Artikel | Malte Seiwerth

Besser adoptiert als arm: Wie die Schweiz chilenische Kinder entrechtete

2025-09-05

Ein Schweizer Verein vermittelte jahrelang Adoptionen aus Chile in die Schweiz, oft gegen den Willen der leiblichen Mütter. Warum unterstützten die Schweizer Behörden das dubiose Vorgehen so lange?

Ihre Augen leuchten, wenn sie an ihre leibliche Familie in Chile denkt. «Sie sind so herzig», sagt sie. Obwohl Camila Schwarz nur bruchstückhaft Spanisch spricht, hat sie inzwischen ein enges Verhältnis zu ihrer leiblichen Familie. Das war nicht immer so – denn die heute 38-Jährige wurde im Alter von 4 Jahren zur Adoption in die Schweiz gebracht. «Lange dachte ich, meine Mutter hätte mich verlassen», erzählt die ausgebildete Kauffrau in einem Café beim Haupt­bahnhof Zürich.

Erst mit 31 begann sie zu recherchieren, fand ihre Mutter und Geschwister – und realisierte: Sie war ihrer Familie weggenommen worden.

Camila Schwarz ist eine von 384 Adoptionen aus Chile, die das Bundesamt für Statistik für den Zeitraum zwischen 1979 und 2000 anhand der Einbürgerungen aufgrund von Adoption zählt. Chile gab ab den 1970er-Jahren Tausende Kinder in Länder des Globalen Nordens in Adoption. Der aktuelle chilenische Präsident, Gabriel Boric, sprach in einer Rede im Juni 2025 von mehr als 20’000 Kindern, die in dieser Zeit ins Ausland vermittelt worden seien – wobei die Kinder den Müttern häufig gegen deren Willen weggenommen worden seien.

Mehr als die Hälfte der 384 chilenischen Kinder, die in der Schweiz landeten, wurden über eine Organisation vermittelt, die mit Unter­stützung der Schweizer Behörden arbeitete. Die Organisation stellt sich bis heute als besonders transparent und vertrauens­würdig dar – doch in Chile stehen die damaligen Verantwortlichen nun im Zentrum dieses Adoptions­skandals.

Denn: Die Miss­stände waren schon damals bekannt. Warum unterstützten die Schweizer Behörden das Vorgehen dennoch so lange?

Die Republik hat Einsicht in ein halbes Dutzend Archive erhalten und konnte mit mehreren Beteiligten von damals sprechen. Die daraus entstandene Geschichte zeigt, wie Kinder­wunsch und Hilfe für Kinder in angeblicher Not Menschen entrechtete, statt ihnen in ihrer prekären Lebens­situation zu helfen.

Es begann mit einem Besuch aus Chile

Ein verschmutztes, dunkel­haariges Kind mit traurigem Blick ziert das Logo des Vereins Pro Kind Adopt Inform. Darunter steht: «Vermittlung von Adoptiv­kindern – Hilfe für Kinder in Not». In den 1980er- und 1990er-Jahren war der Verein nach eigenen Angaben an mehr als 200 Adoptionen aus Chile in die Schweiz beteiligt, finanzierte Kinder­heime vor Ort, baute selbst eines auf – und existiert noch heute als Hilfswerk für Bildungs­institutionen in Äthiopien.

Doch etwas unterschied den Verein von vergleichbaren Organisationen.

Während sich in den 1990er-Jahren Skandale um irreguläre Auslands­adoptionen und Kinderhandel häuften, präsentierte sich Pro Kind als vertrauens­würdige Ausnahme. In einem Rundbrief von 1992 schrieb der Verein: «Wir sind froh, dass solche Skandale ans Tageslicht kommen.» Und fügte hinzu: «Wir sind stolz, sagen zu können, dass wir jedermann, der unser Vertrauen verdient, optimale Transparenz unserer Arbeit bieten können.»

