Farbwechsel im Wasser, die knirschenden Kristalle, der Infinitypool, um den Eyal schon trauert, weil ihn sicher bald ein Sinkloch verschluckt. “Alles ist hier intensiver”, sagt Ori, “im Guten wie im Schlechten.” Es gebe diese magischen Stunden. Aber auch die Tage, an denen gestritten werde oder einer von Drogen oder einfach vom Leben eine Psychose bekomme.

Zum Wochenende wird es laut, Feiervolk aus Tel Aviv fällt ein, ich fühle mich etwas beraubt um mein Abenteuer und beschließe, gegen den Strom zurückzuschwimmen. Auf der Rückfahrt halte ich an einem Strandbad. Noch mal auf den Salzsee gucken, nach schwingen lassen. Und eine Dusche! Das Bad heißt Kalya. Wegen des Kaliums, das hier abgebaut wurde, und der israelischen Siedlung, die es betreibt. Unter bewässerten Palmen wartet ein Shuttlebus, der zum Wasser hinunterfährt. In der tiefstgelegenen Bar der Welt, ein Holzbau mit offenem Dach und einer Klimaanlage wie ein Eissturm, esse ich Falafel. “Die werden jeden Morgen von den palästinensischen Mitarbeitern aus Jericho mitgebracht”, sagt der palästinensische Koch. Der Badebereich ist mit Bojen abge sperrt. Einige Israelis und eine palästinensische Familie treiben wie Kaffeekränzchen auf dem Rücken. Andere haben sich mit Heilschlamm eingeschmiert. Die Frauen
tragen den Hidschab auch im Wasser. Für viele Palästinenser ist der Salzsee ein trauriger Kompromiss. Nicht zuletzt, da sie an die Siedler Eintritt zahlen müssen. Und das Mittelmeer ist zwar nah, doch für sie unerreichbar: Es liegt hinter Checkpoints und dem israelischen Sperrwall. Auf dem Weg zu den Sonnenschirmen schmerzen mir plötzlich die Sohlen vom Barfußlaufen. Der See kommt mir nackt vor, das Licht harsch. So fühlt er sich also an, der Kater nach meinem Ausstieg auf Zeit.

Zu Hause fallen Salzklunker aus meiner Tasche, Eyal hat mir meinen Anteil am Schürfgut hineingeschmuggelt. Die Salzwürfel sind jetzt ganz klar und zeigen Einschlüsse aus schwarz weiß gestreiftem Lehm. Ich lege sie in eine Schale, und manchmal nehme ich sie in die Hand. Doch mit den Tagen scheinen sie sich aufzulösen.

via www.zeit.de

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