Artikel | Malte Seiwerth

«Ich ahnte, dass mich meine Mutter nicht freiwillig weggegeben hat»

2025-03-21

Angeline Masson wurde als Baby in Chile adoptiert und in die Schweiz gebracht. Ihr Fall zeigt, wie ein Anwalt mutmasslich illegal Kinder vermittelte – und die Schweizer Behörden wegschauten.

Wo Angeline Masson die erste Zeit ihres Lebens verbracht hat, weiss niemand. VHS-Kassetten dokumentieren die Ankunft der heute 36-Jährigen im Januar 1989 an einem Schweizer Flughafen – in den Armen ihrer Adoptivmutter. Da war sie drei Monate alt.

Chantal Masson, die das Baby damals an sich drückte, hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ihre Tochter adoptiert ist. Flugtickets, Fotos und Briefe aus dieser Zeit habe sie aufbewahrt – um Angeline eine Geschichte zu geben.

Per Zufall von Adoptionen aus Chile erfahren

Die historischen Überbleibsel liegen verstreut auf dem Stubentisch der Vierzimmerwohnung von Angeline Masson in Vevey VD. Ihre Adoptivmutter ist zu Besuch und erzählt von dem Spaziergang auf der Pontaise in Lausanne, der ihr Leben verändert hat.

Durch Zufall lernte sie an jenem Tag eine Frau kennen, die ein Kind aus Chile adoptiert hatte. Sie war es, die der heute 70-Jährigen den Kontakt zu Juan Carlos Muñoz Torres vermittelte. Dem chilenischen Anwalt, der Chantal Masson half, Angeline zu adoptieren.

Sechs Monate nach dieser Begegnung nahm Chantal Masson in einem Hotel in Santiago de Chile ihre Adoptivtochter Angeline in Empfang. Der Anwalt Juan Carlos Muñoz Torres selbst brachte ihr das Baby. Angeline sei die Tochter einer Sexarbeiterin, habe er gesagt. Und die Familie glaubte ihm.
Die leibliche Mutter wollte Angeline behalten

Es war vieles anders, als Torres damals behauptet hat. Die wichtigste Zeugin dafür ist Clementina Rosa Becerra León, die der Beobachter in Chile getroffen hat. Sie ist die leibliche Mutter von Angeline Masson und hat sie am 26. Oktober 1988 in der Kleinstadt Lebu im Süden Chiles zur Welt gebracht: «Drei Tage nach der Geburt kamen drei Personen und nahmen mir Angeline weg.»

Was also ist wirklich passiert?

Der Beobachter hat mit dem Einverständnis der Betroffenen im eidgenössischen Bundesarchiv die Adoptionsunterlagen von damals eingesehen. Den Papieren zufolge hat Becerra León dem Ehepaar Masson im Januar 1989 die Vormundschaft für ihr Kind übertragen. Angeblich tat sie das vor Gericht und in Anwesenheit eines Notars in Santiago de Chile. In den Unterlagen steht, dass die leibliche Mutter ausdrücklich wünsche, dass ihre Tochter Angeline vom Ehepaar Masson adoptiert wird, da sie das Ehepaar persönlich kenne.

Das stimmt nicht. Clementina Rosa Becerra León bestreitet, jemals vor Gericht einer Adoption zugestimmt zu haben. Ihre Version wird von der Adoptivmutter Chantal Masson gestützt. «Ich habe beim Gerichtstermin wenig verstanden, da alles auf Spanisch war, bin mir jedoch sicher, dass die leibliche Mutter nicht anwesend war», erzählt sie. Becerra León erinnert sich lediglich daran, direkt nach der Geburt mehrere Dokumente unterschrieben zu haben. «Man hat mir gesagt, das sei, um meine Tochter ins Zivilstandsregister einzutragen.»

Ein uneheliches Kind

Clementina Rosa Becerra León war 17, als sie erfuhr, dass sie schwanger war. Der Vater des Kindes war mit einer anderen Frau verheiratet, deshalb verschwieg ihm Becerra León ihre Schwangerschaft. Nur ihre Mutter und deren Freundin wussten davon. «Sie entschieden über meinen Kopf hinweg, dass mein ungeborenes Kind bei einer anderen Familie aufwachsen sollte – um meinen Ruf zu schützen.»

Die Bekannte der Mutter war das Bindeglied zwischen Clementina Rosa Becerra León und dem bereits erwähnten Juan Carlos Muñoz Torres. Dieser soll gute Kontakte zu Spitälern und sozialen Institutionen gehabt haben. Über dieses Netz sei er immer wieder an neue Kinder von Frauen in Notsituationen gekommen, berichtet ein ehemaliger Mitarbeiter des Anwalts, der anonym bleiben will.

Der Beobachter kann sechs Adoptionsfälle umfassend dokumentieren, in denen Muñoz Torres als Vermittler fungiert hat. Zudem gibt es Hinweise auf insgesamt 32 weitere Fälle, in denen Muñoz Torres Kinder in die Schweiz und nach Frankreich vermittelt haben könnte.