Pro Kind arbeitete unter Aufsicht des Jugendamts des Kantons Zürich und hatte seinen damaligen Sitz in Kloten. Erst 1992 bewilligte das Jugendamt die Adoptions­vermittlung offiziell – obwohl der Verein damals schon acht Jahre lang tätig gewesen war. In einem Begleit­schreiben des Jugendamts von 1992 heisst es: «‹Pro Kind Adopt Inform› beschränkte sich bisher weitgehend auf allgemeine Information (…) und die Weitergabe von Adressen chilenischer Richter, die die eigentliche Vermittlung durchführten.»

Für diese Tätigkeit war ursprünglich keine Bewilligung nötig. Der Verein erhielt sie daher erst, als sich die Auslegung änderte. Die Behörden schienen das freiwillige Engagement wohlwollend zu betrachten.

Die Geschichte des Vereins begann, als das Ehepaar Sylvia und Kurt Schnyder aus Kloten im Gründungsjahr 1984 Besuch erhielt von der chilenischen Richterin Tatiana Román, so die Erzählung der Schnyders. In einem späteren Jahres­bericht schreiben die beiden, dass ihnen bei diesem Treffen bewusst geworden sei, wie viele Kinder in Chile unter grosser Armut litten. «Für viele war eine Adoption der einzige Ausweg», erinnerte sich die Gründerin Sylvia Schnyder in einem Rundbrief Jahre später. Im ersten Jahr vermittelte der Verein laut eigener Statistik 21 Kinder, scheinbar zum Glück aller Beteiligten: Verarmte Kinder fanden eine neue Familie, kinderlose Paare ein Baby.

Dass stattdessen die unter der chilenischen Militär­diktatur von 1973 bis 1990 verarmten Familien unterstützt worden wären, war offenbar kein Weg. Ihnen sprach der Verein wiederholt jede Fürsorge­kompetenz ab.

Zum Zeitpunkt, als Román das Ehepaar Schnyder in der Schweiz besuchte, hatte sie schon seit Jahren arme, meist indigene Kinder aus dem Süden Chiles nach Schweden vermittelt, wie aus Ermittlungs­akten hervorgeht, die die Republik einsehen konnte. Die Richterin hatte Kontakte zu einem öffentlichen Spital und koordinierte mehrere Waisen­häuser in der Region. Román erklärte im Jahr 2022 gegenüber einem Gericht, dass Sozial­arbeiterinnen Kinder als verwahrlost erklärten, worauf sie als Richterin den Eltern, meist allein­stehenden Müttern, das Sorgerecht entzog. Oft schickte sie Neugeborene in ein Heim und übergab später das Sorgerecht einem ausländischen Paar, welches das Kind adoptierte.

So kontrollierte die Richterin den gesamten Prozess. Laut Gerichtsakten entzog Román bis 1990 in 780 Fällen Müttern das Sorgerecht und übertrug es an ausländische Paare.

Hijos y Madres del Silencio, zu Deutsch «Kinder und Mütter der Stille», vereint betroffene Mütter und Angehörige in Chile. Die Organisation wirft Román vor, systematisch die Rechte der Mütter und Kinder ignoriert zu haben. Ana María Olivares, die dort für die Recherche zuständig ist, sagt: «Wir kennen mehrere Fälle, in denen das Spital den Müttern ihre Neugeborenen wegnahm und behauptete, sie seien verstorben.» In anderen Fällen seien Mütter zur Abgabe gezwungen worden. Von Freiwilligkeit könne keine Rede sein – eine Möglichkeit zur Beschwerde habe es nicht gegeben.

Geschäft oder Wohl­tätigkeit?

So sei aus der scheinbar wohltätigen Tätigkeit ein lukratives Geschäft geworden, sagt Olivares: «Román baute sich einen Besitz auf, der nicht zum Lohn einer Jugend­richterin passt.» Man habe zahlreiche Häuser und Villen im Süden Chiles und in Santiago entdeckt, eingetragen auf ihren Namen, sagt Olivares. Sie ist sich sicher, dass Román mit Adoptionen Geld verdient hat.

