Artikel | Julica Jungehülsing

Australien – Die zweite Welle

2020-08-10

Der Lockdown ist hart, die Bußgelder sind rabiat, die Grenzen bleiben geschlossen – viele finden das richtig, aber nicht alle.


Wer einen Vorgeschmack auf die “zweite Welle” bekommen möchte, sollte auf einen Sprung nach Australien kommen – aber logisch: Sie dürfen nicht rein. Und wir nicht raus, denn die Landesgrenzen bleiben dicht. Daher heute ein Update von der Südhalbkugel: Von steigenden Infektionszahlen, heftigen Corona-Strafen, vom Lockdown Stufe 4 und einem Luxus, der plötzlich weniger Spaß macht: der doppelten Staatsangehörigkeit.

Surfer wissen das: Wellen bewegen sich in Sets, und wie bei einem soliden Swell auf dem Ozean ist auch beim neuartigen Coronavirus die zweite Welle höher als die erste – jedenfalls in Australien. Eigentlich gab es Corona vor ein paar Wochen hier so gut wie nicht mehr. Am 8. Juni hatten sich insgesamt 7.265 Menschen infiziert, es gab fünf neue Fälle pro Tag auf dem ganzen Kontinent und insgesamt 102 Tote. Für 25 Millionen Australier hieß es beinahe: Back to normal, das Leben ging weiter. Dann schwappte – ähnlich wie in Vietnam oder Singapur – eine zweite Welle ins Land, oder treffender: in die Stadt, dazu in eine, in der nicht mal gesurft wird.

Jede/r fünfte Australier/in lebt in Victorias Hauptstadt Melbourne. Seit Anfang August erdulden diese gut fünf Millionen Bewohnerinnen und Bewohner von Australiens zweitgrößter Stadt die Lockdown-Stufe 4 – und die hat mit back to normal nichts gemein. Außer Lebensmittelläden, Drogerien und bottle shops, in denen man Alkohol kaufen kann, ist so ziemlich alles geschlossen. Zwischen 20 und 5 Uhr herrscht Ausgangssperre. Melbourner dürfen – wie einst die Franzosen oder Neuseeländer – maximal eine Stunde draußen Sport treiben und einmal am Tag einkaufen, allerdings nicht weiter als 5 km vom Wohnort entfernt. Eine Viertel Million Arbeiter sitzt zuhause, Schülerinnen und Schüler ebenfalls. Stufe 4 gilt bis mindestens Mitte September. Die Stimmung? Nicht berauschend.

Was war los im südlichen Bundesland Victoria?

Nach stetig sinkenden Zahlen und gelockerten Corona-Maßnahmen in New South Wales (NSW) und Victoria – in den anderen sechs Bundesländer gab es ohnehin kaum mehr Infektionen – wurden Mitte Juni plötzlich 21 örtlich übertragene Fälle registriert. Als am 9. Juli die täglichen Infektionen auf 191 anstiegen, verordnete die Regierung dem Großraum Melbourne und Umgebung wieder Lockdown Stufe 3: Zuhause bleiben und sich möglichst wenig von dort entfernen. Ab Ende Juli galt sogar zum ersten Mal eine Maskenpflicht – eine Spätentdeckung in der australischen Coronawelt. Stufe 3 blieb trotzdem ohne Wirkung. Als mögliche Gründe nannten Wissenschaftler: die Übertragungswege waren unklar und schwerer nachzuvollziehen, die Schulen waren wieder offen und die Leute bewegten sich relativ frei, viele Bürger waren es leid, Auflagen zu befolgen, möglich schien auch, dass das Virus mutiert war und sich – zumal im südaustralischen Winter – schneller verbreiten konnte. Anfang August lagen die täglichen Infektionszahlen in Victoria über 700. So hoch waren sie im ganzen Land nie zuvor gewesen. Am 10. August gab es landesweit gut 21.000 Infizierte, 313 Menschen mit Covid-19 waren gestorben.

Und, wie fühlt sich Stufe 4 an? “Wie im Gefängnis” erzählt eine junge Mutter im innerstädtischen Collingwood. “Deprimierend” höre ich von anderen Freunden aus dem Großraum Melbourne, die ich als Bewohnerin von New-South-Wales kaum noch anzurufen wage. Ich darf zwar nicht in andere Bundesländer, mich aber sonst (noch) weitgehend frei bewegen. Den ersten, deutlich milderen Lockdown hatte Australien – solidarisch und kontinental vereint – ziemlich gut gemeistert: Ben Lee’s “We’re all in it together” (Wir stehen das zusammen durch) wurde zur inoffiziellen Nationalhymne. Zehn Wochen Shutdown ließen sich irgendwie überstehen. Jetzt ist das Land geteilt: in Victoria und den Rest Kontinents. “Es ist so viel härter, ” erzählt eine Freundin aus Melbourne. Ihren 50-Minuten-Lauf mit Maske durch den Park begleiten Soldaten. Wer lungert, wird zur Eile gedrängt, nicht selten muss sie ihren Ausweis zeigen. Die Polizei verteilt Bußgelder, derzeit weniger für Falschparken als für Corona-Verstöße. Denn vielen fällt es offenbar auch schwerer, sich an die Regeln zu halten: Bevor Stufe 4 in Kraft trat, überprüften Polizisten per Hausbesuch die Heim-Quarantäne in Victoria: Jede/r Dritte positiv Getestete war nicht zu Hause.

Eine Million Dollar Bußgelder in fünf Wochen

Dabei waren die Corona-Strafen schon vor Stufe 4 heftig: Wer anderen zu dicht auf die Pelle rückt, kann in NSW mit 1.100 australischen Dollar bestraft werden, 1.652 Dollar kostet eine Party mit zu vielen Gästen. Ein Mann, der sich ohne Erlaubnispapiere im Kofferraum seines Kumpels über die Grenze nach Queensland schmuggeln ließ, muss ein Bußgeld von 4003 Dollar zahlen. Strafzettel in Höhe von fast 1 Million Dollar (607.000 Euro) stellten die NSW-Behörden allein in den ersten fünf Wochen des Lockdowns aus. In den ersten 24 Stunden des neuen Lockdowns in Victoria wurden 220.000 Dollar an Strafen fällig. Zwei junge Frauen, die unerlaubt aus Victoria via Sydney nach Queensland flogen und über ihren Reiseverlauf logen, erwarten Geldstrafen im fünfstelligen Bereich und im ärgsten Fall bis zu sechs Monate Haft.

Während Victoria Geduld und Winterschlaf perfektioniert, sortieren die anderen Bundesländer ihre Corona- und Öffnungsbedingungen wöchentlich neu, in NSW schaut die Regierung zitternd auf hotspots und verfolgt jede Kontaktperson von neu Infizierten – derzeit sind es etwa 10 pro Tag. Alle hoffen, dass dem bevölkerungsreichsten Bundesland Stufe 4 erspart bleibt.

Eine Grenze bleibt derweil unverändert dicht: die zum Rest der Welt. Touristen dürfen das Land natürlich verlassen – sollten sie einen Flug ergattern. Australische Staatsbürger dürfen das nur mit Sondererlaubnis. Wer humanitäre, persönliche oder medizinische Gründe belegen kann, die eine Ausreise rechtfertigen könnten, darf online bei den Behörden einen Antrag stellen. Auch wer in Covid-Einsatz ist oder “nationale Interessen” wahrnimmt, bekommt mit Glück ein Ausnahme-Ticket.

via www.riffreporter.de

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