Die Schweizer Botschaft hat Verzeichnis weitergeleitet

Im Oktober 1989 erwähnte der Schweizer Botschafter in Chile in einem Schreiben ans Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) die generell grosse Nachfrage nach Adoptivkindern. Der Grund sei, dass «chilenische Babys und Kleinkinder von Europäern und Nordamerikanern der weissen Hautfarbe wegen besonders gerne adoptiert werden.» Ein Botschaftsmitarbeiter schrieb, dass dies «hin und wieder» in der chilenischen Presse Kritik verursache, und erkundigte sich nach dem Standpunkt des Departements.

In der Antwort an die Botschaft mahnt das EDA zur Zurückhaltung. Kurz darauf, im Jahr 1991, wies ein Botschaftsmitarbeiter ein interessiertes Paar darauf hin, dass er keine direkten Kontakte von vermittelnden Anwälten mehr weitergeben könne. Er leitete aber ein öffentliches Verzeichnis mit entsprechenden Kontakten weiter.

Schweizer Behörden haben nicht hingeschaut

Die Adoptivmutter Chantal Masson kann sich erinnern, dass sie 15’000 Franken – zu dieser Zeit eine beträchtliche Summe – für Flug und Hotel ausgegeben hat. Unklar ist, wie viel davon an den Anwalt geflossen ist. Das sei Sache ihres verstorbenen Ehemannes gewesen.

Laut dem EDA wurden damals viele Kinder aus Chile in der Schweiz adoptiert, weil man glaubte, dass sie in der Schweiz bessere Chancen hätten. Die Schweizer Botschaft in Chile hat beim Ausstellen der Einreisebewilligung der Kinder nicht richtig hingeschaut, wie der Fall von Angeline Masson exemplarisch zeigt. Es wurden keine Abklärungen gemacht, man begnügte sich mit den chilenischen Dokumenten, ohne diese zu überprüfen. Im Fall von Masson enthalten die Gerichtsunterlagen falsche Aussagen.

Ist Anwalt Muñoz Torres dafür verantwortlich? Der Beobachter hat ihn schriftlich mit diesem und weiteren Vorwürfen konfrontiert. Er bestreitet nicht, Adoptionen in die Schweiz vermittelt zu haben, nimmt darüber hinaus aber keine Stellung.

Mit der Hilfe einer chilenischen Anwältin bereiten Becerra León und ihre Tochter derzeit eine strafrechtliche und eine zivilrechtliche Klage gegen die Verantwortlichen vor und fordern Schadenersatz. Das chilenische Strafrecht kennt den Straftatbestand des Kindesraubs, den es in der Schweiz so nicht gibt – es handelt sich um eine Straftat, deren Verjährungsfrist erst mit dem Wiederfinden beginnt.

Als Angeline Masson im Jahr 2018 zum ersten Mal selbst Mutter wurde, begann sie über ihre Herkunft und ihre leibliche Mutter nachzudenken: «Ein Gefühl war da, dass mich meine leibliche Mutter nicht freiwillig weggegeben hat», sagt sie. Viele Recherchen in Fällen von irregulären Adoptionen verlaufen im Sand.

Sie fand ihre Mutter – unglaublicherweise

Nicht so die von Angeline Masson: Mit der Hilfe einer chilenischen Stelle zur Herkunftssuche hat sie ihre leibliche Mutter Clementina Rosa Becerra León gefunden und konnte sie Ende Januar 2025 erstmals bei einem Besuch in der Schweiz in die Arme schliessen. «Ich wurde von meinen Emotionen und einem Gefühl der sofortigen Liebe überwältigt», sagt Angeline Masson.

Doch seit Angeline Masson die Wahrheit über ihre Herkunft kennt, ist sie schwer depressiv. Sie kämpft mit den Folgen ihrer Geschichte und verarbeitet das Trauma mithilfe einer Therapie. Sie ist krankgeschrieben, es ist ein langwieriger Prozess.

«Die Schweiz verschläft ihre Verantwortung»

«Die Schweiz muss ihrer Verantwortung nachkommen», sagt Clementina Rosa Becerra León. «Wie ist es möglich, dass die Behörden bislang kaum Unterstützung für die Opfer angeboten haben?», fragt sie wütend. «Sobald es mir besser geht, werden wir auch in der Schweiz juristische Schritte einleiten», sagt Angeline Masson. Momentan fehlt ihr die Kraft dazu.

«Die Schweizer Regierung muss dafür sorgen, dass wir uns regelmässig sehen können, die Flüge sind teuer», sagt Clementina Rosa Becerra León. Auf ihre Reise in die Schweiz wurde sie von ihrer anderen Tochter begleitet, Angelines Halbschwester – sie bezahlte auch für die Reise. Anfang Februar sind die beiden zurück nach Chile geflogen. «Ich weiss nicht, wann und ob wir uns jemals wiedersehen», sagt Angeline Masson traurig.

Mitarbeit Samina Stämpfli.

Diese Recherche wurde vom Reporter:innen-Forum mitfinanziert.

via www.beobachter.ch