2018 zeigte eine nach Schweden adoptierte Person laut Gerichts­akten die damals pensionierte und mittlerweile verstorbene Richterin an. Während der Ermittlungen tauchten Zahlungen auf, die Pro Kind auf das Privat­konto von Román überwiesen hatte. Innerhalb von 7 Monaten hatte sie im Jahr 1986 insgesamt 12’432 Franken erhalten – etwa 130 chilenische monatliche Mindestlöhne. Auf den Quittungen steht teilweise, das Geld sei für Kinder­heime «unter Leitung des Gerichts». War es eine Gegen­leistung für Adoptionen?

Es ist unklar, wie viel Geld insgesamt von Pro Kind nach Chile und zur Richterin floss. Der Kanton Zürich bewilligte dem Verein Vermittlungs­honorare zwischen 1450 und 2850 Franken pro Kind. Aus den Jahres­rechnungen, die der Verein an den Kanton geschickt hat, geht hervor, dass jährlich bis zu 50’000 Franken für die Adoptions­vermittlung aufgewendet wurden. Dieser Betrag sei durch die Zahlungen der adoptions­willigen Ehepaare gedeckt worden. Wofür genau bezahlt wurde, weist der Bericht nicht aus. Die ehemalige Vereins­präsidentin Sylvia Schnyder sagt jedoch im Gespräch mit der Republik, man habe von den Adoptiv­eltern nur kleine Beträge von rund 50 Franken verlangt.

Pro Kind habe niemals für ein Kind bezahlt, sagt Schnyder. Man habe lediglich Tatiana Románs Projekte für Kinder und Jugendliche unterstützt. Als Verein habe man allerdings keine Kontrolle über die Verwendung der Mittel gehabt, die nach Chile geschickt wurden. Schnyder ist überzeugt: «Frau Román wird mit der Anschuldigung Unrecht getan.» Als Ehefrau eines Notars sei sie nicht auf finanzielle Mittel angewiesen gewesen. Es sei, so Schnyder, einzig und allein um das Wohl von Kindern aus armen Verhältnissen gegangen.

Was offensichtlich niemanden interessierte, war hingegen das Wohl der Mütter.

Das damals zuständige kantonale Jugendamt erhielt über konsularischen Weg die Information, dass auf chilenischer Seite ein Jugend­gericht Vermittlungs­partner war. «Aus den uns vorliegenden Akten des Bewilligungs­verfahrens wird nicht ersichtlich, ob Massnahmen zur Prüfung des Wohls der Mütter in Chile veranlasst wurden», schreibt der Kanton Zürich auf Anfrage.

Zu arm für ein Kind

Eine der Frauen, denen per Gerichts­entscheid ihr Kind weggenommen wurde, ist die Mutter von Camila Schwarz. Maria Mónica Bustos lebt in einem einfachen Haus am Rande der Kleinstadt San José de la Mariquina im Süden Chiles.

Im Vorgarten weht eine Fahne des indigenen Volks der Mapuche. «Camila macht gerne Fotos mit der Fahne», erzählt Bustos an einem regnerischen Apriltag, während sie an einer Tasse Tee nippt. «Sie ist sehr stolz auf ihre indigene Herkunft.» Bustos erinnert sich, dass sie ihr Kind schreien hörte, als es zur Welt kam. Doch sehen durfte sie ihre Tochter nicht. Das Krankenhaus­personal erklärte ihr, das Kind müsse wegen einer Krankheit sofort in ein grösseres Spital verlegt werden. Kurz darauf wurde Bustos mitgeteilt, ihre Tochter sei auf dem Weg dorthin verstorben.

Doch das war nicht das Ende: «Etwa ein halbes Jahr später kam eine Sozial­arbeiterin zu mir und sagte, dass Camila lebt», erzählt Bustos. Ihre Tochter war mit Spina bifida geboren worden, einer Fehl­bildung der Wirbel­säule, die unter anderem durch Mangel­ernährung während der Schwangerschaft entstehen kann. Camila verbrachte mehrere Monate im Spital und danach in einem Heim. Bis heute ist sie auf intensive medizinische Betreuung angewiesen.

Bustos arbeitete damals auf dem Land und lebte in grosser Armut. Ihr Zimmer war im Winter ungeheizt. «Ich konnte meine Tochter nicht aufnehmen», sagt sie leise. Dennoch besuchte sie Camila regelmässig im Heim. «Eines Tages kam ich, da sagte man mir, Camila sei jetzt in der Schweiz. Das war das Letzte, was ich von ihr hörte.»

Was sie nicht wusste: Während sie ihre Tochter im Heim besuchte, übertrug ein Gericht bereits das Sorgerecht an ein Schweizer Ehepaar. Dieses reiste nicht selbst nach Chile, sondern liess sich von einer Schweizerin vertreten, die selbst in Chile lebte. Im Urteil zum Entzug des Sorgerechts heisst es, Camila sei von ihrer Mutter verlassen worden. Weder der angebliche Tod noch Bustos’ wiederholte Versuche, ihre Tochter zu betreuen, werden erwähnt.

Auf Anfrage teilt Pro Kind mit, mindestens ein Teil der künftigen Adoptiv­eltern sei jeweils mit nach Chile gereist. Man habe auf die Recht­mässigkeit der chilenischen Gerichts­unterlagen vertraut. Damals galt: Wenn ein Kind in einem Heim ein halbes Jahr lang keinen Besuch erhielt, wurde es als verlassen betrachtet. Vor einer Adoption musste zudem eine Anzeige in einer Zeitung erscheinen. Blieben Einsprüche aus, wurde die Adoption genehmigt.

Die Mär von den verlassenen Kindern

Die Republik konnte über Schweizer Staats­archive Einblick in 34 Adoptions­akten nehmen. 8 davon lassen sich durch Angaben der Adoptiv­eltern oder die Namen der Richterinnen eindeutig mit Pro Kind in Verbindung bringen. In weiteren Fällen verhindern geschwärzte Namen eine klare Zuordnung.

Teil der Adoptions­akten sind auch die chilenischen Urteile. Nur selten enthalten diese aber ergänzende Unter­lagen von Sozial­arbeitern oder Behörden. In manchen Fällen liegt lediglich eine gerichtliche Ausreise­bewilligung vor – ohne Hinweise zur Herkunft des Kindes oder zur Zustimmung der leiblichen Eltern. Dabei war genau diese Zustimmung eine gesetzliche Voraus­setzung für Adoptionen in der Schweiz.

Auch Schweizer Behörden setzten sich offenbar über geltendes Recht hinweg.

In den Fällen, die zweifelsfrei Pro Kind zugeordnet werden können, heisst es meist, die Mütter hätten ihre Kinder freiwillig abgegeben oder nach der Geburt im Spital oder Heim zurückgelassen. Manchmal steht lediglich: «Die Mutter war abwesend.» Eine Überprüfung dieser Angaben war und ist kaum möglich.

Als die chilenische Richterin Román 2022 zu Vorwürfen von einem Gericht befragt wurde, räumte sie ein, dass die Mütter entgegen den gesetzlichen Vorschriften nicht über die Gerichts­beschlüsse informiert worden seien. Ihre Recht­fertigung steht im transkribierten Protokoll, das die Republik einsehen konnte: «Die Mütter hatten die Obhut ihrer Kinder ja bereits abgegeben.» Damit wurde ihnen jede Möglichkeit zum Einspruch genommen, ein klarer Verstoss gegen grundlegende Rechts­prinzipien.

Angesichts solcher systematischen Unregelmässigkeiten kam ein Berufungs­gericht in Santiago de Chile im Februar 2025 zum Schluss, die Praktiken rund um die irregulären Adoptionen könnten Menschenrechts­verbrechen darstellen. Denn wer unter der Militär­diktatur Widerstand gegen Entscheidungen von Behörden leistete, riskierte, willkürlich verhaftet oder gefoltert zu werden – oder sogar zu sterben.

Das Urteil hat weitreichende Folgen. Straftaten im Zusammen­hang mit irregulären Adoptionen sind möglicherweise nicht verjährbar. In der Folge liess der zuständige Richter im Juni Haftbefehle gegen eine Richterin und vier weitere Personen ergehen. Die Tatbestände sind Kindes­raub, Bildung einer kriminellen Vereinigung und Rechts­beugung, sprich die vorsätzlich falsche Anwendung bestehenden Rechts durch eine Amtsperson.

Die Politik der Diktatur

Im süd­chilenischen Valdivia forscht die Historikerin Karen Alfaro an der Universidad Austral zum Thema irreguläre Adoptionen. Sie ist überzeugt, die grosse Anzahl an Auslands­adoptionen deute darauf hin, dass der Export von Kindern Teil der Politik der Diktatur war. In den 1980er-Jahren lebte zeitweise bis zur Hälfte der Bevölkerung unter der Armuts­grenze. «Der massive Export von Kindern diente letztlich der Armuts­reduktion», so Alfaro.

Richterinnen wie Tatiana Román waren dabei entscheidend. Ein Grossteil der Adoptionen konzentrierte sich auf wenige Richterinnen, die nebenbei auch in karitativen Organisationen tätig waren, unter Führung von Lucía Hiriart, der Ehefrau des Diktators Augusto Pinochet. «Über ihre Position konnten die Richterinnen genügend Kontakte aufbauen, um schwangere Frauen früh zu identifizieren und Neugeborene zu erfassen», sagt Alfaro.

In vielen Fällen entwickelte sich aus dieser von oben akzeptierten und teilweise geförderten Praxis ein Geschäft. Die Unregelmässigkeiten waren bereits in den 1980er-Jahren bekannt. Gegen Ende des Jahr­zehnts wurde öffentlich vermehrt über illegale Vorgänge berichtet. Alfaro sagt: «Anwälte und Richter machten die irregulären und teilweise lukrativen Tätigkeiten ihrer Kollegen publik und forderten Reformen.» Als die Militär­diktatur 1990 endete und das Land zur Demokratie zurückkehrte, wurde das Tätigkeits­feld der Vermittlerinnen zunehmend eingeschränkt.

Was wusste die Schweizer Botschaft in Chile darüber?

Im Bundes­archiv finden sich mehrere Zeitungs­berichte aus Chile und der Schweiz, die die Botschaft gesammelt hat. In einem Artikel aus der «SonntagsZeitung» vom August 1988 schrieb der spätere Radio-SRF-Südamerika-Korrespondent Ueli Achermann: «Mittels­männer der Mafia sitzen in den für Adoptionen zuständigen Jugend­gerichten und in den Verwaltungen ländlicher Entbindungs­kliniken.» Die Kinder aus Chile seien wegen ihrer im Vergleich zu anderen Entwicklungs­ländern helleren Haut besonders beliebt.

Achermann schrieb, dass Richterinnen gesetzliche Bestimmungen ignorierten, Kinder noch vor Ablauf der gesetzlichen Frist für «verlassen» erklärten und sie entgegen geltendem Recht direkt an ausländische Ehepaare vermittelten.

Anstatt diese Informationen nach Bern weiter­zugeben oder von Adoptionen aus Chile abzuraten, förderte die Botschaft diese. Immer wieder beriet sie adoptions­willige Ehepaare und gab Adressen von Vermittlungs­stellen weiter. Anfragen von Kantons­behörden zu Adoptionen aus Chile wurden meist ober­flächlich beantwortet, ohne auf die Hinter­gründe der massiven Kinder­ausfuhr aufmerksam zu machen.

Der Botschaft war bewusst, dass Gerichte gegen geltende Gesetze verstiessen, etwa indem sie die Obhut der Kinder an ausländische Paare übergaben, bevor wirklich abgeklärt werden konnte, ob auch ein chilenisches Paar das Kind adoptieren konnte. Das zeigt die Korrespondenz mit den Eltern.

Im Jahr 1991 erklärte die Botschaft einem Ehepaar aus der Schweiz, dass sich die Gerichte mittlerweile «strenger» an das Prinzip hielten. Man empfahl dem Paar, im Süden des Landes nach einem Kind zu suchen, da dort «die einheimische Adoptions­bereitschaft geringer ist». Im selben Brief übermittelte die Botschaft auch den Kontakt zur Organisation Pro Kind und empfahl, den Adoptions­prozess über den Verein abzuwickeln.

Auf Anfrage der Republik schreibt das Schweizer Aussen­departement, der Bundesrat habe bereits im Jahr 2023 sein Bedauern gegenüber den adoptierten Personen und ihren Familien über die Versäumnisse der Schweizer Behörden im Rahmen internationaler Adoptions­verfahren ausgedrückt. Die aktuelle Debatte um ein mögliches Verbot von Auslands­adoptionen ist Resultat der Aufarbeitung.

Der Kanton Zürich arbeitet die Adoptions­praxis jener Jahre derzeit auf. Eine Untersuchung bezüglich Adoptionen aus Indien kam zum Schluss, dass die damals zuständigen Stellen ihre Verantwortung nicht ausreichend wahr­genommen hatten.

Für das Kindes­wohl?

Dass der Verein Pro Kind bei der Schweizer Botschaft in Chile einen so guten Namen hatte, lag auch daran, dass sich die Vereins­präsidentin Sylvia Schnyder regel­mässig per Brief und Telefon mit der Botschaft austauschte. In einem Brief aus dem Jahr 1992 schreibt Schnyder, man sei bestürzt über aktuelle Adoptions­skandale, denn «solche Skandale [richten] nicht nur an den betreffenden Kindern Schaden an (…), sondern sie schaden auch Organisationen, die in solchen Belangen in jeder Beziehung sauber arbeiten». Schliesslich unterstützten diese hilfs­bedürftige Kinder.

Auch Cecilia Bürli wurde mit zehn Jahren in die Schweiz adoptiert. Ihr Fall zeigt, wie vielschichtig die Realität hinter diesen Adoptionen war. Die heute 46-Jährige sagt im Telefon­gespräch: «Hätte mich meine Adoptiv­familie nicht aufgenommen, würde ich heute nicht mehr leben.»

Bürli wurde als kleines Mädchen von Mitgliedern ihrer chilenischen Pflege­familie sexuell ausgebeutet, bis sie schliesslich in einem Heim untergebracht und zur Adoption freigegeben wurde. Trotz ihrer traumatischen Vergangenheit sorgten ihre Adoptiv­eltern dafür, dass sie weiterhin Spanisch sprach und den Kontakt zu Chile hielt. Als ihre ehemalige Pflege­mutter im Sterben lag, reisten sie gemeinsam nach Südamerika, um Abschied zu nehmen.

In ihrem Fall waren sowohl die Pflege­mutter als auch die leibliche Mutter einverstanden mit der Adoption in die Schweiz, erzählt Bürli, die dieses Jahr zum ersten Mal auch ihre leibliche Mutter in Chile besuchen wird.

Bei Camila Schwarz war dies nicht der Fall. Doch auch sie sagt rück­­blickend: «Vermutlich wäre ich heute nicht mehr am Leben, wenn ich in Chile geblieben wäre.» Die medizinische Versorgung dort hätte damals nicht ausgereicht, um sie angemessen zu behandeln.

Mehr als 30 Jahre danach rechtfertigt die ehemalige Vereins­präsidentin Schnyder ihr Vorgehen anhand solcher Fälle. «Vielen Kindern geht es heute in der Schweiz deutlich besser als in Chile», sagt sie am Telefon.

Steht dieses scheinbar grössere Wohl über dem Recht der Mütter, ihr Kind aufzuziehen oder zumindest Wider­spruch gegen die Adoption einlegen zu können?

Nein, sagt Camila Schwarz. Zudem machten Adoptionen älterer Kinder, wie die von Schwarz und Bürli, nur einen Bruchteil der Vermittlungen von Pro Kind aus. 1992 meldete der Verein dem Kanton Zürich, seit Beginn der Tätigkeit 144 Adoptionen aus Chile vermittelt zu haben, von denen 116 Kinder unter 4 Jahren betrafen – die Mehrheit waren Säuglinge.

Camila Schwarz glaubt zudem, sie sei unseriös und ohne jede Vorbereitung adoptiert worden. Ihre erste Adoptiv­familie lernte sie erst in der Schweiz kennen – wenige Wochen später wurde sie wieder abgegeben. Danach lebte sie kurzzeitig bei der Vereins­präsidentin und kam schliesslich zur Familie, deren Namen sie heute trägt. Ein persönliches Kennen­lernen vor der Adoption? Fehlanzeige.

Auch bei ihrer Herkunfts­suche sei der Verein wenig hilfreich gewesen. Mails und Telefon­anrufe blieben unbeantwortet. Rechtlich war der Verein Pro Kind allerdings nur bis 2016, als er die Adoptions­unterlagen an die Kantone übergab, für Hilfe bei der Herkunfts­suche verantwortlich.

Neue Gesetz­gebung erschwert Adoptionen

Ab Anfang der 1990er-Jahre wurden irreguläre Adoptionen zum internationalen Politikum. 1993 verabschiedete die Haager Konferenz für Internationales Privatrecht das Übereinkommen über den Schutz von Kindern und die Zusammen­arbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption. Es hielt fest, dass Auslands­adoptionen nur zulässig sind, wenn nationale Lösungen nicht möglich sind. Und es verpflichtete Staaten, Auslands­adoptionen nur mit anderen Vertrags­staaten durchzuführen, mit klaren Schutz­vorschriften für Kinder und Herkunfts­familien.

Bereits in einem Bericht von Pro Kind aus dem Jahr 1992 hatte Vereins­präsidentin Schnyder geschrieben, es sei zurzeit «sehr schwierig, kleine, gesunde Kinder aus Chile zu adoptieren». Grund dafür sei unter anderem die strengere Gesetz­gebung.

Auch dass ab Mitte der 1990er-Jahre Adoptionen in Chile nur noch über die staatliche Kinderschutz­behörde durchgeführt werden durften, hatte mit der Umsetzung internationaler Standards zu tun. Das führe zu längeren Warte­zeiten, schrieb der Verein in einem Jahres­bericht, und zu mehr Einsprüchen von Verwandten. Deswegen würden Adoptionen teilweise kurz vor Abschluss abgebrochen, schreibt der Verein: «Meistens ist dies wegen einer Intervention von Verwandten des Kindes. Nicht nur die Adoptiv­eltern sind dann traurig, auch für die Kinder bedeutet dies eine ungewisse Zukunft.»

Darauf angesprochen, sagt die damalige Vereins­präsidentin Schnyder: «Wir sind überzeugt, den Verwandten ging es meist nicht um das Wohl der Kinder.» Vielmehr sei es ihnen um günstige Arbeits­kräfte oder staatliche Subventionen gegangen.

1999 trat in Chile das Haager Abkommen in Kraft, 4 Jahre vor der Schweiz. Für Pro Kind bedeutete dies das Ende der Adoptionen aus dem Land. Seither sind keine weiteren Vermittlungen durch Pro Kind aus Chile bekannt. Der Verein, der mittlerweile seinen Sitz in Winterthur hat, orientierte sich neu: Laut eigenen Informationen vermittelte er bis ins Jahr 2016 Adoptionen aus Äthiopien, danach unterstützte er nur noch Heime vor Ort.

In Chile suchen bis heute Hunderte Frauen nach ihren mutmasslich weg­genommenen Kindern. Opfer­organisationen kämpfen dafür, dass die Taten von damals als Teil der Unrechts­politik der Militär­diktatur anerkannt werden. Sylvia Schnyder zeigt für die leiblichen Mütter in Chile wenig Verständnis: «In Chile sehen sich immer alle als Opfer. Die meisten Mütter hatten sicher Beweg­gründe und bereuen womöglich ihre Entscheidung. Aber sie haben ihre Kinder damals weggegeben.»

Camila Schwarz plant derweil eine weitere Reise zu ihrer Familie in Chile: «Ich möchte Weihnachten mit ihnen verbringen», sagt sie. Nach 30 Jahren der Trennung hat sie endlich die Möglichkeit, dieses Fest mit ihrer leiblichen Familie zu feiern.